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PASSION CHIRURGIE im Januar/Februar 2024

Zur Ausgabe 01/02/2024: Perioperative Patientenbetreuung

In der ersten Doppel-Ausgabe des Jahres steht die perioperative Patientenbetreuung im Fokus. Lesen Sie spannende Beiträge über Prähabilitation, Entlassmanagement und den Pflegenotstand. In dieser Ausgabe haben wir zudem einige Interviews zu relevanten Themen aus der Chirurgie geführt. Mit unserer wieder einmal gut gefüllten Zeitschrift kommen Sie gut durch die grauen Wintertage!

Heißer Tipp: Treffen Sie uns und Kolleg:innen am 23. und 24. Februar auf dem Bundeskongress Chirurgie in Nürnberg! Wir sind mit unserem BDC-Stand vor Ort und freuen uns auf Ihren Besuch!

Viel Spaß beim Lesen, Ihre PASSION Chirurgie-Redaktion

Vor dem Eingriff ist nach dem Eingriff

Dieser Artikel erschien am 28. Mai 2023 im Wissensteil der Welt am Sonntag. Er galt unter den Einsendungen für den BDC-Journalistenpreis 2023 als einer der Favoriten.

„Der bestrahlte Patient“, „Plastische Chirurgie“, „Robotik an der Wirbelsäule“ – die Programmpunkte des Deutschen Chirurgie-Kongresses, der 2023 in München tagte, klangen interessant, aber weitgehend erwartbar. Ein Thema jedoch stach sofort ins Auge: „Prähabilitation – sinnhaft oder Lifestyle?“. Fast hätte man dahinter einen Druckfehler vermuten können; die „Rehabilitation“, kurz Reha, gehört schließlich zum Standardrepertoire bei operativen Eingriffen. Aber „Prähabilitation“?

Tatsächlich handelt es sich dabei um ein eigenes Therapiekonzept, das in der Chirurgie derzeit ziemlich im Trend liegt – ohne deswegen nur Lifestyle zu sein. Das Kofferwort setzt sich aus „Präoperativ“ und „Rehabilitation“ zusammen, womit auch schon klar wird, worum es im Wesentlichen geht. Nämlich darum, „das Komplikationsrisiko zu verringern und dafür zu sorgen, dass sich Patienten nach der Operation möglichst schnell wieder erholen“, erklärt Natascha Nüssler, Chefärztin an der München-Klinik Neuperlach und Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie. Ihr Chirurgenkollege Tim Vilz vom Universitätsklinikum Bonn verwendet gern ein Beispiel aus dem Sport, um das Konzept zu veranschaulichen: „Niemand würde einen Marathon ohne Ernährungsumstellung und Training und auch nicht ohne eine entsprechende psychische Vorbereitung angehen“, sagt er. „Das sollte man auch bei einer schweren OP so handhaben – denn die verlangt uns ebenfalls viel ab.“ Vilz arbeitet als Bauchchirurg mit dem Schwerpunkt „chirurgische Onkologie“, er ist außerdem Koordinator für die kommende Leitlinie, wie man Patienten mit Krebserkrankungen im Magen-Darm-Trakt perioperativ behandelt – also vor, während und nach dem operativen Eingriff. Dabei spielt die Prähabilitation eine zentrale Rolle.

Geht es nach Vilz, kann man deren Maßnahmen jedoch nicht nur in der Bauchchirurgie anwenden, sondern – mit entsprechenden Anpassungen – auch auf andere chirurgische Fachdisziplinen übertragen, zum Beispiel auf die Lungen-, Gefäß- oder Kinderchirurgie. Auch die Herzchirurgie zählt dazu. Das zeigte unlängst eine Studie, die von einem Forscherteam um die Kardiologin Claudia Walther vom Uniklinikum Frankfurt am Main an 170 Bypass-Patienten durchgeführt wurde. Die eine Hälfte von ihnen absolvierte vor dem Eingriff ein zweiwöchiges Ergometer- und Gymnastik-Training, die andere nicht. Nach der OP durchliefen beide Gruppen ein dreiwöchiges Reha-Programm – ohne Unterschiede. Es zeigte sich jedoch, dass die Prähabilitations-Patienten später bei typischen Alltagsbelastungen deutlich besser abschnitten. So legten sie in einem sechsminütigen Gehtest 30 bis 40 Meter mehr zurück. Und als es darum ging, von einem Stuhl aufzustehen, einmal um ihn herumzulaufen und sich wieder hinzusetzen, stellten sie sich ebenfalls geschickter an. Insgesamt deuteten alle Ergebnisse darauf hin, dass ihre Lebensqualität wesentlich höher war als in der Kontrollgruppe.

