Alle Artikel von Katrin Kammerer

Passion Chirurgie im April 2024

Zur Ausgabe 04/2024: Ambulantes Operieren im Zeitalter der Krankenhausreform

Die Entwicklung im Bereich des ambulanten Operierens scheint in Zeiten der Krankenhausreform eine „Never Ending Story“ zu werden, der wir uns in diesem Heft mit einigen vertiefenden Artikeln widmen. Lesen Sie selbst…

Auch auf dem DCK 2024 in Leipzig wird sie eines der viel diskutierten Themen sein. Lassen Sie uns gern am BDC-Stand in der Lounge der Fachgesellschaften ins Gespräch kommen, oder nehmen Sie an einer der BDC-Vortragssitzungen teil. Am Freitag, 26. April, 13.00 Uhr bis 14.00 Uhr findet die BDC-Mitgliederversammlung in Saal 2 statt. Sie sind herzlich dazu eingeladen!

Das exklusive Robotik Curriculum der BDC|Akademie wurde um ein Robotik-Webinar bereichert. Es findet am 22. Mai 2024 18.00 Uhr zum Thema „Ökonomie in der Robotik“ statt. Zur Anmeldung geht es hier entlang

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

Akademie aktuell: Die Hernienschule – Rück- und Ausblick 2024

Inzwischen ist die Hernienschule erwachsen geworden. Vor 14 Jahren wurde die Idee geboren, einen standardisierten hernienspezifischen Weiterbildungskurs zu entwickeln. Der erste Hernie-kompakt Kurs fand direkt vor den Hernientagen im Januar 2011 in Berlin statt. Insgesamt 50 Teilnehmende konnten in drei Tagen einen Überblick über die Vielfalt der Hernienchirurgie bekommen. Besonders wichtig waren den drei Begründern Dr. Bernd Stechemesser aus Köln, Dr. Wolfgang Reinpold aus Hamburg und Dr. Ralph Lorenz aus Berlin die vor allem praktische Ausrichtung des dreitägigen Weiterbildungskurses. In diesem Jahr findet der inzwischen 20. Hernie kompakt Kurs im März in Wien statt.

Die Deutsche Herniengesellschaft führte im Jahre 2014 in Kooperation mit dem Berufsverband der Deutschen Chirurgie eine breit angelegte Online-Umfrage unter den Chirurg:innen zur Zukunft der hernienchirurgischen Weiterbildung durch. Insgesamt 1.296 Chirurg:innen in Deutschland haben damals an der Befragung teilgenommen. Die überwiegende Mehrheit (mehr als 80 %) der Befragten sprach sich damals für die Etablierung eines stufenweisen und standardisierten Weiterbildungskonzepts aus.

Aufgrund dieser Analyse des Weiterbildungsbedarfs entwickelte die Deutsche Herniengesellschaft (DHG) in Zusammenarbeit mit dem Berufsverband der Deutschen Chirurgie (BDC) die Hernienschule. Diese beinhaltet inzwischen vier stufenartig aufgebaute Module: Hernie Kompakt, Hernie konkret, Hernie komplex und Hernie kontakt.

Hernie kompakt

Der dreitägige Basiskurs Hernie kompakt beinhaltet dabei die folgenden Bausteine:

Tag

Inhalte

Ort

1

Anatomie Grundlagen

Simulationsübungen

Dynamische Sonografie der Hernien

Kadaver-Operationen in Kleingruppen

Anatomisches Institut/ Universität

2

Hands-on-Kurs im OP in Kleingruppen

ca. 10 regionale Hospitationszentren

3

Theorie: State-of-the-Art-Lectures durch international renommierte Hernienexperten

Kongresszentrum

Hernie kompakt richtet sich vor allem an chirurgische Weiterbildungsassistent:innen. Der Kurs ist jedoch auch für erfahrene Chirurg:innen geeignet, die ein grundlegendes Update auf dem Gebiet der Hernienchirurgie erhalten möchten. Die deutschsprachigen Basiskurse fanden bisher jährlich wechselnd in Berlin, Hamburg, Köln/Bonn und München sowie seit 2014 in Salzburg und neuerdings auch in Wien in Österreich statt. 2017 fand der erste englischsprachige Hernia Compact Kurs im Rahmen des Europäischen Hernienkongress in Wien statt, der zweite 2019 in Hamburg. Das Hernie kompakt Konzept ist inzwischen auch ein wichtiger Baustein der European Hernia School der Europäischen Herniengesellschaft (EHS). Mehrere Europäische Länder haben mittlerweile ähnliche Hernien-Basiskurse entwickelt. Somit ist Hernie kompakt inzwischen ein hernienchirurgischer Weiterbildungskurs mit internationalem Modellcharakter.

In diesem Jahr kehrt dieser Kurs erneut an den Ausgangspunkt nach Berlin zurück und wird vom 18. bis 20.September 2024 zum nunmehr 21. Mal stattfinden.

Hernie konkret

Das zweite Modul Hernie konkret gibt es seit 2016, es richtet sich vor allem an Fachärzte für Chirurgie und soll in speziellen Operationstechniken weitergehende vor allem praktische Kenntnisse und Standards vermitteln. Das Modul Hernie konkret beinhaltet 1,5-tägige Hospitationen in renommierten Hernienzentren in den drei Themengebieten:

offene Leistenhernienchirurgie (SHOULDICE, DESARDA, LICHTENSTEIN , TIPP)

endoskopische Leistenhernienchirurgie (TAPP, TEP, eTEP)

offene und endoskopische Ventralhernienchirurgie (PMP, Sublay, IPOM, MILOS, eMILOS, TAR)

Hiatushernien

Hernie komplex

Hernie komplex findet seit Juni 2018 jährlich einmal statt und richtet sich an erfahrene Hernienchirurg:innen, die sich einen Überblick über komplexe hernienchirurgische Fragestellungen verschaffen wollen. Themen des eintägigen Kurses sind dabei:

Rezidivhernien und Mehrfachrezidive

Chronische Schmerzen

Komplexe und Loss-of-Domain-Hernien inkl. Komponentenseparation

Parastomale Hernien

Infekt- und Komplikationsmanagement

In diesem Jahr wird dieses Kursmodul Hernie komplex erstmals im Mai 2024 als zweitägiger Online-Kurs stattfinden.

Hernie komplex versteht sich gleichzeitig auch als Vorbereitung für das UEMS-Examen als Fellow of the European Board of Surgery für Abdominal Wall Surgery (FEBS-AWS). Diese Europäische Spezialisierung gibt es inzwischen seit 2020. Die Prüfungen finden in englischer Sprache im Rahmen des Europäischen Hernienkongresses statt. Alle Informationen finden Sie auf der Homepage der UEMS Abdominal Wall Surgery – UEMS Section of Surgery (uemssurg.org).

Im November 2024 wird dieses Examen im Rahmen der seit 2023 fusionierten DHG-Hernientage in Leipzig erstmalig auch in deutscher Sprache angeboten.

Hernie kontakt

Hernie kontakt entstand 2020 infolge der Corona Pandemie als zusätzliches Online-Angebot der Hernienschule. Dabei werden vor allem aktuelle und kontroverse Themen aus dem Bereich der Hernienchirurgie interaktiv diskutiert. Diese Hernie kontakt Veranstaltungen finden regelmäßig zweimal im Jahr im Frühjahr und Herbst statt, dabei sind alle Interessierten sehr herzlich eingeladen.

Komplettiert wird die Hernienschule auch durch das 2018 im De Gruyter Verlag erschienene Buch.

Abb. 1: „Hernienschule“, De Gruyter Verlag (Bestellung beim Verlag…)

Evaluation der bisherigen Kurse

Die kontinuierliche Evaluation der Kursmodule ist ein wesentlicher Aspekt auch für die Weiterentwicklung dieser Kursmodule. Die Evaluation der bisherigen Kurse zeigte, dass sowohl theoretische Kenntnisse aber auch praktische Fähigkeiten der Kursteilnehmer durch diese Weiterbildungskurse deutlich verbessert werden konnten.

Soeben haben wir auch eine Langzeitevaluation aller Kursteilnehmer des Kurses Hernie kompakt seit 2011 vorgenommen und konnten auch hier eine überaus positive Bilanz ziehen. Die Mehrheit der ehemaligen Teilnehmenden haben inzwischen ein besonderes fachliches Interesse an der Hernienchirurgie entwickelt und die Hernienchirugie ist ein wesentlicher Teil ihrer täglichen Praxis.

Die hernienchirurgische Weiterbildung könnte zukünftig um weitere Aspekte erweitert werden: Bislang sind beispielsweise Methoden wissenschaftlichen Arbeitens noch nicht Teil dieses Weiterbildungsangebots. Mit dem Ziel die Hernienchirurgie in Deutschland auch gezielt universitär anzubinden sollten auch diese Inhalte vermittelt werden („Good clinical practice“; Wie designe ich eine randomisierte Studie?).

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage bei den Autoren.

Dr. med. Lorenz, Ralph, FEBS-AWS

Hernienzentrum 3+CHIRURGEN

Klosterstrasse 34/35

13581 Berlin

Havelklinik Spandau

Medizinische Universität Brandenburg

[email protected]

PD Dr. med. Christoph Paasch

Klinik für Allgemein- und Abdominalchirurgie

Medizinische Universität Brandenburg

Hochstrasse 29

14770 Brandenburg an der Havel

[email protected]

Chirurgie+

Lorenz R, Paasch C: Die Hernienschule – Rück- und Ausblick 2024. Passion Chirurgie. 2024 April; 14(04): Artikel 04_01.

Weitere Artikel zum Thema Hernien finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Viszeralchirurgie.

Der Fachkräftemangel in der Gefäßchirurgie – eine gemeinsame Aufgabe

Zweitdruck (mit Erlaubnis des Verlags) von Barth U, Meyer F, Halloul Z.
Der Fachkräftemangel in der Gefäßchirurgie – eine gemeinsame Aufgabe. Die Chirurgie 2023;94(9):780-788. (DOI 10.1007/s00104-023-01900-2)

Auch in der Gefäßchirurgie wird ein zunehmender Mangel an Fachärzten und Ausbildungsassistenten trotz einer kontinuierlich steigenden Anzahl an Ärzt:innen und Medizinstudierenden in Deutschland beklagt. Durch die bestehenden Lücken ist die Arbeitsbelastung der in der Klinik tätigen Kolleg:innen bei ungebrochenem Anstieg der Patient:innen mit Gefäßerkrankungen als angespannt zu bezeichnen. Die Corona-Pandemie scheint die Lage noch weiter verschärft zu haben, da die Gefäßpatient:innenklientel auf den Stationen zurzeit aus überwiegend Patient:innen mit einer kritischen Extremitätenischämie besteht, die ein hohes Maß an ärztlicher Diagnostik, Therapie und Zuwendung bedürfen. Im Folgenden soll nun eine Bestandsaufnahme der und über die ärztlichen Kolleg:innen in der Gefäßchirurgie in Deutschland sowie am Beispiel strukturell unterschiedlicher Bundesländer deren Wertung und mögliche Konsequenzen auch im Hinblick auf die zu erwartenden gesundheitspolitischen Veränderungen erörtert und diskutiert werden.

Methode

Berufspolitische Analyse aus ärztlich-gefäßchirurgischer Sicht unter Einbeziehung aktueller verfügbarer Statistiken, vor allem des statistischen Bundesamtes, der Bundesärztekammer sowie Landesärztekammer Sachsen-Anhalt (SA) sowie selektiven Referenzen der aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Literatur mit epidemiologischem Themenbezug.

Ergebnisse

Prognose der ärztlichen Entwicklung in Deutschland

Ein Forschungsgutachten im Auftrag der „Deutschen Krankenhausgesellschaft“ (DKG) aus dem Jahr 2010 prognostizierte einen Ersatzbedarf an Ärzt:innen bis 2019 von gut 108.000 und einen Mehrbedarf von knapp 31.000 Ärzt:innen. Der Zugang an neuen Ärzt:innen bestünde im Wesentlichen aus Studierenden bzw. Absolvent:innen des Humanmedizinstudiums. Mittelbar müsse der Ersatz- und Mehrbedarf an Ärzt:innen komplett über den Krankenhausbereich gedeckt werden, da die Neuzugänge hier im Wesentlichen ihre Weiterbildung absolvierten. Der Ärzt:innenmangel wäre am frühesten und drastischsten im Krankenhaus spürbar und würde zu einem verschärften Wettbewerb zwischen ambulanter und stationärer Versorgung um Fachkräfte führen [1].

In einem zweiten Gutachten über den Fachkräftemangel im stationären und ambulanten Bereich bis zum Jahr 2030 hat „PricewaterhouseCoopers“ (PwC; Dienstleister in der Beratung und Prüfung von Unternehmen der Gesundheitswirtschaft) in Zusammenarbeit mit dem Darmstädter Forschungsinstitut WifOR im stationären Bereich bei Orthopäd:innen und Chirurg:innen ein Defizit im Jahr 2030 von 7.200 Vollzeitkräften prognostiziert. Außerdem wurde errechnet, dass Chirurg:innen und Orthopäd:innen sowohl absolut als auch relativ mit einem hohen Ersatzbedarf konfrontiert werden. Während bis 2020 noch 14,6 bis 27,2 % der im Jahr 2008 Beschäftigten in Rente gehen, werden bis zum Jahr 2030 zwischen 45,6 und 68,5 % altersbedingt ausscheiden [2].

Gefäßchirurgische Versorgungssituation in Deutschland

Im Jahr 2022 stellten laut der Grunddaten des „Statistischen Bundesamtes“ 200 gefäßchirurgische Fachabteilungen insgesamt 5.706 Betten zur Versorgung bereit, was 6,9 Betten pro 100.000 Einwohner bei einem Nutzungsgrad von 63,5 % entspricht. Die Fallzahl betrug n = 1 74.151 [3]. Im Jahr 2021 gab es bei den Ärztekammern 1.574 registrierte Ärzt:innen mit der Gebiets- und Facharztbezeichnung Gefäßchirurgie, im Jahr 2018 gab es 1.170, was einen Zuwachs von 404 Ärztinnen und Ärzten entspricht. Die Anerkennung der Facharztbezeichnung für Gefäßchirurgie sank von 166 im Jahr 2018 auf 143 im Jahr 2021 [4]. Im Jahr 2018 war die Altersgruppe von 40–50 Jahren mit einem prozentualen Anteil von 48,02 % (n = 486) bei einer Gesamtzahl von 1.303 Gefäßchirurg:innen im stationären Bereich am häufigsten vertreten. Im Jahr 2021 betrug der Anteil dieser Altersgruppe nur noch 42,59 % (n = 555) bei einer Gesamtzahl von 1.303, während der Anteil der Gefäßchirurg:innen im Alter von 50–60 Jahren von 18,5 % im Jahr 2018 auf 23,1 % im Jahr 2021 stieg [3] (Abb. 1). Im Jahr 2018 kamen in Deutschland 1,41 Gefäßchirurg:innen auf 100.000 Einwohner:innen, dies steigerte sich bis zum Jahr 2021 auf 1,89 pro 100.000 Einwohner:innen. Im ambulanten Tätigkeitsbereich gab es 2018 0,12 Fachärzt:innen pro 100.000 Einwohner:innen, im Jahr 2021 0,24 pro 100.000 Einwohner:innen [3].

Abb. 1: Bei den Ärztekammern in Deutschland registrierte Ärztinnen und Ärzte mit Gebiets- und Facharztbezeichnung Gefäßchirurgie 2018 vs. 2021 (absolut, stationär)

Zur Verbesserung der Qualität der Versorgung gefäßchirurgischer Patient:innen wurde in den letzten Jahren die Bildung interdisziplinärer Gefäßzentren durch die „Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin“ (DGG) in Kooperation mit der Privaten Akademie der DGG vorangetrieben. Im Februar 2023 waren hier 132 Gefäßzentren aufgelistet [5]. In Deutschland studieren aktuell rund 98.000 Personen das Fach Humanmedizin mit einem Frauenanteil von 62 %. Die Anzahl der Studienanfänger:innen hat in den vergangenen zehn Jahren leicht zugenommen. Im Jahr 2019 studierten rund 500 Personen mehr im 1. Fachsemester als im Jahr 2010. Die Anzahl der Bewerber:innen für einen Medizinstudienplatz übertrifft die Anzahl der Studienplätze um ein Vielfaches [6].

Gefäßchirurgische Versorgungssituation anhand eines strukturschwachen Bundeslandes – Sachsen-Anhalt (SA)

In SA gibt es 23 gefäßchirurgische Versorgungseinheiten, wovon 12 als integrativer Bestandteil einer Allgemein- und Viszeralchirurgie und 11 als eigenständige Klinik ausgewiesen sind. Einen universitären Lehrstuhl für Gefäßchirurgie gibt es an den zwei Universitätskliniken in SA nicht. Bei der Ärztekammer SA gab es 2021 52 registrierte Ärzt:innen mit der Fachgebietsbezeichnung Gefäßchirurgie im stationären Bereich, davon waren 2 Kolleg:innen im Alter von 60–66 Jahren, 21 Ärzt:innen im Alter von 50–60 Jahren, 15 Gefäßchirurg:innen im Alter von 40–50 Jahren, 12 im Alter von 35–40 Jahren und 2 im Alter von unter 35 Jahren [3]. In der Altersgruppe 60–66 Jahren kam es damit gegenüber 2018 zu einem Zuwachs von 2 Ärzt:innen, in der Altersgruppe 50–60 von 10 Kolleg:innen und in der Altersgruppe zwischen 35–40 von 5 Gefäßchirurg:innen. Die Altersgruppe 40–50 musste einen Rückgang um 7 Ärzt:innen verzeichnen (Abb. 2). Die Gefäßchirurg:innen-Quote stieg von 1,99 pro 100.000 Einwohnern auf 2,54 pro 100.000 Einwohner:innen im stationären Bereich. Im ambulanten Tätigkeitsbereich waren 2018 0,05 Fachärzt:innen pro 100.000 Einwohner:innen und 2021 0,14 pro 100.000 Einwohner:innen registriert [3]. Nach Rücksprache mit der Ärztekammer SA im Dezember 2022 haben in den letzten fünf Jahren 28 Ärzt:innen die Facharztprüfung für Gefäßchirurgie bestanden. Die Anzahl der Weiterbildungsassistent:innen konnte nur auf Basis freiwilliger Angaben der Kammermitglieder mit 18 Assistent:innen ermittelt werden.

Abb. 2: Bei der Ärztekammer Sachsen-Anhalt registrierte Ärztinnen und Ärzte mit Gebiets- und Facharztbezeichnung Gefäßchirurgie 2018 vs. 2021 (absolut, stationär)

Gefäßchirurgische Versorgungssituation anhand eines strukturstarken Bundeslandes – Nordrhein-Westfalen (NRW)

Im Vergleich zu SA sollen hier die Bedingungen der gefäßchirurgischen Situation in einem strukturstarken Bundesland (NRW) genannt werden. Hier standen im Jahr 2020 1.976 Betten in der Gefäßchirurgie zur Verfügung, was einer Quote von 11,0 Betten pro 100.000 Einwohner:innen entsprach. Bei der Ärztekammer Nordrhein waren 2021 362 registrierte Ärzt:innen mit Gebiets- und Facharztbezeichnung Gefäßchirurgie insgesamt und 292 im stationären Bereich tätig. Davon waren 23 Gefäßchirurg:innen unter 35 Jahren, 98 zwischen 35 und 40 Jahren, 118 zwischen 40 und 50 Jahren, 46 zwischen 50 und 60 Jahren und 7 zwischen 60 und 66 Jahren im stationären Bereich. In der Altersgruppe 35–40 Jahre kam es damit gegenüber 2018 zu einem Zuwachs von 42 Ärzt:innen, in der Altersgruppe 40–50 von 16 Kolleg:innen, in der Altersgruppe 50–60 um 15 und in der Altersgruppe 60–66 von 5 Gefäßchirurg:innen. Im Jahrr 2021 waren keine Ärzt:innen der Altersgruppe über 66 Jahren mehr registriert [3] (Abb. 3).

Abb. 3: Bei der Ärztekammer Nordrhein registrierte Ärztinnen und Ärzte mit Gebiets- und Facharztbezeichnung Gefäßchirurgie 2018 vs. 2021 (absolut, stationär)

Entwicklung gefäßchirurgischer Erkrankungen in Deutschland am Beispiel der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK)

Die altersstandardisierte Krankenhausinzidenz der pAVK stieg in den Jahren 2005 bis 2016 in Deutschland von ca. 190 auf über 250 pro 100.000 Einwohner:innen und pendelte sich auf diesem Niveau ein. Dies entsprach einer relativen Zunahme um 33 %. Im gleichen Beobachtungszeitraum verdoppelte sich die Anzahl an durchgeführten Prozeduren, vor allem durch stark zunehmende endovaskuläre Eingriffszahlen (ca. 140 % Zuwachs) und Eingriffe bei arterieller Embolie/Thrombose (ca. + 80 %) [7]. Die Statistik der fallbezogenen DRG-Daten zeigt, dass insbesondere mit Auftreten der Corona-Pandemie die stationären Fallzahlen von Patient:innen mit einem pAVK-Stadium IIB bundesweit und in SA sanken. Die schweren pAVK-Stadien blieben in den Fallzahlen annähernd gleich, tendenziell in SA jedoch zunehmend (Abb. 4, 5). Die altersstandardisierte Krankenhausinzidenz der Atherosklerose der Extremitätenarterien (I70.2) betrug im Jahr 2021 188,3 pro 100.000 Einwohner:innen in Nordrhein-Westfalen und 220,5 pro 100.000 Einwohner:innen in SA [3]. Dies bestätigt eine empfindliche Versorgungslücke für pAVK-Patient:innen in SA. Neben dem demografischen Wandel und der Pandemieproblematik scheint die ambulante Begleitung der pAVK-Patient:innen verbesserungswürdig zu sein. Rammos et al. zeigten in einer Studie, dass die Versorgung von pAVK-Patient:innen in Deutschland erschreckend mangelhaft ist. Nur 11 % der Patient:innen wurden im Jahr 2018 von einer/m Gefäßchirurg:in und nur 8 % von einer/m Angiolog:in behandelt. Nur die Hälfte der Patient:innen erhielt die leitliniengerechte Thrombozytenaggregations- und Statinmedikation [8]. Nach wie vor rangiert SA bei der Majoramputationsrate in Deutschland weit vorn. Bei einer Untersuchung der jährlichen bundesweiten Fallzahlen für die Jahre 2011 bis 2015 konnte gezeigt werden, dass überwiegend im Osten und Südosten höhere Amputationsraten bestehen. Insbesondere Kreise in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, SA, Thüringen und Bayern zeigten eine höhere „Standardized Mortality Ratio“ (SMR) in mehreren Amputationshöhen. Diese auffälligen regionalen Unterschiede wurden durch die hohe altersadjustierte Prävalenz des Diabetes mellitus begründet [9]. Diese Situation scheint sich seit 2015 in den genannten Bundesländern nur marginal verbessert zu haben [3] (Abb. 6). Dies bestärkt die Notwendigkeit einer Verbesserung der gefäßchirurgischen Versorgung in ländlichen und strukturschwachen Regionen. Bereits 2018 publizierten Udelnow et al. grundlegende Erkenntnisse der gefäßmedizinischen Versorgung in SA. Sie arbeiteten heraus, dass bereits vor 20 Jahren bevölkerungsbezogene Schätzungen zur für die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung notwendigen Zahl niedergelassener Spezialist:innen publiziert worden waren. Hier wurde bereits eine Zahl von einem/r Angiolog:in auf 100.000 Einwohner:innen gefordert. Die tatsächliche Zahl von niedergelassenen Angiolog:innen und Gefäßchirurg:innen in SA zusammen betrug zu diesem Zeitpunkt nur 0,87 auf 100.000 Einwohner:innen für beide Fachgebiete. Aufgrund der demografischen Entwicklung ging man auch von einem weiter steigenden Bedarf aus [10].

Abb. 4: Fallpauschalen­bezogene Krankenhausstatistik (DRG-Statistik) zur pAVK in Deutschland nach Abfrage bei der AOK Sachsen-Anhalt

Abb. 5: Fallpauschalen­bezogene Krankenhausstatistik (DRG-Statistik) zur pAVK in Sachsen-Anhalt nach Abfrage bei der AOK Sachsen-Anhalt

Abb. 6: Operationen und Prozeduren der vollstationären Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern – Prozedur 5-864 (Amputation und Exartikulation untere Extremität)

Handlungsempfehlungen

Der Konvent leitender Gefäßchirurg:innen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz im Jahr 2007 und 2008 erkannte bereits die Herausforderungen der kommenden Jahre und warb um mehr Eigenständigkeit der Gefäßchirurgie i. S. einer unbedingten Klinikerhaltung bei Neuberufung einer/s universitären Klinikdirektor:in als auch Neuetablierung von gefäßchirurgischen Universitätskliniken, mehr Präsentation und Repräsentanz der Vertreter der Gefäßchirurgie, Aufbau von Forschungskooperationen und -netzwerken, systematische Ausbildung von gefäßchirurgischen Fachkräften, höhere Transparenz wissenschaftlicher Aktivitäten und eine fachgesellschaftsübergreifende Zusammenarbeit [11].

In den vorgestellten Gutachten im Auftrag der DKG und dem Gutachten von „PricewaterhouseCoopers“ in Zusammenarbeit mit dem Darmstädter Forschungsinstitut WifOR sind eine Reihe von Handlungsempfehlungen aufgezeigt, die im Folgenden erläutert werden.

1.Übereinstimmend empfehlen die beiden Gutachten eine Entlastung von Verwaltungsaufgaben und Dokumentationspflichten. Zu Recht wird der Dokumentationsaufwand im Krankenhaus als Ergebnis externer Dokumentationsanforderungen vor allem der Politik, der Selbstverwaltung sowie der Kostenträger und des „Medizinischen Dienstes der Krankenkassen“ (MDK) gewertet [1]. Durch Einstellung von Verwaltungskräften und den intelligenten Einsatz moderner IT-Systeme kann die Fokussierung von ärztlichen Fachkräften auf ihre angestammten Tätigkeiten erfolgen und die Attraktivität des Berufs deutlich erhöhen [2].

2.Professionelle Personalplanung und Personalentwicklung fördern die Anreize für eine befriedigende Tätigkeit und das Verbleiben im Unternehmen. Neben flexiblen Arbeitszeitmodellen kann ein auf Mitarbeiter bezogenes Konzept zur Gesundheitsförderung und Gesundheitsvorsorge bei der jungen Generation punkten [12]. Instrumente wie strukturierte oder standardisierte Einarbeitungs-, Fort- und Weiterbildungskonzepte, Karriereplanungen, Beurteilungssysteme für Vorgesetzte und Mitarbeiter oder schriftliche Grundsätze der Mitarbeiterführung existieren bereits und können damit unproblematisch und aufwandsarm herangezogen sowie angewendet werden [1].

3.Als weiteres Mittel wird die Senkung der „Drop-out“-Raten im Medizinstudium und die Erhöhung der Studienkapazitäten in der Humanmedizin erwähnt [1]. Die Anzahl der Studienanfänger hat zwar in den letzten zehn Jahren zugenommen, aber ein Zuwachs von 500 Studienanfängern im Jahr 2019 gegenüber dem Jahr 2010 [6] kann den kommenden Ersatz- und Mehrbedarf kaum decken.

4.Bei einem Frauenanteil von 62 % der Personen im Medizinstudium [6] sind familienorientierte Maßnahmen ein wichtiger Bestandteil zukünftiger Aufgaben im Gesundheitssystem. Besonders die Schaffung einer bedarfsgerechten und idealerweise betrieblichen Kinderbetreuung wird die Wahl des beruflichen Standorts der Ärzt:innen bzw. jungen Ärzt:innen-Familien maßgeblich mit beeinflussen.

5.Die parallel entstandene Doppelversorgung durch strikte Trennung von ambulanter und stationärer Behandlung wird durch den entstehenden Ärzt:innenmangel ebenfalls in Frage gestellt. Eine weitgehende und regelhafte Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Versorgung durch die Möglichkeit zur ambulanten fachärztlichen Behandlung durch Krankenhausärzt:innen über persönliche und Institutsermächtigungen hinaus kann Versorgungslücken in der vertragsärztlichen Versorgung schließen [1, 2].

6.Bereits lange in der Diskussion ist die Neuordnung ärztlicher Aufgaben durch Delegation. Im Bereich von Dokumentation, Administration und Organisation können die Ärzt:innen entlastet werden [1]. Die Rahmenbedingungen für die Ausbildung und Etablierung von „Physician Assistants“ wurde durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) bereits 2017 definiert [13]. In der Gefäßchirurgie wurde ein strukturiertes Aus- und Weiterbildungsprogramm entwickelt und die neue Fachqualifikation „Gefäßassistent/In DGG®“ definiert und etabliert.

7.Ohne eine gezielt geförderte Zuwanderung kann der Mangel an Ärzt:innen nicht behoben werden, da der Wettbewerb um Ärzt:innen auch zunehmend international ausgetragen wird [2].

Aktuelle Initiativen

Die DGG hat durch zwei Kampagnen die Initiative ergriffen. Die Kampagnen „Gefäßchirurgie macht Schule“ und „Tür auf“ sollen einerseits bereits Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe und Studierende für die Gefäßchirurgie interessieren. Umfangreiches Informationsmaterial und Unterlagen sind hier über die Internetseite der DGG abrufbar. Der „Berufsverband der Deutschen Chirurgie“ (BDC) möchte mit seinem Projekt „Nur Mut! Kein Durchschnittsjob: ChirurgIn“ für das Fach Chirurgie begeistern sowie ganzheitlich informieren und unterstützen, eine bereits über Jahre aktive Initiative. Die Politik konzentriert sich im Wesentlichen auf lokaler Ebene auf die Nachwuchsförderung im Hausärztebereich, meist durch gemeinsame Unterstützungsprojekte mit der KBV und den Krankenkassen. Die Ärztekammer SA möchte mit der Initiative „Arzt in Sachsen-Anhalt“ zentrale Informationen und Fördermöglichkeiten rund um eine ambulante und stationäre Ärzt:innen-Tätigkeit in SA bündeln.