Kürzer im Krankenhaus

Wirkt sich eine Prähabilitation auch positiv auf die Komplikationsrate und Verweildauer im Krankenhaus aus? Walther und ihr Team haben das wissenschaftliche Datenmaterial zu diesem Thema ausgewertet. Ergebnis: Mit einer Prähabilitation lässt sich nach einer Herz-OP ungefähr ein Tag Klinikaufenthalt einsparen. Und das Risiko für Vorhofflimmern nimmt bei den jüngeren, nicht aber bei den älteren Patienten ab – die ja besonders oft am Herzen operiert werden. Hier erscheint der Nutzen einer Prähabilitation also sehr überschaubar. Der Bonner Mediziner Vilz verweist diesbezüglich auf die „bislang dürftige Datenlage“, auch bei den Operationen im Bauchraum. Als gesichert gelte, dass die Patienten nach dem Eingriff belastbarer seien, wenn sie vorher eine Prähabilitation durchlaufen haben. „Doch ob die Komplikationsrate dadurch heruntergeht, können wir bislang nicht definitiv sagen“, sagt Vilz.

Allerdings könnte sich das schon bald ändern, denn die wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich hat gewaltig an Fahrt aufgenommen. Zumindest lässt sich bereits heute die Zielgruppe einkreisen. Anders, als es die Frankfurter Studie vermuten ließe, dürften jüngere und gesunde Patienten in der Regel weniger von einer Prähabilitation profitieren – einfach deshalb, weil sie noch relativ fit sind. Den größten Effekt erzielt die vorbeugende Therapie bei Menschen, auf die eines oder mehrere der folgenden Kriterien zutreffen: Über 65 Jahre alt, fehlernährt, körperlich inaktiv, Raucher und durch die Diagnose psychisch belastet. Das sind keine Randgruppen: In den deutschen OP-Sälen dürften jährlich Tausende liegen, denen eine Prähabilitation Gutes täte.

Wie diese Vorbereitung konkret aussehen kann, erläutert Vilz am Beispiel eines Patienten mit Mastdarmkrebs: „Idealerweise sollte er mit dem Stellen der Diagnose ein Sportprogramm ausgearbeitet bekommen, und er braucht eine Ernährungsberatung, weil er sich künftig betont proteinreich ernähren sollte.“ Von großer Bedeutung sei aber auch die psychologische Betreuung des Patienten. „Denn nach einer Tumordiagnose“, sagt Vilz, „reagieren viele Menschen verständlicherweise mit einer reaktiven Depression“.

Am Uniklinikum in Leipzig laufen derzeit Studien, in denen Krebspatienten zu Hause an einem Online-Sportprogramm teilnehmen, um an ihrer Leistungsfähigkeit für die bevorstehende Operation zu arbeiten. Sie nutzen dabei „Weareables“, also tragbare Geräte wie Brustgurte und Smartwatches, die ihre Vitalwerte messen – Puls, Blutdruck, Atemfrequenz. Auf diese Weise kann dann ein Sportmediziner kontrollieren, ob die Belastung in Ordnung ist oder nachjustiert werden muss; etwa, wenn der Patient gerade eine Chemotherapie macht. Zudem werden in Leipzig die Blutwerte untersucht, um beispielsweise einen Eisenmangel aufzudecken. Es gibt allerdings auch Kritik an der Prähabilitation. Ein oft vorgebrachtes Gegenargument lautet: Man habe nicht die Zeit dafür. Denn die anstehenden Eingriffe seien in der Regel zu dringend, als dass man sie verschieben dürfte, um den Patienten in den Wochen davor noch prähabilitativ aufzubauen. Diesen Einwand hört man gerade in der Onkologie recht häufig. „Hier glauben die Patienten oftmals selbst: „Oh Gott, ich hab Krebs und muss jetzt so schnell wie möglich operiert werden“‘, berichtet die Münchner Chefärztin Natascha Nüssler.

Zeit für die Prähabilitation nehmen

Doch diese Eile ist allenfalls bei Notfalloperationen angezeigt. Ansonsten zeigen gerade Studien an Krebspatienten, dass der Zeitfaktor – wenn es um Wochen geht – nicht so relevant ist, wie oft behauptet wird. Im Gegenteil: Das Risiko für einen geschwächten, unterernährten Krebspatienten ist bei einer OP viel größer, wenn man ihn nicht zuvor aufpäppelt. Und die Perspektiven eines Rauchers, dem ein Bypass gelegt werden soll, sind ebenfalls besser, wenn man ihn auf einen Nikotinentzug vorbereitet. „Es sollte nicht das Ziel sein, möglichst schnell zu operieren“, betont Nüssler. „Vielmehr geht es darum, den Patienten möglichst zum optimalen Zeitpunkt zu operieren, sodass er sich schnell erholt und seine Krankheit erfolgreich behandelt wird.“ Vor diesem Hintergrund könne es durchaus sinnvoller sein, die OP ein paar Wochen nach hinten zu verschieben.