Diskussion

Die personelle Situation hat sich, statistisch gesehen, sowohl in der Anzahl registrierter Gefäßchirurg:innen im stationären Bereich als auch in der Quote pro 100.000 Einwohner:innen im stationären und ambulanten Bereich bei zumindest statistisch nachweisbarem konstantem Patient:innenaufkommen in Deutschland bezüglich der pAVK verbessert. Auffällig ist eine Altersverschiebung der Gefäßchirurg:innen überwiegend zu der Altersgruppe zwischen 50 und 60 Lebensjahren und den über 60-jährigen Kolleg:innen in Deutschland und insbesondere in SA. In Nordrhein-Westfalen ist der Anstieg in der Altersgruppe zwischen 35 und 40 Jahren am stärksten. Neben der deutlich geringeren Anzahl an Gefäßchirurg:innen in SA ist hier von einem höheren Altersdurchschnitt im Vergleich zu Nordrhein-Westfalen auszugehen. Während hier nur 15,75 % der stationär tätigen Gefäßchirurg:innen im Alter zwischen 50 und 60 Jahren ist, sind es in SA 40,38 %. Allein anhand dieses Unterschieds lässt sich erkennen, dass der Nachwuchsmangel in SA früher zum Tragen kommt. Die Anzahl der Ausbildungsassistent:innen in der Gefäßchirurgie in Deutschland und in den Bundesländern wird nicht erfasst und ist auf Basis der freiwilligen Angaben bei den Landesärztekammern nur schätzbar. Insofern kämen in SA bei 23 gefäßchirurgischen Versorgungseinheiten und 18 geschätzten Ausbildungsassistent:innen 0,78 Assistent:innen auf eine gefäßchirurgische Einheit. Eine genaue statistische Nachweisführung eines Nachwuchsmangels in der Gefäßchirurgie ist aus den aktuell zugänglichen Daten nicht möglich.

Die genaue Erfassung der Anzahl und des Ausbildungsstands von gefäßchirurgischen Ausbildungsassistent:innen ist eine dringliche Aufgabe, um eine verlässliche Bedarfsplanung zu generieren und gezielt Initiativen zur Rekrutierung zu führen. Auch wenn der aktuelle Stand des gefäßchirurgischen Nachwuchses statistisch nicht abgebildet werden kann, werden doch einige geplante gesundheitspolitische Entwicklungen der nächsten Jahre die Attraktivität der gefäßchirurgischen Weiterbildung beeinträchtigen. Die Empfehlungen des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung nach § 115b Abs. 1a SGB V umfasst die zusätzliche Aufnahme von 24 OPS-Codes im AOP-Katalog zur (perkutan-)transluminalen Implantation von nicht medikamentenfreisetzenden, medikamentenfreisetzenden, bioresorbierbaren und gecoverten Stents verschiedener Körperregionen, beschränkt auf einen Stent im gefäßchirurgischen Bereich [14]. Jedoch können nur ambulant tätige interventionelle Radiolog:innen eine ambulante Intervention durchführen, was bedeutet, dass die Ausbildung der gefäßchirurgischen Weiterbildungsassistent:innen in endovaskulären Techniken für Einrichtungen mit einer endovaskulär gefäßchirurgischen Dominanz zunehmend schwieriger bis kaum überwindbar wird. Aktuell erfolgt die systematische Prüfung der gefäßchirurgischen Kliniken und Abteilungen durch den MDK zur Qualitätssicherungs-Richtlinie zum Bauchaortenaneurysma (QBAA-RL). Es ist zu erwarten, dass einige gefäßchirurgische Einheiten im Zuge des durch die Corona-Pandemie verschärften Fachkräftemangels gerade in der intensivmedizinischen Fachpflege die geforderten Richtlinien nicht mehr umfänglich erfüllen und damit nicht mehr an der Versorgung von Bauchaortenaneurysmen teilnehmen können. Die führt zu einem weiteren Ausbildungsdefizit, was die Attraktivität der gefäßchirurgischen Weiterbildung gerade in strukturschwachen Regionen weiter mildern sollte. Auch die geplante Änderung der Krankenhausstruktur durch Abstufung in drei Krankenhauslevel könnte die bisher bestehende Attraktivität kleinerer gefäßchirurgischer Einheiten weiter schmälern und zur Abwanderung von Ausbildungsassistent:innen in andere Fachgebiete führen. Dies würde gerade in ländlichen Regionen wie SA die breite und qualitativ hochwertige gefäßchirurgische Versorgung gefährden. Inwieweit die Überwindung von Sektorengrenzen (stationär/ambulant), die Erweiterung des ambulanten Operierens und die zunehmende Zentralisierung Einfluss auf die Personalsituation in der Gefäßchirurgie ausüben, kann nicht vorhergesagt werden.

Bislang ist die Vergütung ambulanter gefäßchirurgischer Operationen, wobei hier nur Varizen- und AV-Shuntoperationen verbleiben, da die Durchführung ambulanter (perkutan-)transluminaler Interventionen an eine(n) interventionell tätige(n) Radiolog:in gekoppelt ist, unzureichend vergütet. Alternativ wäre hier das Konzept von operierenden niedergelassenen Gefäßchirurg:innen zu nennen, wodurch sowohl Übergabesituationen zwischen den Sektoren und Fehler vermieden werden als auch gewährleistet wird, dass exakt die Therapie durchgeführt wird, die in langen Gesprächen und oft monatelangen abwägenden Prozessen mit Patient:innen sowie ggf. Angehörigen besprochen worden sind [15]. Somit würden ambulante Versorgungsdefizite ausgeglichen werden. Dies könnte für den Hauptanteil der Gefäßchirurg:innen in Deutschland in der Altersgruppe zwischen 40 und 50 Jahren eine Alternative darstellen. Ungeachtet dessen, sollten vermehrte Anstrengungen zur Generierung des gefäßchirurgischen Nachwuchses in den nächsten Jahren erfolgen. Dazu werden zunehmend auch auf Lokal- und Länderebene Initiativen zur Gewinnung des Nachwuchses gestartet werden müssen.

Die im Folgenden genannten Anregungen sollen als Diskussionsbasis für einen breiten Austausch verstanden werden und dazu anregen, weitere Lösungsvorschläge und Initiativen in die Diskussion mit einzubringen:

Um die Bedeutung der Gefäßchirurgie zu unterstreichen, ist die Schaffung eines Lehrstuhls für Gefäßchirurgie (Gefäßmedizin) an den Universitäten dringend zu fordern, um die Gefäßchirurgie aus ihrem Sektionsdasein in klinischer und akademisch-wissenschaftlicher Hinsicht herauszuholen. Die Gefäßchirurgie muss für Humanmedizinstudierende sichtbarer und präsenter werden [16]!

Zudem sollten mehr landeseigene Weiterbildungen für junge Assistenzärzt:innen angeboten werden. Zu denken ist dabei an Naht- und Interventionskurse, die in Zusammenarbeit mehrerer Kliniken organisiert und durchgeführt werden können, ohne eine Konkurrenzsituation zwischen den Kliniken zu erzeugen.

Die Veränderung der Krankenhausstruktur erfordert die Schaffung neuer Ausbildungskooperationen zwischen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Weiterbildungsermächtigungen, um die in der Weiterbildungsordnung verankerten Ausbildungsinhalte den Weiterbildungsassistent:innen vollständig anbieten zu können.

Im Zuge dessen sollte entsprechend dem „Perspektivforum Junger Chirurgen“ der „Deutschen Gesellschaft für Chirurgie“ den gefäßchirurgischen Weiterbildungsassistent:innen eine Plattform auf Landesebene zum Austausch und breiter Diskussion gegeben werden.

Zusammenfassung

Trotz der statistisch nachweisbaren Verbesserung der Personalsituation an Fachärzt:innen für Gefäßchirurgie im stationären und ambulanten Bereich ist von einem Nachwuchsproblem auszugehen. Hier gibt es große regionale Unterschiede, wie am Vergleich zweier Bundesländer gezeigt. Um die Nachwuchsgewinnung zielgerichtet zu gestalten, ist zunächst die umfängliche Erfassung der Grunddaten der Personalsituation und Personalentwicklung im Bereich der Weiterbildungsassistent:innen in der Gefäßchirurgie erforderlich. Darüber hinaus sollte weiter an der Umsetzung der bereits vor Jahren empfohlenen Handlungsempfehlungen von wissenschaftlichen Gutachten auf Landes- und Bundesebene gearbeitet werden. Eine Wende ist nur in Zusammenarbeit aller Gefäßchirurg:innen im Land zu erreichen mit konkreten Vorschlägen und Forderungen an die Landespolitik und Klinikbetreiber. Leiteinrichtung und Koordinator sollten dabei die Universitätskliniken sein, die den unmittelbaren Zugang zu den Medizinstudierenden haben. Deshalb ist die Stärkung der Gefäßchirurgie durch Schaffung landeseigener Lehrstühle für Gefäßchirurgie dringend zu fordern.

Literatur

[1]   Blum K, Löffert S (2010) Ärztemangel im Krankenhaus – Ausmaß, Ursachen, Gegenmaßnahmen. Forschungsgutachten im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft. https://www.dki.de/sites/default/files/2019-05/aerztemangel%20in%20kliniken.pdf. Zugriff am 10.02.2023

[2]   Ostwald DA, Ehrhard T, Bruntsch F, Schmidt H, Friedl C (2010) Fachkräftemangel. Stationärer und ambulanter Bereich bis zum Jahr, 2030. https://www.pwc.de/de/gesundheitswesen-und-pharma/assets/fachkraeftemangel.pdf. Zugriff am 10.02.2023

[3]   Gesundheitsversorgung. https://www.gbe-bund.de. Zugriff am 06.02.2023

[4]   Ärztestatistik zum 31. Dezember 2021 https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Ueber_uns/Statistik/2021/2021_Statistik.pdf. Zugriff am 29.04.2023

[5]   Zertifizierte Gefäßzentren der DGG. https://www.gefaesschirurgie.de/patienten/zertifizierte-gefaesszentren. Zugriff am 07.02.2023

[6]   KBV-Gesundheitsdaten. https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/17074.php. Zugriff am 08.02.2023

[7]   Kühnl A, Knipfer E, Lang T, Bohmann B, Trenner M, Eckstein HH (2020). Hospital incidence, in-patient care and outcome of peripheral arterial occlusive disease and arterial thrombosis/embolism in Germany, 2005–2018. Gefässchirurgie 25, 433–445

[8]   Rammos C, Steinmetz M, Lortz J, Mahabadi AA, Petrikhovich O, Kirsch K, Hering R, Schulz M, Rassaf T (2021) Peripheral artery disease in Germany (2009–2018): Prevalence, frequency of specialized ambulatory care and use of guideline-recommended therapy–A population-based study. Lancet Reg Health Eur 5: 100113

[9]   Spoden M (2019) Amputationen der unteren Extremität in Deutschland–Regionale Analyse mit Krankenhausabrechnungsdaten von 2011 bis 2015. Das Gesundheitswesen 81: 422–430

[10] Udelnow A, Smorodin S, Sinicin E, Korsake K, Meyer F, Halloul Z (2018) Warum ist Sachsen-Anhalt Schlusslicht bei Prophylaxe und Therapie kardiovaskulärer Krankheiten? (Teil 2). Ärzteblatt Sachsen-Anhalt 29(12): 32–35

[11] Halloul Z, Meyer F, Lippert H (2009) Die integrierte Gefäßchirurgie an der Universität – ein Positionspapier. Ärzteblatt Sachsen-Anhalt 20: 16–19

[12] Hellmann W (2021) Die Chirurgie hat Zukunft. Innovative Aus- und Weiterbildung als Erfolgsfaktor. Reihe „essentials“, Springer, Heidelberg Berlin

[13] Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung. Physician Assistant – Ein neuer Beruf im deutschen Gesundheitswesen. https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/Fachberufe/Physician_Assistant.pdf. Zugriff am 11.02.2023

[14] IGES Gutachten nach § 115b Abs. 1a SGB V Annex OPS Empfehlungen. https://www.iges.com/kunden/gesundheit/forschungsergebnisse/2022/erweiterter-aop-katalog/index_ger.html. Zugriff am 02.01.2023

[15] Gregor S, Schick K, Müller C, Pourhassan S, Noppeney T, Pleye J (2022) Niedergelassene Gefäßchirurgie, eine Chance für die Zukunft? Passion Chirurgie 12(01/02): Artikel 03_04

[16] Barth U, Meyer F, Halloul Z (2022) Spezifika der Lehre in der Gefäßchirurgie im interdisziplinär-chirurgischen Setting. Die Chirurgie 93(10): 966–975

Korrespondierender Autor:

Dr. med. Udo Barth

Arbeitsbereich Gefäßchirurgie

Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie

Universitätsklinikum Magdeburg A. ö. R.

Leipziger Straße 44

39120 Magdeburg

Prof. Dr. med. habil. Frank Meyer

Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie

Universitätsklinikum Magdeburg A. ö. R.

Prof. Dr. med. habil Zuhir Halloul

Arbeitsbereich Gefäßchirurgie

Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie

Universitätsklinikum Magdeburg A. ö. R.

Chirurgie+

Barth U, Meyer F, Halloul Z: Der Fachkräftemangel in der Gefäßchirurgie – eine gemeinsame Aufgabe. Passion Chirurgie. 2024 April; 14(04): Artikel 04_02.

Mehr zur Gefäßchirurgie finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Gefäßchirurgie.

Die Anforderung der Barrierefreiheit für D-ärztliche Praxen

Die Anforderungen der gesetzlichen Unfallversicherungsträger vom 01.01.2024 für das Durchgangsarztverfahren sehen u. a. vor, dass die Praxis barrierefrei zugänglich und entsprechend ausgestattet sein muss. Diese Forderung gilt für alle Anträge auf Beteiligung am Durchgangsarztverfahren seit Jahresbeginn. Dazu zählen auch Anträge von Durchgangsärztinnen und Durchgangsärzten, die infolge einer Praxisverlegung ihre Beteiligung am Verfahren neu beantragen müssen.

Die Thematik ist im Bereich der Durchgangsarztanforderungen nicht völlig neu. Bereits seit den Bestimmungen von 1999 müssen durchgangsärztliche Praxen zumindest für nicht gehfähige Unfallverletzte zugänglich und ausgestattet sein. Nachdem die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) seit dem 26.03.2009 geltendes Recht in Deutschland geworden ist, ist auch die gesetzliche Unfallversicherung verpflichtet, die Ziele der UN-BRK zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen umzusetzen. Dazu zählt u. a. auch die Anforderung nach barrierefreien D-ärztlichen Praxen.

Gegenüber früheren Regelungen ist der Begriff der Barrierefreiheit in den neuen Anforderungen für das Durchgangsarztverfahren von 2024 umfassender. Er beschränkt sich nicht nur auf Menschen mit Einschränkungen der Gehfähigkeit, sondern schließt grundsätzlich alle Arten von Behinderungen ein. Das Ziel, eine Praxis in diesem Sinne vollständig barrierefrei zu gestalten, ist kaum zu erreichen. Diesem kann sich daher nur schrittweise angenähert werden, insbesondere wenn es sich um Praxisräume in Bestandsgebäuden handelt. Nachfolgend werden die wichtigsten Kriterien angeführt, die für eine barrierefreie Zugänglichkeit und Ausstattung durchgangsärztlicher Praxen von Bedeutung sind. Orientierende Beurteilungsgrundlage bildet die DIN 18040-1, Planungsgrundlagen für barrierefreies Bauen für öffentlich zugängliche Gebäude – Teil 1, von 2010. Zu den öffentlichen Gebäuden zählen auch Einrichtungen des Gesundheitswesens.