Ein weitaus größeres Problem hat die Prähabilitation damit, dass sie bisher – mit Ausnahme der orthopädischen Eingriffe – in der medizinischen Versorgung nicht etabliert ist. Was nicht zuletzt daran liegt, dass sie aufwendig und entsprechend kostspielig ist. Die Krankenkassen wären zur Kostenübernahme bereit, wenn wirklich klar ist, dass ein bestimmter Patient mit seiner spezifischen Krankengeschichte von einer Prähabilitation profitieren würde. „Doch so weit sind wir noch nicht“, sagt Vilz. Es gebe daher noch nahezu keine ausgewiesenen Prähabilitation-Ambulanzen oder -Kliniken. Immerhin bieten die München-Klinik sowie einige Unikliniken – oft im Rahmen von Studien – entsprechende Konzepte an, etwa in Bonn, Leipzig, Frankfurt am Main oder Mannheim. Wer dort nicht in Behandlung ist, sollte mit seinen behandelnden Ärzten besprechen, was er im Vorfeld des Eingriffs tun kann. Einfach nur darauf zu warten, dürfte in vielen Fällen die schlechteste Option sein, weil es häufig bedeutet, dass die Patienten zu Hause sitzen, über ihre Krankheit und Perspektiven grübeln. Eine Prähabilitation gibt ihnen dagegen die Möglichkeit, sich aktiv auf die OP vorzubereiten. „Die meisten Patienten wissen in Anbetracht dieser Alternativen ziemlich schnell, was sie zu tun haben“, sagt Vilz. „Die Prähabilitation besitzt in der Regel eine große Akzeptanz.“ Und ansonsten gibt es ja noch den Marathon-Vergleich, um sie zu überzeugen.

Vorbereitung ist Alles

DIE FÜNF SÄULEN DER PRÄHABILITATION

Atemtraining

Bei älteren, körperlich unfitten Patienten kommen Atemtrainer zum Einsatz: Plastikgeräte mit einer Art Schnorchel, durch die Patienten möglichst tief ein- und ausatmen. Das Gerät zeigt an, wie tief man Luft geholt hat. Dosierung: vier bis fünf Einheiten à zehn bis zwölf Atemzüge. Alternativ kann man beim Physiotherapeuten üben.

Psychische Vorbereitung

Viele Patienten fallen nach ihrer Krebsdiagnose in ein psychisches Loch, aber auch eine anstehende Bypass-OP kann Betroffenen viel zumuten. Ihr Redebedarf sollte nicht nur von Angehörigen gedeckt werden, sondern auch von Therapeuten, die wissen, was auf die Patienten zukommt. So glauben viele, dass sie nach dem Eingriff wochenlang außer Gefecht gesetzt sind. Tatsächlich dauert es meist nur ein paar Tage.

31 Prozent der Patienten hatten in einer Studie nach ihrer Bauch-OP mit Prähabilitaion mindestens eine Komplikation. In der Kontrollgruppe ohne Prähabilitation waren es 62 Prozent.

Ernährung

Am OP-Tag nüchtern zu bleiben, gilt mittlerweile als überholt. Laut einem von internationalen Forschern entwickelten Konzept dürfen Patienten bis zu sechs Stunden vorher normal essen. Zudem erhalten sie bis zu zwei Stunden vorher eine glukosehaltige Nährlösung, etwa Apfelsaft oder Eistee, um die postoperative Stressantwort des Körpers zu reduzieren.

12 Wochen dauerte es in einer Studie zu Hüftgelenk-OPs, bis Patienten ohne Prähabilitation so viel Kraft und Funktionalität wiedererlangt hatten wie Prähabilitation-Patienten.

Tabak- und Alkoholentzug

Raucher haben nach größeren OPs ein doppelt so hohes Risiko für tiefe Wundinfektionen und häufiger Probleme mit der Narkose. Für regelmäßige Alkoholkonsumenten gilt Ähnliches.

Hier empfiehlt sich Enthaltsamkeit, am besten ab vier Wochen vor dem Eingriff.

Bewegung

Ältere Patienten haben oft nur noch wenig Muskelmasse. Ihnen wird vor bestimmten OPs dazu geraten, öfter Treppen zu steigen und zwei bis drei Mal pro Woche flott spazieren zu gehen. Physiotherapeuten können ihnen zudem zeigen, wie man die Muskeln im Alltag trainiert.

Dr. Jörg Zittlau

Wissenschaftsjournalist

Bremen

[email protected]

www.joergzittlau.de

Chirurgie

Zittlau J: Vor dem Eingriff ist nach dem Eingriff. Passion Chirurgie. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 03_02.

Weitere Artikel zur Prähabilitation finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Fachübergreifend.

Aspekte des berufsorientierenden Praktikums

Im Rahmen des Humanmedizinstudiums müssen alle Medizinstudierenden ein dreimonatiges Praktikum in der Pflege absolvieren. Für mich stand Ende Juni des Jahres 2023 der erste Monat auf einer der drei Stationen der Klinik für Kardiologie (Direktor: Prof. Dr. med. habil. R. Braun-Dullaeus) des Universitätsklinikums Magdeburg A. ö. R. an und der darauffolgende auf der Station des Arbeitsbereiches Gefäßchirurgie; Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie (Direktor: Prof. Dr. med. Dr. h.c. R. S. Croner, MA, FACS) des hiesigen Universitätsklinikums.

Das Medizinstudium selbst war für mich nie unbedingt der große Traum von klein auf, sondern vielmehr war der Weg zu dieser Entscheidung ein Prozess aus anfänglich schlummerndem Interesse, das durch die ständige Konfrontation im medizinischen Kontext wuchs und mich schließlich überzeugte. Dieser Prozess ist mit Beginn des Studiums nicht abgeschlossen – ein so breit gefächertes Studium kann nicht in jedem Aspekt auf Zuspruch stoßen. Ganz im Gegenteil: Langeweile und Desinteresse gehören genauso dazu. Umso wichtiger ist es, sich diesem Lernprozess anzunehmen und herauskristallisieren zu können, was meine Interessen wirklich abdeckt. Was für mich jedoch seit jeher feststeht ist, dass ich zwischenmenschliche Interaktion nicht missen kann und will. Diese Interaktionen lassen für mich das Leben (auf- und er-)blühen – sowohl die positiven als auch die negativen Erfahrungen. Von dem Beruf als Ärztin erwarte und erhoffe ich mir, diese Lebendigkeit des Berufes täglich erfahren zu dürfen und an meinen Aufgaben wachsen zu können.

Anfangs hatte ich keine großartigen Vorstellungen von der kommenden Zeit im Pflegepraktikum, ich wusste nicht so recht, was mich erwartet – dennoch war ich neugierig. Dabei konnte ich weder meine anstehenden Aufgaben als (Vor-)Praktikantin zum Humanmedizinstudium, sozusagen formal in einem berufsorientierenden Praktikum (dennoch aber schon als obligatorische und abrechenbare Leistung zum anstehenden Studium und zugesprochenen Studienplatz gehörend), noch meine Verantwortung einschätzen. Doch bereits am ersten Arbeitstag stand fest, dass es alles andere als einfach wird: vom Frühaufstehen bis hin zur initialen Orientierungslosigkeit und dem (noch) bestehenden geringen Einblick in und Verständnis für das Stationsgeschehen und seine Abläufe.

Ich war als Hilfspflegerin eingesetzt und damit in zahlreiche Aktivitäten der Grundkrankenpflege einbezogen (Tab. 1).

Tab. 1: Verfolgte und ausgeführte Tätigkeiten im Pflegepraktikum (https://next.amboss.com/de/article/O70INh; abgerufen: 06. 12. 2023)

Bereich

Tätigkeiten

Grundpflege

– Unterstützung beim Waschen/Duschen

– Unterstützung beim Zähneputzen

– Hilfe beim Toilettengang

Ernährung

– Anreichen von Essen

– Versorgung mit Tee, Wasser, Kaffee

Mobilität

– Hilfe beim Aufstehen

– Patientenlagerung

– An- und Ausziehen von Kleidung

– Begleiten der Patient/-innen zu Untersuchungen

Beobachtung von Pflegeaufgaben

– Pflegerische Anamnese

– Krankenbeobachtung und -beurteilung

– Messen von Vitalparametern, Anlegen eines EKG

– Verbandswechsel, Vorbereiten von Infusionen, Injektionen verabreichen

Dokumentation

– Eintragen von Messdaten in Patientenkurven

– Notieren von Besonderheiten

Aufbereitung Krankenzimmer

– Betten frisch beziehen

– Leeren von Urinflaschen und Bettpfannen

Umgang mit isolierten Patient/-innen

– Einhalten von Infektionsschutzmaßnahmen

Stationsorganisation

– Dienstbeginn und -ende

– Dienstübergabe

– Teilnahme an der Visite

– Verhalten in Notfallsituationen auf der Station

Soft Skills

– Arbeiten im Team

– Kommunikation mit Patient/-innen und Angehörigen

Zunächst erst einmal ziemlich „überrumpelt“ mit den neuen Herausforderungen, die keinesfalls der „stumpfen“ Theorie aus der Schule glichen, nahm ich mir die Aufgabe meiner neuen Funktion und Tätigkeit der „puren Praxis“ zu Herzen. Eine morgendliche „Waschrunde“ für die hilfsbedürftigen Kranken, Vitalwerte erfassen, Mahlzeiten vorbereiten oder Betten beziehen waren die (Haupt-)Aufgaben, die meinen Tag vor allem im pflegerischen Bereich ausfüllten.

Doch genauso wurde mir zeitweise die Möglichkeit geboten, am OP-Tisch als 2. oder 3. Assistentin zu stehen (Abb. 1, 2), diversen Ultraschalluntersuchungen mehrerer Organ(system)e beizuwohnen und diese phasenweise intensiv zu verfolgen (oder) das Blut-Abnehmen zu erlernen; also Erfahrungen, die mir kein Buch so deutlich, kompetent, anschaulich und prägend nahebringen kann wie das menschliche hautnahe Erleben vor Ort/„bed side“, wie man es im Fachjargon ausdrückt.

Abb. 1: Situatives Foto der Erstautorin (links) aus dem Op-Saal mit einem Chirurgen

 

Abb. 2. Situatives Foto der Erstautorin vom Op-Tisch als Mitglied des Op-Teams (2. von links)

 

In diesen intensiven zwei Monaten verflog die anfänglich – ehrlich gesagt – mitschwingende recht geringe Lust, die dem Frühaufstehen geschuldet war, gänzlich, und der Tatendrang, Neues zu erleben, zu sehen und zu lernen, wuchs immens.