Zugang zur Praxis

Der Zugang zur Praxis sollte möglichst ebenerdig und frei von Stufen und Schwellen sein. Der Untergrund muss so beschaffen sein, dass ohne große Kraftanstrengungen und Unfallgefahr eine Fortbewegung mit Rollstuhl, Rollator oder auch Unterarmgehstützen möglich ist. Untergründe wie Kies, Sand oder grobes Kopfsteinpflaster sind ungeeignet. Sofern für den Zugang zum Gebäude eine Rampe erforderlich ist, gibt die o. g. DIN dafür notwendige Maße und Steigungswinkel vor, die einzuhalten sind. Sowohl die Zugangstür zum Gebäude als auch die Eingangstür zur Praxis müssen leicht zu öffnen und ausreichend groß bemessen sein. Die lichte Mindestbreite beträgt 0,90 m. Türen mit besonderen Brandschutzeigenschaften haben oftmals ein hohes Eigengewicht und brauchen daher zum Öffnen unterstützend einen automatischen Türantrieb. Karussell- oder Pendeltüren sind nicht barrierefrei. Zu einem barrierefreien Zugang gehört auch ein ausgewiesener Behindertenparkplatz sowie eine gut lesbare Ausschilderung zur Praxis.

Abb. 1: Der Eingang zu einer chirurgischen Praxis; Stufen und schwergängige Türen bilden noch immer die häufigsten Barrieren für Menschen mit Behinderungen.

Ist zum Erreichen der Praxis ein Aufzug erforderlich, muss dieser gewissen Anforderungen entsprechen. Neben einer ausreichenden Bewegungsfläche vor dem Aufzug sollte die Kabine im Inneren mindestens 1,10 m x 1,40 m groß sein, um den Transport eines Rollstuhlbenutzenden einschließlich Begleitperson zu ermöglichen. Für die Aufzugtür gilt ebenfalls die bereits erwähnte Mindestbreite von 0,90 m. Das Bedienfeld des Aufzugs sollte so gestaltet sein, dass es auch für Menschen mit Sehbehinderung geeignet ist. Sogenannte Treppenlifte, die bevorzugt in privaten Haushalten eingesetzt werden, sind ungeeignet, weil ein Rollstuhl oder Rollator nicht transportiert werden kann.

Ausstattung der Praxis

Bei der Ausstattung der Praxis liegt das Hauptaugenmerk auf den Türbreiten und ausreichenden Bewegungsflächen in den Funktionsräumen, die für die Versorgung der Patienten notwendig sind, einschließlich Wartezimmer und Sanitärbereich. Wie bereits oben angeführt, gilt auch hier das Mindestmaß von 0,90 m lichte Breite für die Türen.

Mindestens ein Untersuchungs- und Behandlungsraum muss so ausgestattet sein, dass ein ausreichendes Platzangebot zum Anfahren der höhenverstellbaren Untersuchungsliege mit einem Rollstuhl besteht. Die Liege muss dabei so im Raum platziert werden können, dass sie von beiden Seiten angefahren werden kann. Gleiches gilt für den Röntgentisch im Röntgenraum.

Die Tür zum Behinderten-WC muss sich nach außen öffnen. Im Raum selbst muss vor dem WC-Becken eine ausreichende Bewegungsfläche von mindestens 1,5 m x 1,5 m als Rangierfläche zur Verfügung stehen sowie neben dem WC-Becken eine Anfahrbreite von 0,90 m. Bei Neubauplanungen müssen beide Seiten des WC-Beckens anfahrbar sein. In Bestandsgebäuden muss das WC-Becken mindestens von einer Seite angefahren werden können. Darüber hinaus gehören zur Ausstattung des Sanitärraums stufenlos arretierbare Stützgriffe, um das Umsetzen vom Rollstuhl auf das WC-Becken zu ermöglichen sowie ein akustischer und optischer Alarm (Zwei-Sinne-Prinzip). Weitere Ausstattungsdetails finden sich in der o. g. DIN. Die Nutzung einer behindertengerechten WC-Anlage durch mehrere Praxen auf einer Ebene oder innerhalb eines Gebäudes ist grundsätzlich möglich, wenn der Zugang von der D-ärztlichen Praxis zur Anlage ebenfalls barrierefrei und im Alarmfall eine kurzfristige Hilfestellung sichergestellt ist.

Auch das Wartezimmer muss ausreichend Platzgelegenheit für Rollstuhlbenutzende aufweisen. Feststehende Sitzbänke sind in der Regel ungeeignet. Eine Abstellfläche für Rollstühle, Rollatoren und Unterarmgehstützen kann dagegen auch außerhalb des Wartebereiches eingerichtet werden.

Neben den vorgenannten Kriterien gibt es weitere Bereiche, die die Nutzung der Praxisräumlichkeiten für Menschen mit Behinderungen grundsätzlich ermöglichen, aber nur unter erschwerten Bedingungen. Dazu kann z. B. der Empfangstresen gehören, wenn er ausschließlich für Patienten konzipiert ist, die vor dem Tresen aufrecht stehen. Patienten, die dagegen an den Rollstuhl gebunden sind, können in diesem Fall vom Praxispersonal, das auf der anderen Seite des Tresens sitzt, nicht gesehen werden. Ist auch ein Unterfahren des Tresens nicht möglich, ist durch den erhöhten Abstand die Verständigung erschwert und das Anreichen von Unterlagen oftmals gar nicht möglich. Für sehbehinderte Menschen sind eine kontrastreiche Farbgebung und gut lesbare Beschilderungen wichtig, was nicht immer ausreichend Berücksichtigung findet. Im Rahmen von Praxisbegehungen sprechen wir auch solche Themen an, mit dem Ziel, bei späteren Sanierungs- oder Renovierungsarbeiten entsprechende Veränderungen vorzunehmen.

Schlusswort

Das Thema Barrierefreiheit ist sehr umfangreich und, wie eingangs angeführt, wird dieses Ziel voraussichtlich nie vollständig erreicht werden können. Wichtig ist daher, das Bewusstsein für dieses Thema weiter zu stärken, um sich dem Ziel so weit wie möglich anzunähern. Wenn Betroffene über ihre Erfahrungen berichten, wie schwierig es für sie noch immer ist, selbst in Großstädten wie Hamburg, z. B. eine Zahnarzt- oder Hautarztpraxis zu finden, die rollstuhlgerecht ist, wird deutlich, wie groß noch immer der Handlungsbedarf ist. Dieser wird durch den demografischen Wandel zusätzlich erhöht. Das Thema erfordert zudem auch baufachliche Kenntnisse, weshalb bei Neu- und Umbauten die Hinzuziehung von auf diesem Fachgebiet spezialisierte Architektinnen und Architekten sehr zu empfehlen ist. Ärztinnen und Ärzte, die eine Beteiligung am Durchgangsarztverfahren anstreben, sollten zusätzlich vor dem Kauf einer bestehenden Praxis oder dem Bau neuer Praxisräume mit dem zuständigen Landesverband der DGUV Kontakt aufnehmen. Die Beratung dort erfolgt kostenfrei.

Thomas Ideker

Stellvertretender Geschäftsstellenleiter

Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. (DGUV)

Landesverband Nordwest

Hildesheimer Str. 309

30519 Hannover

[email protected]

Chirurgie+

Ideker T: Die Anforderung der Barrierefreiheit für D-ärztliche Praxen. Passion Chirurgie. 2024 April; 14(04): Artikel 04_05.

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Was bleibt, wenn die Mindestmenge in der kolorektalen Karzinomchirurgie kommt?

Situation

Mit Inkrafttreten des Krankenhausstrukturgesetzes am 01.01.2016 wurde der Prozess der Reformierung der Krankenhauslandschaft in Deutschland eingeleitet. Ziele des Gesetzes sollen die Entökonomisierung, die Sicherung und Steigerung der Behandlungsqualität und die Entbürokratisierung des Systems sein. Im Juli 2023 haben sich Bund und Länder hierzu auf ein Eckpunktepapier geeinigt [1]. Das Bundesgesundheitsministerium hat hieraus konkrete Gesetzesänderungsvorschläge erarbeitet. Diese wurden als erster Entwurf für ein Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) im September 2023 bekannt gegeben. Seitdem streiten Bund und Länder über die inhaltliche Ausgestaltung. Aktuell liegt ein mehrfach angepasster Arbeitsentwurf vor. Dieser ist jedoch wegen anhaltender Vorbehalte der Länder nicht beschlussfähig. Ein neuer Referentenentwurf hierzu ist derzeit in Arbeit. [2]. Kern des Gesetzes ist die Verbesserung der Versorgungsqualität und die Reform der Krankenhausvergütungsstrukturen [3]. Letztere sieht eine Klinikfinanzierung nach drei Kriterien vor: Vorhalteleistungen, Versorgungsstufen und Leistungsgruppen. Mit den Vorhalteleistungen soll die bisherige Finanzierung über Fallpauschalen abgelöst werden, da diese einen wirtschaftlichen Druck zur Fallzahlsteigerung erzeugt hat. Künftig sollen die Kliniken einen definierten Betrag für die Bereitstellung bestimmter Leistungen, unabhängig von der erbrachten Fallzahl, erhalten. Weiterhin ist eine Einteilung der Kliniken in Versorgungsstufen (sog. Level) in der Diskussion. Für jedes Level sollen dann klar definierte Mindestvoraussetzungen geschaffen werden. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um die Level 1-Grundversorgung, Level 2-Regel- und Schwerpunktversorgung und Level 3-Maximalversorgung. Weiterhin wird im Zuge der Reform die Etablierung von Leistungsgruppen (LG) geprüft. Diese LG sollen nach den geltenden ICD-10 und OPS-Codes definiert werden. In der Chirurgie könnte nach diesem Plan beispielsweise die LG 2.0 Basisbehandlung Allgemeine Chirurgie, die LG 2.7 Viszeralchirurgie und die LG 2.7.4 Pankreaseingriffe eingeführt werden. Die Zuweisung der LG an die Krankenhäuser würde durch die Länder erfolgen. Als Entscheidungsgrundlage für die Zuweisung soll die Erfüllung genau definierter Voraussetzungen hinsichtlich personeller und apparativer Ausstattung sowie vorhandener Struktur- und Prozesskriterien dienen. Je nach Komplexität wird für jede LG festgelegt, welche Versorgungsstufe das Krankenhaus für die Erbringung (und damit Vergütung) aufweisen muss. Im o. g. Beispiel kann somit die LG 2.0 in allen Krankenhäusern (Level I-III), die LG 2.7 nur in Level II+III- und die LG 2.7.4 nur in Level III-Kliniken erbracht werden. Hierdurch soll die Behandlungsqualität der Patienten maßgeblich verbessert werden. Ein weiteres Element, um die Qualität der Krankenhausbehandlung zu verbessern, ist die Einhaltung von Mindestmengen. Diese werden vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) weiterhin erarbeitet, wobei als wissenschaftliche Grundlage der Zusammenhang zwischen der Leistungsmenge und der Qualität eines Eingriffes berücksichtigt wird.

Mindestmengen in der Viszeralchirurgie

In der Viszeralchirurgie wurde auf dieser Grundlage 2020 die jährliche Mindestmenge für komplexe Eingriffe an der Speiseröhre von zehn auf 26 erhöht. Die wissenschaftliche Grundlage für eine Mindestmengenregelung in der Chirurgie kolorektaler Karzinome wurde durch das IQWIG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) im Auftrag des G-BA bereits im April 2023 vorgelegt [4]. In der Auswertung 19 retrospektiver Kohortenstudien konnte der Zusammenhang zwischen Leistungsmenge und Behandlungsqualität zugunsten der Krankenhäuser mit höherer Leistungsmenge nachgewiesen werden. Es kann daher mit großer Sicherheit von der Einführung einer Mindestmengenregelung für kolorektale Karzinome ausgegangen werden.

Über die Höhe der jährlich zu erbringenden Eingriffe an Kolon und Rektum sind bisher keine offiziellen Informationen bekannt. Die Einführung einer Mindestmenge bedeutet für die Krankenhäuser, sie dürfen eine Leistung nur dann erbringen, wenn sie die erforderliche Mindestmenge im nächsten Kalenderjahr voraussichtlich erreichen werden. Hierdurch ist eine tiefgreifende und nachhaltige Veränderung der viszeralchirurgischen Versorgungsstrukturen zu erwarten, welche auch wesentlichen Einfluss auf die chirurgische Aus- und Weiterbildung haben wird.

KLK und BDC initiieren Befragung an 730 chirurgischen Kliniken in Deutschland

Auf Initiative des KLK (Konvent leitender Krankenhauschirurginnen und -chirurgen) in Zusammenarbeit mit dem BDC (Berufsverband der Deutschen Chirurgie) wurden diese anstehenden Veränderungen zum Anlass genommen, die derzeitige Versorgungsrealität in der kolorektalen Chirurgie in Deutschland zu hinterfragen. Im Januar 2023 wurde hierzu eine Umfrage an den 730 chirurgischen Kliniken Deutschlands durchgeführt. Neben wenigen weiteren Parametern sollten für das Jahr 2022 (bzw. für einen Zeitraum von 12 Monaten innerhalb der letzten drei Jahre) jeweils die Anzahl der Kolon- und Rektumresektionen, unterteilt nach gutartigen und bösartigen Befunden, angegeben werden (Abb. 1). 201 Kliniken nahmen an der Umfrage teil (Rücklaufquote 27,5 %). Die geografische Verteilung war bundesweit ausgeglichen. (Abb. 2) [5].

Abb. 1: Umfragebogen

Abb. 2: Teilnehmende Kliniken je Bundesland

Die Hälfte der antwortenden Kliniken waren DKG-zertifizierte Darmkrebszentren (Abb. 3). Die Wichtung der Krankenhäuser hinsichtlich ihrer Versorgungsstruktur ist in der Umfrage zwischen Grundversorgern (Ø 250 Betten) und Schwerpunktversorgern (Ø 540 Betten) mit 49 % zu 45 % nahezu ausgeglichen. Maximalversorger (Ø 850 Betten) waren mit 5 % tendenziell leicht unterrepräsentiert (Abb. 4).

Abb. 3: DKG-Zertifizierung

Abb. 4: Versorgungsstufe der Kliniken

Die in den Abbildungen dargestellten Zahlen stellen Durchschnittswerte dar. Die Auswertung erfolgte gestaffelt, abhängig von der angegebenen Versorgungsstufe des Krankenhauses, was mit der Höhe der durchschnittlichen Bettenzahl korrelierte. Während die Eingriffszahlen am Kolon mit knapp 80/Jahr auch an den Grundversorgerkliniken noch hoch war und sich zwischen Schwerpunkt- und Maximalversorgern mit 122 bzw. 128/Jahr nicht wesentlich unterschied, zeigte sich bei den Rektumoperationen eine erhebliche Differenz. Hier lag der Fokus klar auf den großen Häusern, von deren Eingriffszahlen die Schwerpunktversorger nur ≈ 75 % und die Grundversorger nur ≈ 40 % erreichten (Abb. 5). Werden die Eingriffe hinsichtlich der Dignität des Grundleidens differenziert (Abb. 6) zeigt sich, dass bei den Koloneingriffen der Maximalversorger die onkologische Chirurgie im Vordergrund steht. In den anderen beiden Versorgungsstufen sind hingegen benigne Befunde in der Überzahl, welche sich vermutlich im Wesentlichen aus der Sigmadivertikulitis, den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und der Notfallchirurgie generieren. Etwas überraschend war die hohe Anzahl an benignen Eingriffen am Rektum. Hier ist zu vermuten, dass es sich nicht in erster Linie um Resektionsoperationen gutartiger Befunde, sondern eher um Eingriffe aus dem Bereich der Proktologie bzw. Beckenbodenchirurgie handelt (STARR, Transtar™, Rektopexie u. ä.). Dafür spricht eine relativ deutliche Inhomogenität der Eingriffszahlen, was vermutlich auf wenige spezialisierte Zentren schließen lässt. Unter Einbezug aller Kliniken liegt der Durchschnitt bei 15 und der Median bei 8 benignen Rektumeingriffen pro Jahr (Abb. 7). Nur ca. ein Viertel der Kliniken führt jährlich > 20 dieser Operationen aus. Für alle DKG-zertifizierten Zentren sind Mindestmengen in der Chirurgie kolorektaler Karzinome bereits jetzt ein bekanntes und relevantes Thema.