Neue Gesichter – ob bei medizinischen MitarbeiterInnen oder PatientInnen – und neue Geschichten gehörten zur Tagesordnung. Dabei bleibt es einem jedoch selbst überlassen, darin die Herausforderung zu erkennen oder eben die Chance zu sehen, sich dem täglichen Wechsel, den Anforderungen und Ansprüchen mit einem (hoch-)entwickelten Maß von klinischer Alltags- und Dienstkompetenz sowie adäquater pflegerischer Expertise auszusetzen gegenüber auch einer erkennbar manchmal drohenden Erreichung der Leistungsgrenze.

Determiniert sich erst einmal der Wille, diese herausfordernden Aspekte ernsthaft anzunehmen, lernt man, dass die Quintessenz der Arbeit in den Menschen selbst liegt – mit denen und für die man arbeitet. Sinn der Sache ist es, nicht stumpf geforderte Tätigkeiten zu übernehmen, sondern den Blick hinter die Fassade zu wagen, sich auf die/den Patient:in einzulassen. Zwischen „den Zugang finden“ und „einen Zugang legen“ liegt der Akt der Zwischenmenschlichkeit, der in einem solchen Beruf nicht zu kurz kommen darf. Alltag findet nur dann statt, wenn man zulässt, dass die Routine den Tag bestimmt. Doch wenn man dem Praktikum mit ständiger Neugierde entgegentritt, wird jedes Einzelne zur einzigartigen Erfahrung.

So war der primäre Teil in der Kardiologie vor allem durch pflegerische Einarbeitung gekennzeichnet. Dabei waren die pflegerischen Kolleg:innen großartig – sie „nahmen mich an die Hand“, zeigten mir manchen pflegerischen Kniff, aber auch einige tiefsinnige Hintergrundaspekte zu Patientenäußerungen und -verhalten.

In der Gefäßchirurgie war ich dann schon besser „gewappnet“ hinsichtlich der unzähligen auch kleinen Pflichten, die der (auch hilfs-)pflegerischen Ebene zukommen.

Beide Fachbereiche stellten einen gelungenen Einstieg in die Medizin dar,

  • einmal eher klinisch-konservativ in der Kardiologie, stark auf diagnostischen Maßnahmen fußend, mit teilweisen Interventionen („Herzkatheteruntersuchung“, „Herzklappenimplantation“), die ich fachlich nunmehr schon etwas besser verstehe;
  • andererseits eher operativ in der Gefäßchirurgie ausgerichtet mit einem der Operation anhängigen Maßnahmepaket („perioperative Patientenbetreuung“), wo neben der komplexen Patient:inneneinschätzung hinsichtlich der Operationseignung vor dem gefäßchirurgischen Eingriff („präoperativ“) sich eine ebenso intensive Anstrengung dem „postoperativen“ Verlauf (also nach dem gefäßchirurgischen Eingriff – zumeist in Vollnarkose bei teils schwerkranken PatientInnen hinsichtlich gefäßmedizinischer Krankheitsausprägung, Nebenerkrankungen und diversen Medikamenten) zur Patientengenesung und Komplikationserkennung und -beherrschung ärztlich und pflegerisch (Abb. 3) widmete.
Abb. 3: Pflegerische Tätigkeiten im berufsorientierenden Praktikum

 

Ich hatte so viele interessante Begegnungen und (Kurz-)Gespräche mit tatkräftigen Beschäftigten, ob Schwestern oder Pfleger, im täglichen Kontakt oder der emsigen Ärzteschaft, die in ihrem konzentrierten Tagwerk sich einer kurzen Konversation stellten oder einfach „herüberwinkten“.

Es waren sehr lehrreiche Tage und Wochen mit zahlreichen Einzel- und Detailerlebnissen und -eindrücken, die es erst einmal zu verarbeiten gilt, aber von deren auch erfüllenden Aspekten ich bestimmt noch eine Weile zehren werde.

Neben dem obligatorischen Part im Humanmedizinstudium ist ein derartiges hilfspflegerisch ausgerichtetes berufsorientierendes Praktikum auch durchaus im Vorfeld anderer Fachrichtungen sehr geeignet wie Gesundheitsökonomie/-management, öffentliche(s) Gesundheitswesen/-wirtschaft, Psychologie und Soziologie, aber auch allgemein lebens- und zukunftsorientierend im individuellen Selbstfindungsprozess oder im Rahmen des „Freiwilligen Sozialen Jahrs“.

Auf alle Fälle wurde sehr klar, welchem Zweck ein ausgiebiges Pflegepraktikum im Rahmen des Humanmedizinstudiums dient, den komplexen und kompletten klinisch-medizinischen Alltag schon früh im Studienablauf tiefgründig und nachhaltig zu erfahren als auch den Grundstein für eine adäquate interprofessionelle Zusammenarbeit auf Basis gegenseitigen Verstehens zu legen.

Das berufsorientierende Praktikum hat mir bestätigt was für eine großartige Arbeit Pflegekräfte und Ärztinnen und Ärzte täglich leisten, die Vorfreude auf den dritten Monat im Pflegepraktikum geweckt und mich in meiner Entscheidung, ein Humanmedizinstudium in Angriff zu nehmen, bestärkt.

Korrespondierende Autorin:

Katrin Maria Halloul

Medizinische Fakultät

Universität Hamburg

Prof. Dr. med. Frank Meyer

Medizinische Fakultät Universität Hamburg

Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie

Universitätsklinikum Magdeburg A. ö. R., Magdeburg

Chirurgie+

Halloul KM, Meyer F: Aspekte des berufsorientierenden Praktikums. Passion Chirurgie. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 04_02.

Begeistern Sie den Nachwuchs für die Chirurgie, mehr dazu auf der Webseite unserer Nachwuchskampagne „Nur Mut! Kein Durchschnittsjob: ChirurgIn“.

WEITER+BILDUNG – Willkommen zum Bundeskongress Chirurgie 2024 in Nürnberg!

Die medizinische Versorgung versinkt aktuell im Chaos! Kliniken und Praxen wissen nicht mehr, wie sie in Zukunft die Patientenversorgung sicherstellen sollen. Überall herrscht ein Mangel an ärztlichem wie medizinischem Fachpersonal, und die Politik ist richtungslos.

Die Rahmenbedingungen für eine hochwertige medizinische Versorgung ändern sich permanent. Investorengeführte MVZ übernehmen zunehmend die ambulanten Strukturen.

In den Kliniken sollen integrierte Notfallzentren entstehen, die das ärztliche Personal binden, während parallel dazu eine Verlagerung von stationären Leistungen in den ambulanten Sektor seitens der aktuellen Gesundheitspolitik angestrebt wird.

Diese Ausgangslage hat weitreichende Folgen für das gesamte Gesundheitswesen. Sie sorgt für eine hohe Ressourcenverschwendung und stellt gerade uns Niedergelassene vor unglaubliche Herausforderungen. Als Fachärztinnen und Fachärzte kämpfen wir nicht nur mit einer unzureichenden Finanzierung in der ambulanten Medizin. Wir müssen uns auch den Fragen stellen: Wie decken wir zukünftig den – für diese Versorgung notwendigen – Bedarf an Haus- und Fachärztinnen/Fachärzten? Und gestalten wir die Weiterbildung familienfreundlicher, so dass niemanden benachteiligt wird? Und wie stellen wir sicher, dass diese Nachwuchskräfte tatsächlich die Probleme der Patienten in den Praxen lösen können?

Eins ist sicher: Die ärztliche Weiterbildung muss dort stattfinden, wo ärztliche Eingriffe besonders häufig und gut gemacht werden. Das bedeutet: sie kann nicht mehr ausschließlich im stationären Sektor erfolgen! Viele grundlegende Fertigkeiten werden dort nicht mehr gelehrt. Das für die professionelle Patientenversorgung nötige Wissen kann nur noch im ambulanten Bereich erworben werden. Wir sind bereit für diese Herausforderung!

Allerdings können die Praxen die Lücken in der Weiterbildung nicht allein schließen. Die aktuelle Situation erfordert dringend einen Dialog und eine gemeinsame Lösungsfindung zwischen Politik, Kliniken, ambulanten Praxen und Weiterbildungsverantwortlichen. Der Bundeskongress Chirurgie 2024 in Nürnberg bietet die ideale Plattform, um das Thema ärztliche WEITER+BILDUNG zu diskutieren und gemeinsam Lösungsansätze zu entwickeln.

Wir freuen uns darauf, renommierte Experten, Vertreter der Politik, Ärztinnen/Ärzte und medizinisches Fachpersonal aus Kliniken und Praxen zusammenzubringen, um die Zukunft der Chirurgie und der ärztlichen Weiterbildung aktiv mitzugestalten. Seien Sie dabei und tragen Sie aktiv zu diesem wichtigen Diskurs bei.

Wir laden Sie herzlich ein, den Bundeskongress Chirurgie vom 23. bis 24. Februar 2024 in Nürnberg zu besuchen und gemeinsam die Weichen für eine zukunftsorientierte medizinische Versorgung zu stellen: https://www.bundeskongress-chirurgie.de/

Jan Henniger

Kongressleitung Bundeskongress Chirurgie

Dr. med. Frank Sinning

Kongressleitung Bundeskongress Chirurgie

Chirurgie+

Henniger J, Sinning F: WEITER+BILDUNG – Willkommen zum Bundeskongress Chirurgie 2024 in Nürnberg! Passion Chirurgie. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 04_03.

Mehr Themen für Niedergelassene finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Niederlassung.