Abb. 5: Kolorektale Resektionen je Versorgungsstufe

Abb. 6: Eingriffe differenziert nach Dignität

Abb. 7: Statistische Verteilung benigner Rektumresektionen

Über den „Jahresbericht Darm“ sind die Eingriffszahlen der 297 Zentren einsehbar. Bereits die derzeit geforderten Mindestmengen (Kolon 30/a und Rektum 20/a) können von einigen Zentren nicht erreicht werden. Im aktuellen Bericht von 2023 konnten für das Kolon 12 (4 %) und für das Rektum 61 (20 %) Zentren die Sollvorgabe nicht erfüllen (Abb. 8 und 9) [6].

Abb. 8: DKG Jahresbericht 2023 Kolon [6]

Abb. 9: DKG Jahresbericht 2023 Rektum [6]

Konsequenzen möglicher zukünftiger Mindestmengen für die Kliniken

Über die Höhe der anstehenden Mindestmengen gibt es bisher keine offiziellen Angaben. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass mindestens die derzeit gültigen Sollvorgaben der DKG für kolorektale Karzinome gefordert werden. Auch eine deutlich größere Menge wäre, nach der Erfahrung mit der Mindestmenge Ösophagus, nicht unwahrscheinlich. In den folgenden Diagrammen wird anhand der Umfragedaten exemplarisch veranschaulicht, welche Konsequenzen die jeweilige Neuregelung für die Kliniken hätte. Eine Vorgabe von 30 Kolonkarzinomen/a könnte von 26 % der Kliniken nicht erfüllt werden. Bei einer Steigerung auf 50 Eingriffe/a wären schon 62 % der Kliniken betroffen (Abb. 10 und 11). Noch deutlicher wird es beim Rektumkarzinom. Hier würden 46 % der Kliniken an einer Vorgabe von 20 Eingriffen/a und 70 % an einer Vorgabe von 25 Eingriffen/a scheitern (Abb. 12 und 13).

Abb. 10: 10 Kliniken mit < 30 Kolonkarzinome

Abb. 11: Kliniken mit < 50 Kolonkarzinome

Abb. 12: Kliniken mit < 20 Rektumkarzinomen/a

Abb. 13: Kliniken mit <25 Rektumkarzinomen/a

Auswirkungen für Kliniken sowie auf die Weiterbildung

Für diese Häuser, welche die Vorgaben nicht erfüllen können, bliebe somit ausschließlich die kolorektale Chirurgie benigner Befunde und die Notfallversorgung. In Abbildung 14 sind isoliert nochmal die Eingriffsmengen benigner Befunde dargestellt. Die chirurgische Aus- und Weiterbildung in diesen Kliniken wäre eine neue Herausforderung und ohne Rotationen in die entsprechenden Zentren in der nötigen Breite gar nicht abzudecken. Nach Auswertung der Daten werden an den Häusern der Grund- und Regelversorgung im Durchschnitt drei und an denen der Schwerpunktversorgung vier Weiterbildungsassistenten beschäftigt. Bei vorgeschriebenen 30 Koloneingriffen für den Facharzt für Allgemeinchirurgie bzw. Viszeralchirurgie müssen über eine Weiterbildungszeit von sechs Jahren pro Assistent fünf Eingriffe/a gerechnet werden. Sowohl für Grund- als auch Schwerpunktversorger ergibt sich daraus die Konsequenz, dass jeder dritte Eingriff am Kolon zum Ausbildungseingriff wird. Die Gewährleistung einer fundierten Weiterbildung des chirurgischen Nachwuchses wird somit eine weitere der zahlreichen Aufgaben, welche auf die chirurgischen Kliniken zukommen werden.

Abb. 14: Anteil der Ausbildungs-OP’s bei benignen Befunden

Ausblick

Es muss Klarheit darüber bestehen, dass die Einführung von Mindestmengen in der Chirurgie kolorektaler Karzinome zu erheblichen Veränderungen in der allgemein- und viszeralchirurgischen Versorgungsstruktur führen wird. Ein ganz wesentlicher Aspekt hierbei wird sein, ob die Entitäten Kolon und Rektum getrennt gewertet oder zusammengefasst werden. Bedeutet ein Unterschreiten der Rektum-Mindestmenge auch ein Aus für die Koloneingriffe? Wie die Daten gezeigt haben, kann fast die Hälfte aller Kliniken keine 20 Rektumkarzinomresektionen pro Jahr erreichen. Auch für Zentren wird ein Erreichen der Mindestmenge durch sinkende Inzidenzen [7] und Zunahme multimodaler Therapien (total neoadjuvante Therapie-TNT) zunehmend zur Herausforderung. Es herrscht Konsens darüber, dass die Behandlungsqualität der Patienten gesichert und verbessert werden soll. Inwieweit Mindestmengen hier der richtige Weg sind, muss jedoch sehr genau und differenziert abgewogen werden. Wenn Mindestmengen zum Zweck der verbesserten Versorgung onkologischer Patienten in der Folge vor allem im ländlichen Raum zu Klinikschließungen führen, ist für die Gesamtheit der regionalen Bevölkerung eher ein negativer Effekt auf die Versorgungsqualität zu befürchten. Auf der anderen Seite gibt es für eine gute medizinische Versorgung von Patienten mit kolorektalen Karzinomen mit den zertifizierten Darmzentren bereits jetzt Strukturen, deren Effekt mit der WiZen-Studie wissenschaftlich belegt werden konnte [8]. Neben den bereits genannten Mindestmengen werden hier zahlreiche weitere Parameter in der Prozess- und Strukturqualität stetig geprüft und optimiert. Eine Umstrukturierung der Kliniken hinsichtlich dieser Qualitätsparameter anzustreben steigert die Behandlungsqualität wahrscheinlich mehr, als die Umsetzung einer Mindestmenge.

Es ist unstrittig, dass es in Ballungsräumen ein Überangebot an Kliniken gibt und hier eine gewisse Bereinigung hinsichtlich der angebotenen Leistungen sinnvoll ist. Eine Übertragung auf die dünner besiedelten ländlichen Regionen ist jedoch nicht ohne weiterreichende Folgen denkbar. Es sollte zudem nicht unterschätzt werden, wie komplex ein solcher Neuordnungsprozess sein kann. Kliniken mit sehr geringen Zahlen werden zweifellos aus der Versorgung gehen müssen, solche mit hohen Zahlen werden hingegen allenfalls eine weitere Zunahme der Fallzahlen organisieren müssen. Dazwischen gibt es jedoch eine große Anzahl von Kliniken mit mittleren Eingriffszahlen, was die flach verlaufende Kurve der Diagramme veranschaulicht. Die Annahme, das von drei Kliniken knapp unter der Mindestmenge die Eingriffe einer Klinik einfach auf die anderen beiden übertragen werden, ist theoretisch nachvollziehbar. In der Realität wird jedoch kaum eine Klinik freiwillig auf diesen wichtigen Teil des Spektrums verzichten. So sind in der Übergangsphase ethisch fragwürdige „Kämpfe“ um die Patienten zu befürchten. Zudem können die Kliniken in dieser Zeit kaum zukunftsorientiert planen da unklar ist, ob demnächst mehr oder gar keine kolorektale Karzinomchirurgie stattfinden wird.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine Einführung von Mindestmengen für die Chirurgie kolorektaler Karzinome zu erheblichen Umstrukturierungsprozessen lokal, regional und überregional führen wird, welche die Kliniklandschaft, wie wir sie heute kennen, nachhaltig verändern und die chirurgische Ausbildung vor neue Herausforderungen stellen wird. Insbesondere für die Weiterbildung steht die Forderung nach unverzüglichen und sinnvollen Anpassungen im Vordergrund.

Literatur

[1]   „Eckpunktepapier – Krankenhausreform“, 2023, [Online]. Verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Krankenhausreform/Eckpunktepapier_Krankenhausreform_final.pdf

[2]   „Lauterbach: Krankenhausreform ist ein gutes Stück vorangekommen“. [Online]. Zugegriffen: 13. Januar 2024; Verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/lauterbach-krankenhausreform-ist-ein-gutes-stueck-vorangekommen.html

[3]   „Dritte Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“, [Online]. Zugegriffen: 13. Januar 2024; Verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Krankenhausreform/3te_Stellungnahme_Regierungskommission_Grundlegende_Reform_KH-Verguetung_6_Dez_2022_mit_Tab-anhang.pdf

[4]   „Chirurgie kolorektaler Karzinome: Die Erfolgsaussichten steigen mit höheren Fallzahlen“, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). [Online]. Zugegriffen: 13. Januar 2024; Verfügbar unter: https://www.iqwig.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-detailseite_91840.html

[5]   „Krankenhäuser 2022 nach Trägern und Bundesländern“, Statistisches Bundesamt. [Online]. Zugegriffen: 13. Januar 2024; Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Krankenhaeuser/Tabellen/eckzahlen-krankenhaeuser.html

[6]   Deutsche Krebsgesellschaft e.V., „Jahresbericht der zertifizierten Darmkrebszentren Kennzahlenauswertung 2023 Auditjahr 2022 / Kennzahlenjahr 2021“. [Online]. Zugegriffen: 13. Januar 2024; Verfügbar unter: https://www.onkozert.de/wordpress/wp-content/uploads/2023/11/qualitaetsindikatoren_darmkrebs_2023-A1_230629.pdf?v=64142134

[7]   Inzidenz und Mortalität proximaler und distaler kolorektaler Karzinome in Deutschland Trends in der Ära der Vorsorgekoloskopie Cardoso R et. al. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 281–7; DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0111

[8]   Krebserstbehandlung in zertifizierten versus nichtzertifizierten Krankenhäusern Ergebnisse der vergleichenden Kohortenstudie WiZen. Schmitt J et al. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 647–54; DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0169

Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. med. habil. Kaja Ludwig

Chefarzt

Hanse- und Universitätsstadt Rostock

Eigenbetrieb „Klinikum Südstadt Rostock“

Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Rostock

Südring 81

18059 Rostock

[email protected]

Chirurgie+

Scholz M, Steffen H, Möller D, Krones CJ, Meyer HJ, Ludwig K: Was bleibt, wenn die Mindestmenge in der kolorektalen Karzinomchirurgie kommt? Passion Chirurgie. 2024 April; 14(04): Artikel 04_03.

Mehr zur Viszeralchirurgie finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Viszeralchirurgie.

BDC-Praxistest: SEDIWORK, eine cloudbasierte Software für die ärztliche Rotationsplanung

Vorwort – Rotierende Ärztinnen und Ärzte

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Rotationen waren schon immer fester Part der chirurgischen Karriere. Aber mit der ärztlichen Weiterbildung hatte das oft weniger zu tun. Man rotierte als Belohnung, aus Strafe auch mal länger, angeblich geplant, doch manchmal auch spontan, früher oder später, wenn es passte und wenn nicht, dann eben nicht. Wer sich beschwerte oder gar forderte, der lebte gefährlich. Es gab einfach genug andere.

Doch diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Eine verlässliche und transparente Weiterbildungszeit ist auf dem medizinischen Bewerbermarkt zu einem sehr wichtigen Jobkriterium geworden, an dem selbst Ordinariate nicht mehr vorbeisegeln können. Doch die angemessene Verteilung der Mitarbeiter ist anspruchsvoll. Neben tradierten Fragen der Zugehörigkeit spielen z. B. Lernkurven, individuelle Pläne, Teambildungen, Partnerfragen, institutionelle Möglichkeiten und auch Belohnungsmuster eine durchaus relevante Rolle. Die angestrebte Neuverteilung von medizinischen Leistungen durch die niemals endende Reform der Reform der Reform … im Gesundheitssystem wird eine weitere hohe Hürde bauen. Rotationen in der Weiterbildung bekommen dadurch noch mehr inhaltlichen Druck.

Da erscheint eine cloudbasierte Rotationsplanung für den standortübergreifenden Einsatz gerade richtig. Die Autorin verrät nicht zu viele Details, aber das Programm macht neugierig, denn die Anforderungen und Ansprüche sind hoch. Warum gerade ein Klinikkonzern, der bis dato nicht unbedingt für Altruismus stand, das Roll-Out unterstützt? Honi soit qui mal y pense. Spielt aber auch keine Rolle, denn „wer heilt, hat recht“. Um das zu beurteilen, müsste man aber auch in 12 bis 24 Monaten bilanzieren. Wir sind also gespannt auf die Ergebnisse der Hamburger Rotation. Und bis dahin hoffen wir, dass das Programm im Einsatz immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel hat.

Anregende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Die moderne Gesundheitsbranche befindet sich derzeit in einem tiefgreifenden Wandel, der nicht nur medizinische Fortschritte, sondern auch innovative digitale Technologien umfasst. Ein Bereich, der bisher oft manuell und zeitaufwändig organisiert wurde, betrifft die Rotationsplanung für Ärzte in Kliniken. Die Einführung einer cloudbasierten, intelligenten Rotationsplanung am Beispiel der Asklepios-Kliniken in Hamburg verspricht nicht nur eine Steigerung der Effizienz, sondern auch eine engere Zusammenarbeit zwischen den Kliniken und eine erhebliche Verbesserung der Arbeitszufriedenheit der Ärzte.

Schauen wir uns die Arbeitswelt des Arztes an, beobachten wir, dass in den letzten Jahren die Bürokratie in der Medizin zugenommen hat, was das Leistungspotential von Ärzten erheblich hemmt. Um den medizinischen Fortschritt voranzutreiben und die bestmögliche Versorgung für Patienten sicherzustellen, sind die Entbürokratisierung des Arztberufs sowie die Digitalisierung unumgänglich.

Warum ist das so wichtig? Weil Ärzte sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren sollten: Die Medizin, die Behandlung und die Versorgung von Patienten. Wenn sie ihre Zeit und Energie mit organisatorischen und bürokratischen Angelegenheiten verbringen müssen, geht wertvolle Zeit verloren, die stattdessen der Patientenversorgung gewidmet werden könnte. Dies führt nicht nur bei den Ärzten zu großer Frustration, sondern hat auch erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen auf viele Kliniken.

Eine wichtige Aufgabe der Ärzte besteht darin, die nächste Generation von Medizinern effektiv auszubilden. Ein Bereich, der bisher manuell verwaltet wird, betrifft die Rotation der Ärzte. Ärzte wechseln zwischen den verschiedenen Abteilungen einer Klinik oder mehreren Kliniken, um die erforderlichen Fähigkeiten für ihre Facharztweiterbildung zu erlangen.

Aktuell erfolgt die Planung manuell und erfordert die Berücksichtigung einer Vielzahl komplexer Parameter. Dazu gehören nicht nur die verschiedenen Rotationsbereiche, sondern auch die präzise Koordinierung der Kapazitäten, die Berücksichtigung der Weiterbildungsordnung, die Anpassung an klinikinterne Curricula und die sorgfältige Organisation von externen Rotationsmöglichkeiten.

Die hohe Komplexität dieser Aufgabe erfordert einen erheblichen Zeitaufwand, der die Aufmerksamkeit der Ärzte von ihren klinischen Tätigkeiten ablenkt. Im Durchschnitt widmet ein Chefarzt gut 12 % seiner Arbeitszeit im Monat allein der Planung der Rotationen, die er oft an seine qualifizierten Oberärzte delegiert, die dann in dieser Zeit nicht mehr für die direkte Patientenversorgung zur Verfügung stehen.

Die Lösung für diese komplexe Herausforderung liegt in einer intelligenten, cloudbasierten Rotationsplanung. Die innovative Software SEDIWORK ermöglicht es, sämtliche relevanten Parameter mithilfe von leistungsstarken Algorithmen zu berücksichtigen und Rotationsvorschläge für Ärzte und Kliniken zu generieren.

Sie unterstützt die standortübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Kliniken, passt sich bei Ausfällen an, sichert die Qualität der ärztlichen Weiterbildung und die der medizinischen Versorgung und steigert insgesamt die Arbeitszufriedenheit. Durch die Digitalisierung und Automatisierung administrativer Prozesse erhalten Ärzte mehr Freiheit, Selbstständigkeit und Teilhabe an ihrer beruflichen Entwicklung.

In den Hamburger Asklepios-Kliniken wird SEDIWORK derzeit ausgerollt. Maßgebliche vorangetrieben in Hamburg hat Professorin Carolin Tonus, Chefärztin der Viszeralchirurgie Asklepios Klinik St. Georg sowie Vorsitzende BDC Hamburg, die das Thema standortübergreifende Rotation und Weiterbildung bereits lange verfolgt.


Unser einzigartiges und europaweit größtes Klinik Cluster in Hamburg treibt mit der Bündelung fächerübergreifender Kompetenzen Spitzenmedizin durch qualitativ hochwertige Weiterbildung voran. Das machen wir mit SEDIWORK vollständig digital.“

Prof. Dr. med. Carolin Tonus, Chefärztin Allgemein- und Viszeralchirurgie und Ärztliche Direktorin Asklepios Klinik St. Georg

Mit der tatkräftigen Unterstützung der dortigen Chirurgen sind personalplanende Oberärzte nicht mehr durch bürokratische Tätigkeiten gebunden, sondern können sich darauf konzentrieren die eigenen und die individuellen Potenziale ihrer Mitarbeiter zu entfalten.

Die Neugestaltung der ärztlichen Rotationen in den Asklepios-Kliniken ist daher nicht nur ein technologischer Fortschritt, sondern ein bedeutender Schritt hin zu einer zeitgemäßen Personalentwicklung in einem modernen und effizienten Gesundheitswesen, die sowohl den Bedürfnissen der Ärzte als auch der Patienten gerecht wird.


Der Personaloberarzt spielt eine Schlüsselrolle in der Entwicklung junger Kollegen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten. Um sich darauf konzentrieren zu können, braucht er zeitgemäße Tools. Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitenden zeigt sich durch Unterstützung ihrer individuellen Fähigkeiten, konkret mit der Förderung ihrer Weiterbildung.“

Gründerin von SEDIWORK Dr. med. Dilan Sinem Sert

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Dr. med. Dilan Sinem Sert

Geschäftsführerin

SEDIDOC GmbH

Karl-Liebknecht-Straße 14

04107 Leipzig

Gesundheitspolitik

Sert DS: BDC-Praxistest: SEDIWORK, eine cloudbasierte Software für die ärztliche Rotationsplanung. Passion Chirurgie. 2024 April; 14(03/QI): Artikel 05_01.

Weitere Praxistest-Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de).

Chirurgie in der DDR – In der Provinz (Teil 2)

Im mittleren Teil der „deutschöstlichen Region“ (Wulf Kirsten) fällt für einige Zeit die nabelschnurartige Verbindung zwischen der Hallenser und der Leipziger Chirurgie in den Blick, wobei es sich diese beiden Städte verbeten haben würden, als Provinz bezeichnet zu werden, insbesondere Leipzig, die „heimliche Hauptstadt der DDR“. Im Mittelpunkt stehen das ehemalige Bezirkskrankenhaus St. Georg in Leipzig und die Chirurgische Universitätsklinik in Halle an der Saale. So wurde der aus dem Sudetenland vertriebene Chirurg Franz Mörl (1899–1979) in der Leipziger Universitätsklinik unter Ernst Heller (1877–1964)1 groß und dann dessen Nachfolger im St. Georg. Von dort berief man ihn auf das Ordinariat in Halle, während der dortige Oberarzt und Schüler von Werner Budde (1886–1960), Gerhard Rothe (1911–1978), Professor und Chefarzt am Klinikum St. Georg in Leipzig-Wiederitzsch wurde. Rothe hatte bei Brunner in Zürich und bei Derra in Düsseldorf hospitiert und als erster Lungenoperationen im großen Stil in Mitteldeutschland durchgeführt. Aus der Heller-Mörl-Rothe-Schule stammte auch der langjährige Chefarzt und Ärztliche Direktor des Kreiskrankenhauses Borna, Dr. Gerhard Schreckenbach (1918–2016).

Abb. 1: Franz Mörl

Im Dunstkreis von Halle, aber von Becker aus Jena kommend, entfaltete der Arztsohn Prof. Baldur Schyra (1934–2009) am Klinikum in Bernburg an der Saale (heute zur AMEOS-Gruppe gehörend und Akademisches Lehrkrankenhaus der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) eine hohe Wirksamkeit. Schyra hatte noch ein zusätzliches Studium der Philosophie mit Promotion absolviert, in Budapest und Leningrad chirurgisch hospitiert und 1969 in Jena habilitiert. Die Chirurgische Klinik in der ehemaligen anhaltinischen Residenzstadt Bernburg leitet er 29 Jahre(!) Prof. Schyra, der auch in den Fach-und Standesvertretungen aktiv war, z. B. im Präsidium der DGCH, hinterließ mit dem Buch „Momentaufnahmen eines Chirurgen“ 2003 fesselnde Lebenserinnerungen, die Einblicke in das Spannungsfeld eines Chirurgen zwischen täglicher Arbeit im Operationssaal und der Verantwortung eines „staatlichen Leiters“ im „sozialistischen Gesundheitswesen“ erlauben. Als Kuriosum sei hier angefügt, dass Schyra seine medizinische Dissertation („Johann Wilhelm Baumer und seine Bedeutung für die medizinische Wissenschaft“) an jener Abteilung der Medizinischen Akademie Erfurt angefertigt hat, an welcher der Verfasser 25 Jahre später als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war.

Abb. 2: Gerhard Rothe

Über seinen Wirkungskreis am Stadtkrankhaus Dresden-Friedrichstadt hinaus galt Albert Fromme (1881–1966) als Papst der Chirurgie in Mitteldeutschland, hinter vorgehaltener Hand auch „Pius“ genannt. Die Durchführung der 66. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) 1945 in Dresden unter seiner Präsidentschaft blieb ihm infolge von Krieg und Zerstörung versagt. Als 1954 die Medizinische Akademie „Carl Gustav Carus“ in Dresden gegründet wurde2, wurde Fomme erster Ordinarius für Chirurgie und erster Rektor. Penibel im Diagnostizieren und Operieren, war Fromme, seit 1915 Professor, chirurgisch noch Allrounder und ist wissenschaftlich vor allem mit einer seinerzeit viel diskutierten Mesenchymtheorie des Karzinoms hervorgetreten. Frommes Nachfolger, die Professoren Hans-Dieter Schumann (1911–2001) und Karl-Heinz Herzog (1927–1993) waren bei aller Unterschiedlichkeit aus dem gleichen Holz geschnitzt. Man könnte sie fast als das „Dresdner Triumvirat“ bezeichnen, vermochten sie doch ihre Klinik vor den schlimmsten Auswüchsen des „sozialistischen Gesundheitswesens“ und des totalitären Systems zu bewahren.

Abb. 3: Baldur Schyra

Abb. 4: Das alte Krankenhaus in Bernburg

Abb. 5: Gerhard Schreckenbach

Abb. 6: Albert Fromme

Die Tendenz, auch kleine und mittlere Häuser mit Professoren zu besetzen, ist nicht neu. Als Beispiel sei hier das Stadtkrankenhaus Arnstadt in Thüringen angeführt, das immer wieder Professoren an die Spitze der Chirurgie berief. Prof. Gerhard Jorns (1900–1995) dürfte der prominenteste gewesen sein. Er kam von Guleke in Jena – wie breit dessen Schule ihre Abkömmlinge in die Periphere entsandte, wird sich noch an anderer Stelle zeigen – und übernahm 1935 das Arnstädter Haus, weiterhin in Jena lesend. Jorns’ große Vielseitigkeit und seine enorme Leistungsfähigkeit zeigten sich vor allem im und nach dem Zweiten Weltkrieg, wo er nicht nur Chefchirurg und Leiter des gesamten Krankenhauses, sondern auch verantwortlich für zahlreiche Lazarette der Umgebung war. In der Nachkriegszeit rief er Polikliniken, Landambulatorien und Dispensaires ins Leben, die es zuvor noch nicht gegeben hatte. Ungeachtet dieser Arbeitsbelastung veröffentlichte Prof. Jorns chirurgische Lehr- und Handbücher, die großen Anklang unter den Fachkollegen fanden und noch weit über seine Zeit hinaus wirkten, wie z. B. das zweibändige „Lehrbuch der speziellen Chirurgie“ (zusammen mit W. E. Goldhahn,1955 ff).

Abb. 7: Hans-Dieter Schumann

Abb. 8: Gerhard Jorns

In Arnstadt gab es noch einen weiteren prominenten Professor der Chirurgie, der allerdings nicht mit Jorns konkurrierte, weil er sich gänzlich auf die orthopädische Chirurgie spezialisiert hatte: Prof. Dr. Leopold Frosch (1890–1959), von 1925 bis 1959 Chefarzt der Orthopädischen Klinik „Marienstift“. Die chirurgischen Lehrer des gebürtigen Berliners waren Moritz Katzenstein (1872–1932), Otto Hildebrand (1858–1927) und August Bier (1861–1949), alle in Berlin. Vor allem Kinder mit Rachitis, Knochentuberkulose und Haltungsschäden, natürlich auch Erwachsene, kamen scharenweise aus ganz Thüringen und darüber hinaus zu Frosch. Wie Jorns ist auch er Namensgeber einer Straße in Arnstadt.

Dass Provinzkrankenhäuser auch als Sprungbrett für höhere Aufgaben dienen können, zeigt sich am Beispiel von Heinrich Kuntzen (1893–1977), der als Payr-Schüler zunächst an das Stadtkrankenhaus nach Chemnitz ging und von dort 1951 auf das chirurgische Ordinariat in Jena berufen wurde. Zu Chemnitz (von 1953 bis 1990 „Karl-Marx-Stadt“) wäre noch anzufügen, dass die späteren Chefärzte Kurt Unger (1916–1996), Wilfried Wehner (1932–2022), Rainer Morgenstern (1940–2016) und Joachim Boese-Landgraf (*1950) als Professoren aus dem universitären Bereich kamen.

Wiederum aus der Jenaer Chirurgenschule stammte Prof. Fred Nöller, langjähriger Chefarzt am Bezirkskrankenhaus Gera-Milbitz. Der Guleke-Schüler hatte dort 1950 den nicht minder namhaften Prof. Otto Hilgenfeld (1900–1983) abgelöst. Nöller, der noch das Gesamtgebiet der Chirurgie beherrschte und auch Facharzt für Urologie war, hielt weiter Vorlesungen in Jena. Er brachte die Geraer Klinik auf den neuesten Stand und hat zahlreiche Fachärzte und Oberärzte in die Umgebung entlassen. Ihm eignete zudem eine zeichnerische Begabung, die sich u.  a. in einem Porträt seines Meisters Guleke ausdrückte.

Hier schließt sich nahtlos Prof. Gerhard Hartmann (1923–2011) an, der ebenfalls aus der chirurgischen „Kaderschmiede“ von Guleke in Jena kam. Auch Kuntzen und Becker hat er noch erlebt, bevor er 1968 als Chefarzt an das Kreiskrankenhaus in Greiz „entwich“, zu groß waren die Meinungsverschiedenheiten mit seinem Chef in der Jenaer Bachstraße. Hartmann hat diesen Wechsel nie als Abstieg, sondern als Glücksmoment empfunden, konnte er sich doch in der Greizer Selbständigkeit als Chirurg und Urologe fachlich voll entfalten und seine Vorstellungen von einer reibungslos funktionierenden chirurgischen Abteilung verwirklichen. Zudem war es ihm in der Provinz mehr als im „Dschungel“ der Hochschule möglich, seinen humanistischen und psychologischen Neigungen zu frönen.

Einer der im wahrsten Sinne des Wortes berühmtesten sogenannten Provinzchirurgen war Heinrich Braun (1862–1934) in Zwickau. Hier schuf er ein Großkrankenhaus im damals modernen Pavillonstil mit über 600 Betten, die Hälfte davon chirurgische. Aus Nah und Fern kamen nicht nur Patienten, sondern auch am Krankhausbau interessierte Besucher nach Zwickau. Kurz nach Brauns Tod erhielt die Einrichtung den noch heute bestehenden Namen „Heinrich-Braun-Krankenhaus“. Die Chirurgie erlernte Braun bei Richard von Volkmann (1830–1889) in Halle, autodidaktisch als Privatkliniker in Leipzig sowie als Habilitand bei Karl Thiersch (1822–1895) in Leipzig. Als Chefarzt des neuen Diakonissenkrankenhauses (1899–1905) in Leipzig stand Braun bereits auf eigenen Füßen und widmete sich dem Gebiet der Lokalanästhesie, das ihm später Weltruhm verschaffen sollte. In Zwickau bewies Braun, dass die wissenschaftliche Arbeit längst nicht mehr auf die Universitätskliniken beschränkt war. Eine anschauliche Beschreibung seines Werdeganges gibt Heinrich Braun in seiner Autoergobiographie: „Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen“. Hrsg. v. L. Grote. Bd. 5. Leipzig 1925, S. 1–34.

Braun, seit 1905 Extraordinarius an der Universität Leipzig, hat sich besonders um die Lokalanästhesie verdient gemacht, hierbei oft als Widerpart von Carl Ludwig Schleich (1859–1922). Wir kennen noch heute seine Leitungs- und Infiltrationsanästhesie, seine Bein-Lagerungsschiene und (vielleicht) seinen Transfusionsapparat. Für immer verbunden bleibt sein Name auch als Mitherausgeber der ersten großen chirurgischen Operationslehre in Deutschland, dem „Bier-Braun-Kümmell“, zusammen mit August Bier (1861–1949) und Hermann Kümmell (1852–1937). 22 Jahre hat Braun in Zwickau gearbeitet, ist 1924 Präsident der DGCH gewesen und 1929 zu ihrem Ehrenmitglied ernannt worden.

Gelegentlich kam es auch zu Rückberufungen von in die Provinz gegangenen Chirurgen an ihre Alma Mater. Ein solcher Fall begegnet uns in der Person von Hans Schröder (1929–1997), ein Schüler Kuntzens, der dann bei Theo Becker (1916–1997) habilitierte, Professor wurde und von 1972 bis 1981 Chefarzt der Chirurgie am Bezirkskrankenhaus in Gera wurde. Er folgte Becker auf dem Jenaer Lehrstuhl (1981–1995).

Der Franke Dr. Wilhelm Heufelder (1896–1976) hatte bei seinem Dienstantritt 1930 in Waltershausen am Fuße des Thüringer Waldes München als akademischen Hintergrund. Er verließ die Ludwig-Maximilians-Universität, wo er studiert und promoviert hatte, als Facharzt noch zu Zeiten Erich Lexers (1867–1937). Waltershausen wurde zu Heufelders Wahlheimat. Hier setzte er den Krankenhausneubau am Geizenberg durch und hier erwarb er sich den Ruf eines Struma-Spezialisten, zu dem nicht nur Patienten aus dem Thüringer Endemiegebiet kamen, sondern aus der gesamten DDR. Über seine Pensionierung hinaus hat Chefarzt Dr. Heufelder Sprechstunden abgehalten und ist beratend tätig gewesen. In Waltershausen ist er dann auch gestorben.