Pflegenotstand überwinden – aber wie? Strategien zur Personalbindung

Der Beruf der Krankenschwester und des Krankenpflegers hatte immer ein äußerst hohes Ansehen bei Patienten und der Bevölkerung. Die Arbeit wurde immer gerne mit Hingabe und Empathie durchgeführt. Die Patienten oder pflegebedürftigen Menschen, die diese Hilfe benötigen, sehen diese Bedeutung nach wie vor uneingeschränkt und sind sehr dankbar für jeden Handgriff, Zuspruch oder Teilhabe. Dennoch kommt es zunehmend zur Unzufriedenheit und Abwanderung des Pflegepersonals. Was ist geschehen mit dem schönen und erfüllenden Beruf? Warum wenden immer mehr Pflegekräfte ihrer Tätigkeit den Rücken zu? Hier soll versucht werden, die Ursachen und die aktuelle Situation zu verstehen, um daraus Verbesserungsmöglichkeiten abzuleiten, die zu einer Rückkehr des Pflegepersonals in den Beruf führen könnten. Denn wir alle benötigen Pflegekräfte, ohne die auch die ärztliche Versorgung nahezu unmöglich wird.

Der Mangel an Pflegekräften und der Pflegenotstand sind bereits seit Langem bekannt. Seit der Coronapandemie hat sich die Situation noch deutlich verschärft. Ein Ende ist nicht in Sicht. Parallel zur Reduktion der Behandlungen kam es zu einer signifikanten Abwanderung von Pflegepersonal, was von den Kliniken teilweise begrüßt wurde, da Unterbelegungen der Kliniken offenbar als weniger schädlich als „unnötige“ Personalkosten erachtet wurden. Zumal wurde während der Coronazeit jedes freie Bett vergütet. Offenbar wurde nicht ausreichend über die Zeit nach der Pandemie reflektiert. Insbesondere gab es keine offensichtlichen Konzepte zur Reaktivierung des abgewanderten Pflegepersonals. Nun ist die Situation nicht mehr nur unerfreulich und belastend für arbeitende Pflegende und Ärzte, sondern es führt zu Behandlungsengpässen, die das Wohl der Patienten bedrohen. Nach dem Ende der Pandemie stiegen die Patientenzahlen zwar erneut an, doch müssen bis heute Betten, ganze Stationen und OP-Säle wegen Pflegemangels gesperrt bleiben. Das Problem ist offenbar aktueller als je zuvor. So berichten z.B. die Tagesschau und namhafte Zeitungen über den Notstand in der Pflege.

Die Fragen, die es zu beantworten gilt, sind folgende:

  • Wie hat sich der Pflegenotstand entwickelt und was ist der Grund der kontinuierlichen Abwanderung?
  • Wo sind die vielen abgewanderten Pflegekräfte jetzt?
  • Wie ist die Situation des Pflegenotstandes aktuell in Deutschland?
  • Wie sind die Zukunftsaussichten für die Pflegesituation in Deutschland?
  • Was können die Gesellschaft und wir Ärzte aktiv tun, um den Beruf der Pflege wieder so attraktiv zu machen, wie er einmal war? Wie motivieren wir Pflegekräfte, in den Beruf zurückzukehren?

Ursachen des Pflegenotstandes und Grund der weiteren Abwanderung

Die wichtigsten Ursachen des Pflegenotstandes sind der demographische Wandel, schlechte Arbeitsbedingungen, zu geringe Gehälter, der Einfluss von Zeitarbeitsfirmen, der Trend zur stationären Pflege und die Tatsache, dass mehr und mehr Angehörige ihre Pflegetätigkeit einstellen. Bereits 2011 wurde im Deutschen Ärzteblatt über die Unzufriedenheit der Pflegekräfte berichtet [1]. Die wesentlichen Faktoren dafür zeigt Tabelle 1.

Tab. 1: Faktoren, die über Abwanderung oder Verbleib des Pflegepersonals entscheiden [1].

Verdienstmöglichkeiten

Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben

Persönlicher Kontakt zu Patienten/Zeit für den Menschen,

Schichtbesetzung/Personaldecke

Wertschätzung von Leistung/Anerkennung durch Vorgesetzte

Stellenwert und Wertschätzung des Pflegepersonals im Krankenhaus – respektive Positionierung der Berufsgruppe Pflege in Entscheidungsgremien des Hauses.

Die Unzufriedenheit der Pflegekräfte wurde auch messbar. Sie ist im Zeitraum von 1990 bis 2012 um 7,5 % angestiegen, bei den Teilzeitpflegekräften lag der Zuwachs der Unzufriedenheit sogar bei 12,9 % [2]. Ein Zusammenhang zwischen Arbeitsaufwand und Auftreten eines Burnouts konnte festgestellt werden, was sich allerdings durch gute Arbeitsbedingungen, ein gutes Team und Anerkennung durch die Vorgesetzten verringern ließ [3]. Die Abwanderung von der Intensivstation hat ähnliche Gründe [4]. Die Perspektiven für die nächsten 10 Jahre werden insgesamt bis auf das Gefühl der Sicherheit des Arbeitsplatzes negativ oder eher negativ gesehen. Es kommt zudem zu einer zunehmenden Arbeitsverdichtung bei einer Zunahme der Pflegebedürftigen, die alleine von 2017 bis 2019 um 21 % gestiegen ist [5]. Zusätzliches Personal wurde nicht eingestellt, um diese Mehrbelastung zu kompensieren. Drei Viertel der Pflegerinnen und Pfleger rechnen nicht damit, bis zur Rente im Job zu bleiben [6]. Auch das in den letzten 10 Jahren um ein Drittel gestiegene Bruttoeinkommen, welches sogar über dem Durchschnitt in der Gesamtwirtschaft liegt, kann das Problem nicht aufhalten [7].