Die seit 1954 im Rahmen der neu gegründeten „Medizinischen Akademie Erfurt“ als Hochschulklinik fungierende Chirurgische Klinik mit ihren Direktoren Prof. Egbert Schwarz (1890–1966) und Prof. Werner Usbeck (1920–2007) war ebenfalls daran interessiert, möglichst viele aus ihrem „Stall“ hervorgegangene Chirurgen auf Chefpositionen in der Region unterzubringen. Auf diese Weise wurden u.  a. die Kreiskrankenhäuser in Arnstadt, Gotha, Bad Langensalza, Sömmerda, Ilmenau und Nordhausen besetzt. Und so war zumindest in diesen Kliniken dann ein einheitliches chirurgisches Vorgehen („Erfurter Schule“) gewährleistet. Im Umland anderer großer Ausbildungseinrichtungen war es ähnlich.

Abb. 9: Wilhelm Heufelder

Ohne an dieser Stelle auf weitere Städte, in denen Professoren chirurgische Chefärzte waren, wie z. B. Frankfurt an der Oder, Saalfeld an der Saale oder Plauen im Vogtland näher eingehen zu können (was vielleicht an anderer Stelle einmal möglich ist), bleibt zu resümieren, dass in Ost und West, in Nord und Süd des ehemaligen zweiten deutschen Staates sich die Chirurgen gleichermaßen mit PASSION ihrem Metier gewidmet haben, egal ob dies in den Kathedralen der Universitäten oder „auf dem platten Land“ geschah.

1  Inaugurator der nach ihm benannten Kardiomyotomie bei Pylorospasmus und der Thorakoplastik bei Empyemresthöhe

2  Zur Beseitigung des Ärztemangels wurden zeitgleich die Medizinischen Akademien in Erfurt und Magdeburg gegründet.

Dr. med. habil. Volker Klimpel

Grazer Straße 3

01279 Dresden

Panorama

Klimpel V: In der Provinz –
Chirurgen in der DDR (Teil 2).
Passion Chirurgie. 2024 April;
14(04): Artikel 09.

Den ersten Teil „Chirurgie in der DDR“ lesen Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Panorama.

PASSION CHIRURGIE im März 2024

Zur Ausgabe 03/QI/2024: Künstliche Intelligenz in der Chirurgie

KI ist in aller Munde – wie weit sind wir denn damit in der Chirurgie? Was ist überhaupt möglich? In der Märzausgabe der PASSION beleuchten wir beispielhaft drei Themen aus diesem Bereich: Computer Vision und Bildgebung in der Unfallchirurgie, KI-basierte Arztbrieferstellung und KI-Umsetzungen in der Viszeralchirurgie.

Wir haben ein neues Projekt für Nachwuchsmediziner gestartet: „M3-Prüfungsvideos: Watch and Learn“. So etwas gab es bisher in dieser Form noch nicht! 11 Prüfungssimulationen mit echten Prüfern sollen Studierende bestens auf ihre M3-Examen vorbereiten. Das wäre eine gute Empfehlung für Ihre PJler!

Zwei Highlights aus dem Seminarangebot der BDC|Akademie finden in Kürze statt: Das zweitägige Webinar „Hernie komplex“ (10. bis 11. April) beinhaltet sowohl Videobeiträge, Falldarstellungen als auch theoretische Vorträge zu komplexen Hernien.

Zur Vorbereitung auf die Facharztprüfung für Orthopädie/Unfallchirurgie sowie als Update für Fachärztinnen und Fachärzte findet vom 22. bis 26. April das nächste „Facharztseminar Orthopädie/Unfallchirurgie“ statt. Referent:innen aus ganz Deutschland machen Sie in fünf Tagen fit für Ihre Prüfung und bringen Sie auf den neuesten Stand der Behandlungsstrategien und Techniken in O&U. Es sind noch Plätze frei, melden Sie sich noch heute an!

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen,
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

Safety Clip: Die EU-Medizinprodukte-Verordnung für mehr Patientensicherheit

Der Markt für Medizinprodukte und die damit einhergehenden Anforderungen haben seit 2010 durch einen aufgedeckten Skandal viel Aufmerksamkeit erhalten. Der französische Hersteller Poly Implant Prothèse (PIP) entschied sich unter anderem aus Kostengründen dafür, ein unzulässiges Industriesilikon für seine Brustimplantate zu verwenden. Über Jahre wurden diese auf dem Markt vertrieben und eingesetzt. Die Folge: Hunderttausende Patientinnen haben mit den Risiken der minderwertigen Implantate zu kämpfen, denn diese können reißen, zu Irritationen und Entzündungen führen und letztendlich weitere Operationen bedingen. Daraufhin reagierte die Europäische Kommission mit einer Überarbeitung der bestehenden Regelungen.

Die Qualität von Medizinprodukten stärken

Durch den Implantate-Skandal wurden die Auflagen für Medizinprodukte deutlich verschärft. Am 25. Mai 2017 trat die neue EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR) gemeinsam mit der ebenfalls neuen Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR) in Kraft. Geltungsbeginn der MDR war nach einer Übergangsfrist von vier Jahren der 26.05.2021. Für die Hersteller von Medizinprodukten bedeutet das, dass unter anderem höhere Anforderungen an die technische Dokumentation der Herstellungsprozesse, an das Qualitätsmanagement und an die klinische Bewertung über den gesamten Produktlebenszyklus gestellt werden.

Das Ziel ist: Die Patientensicherheit durch eine höhere Qualität der Medizinprodukte zu stärken, ohne Innovationen einzuschränken.

Die Regelungen der MDR betreffen allerdings nicht nur neue Marktzugänge, sondern auch höherklassige Medizinprodukte, die bereits auf dem Markt vertrieben werden. Auch diese müssen einer Neuzertifizierung nach MDR unterzogen werden. Dafür braucht es ausreichend viele Zertifizierungsstellen, sogenannte „Benannte Stellen“, also staatlich autorisierte Stellen, die Prüfungen und Bewertungen durchführen. Ebenso gibt es Produkte, die aufgrund der MDR erstmalig eine Zertifizierung von der „Benannten Stelle“ benötigen, wie zum Beispiel wiederverwendbare chirurgische Instrumente oder höherklassige medizinische Software. Die Übergangsfrist für die Re-Zertifizierung von Bestandsprodukten soll 2024 auslaufen.

Auswirkungen der MDR auf die Versorgung

Zwar ist das MDR bereits vor über sechs Jahren in Kraft getreten, dennoch ist das System nach wie vor im Aufbau. Das führt auch zu langen Wartezeiten für die Ausstellung der MDR-Zertifikate. Die Kapazitäten der „Benannten Stellen“ sind, trotz steigender Zahlen, noch immer zu gering, um den gestiegenen Prüf- und Zertifizierungsaufwand abzudecken. Aus diesem Grund wurde die Übergangsfrist von Mai 2024 auf Ende 2027 für Produkte mit höherem Risiko (wie zum Beispiel Herzschrittmacher) beziehungsweise 2028 für Produkte mit mittlerem und geringerem Risiko (wie zum Beispiel Spritzen oder wiederverwendbare chirurgische Instrumente) verlängert.

Die Hersteller haben bereits mit den Bedingungen zu kämpfen. Sie müssen mit gestiegenen Anforderungen, Wartezeiten und vor allem höheren Kosten rechnen. Das führt dazu, dass sie die Produkte oder ganze Produktlinien vom Markt nehmen müssen. Hierbei handelt es sich sowohl um Bestandsprodukte als auch um Nischenprodukte. Gleiches gilt auch für Innovationsprodukte, sodass einige Hersteller zum Teil von den EU-Märkten abwandern.

Diese geschilderten Folgen, die die MDR mit sich bringt, wirken sich auch auf Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäuser aus. Denn wenn Hersteller ihre Produkte vom Markt nehmen, dann führt das in den Kliniken zwangsläufig zu Herstellerwechseln. Durch hinzukommende Lieferengpässe muss häufiger auf Ersatzprodukte ausgewichen werden. Seltene Nischenprodukte sind noch schwieriger zu beschaffen und Innovationsprodukte lassen lange auf sich warten. Das stellt vor allem das Personal in der Patientenversorgung zusätzlich vor steigende Herausforderungen.

Medizinprodukte sicher anwenden

Wer ein Medizinprodukt am Patienten anwendet, muss die erforderliche Ausbildung oder Kenntnis und Erfahrung besitzen sowie in die sichere Handhabung eingewiesen sein. Aus der Praxis ist bekannt, dass sich diese Anforderungen aus der Medizinprodukte-Betreiberverordnung oft schwer umsetzen lassen. Ein geringer Standardisierungsgrad beziehungsweise ein häufiger Wechsel von Medizinprodukten, wie es aktuell häufig der Fall ist, erhöhen den Aufwand für eine sichere Anwendung zusätzlich und fordern eine erhöhte Aufmerksamkeit des Personals.

Die folgenden Faktoren können die sichere Anwendung von Medizinprodukten in Krankenhäusern unterstützen:

Kommunikation:
Kommt es zu Herstellerwechseln oder Lieferengpässen und somit zur Verwendung neuer Medizinprodukte, dann sollten diese Informationen frühzeitig über interne Kommunikationswege zur Verfügung gestellt werden. Eine regelhafte Einbindung in bestehende Besprechungen und ein Austausch über Besonderheiten in der Anwendung der Produkte können einen sicheren Umgang fördern.

Einweisung:
Auch bei selten oder nur kurzzeitig genutzten Medizinprodukten muss die anwendende Person sicherstellen, dass sie das notwendige Grundlagenwissen zur Funktion des Medizinprodukts und zum Verständnis der Risiken besitzt. Die Anwenderin oder der Anwender müssen eine Übersicht über die aktuell eingesetzten Medizinprodukte in ihrem oder seinem Arbeitsbereich haben. Notwendige Einweisungen sollte sie oder er im Rahmen der Holschuld einfordern. Der Betreiber muss für die organisatorischen Rahmenbedingungen sorgen und sicherstellen, dass alle Anwender die erforderlichen Einweisungen erhalten.

Sicherheitskultur:
Das Stärken einer Sicherheitskultur stützt die sichere Anwendung von Medizinprodukten. Eine Sicherheitskultur bietet unter anderem einen Rahmen, in dem es möglich ist, Unsicherheiten zu äußern, Sicherheitslücken zu identifizieren, zu analysieren und die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen. Das betrifft sowohl Schulungsmaßnahmen, die Ausstattung von Medizinprodukten als auch den offenen Informationsaustausch.

Fazit

Medizinprodukte spielen eine tragende Rolle in der täglichen Patientenversorgung. Die MDR trägt mit ihren strikten Anforderungen an Medizinprodukte einen wichtigen Teil zur Patientensicherheit bei, sodass Fälle wie der eingangs erwähnte Implantate-Skandal hoffentlich der Vergangenheit angehören. In der Praxis zeigen sich aber auch die Defizite der Verordnung. Lange Wartezeiten und steigende Kosten stellen Hersteller und Kliniken vor neue Herausforderungen. Die daraus resultierende Forderung von Verbänden, wie dem Bundesverband Medizintechnologie e.V. (BVMed), die Umsetzung der MDR praktikabler zu gestalten, ist nach wie vor laut und lässt weitere Anpassungen vermuten.

In dem ohnehin hoch belasteten System der Krankenversorgung bedeutet dies vor allem für das Personal eine zusätzliche Herausforderung. Ein wechselndes oder unvollständiges Sortiment an Medizinprodukten erfordert nicht nur einen gestiegenen Einweisungsbedarf, sondern auch eine erhöhte Aufmerksamkeit, um Fehler in der Patientenbehandlung zu vermeiden. Umso wichtiger ist die Stärkung einer offenen Kommunikation und Sicherheitskultur zur Förderung der Patientensicherheit.

Literatur

[1]   https://www.bvmed.de/de/recht/eu-medizinprodukte-verordnung-mdr
[2]   https://www.aps-ev.de/wp-content/uploads/2017/04/HE-Einweisung-von-MP.pdf
[3]   Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über Medizinprodukte, zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 und zur Aufhebung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG des Rates (Text von Bedeutung für den EWR.)
[4]   Medizinprodukte-Betreiberverordnung – MPBetreibV

Larissa Gerke

Risikoberaterin

GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH

Ecclesiastraße 1-4

32758 Detmold

[email protected]

www.grb.de

Chirurgie+

Gerke L: Safety Clip: Die EU-Medizinprodukte-Verordnung für mehr Patientensicherheit. Passion Chirurgie. 2024 März; 14(03/I): Artikel 04_02.

Weitere Artikel zur Patientensicherheit finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de), Rubrik Wissen | Qualität & Patientensicherheit | Safety Clip.

BDC-Journalistenpreis 2023: Organtransport – Wettlauf gegen die Zeit

Johannes Lenz vom Bayerischen Rundfunk hat 2023 den BDC-Journalistenpreis für seine Reportage „Organtransport – Wettlauf gegen die Zeit“ erhalten. Im Rahmen der Sendung kontrovers im BR-Fernsehen wurde sie Ende April 2023 ausgestrahlt und ist zudem in der ARD-Mediathek abrufbar. In seinem Beitrag setzt sich der Redakteur mit der Bereitschaft zur Organspende in Deutschland auseinander und untermauert dies mit Zahlen. Er lässt Betroffene, die auf ein Organ warten, zu Wort kommen und portraitiert ein Team, das zu einer Organtransplantation ausgesandt wird.

Der Journalist konnte sich mit seinem Beitrag gegen 24 Konkurrentinnen und Konkurrenten durchsetzen. Die Jury begründet ihre Entscheidung so: „Der Redakteur geht an das Thema sowohl mit Fakten als auch emotional heran. Er findet Protagonisten, deren Situation die Zuschauer von der Dringlichkeit einer Organspende überzeugt und für sie mitfiebern lässt. Das ausgesandte Ärzteteam begleitet er während der gesamten Zeit – von der Reise bis zu Entnahme und Befund, was für Spannung sorgt.“

Der Preisträger Johannes Lenz im Interview mit Olivia Päßler vom BDC.

Welche Funktion hatten Sie bei dem ausgezeichneten Film?
Johannes Lenz: Menschen bei ihren Herausforderungen begleiten, in ihre Lebenswelt eintauchen und über die Schulter schauen, das ist ein großes Privileg. Bei meiner Recherche und den Dreharbeiten für die ausgezeichnete Reportage durfte ich das fragile Organspende-Transportnetz von engagierten Profis und die anspruchsvolle Arbeitswelt von Chirurginnen und Chirurgen kennenlernen und gleichzeitig die Perspektive derjenigen einnehmen, die seit Jahren auf ein Organ warten. Neben der journalistischen Recherche liebe ich die Arbeit hinter der Kamera. Und so habe ich für die Reportage „Letzte Rettung Organtransplantation – zwischen OP und Transport“, die in der ARD-Mediathek und im Politikmagazin „Kontrovers“ im BR-Fernsehen ausgestrahlt wurde, recherchiert, das Konzept geschrieben und gefilmt. Den Film geschnitten hat mein Kollege und Editor Eugen Langolf und Nadine Posmik hat die Reportage inhaltlich als Redakteurin begleitet. Am Ende bleiben die Teamarbeit und das Vieraugenprinzip in unserem Job immer wichtig.

Welche weiteren Formate haben Sie gewählt und wie ist der Beitrag insgesamt aufgenommen worden?
JL Die Geschichte von Carina, die seit vielen Jahren auf eine Lunge wartet, habe ich auch für die ARD-Audiothek als Hörfunkfeature und für den Radiosender Bayern 2 produziert. Darüber hinaus habe ich einen ausführlicheren Artikel für das Nachrichtenportal im Web und in der App des Bayerischen Rundfunks BR24 geschrieben und mich darauf noch mehr auf die politische Debatte konzentriert. Mithilfe der verschiedenen Ausspielwege konnten wir weitere Aspekte beleuchten. Welche politischen Ansätze stehen zur Debatte, um mehr Organspenden zu ermöglichen? Warum ist die sogenannte Widerspruchslösung umstritten? Die Resonanz auf die Ausstrahlung vonseiten der Betroffenen, die auf ein Spenderorgan warten, war sehr positiv, und auch von Klinikseite und von der Deutschen Stiftung Organtransplantation kam positives Feedback.

Wie sind Sie zum Thema gekommen?
JL Die Redaktion des BR-Politikmagazins „Kontrovers“ hatte das Thema Organspende und die hitzige Diskussion um die Widerspruchslösung schon lange auf der Agenda. Uns war es wichtig, nicht nur eine Geschichte über die Betroffenen und die wichtige Arbeit der Chirurginnen und Chirurgen zu erzählen, sondern auch die politische Debatte dahinter abzubilden.

Wie haben Sie rund um das Thema Organspende recherchiert?
JL Zuerst habe ich mir in einen Überblick über die Akteurinnen und Akteure verschafft, die an einer Organtransplantation mitwirken. Ich war beeindruckt, dass manchmal etwa einhundert Menschen an einer Transplantation beteiligt sind. Von der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) über Eurotransplant, wo die Empfängerinnen und Empfänger nach Dringlichkeit gelistet sind, über die Logistikfirmen bis zu den ausführenden Chirurginnen und dem Team im OP-Saal. Letztendlich habe ich mich dann mit dem Transplantationszentrum des Klinikums Großhadern in Verbindung gesetzt. So konnte ich mir einen ersten Überblick über die vielen wichtigen Zahnrädchen im System machen, die alle ineinandergreifen müssen. Dazu habe ich Hintergrundgrundgespräche mit Chirurgen, Logistikern von Boden- und Lufttransportunternehmen, Mitarbeiterinnen der DSO und Mitgliedern des deutschen Ethikrats geführt.

Wie haben Sie Ihre Protagonistin gefunden?
JL Das Transplantationszentrum am Klinikum Großhadern hat mir die Protagonistin Carina dankenswerterweise vermittelt.

Welches Ziel verfolgen Sie mit Ihrem Beitrag?
JL Über 8.700 Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für ein Organ – viele bangen und hoffen auf den lang ersehnten Anruf. Die Recherche soll mit dem Schicksal von Carina, die seit Jahren auf eine neue Lunge wartet, das abstrakte Thema greifbar machen. Aufgrund einer schweren genetischen Krankheit benötigt sie eine neue Lunge. Seit 2019 steht sie auf der Warteliste. Ihre beiden Töchter und ihr Ehemann hoffen. Doch die Entwicklung der Transplantationszahlen gibt ihnen wenig Anlass: Tausende Patienten in Deutschland warten, doch zuletzt spendeten immer weniger Menschen nach dem Tod ihre Organe. Mein Ziel ist es, den täglichen Überlebenskampf der Betroffenen und das fragile Transportnetz von engagierten Profis, die im Hintergrund alles unternehmen, um die Menschen zu retten, aufzuzeigen. Außerdem geht es mir darum, einen Beitrag zur politischen Debatte zu liefern. Ist die sogenannte Widerspruchslösung die Lösung aller Probleme? Woran hakt es beim seit Jahren geplanten digitalen Spendenregister? Mein Ziel war es auch, diese Fragen anzustoßen.

Welche Erkenntnisse haben Sie zum Thema gewonnen, die Sie vorher nicht hatten?
JL Nach meiner Recherche hatte ich die Erkenntnis: Die Debatte über die Widerspruchslösung greift zu kurz. Sie kann das Problem von zu wenig Organspenden aller Voraussicht nach allein nicht lösen. Stattdessen dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass das fehlende digitale Spendenregister schon viel zu lange auf sich warten lässt. Das dafür zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte muss auf Anfrage eine große Verzögerung einräumen und verweist auf das erste Quartal 2024 als Starttermin. Wir werden das genau beobachten. Außerdem sollte über die Widerspruchslösung hinaus auch über eine Reform der Vergütungen für Kliniken gesprochen werden, die die Entnahme eines Organs möglich machen und über eine Stärkung der Rolle der Transplantationsbeauftragten.

Was ist Ihr nächstes Projekt?
JL In einem meiner nächsten Projekte beschäftige ich mich mit dem Abzug der Bundeswehr aus Mali. Unser Team geht unter anderem der Frage nach, welche Situation die Bundeswehr im Rahmen der beendeten Friedensmission der Vereinten Nationen MINUSMA in Westafrika hinterlässt.

Der Textbeitrag zur Reportage, ergänzt um umfangreiche Informationen und Daten

Tausende Patienten in Deutschland warten auf eine Transplantation, doch die Zahl der Organspenden nimmt ab. Kontrovers – Die Story begleitet den Transport von Spenderorganen und den langen Weg bis zur rettenden Transplantation.

Im frühen Morgengrauen bricht die Thoraxchirurgin Dr. Gökçe Yavuz auf. Vom Münchener Klinikum Großhadern geht es mit ihrem Team in einem roten Transporter zum Flughafen – das Blaulicht liegt unter dem Sitz griffbereit. Gleich wird sie eine Lunge explantieren. Ihre Aufgabe: Die Lunge des Spenders, der vor wenigen Stunden einen Gehirntod erlitten hat, entnehmen und zur Implantation nach München bringen.

Noch ist nicht sicher, ob die Lunge wirklich zum Empfänger passt. „Da muss man richtig entscheiden. Von dem her ist das schon eine große Verantwortung.“, sagt Gökçe Yavuz. Doch der Versuch ist es dem Chirurgen-Team wert – implantierbare Lungen sind selten. Nur wenige Stunden zuvor hat Yavuz die Nachricht erhalten, dass es einen potentiellen Spender gibt, und jetzt muss alles schnell gehen. Die Operation soll in Kürze starten. Mit einem Charter-Flugzeug sind die Chirurgen europaweit unterwegs. Wo es genau hingeht, dürfen wir nicht sagen. Aus Datenschutzgründen darf niemand wissen, welches Spenderorgan zu welchem Empfänger geht. Ein fragiles Transportnetz aus Fahrern, Pilotinnen und Ärzten muss in den folgenden Stunden fein abgestimmt zusammenarbeiten, damit die Explantation gelingt. Gleich wird sich das entscheiden.

Abb. 1: Weniger Organspender in Deutschland, Quelle: Deutsche Stiftung Organtransplantation

Immer weniger Organspender in Deutschland

Über 8.700 Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für ein Organ – in Bayern sind es etwa 1.200. Viele hoffen auf den lang ersehnten Anruf, dass die Operation starten kann. Eine davon ist Carina Mommaal aus München. Die Mutter von zwei Töchtern ist an Lymphangioleiomyomatose erkrankt, kurz LAM. Eine sehr seltene, chronische Lungenerkrankung. Sie führt dazu, dass sich Muskelzellen auf den Lungenbläschen bilden. Dadurch bekommt sie immer schlechter Luft. „Eine Transplantation ist in meiner Situation das Prinzip Hoffnung und natürlich erhoffe ich mir davon Lebensqualität zurück. Die Transplantation nicht zu machen, ist keine Option“, erzählt Carina im Interview mit Kontrovers – Die Story. Seit 2019 wartet sie bereits. Das Smartphone immer griffbereit. Der Anruf könnte zu jeder Tages- und Nachtzeit kommen. Doch die Entwicklung der Transplantationszahlen ist für sie ernüchternd. Denn in den vergangenen Jahren ist die Anzahl der Personen, die ein Organ gespendet haben, stark zurückgegangen. Das zeigt eine Auswertung der Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation.

Bayern plant Initiative zur Widerspruchslösung

Um etwas gegen den Organmangel zu tun, bringt die Politik derzeit die Widerspruchslösung ins Gespräch. Diese würde bedeuten: Jede Person in Deutschland wäre potenziell Organspender, außer sie lehnt dies explizit ab. 2020 hatte sich der Bundestag noch gegen eine solche Regelung entschieden. Nun sind sich sowohl der Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach von der SPD als auch der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek von der CSU einig: Die derzeitige Gesetzeslage ist gescheitert und die Widerspruchslösung soll her. Sie biete die Chance, dass mehr Menschen ein lebensrettendes Spenderorgan bekommen könnten. Die Organspende wäre dann der Normalfall und nicht mehr der von einer ausdrücklichen Zustimmung abhängende Sonderfall, so Holetschek. Dafür sei mit anderen Ländern eine gemeinsame Bundesratsinitiative geplant, um diese Widerspruchslösung bundespolitisch zu thematisieren und so eine erneute Abstimmung im Bundestag zu ermöglichen. Doch das reiche bei Weitem nicht aus, meinen Kritiker wie der Sozialethiker Professor Andreas Lob-Lüdepohl.

Widerspruchslösung „ein Ablenken vom Versagen der Politik“?

„Die Debatte um die Widerspruchslösung ist ein Ablenken vom eigentlichen Versagen der Politik und des öffentlichen Gesundheitsdienstes“, so Lob-Hüdepohl im Interview mit Kontrovers – Die Story. Der Theologe und Sozialethiker ist Mitglied im Deutschen Ethikrat. Er sieht andere Gründe für den Mangel an Spendern: Die Transplantationsbeauftragten in den Kliniken müssten besser unterstützt werden. Unter anderem mit einem bundesweiten Register potentieller Spenderinnen und Spender, das auf der einen Seite die Bereitschaft dokumentiert und auf der anderen Seite den Bedarf in den Krankenhäusern. Die Einführung eines solchen Registers sei schon vor Jahren beschlossen worden, doch bisher sei nichts passiert.

Organspende-Register verzögert sich

Recherchen des BR-Politikmagazins Kontrovers zeigen: Tatsächlich sieht das Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende seit März 2022 ein Online-Register für potentielle Spender vor, das sogenannte Register für Erklärungen zur Organ- und Gewebespende (OGR). Doch das existiert immer noch nicht. Kontrovers fragt beim zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nach. Von dort heißt es:

Abb. 2: Benötigte Organe in Deutschland, Quelle: Deutsche Stiftung Organtransplantation

„Die erheblichen Projektverzögerungen wurden im Frühjahr 2022 von dem mit der Entwicklung des OGR beauftragten externen Dienstleister, der Bundesdruckerei GmbH, u.a. mit der Komplexität des Projekts begründet. (…) Die Aufnahme des Wirkbetriebs des OGR (kann) voraussichtlich im ersten Quartal 2024 erfolgen (…).“

Netzwerk der Transplantationsbeauftragen ausbaufähig

Lob-Lüdepohl macht das fassungslos. Die Debatte um die Widerspruchslösung führe weg vom eigentlichen Problem des fehlenden Registers. Außerdem fordert er höhere Vergütungen für Kliniken, die die Entnahme eines Organs möglich machen und eine Stärkung der Rolle der Transplantationsbeauftragten. Diese sollen sich in den Kliniken um den Organspendeprozess kümmern und zu mehr Achtsamkeit beim Erkennen potentieller Organspender beitragen. Sie werden per Gesetz für diesen Job freigestellt. Lob-Lüdepohl betont, wie wichtig ein bundesweites Transplantationsbeauftragten-Netzwerk sei. Auf die Förderung dieses Netzwerkes müsse sich die Politik verstärkt konzentrieren.

Deutsche Stiftung für Organtransplantation alarmiert

Die Deutsche Stiftung Organtransplantation bemängelt darüber hinaus die fehlende Aufklärungskultur beim Thema Organspende. Die Angehörigen Betroffener, die nicht mehr selbst entscheiden können, würden einer Organspende oft ablehnend gegenüberstehen. Deshalb sei es so wichtig, sich zu Lebzeiten mit dem Thema zu befassen. Die Entscheidung steht bisher noch jedem frei. Wer sich dafür entscheidet, Spender zu sein, sollte sich einen Organspendeausweis zulegen. Der lässt sich ganz einfach online ausfüllen und ausdrucken. Aber auch eine bessere Identifizierung potenzieller Spender spiele eine wichtige Rolle – hierbei würde das noch fehlende Register helfen.

Besonders gefragt sind in Deutschland Nieren. Danach folgen Leber, Herzen, Lungen und Bauchspeicheldrüsen. Insgesamt werden in Deutschland derzeit etwa 8.700 Organe benötigt.

Bis zu einhundert Personen von Transport bis OP beteiligt

Zurück bei der Thoraxchirurgin Dr. Yavuz. Gleich soll sie die Lungenexplantation durchführen. Ein Krankenhaus hat den Spender der Lunge gemeldet – bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Sie hat die Daten an die europaweite Plattform Eurotransplant weitergegeben. Hier sind Empfänger nach Dringlichkeit gelistet. Dann wurde das Transplantationszentrum am Münchner Klinikum Großhadern informiert, wer infrage kommt. Das hat Gökçe Yavuz losgeschickt. Mittlerweile ist sie mit ihrem Team am Klinikum angekommen, in dem die Explantation stattfinden soll. Insgesamt können beim Transport und im OP an die einhundert Menschen beteiligt sein.

Doch leider ist die Operation nicht erfolgreich. Grund dafür: Der Spender war starker Raucher. Die Lunge war stark mit Rußablagerungen belastet. Das macht eine Implantation unmöglich. Etwa jede fünfte Lungenexplantation führt nicht zur Implantation. „Leider kein erfolgreicher Tag. Die Qualität war nicht ausreichend“, kommentiert die Thoraxchirurgin enttäuscht. „Das ist natürlich frustrierend, wenn man jetzt weiß, dass ein Patient den Anruf bekommen hat, ins Krankenhaus gefahren ist und wahrscheinlich schon ins Nachthemd gepackt wurde, im Bett gewartet hat und schon allen erzählt hat, dass er ein Organ bekommt. Und dann wird das gecancelt und abgesagt.“

Hoffnung auf das lebensrettende Organ nicht aufgeben

Der Einsatz zeigt: Der Organmangel in Deutschland ist so groß, dass mit viel Aufwand jedes Organ, das infrage kommt, vor Ort genau untersucht wird – auch wenn die Transplantierfähigkeit des Organs unsicher ist. Dieses Mal geht es leider ohne Lunge zurück nach München. Dort wartet Carina Mommaal weiter auf das rettende Organ. Sie versucht, die Hoffnung nicht zu verlieren: „Ich lebe mein Leben weiter – ich versuche es zumindest, soweit es geht.“ Ihr bleibt nur warten. Bis ihr eine neue Lunge hoffentlich Lebensqualität zurückbringt.

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Zur Reportage „Organtransport – Wettlauf gegen die Zeit“…

(www.bit.ly/BDCJournalistenpreis2023)

Johannes Lenz

Redakteur

Bayerischer Rundfunk

Chirurgie+

Lenz J: BDC-Journalistenpreis 2023: Organtransport – Wettlauf gegen die Zeit. Passion Chirurgie. 2024 März; 14(03/I): Artikel 09_01.

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