Wo sind die vielen abgewanderten Pflegekräfte jetzt?

Es gab eine messbare Abwanderung der Pflegekräfte, insbesondere aus den Krankenhäusern. Nach der Umfrage im Krankenhausbarometer des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) ist die Anzahl der fehlenden Pflegekräfte direkt proportional zur Klinikgröße und dies hat in den letzten 10 Jahren bis zur Verdopplung massiv zugenommen [8]. In den Pflegeheimen und der ambulanten Pflege kam es von 2019 bis 2021 zwar zu einem Zuwachs des Personals, jedoch arbeitet nur knapp ein Drittel in Vollzeit [7]. In diesen Bereichen ist der Anteil der Fachkräfte mit um die 50 % deutlich geringer als in den Krankenhäusern, in denen der Anteil bei 79 % liegt [9]. Insbesondere scheinen Fachkräfte den Beruf zu verlassen. Viele reduzieren die wöchentliche Arbeitszeit bei einer gleichzeitigen Zunahme des Bedarfs. Nach Informationen des Berufsverbandes der Präventologen bleiben in Deutschland Pflegekräfte nur 7,5 Jahre im Beruf. Bei einer Lebensarbeitszeit von mindestens 40 Jahren gibt es drei bis vier Mal so viele pflegekompetente Menschen in der Bevölkerung, als gegenwärtig tätig sind [10]. Zeitarbeit und die dadurch gewonnene Flexibilität bei besserer Vergütung scheint ein interessanter Trend zu sein, der verfolgt wird.

Weiterbildungen werden häufig in Anspruch genommen. Diese sind teilweise innerhalb der Pflege möglich – etwa zu einer Fachkraft für Anästhesie, Dialyse oder Endoskopie. Wer sich noch mehr weiterbilden möchte, kann im Sinne der Akademisierung der Pflege einen der differenzierten Studiengänge wie Pflegewissenschaften, Gesundheitswissenschaften und –management, psychiatrische Pflege und Palliativpflege, Pflegemanagement und Pflegepädagogik besuchen und absolvieren [11]. Die Akademisierung der Pflege scheint für viele Pflegekräfte eine interessante Alternative zu sein, jedoch führt dies auch zu Nachteilen bei den Führungsaufgaben. Es kommt es zur Distanzierung von den Pflegekräften, die dadurch häufig keine nachvollziehbare Führung, sondern eine Bevormundung verspüren. Maßnahmen werden von den Betroffenen nicht verstanden und die Konsequenz der Maßnahmen können durch die Distanz der Vorgesetzten nicht ausreichend eingeschätzt werden. Die Unzufriedenheit ist vorgezeichnet. Neben der Akademisierung werden weitere Möglichkeiten der Weiterbildung genutzt (s. Tab. 2) [12].

Tab. 2: Mögliche Alternativen zur regulären Pflege [12].

Führungspositionen in der Altenpflege

Fachkraft für Dialyse

Palliativbegleitung

Hilfe von der Agentur für Arbeit

Verwandte Berufsfelder

Verwaltung

Medizinische Fachangestellte (MFA)

Betriebliches Gesundheitsmanagement

Umschulungen

Physiotherapie

Notfallsanitäter

Ernährungsberatung/Diätassistenz

Selbstständigkeit

Wie ist die Situation des Pflegenotstandes aktuell in Deutschland?

Die Anzahl der Pflegekräfte ist im internationalen Vergleich deutlich zu gering. So betreut in Deutschland eine Pflegekraft 13 Patienten, hingegen werden in anderen europäischen Ländern deutlich weniger Patienten von einer Pflegekraft betreut. In den Niederlanden kommen auf eine Pflegekraft nur noch 6,9 Patienten, in USA sogar nur 5,3 [13].

Deutschland wird als Schlusslicht bezeichnet. Viele zusätzliche Pflegekräfte müssen in Deutschland eingestellt werden, um den Personalschlüssel anderer Länder zu erreichen. Um z. B. das Niveau von Norwegen zu erreichen, müssten in Deutschland 272.270 Pflegekräfte eingestellt werden [14].

Wie sind die Zukunftsaussichten für die Pflegesituation in Deutschland?

Der demografische Wandel führt zu einer starken Zunahme der über 65-Jährigen. Während es 2022 noch 22 % waren, wird der Anteil für das Jahr 2060 auf 31 % geschätzt. Von 2017 bis 2019 kam es zu einer Zunahme der Pflegebedürftigen von 21 % [15]. Bei einer Arbeitszeit bis zum 67. Lebensjahr geht der letzte Babyboomer im Jahr 2031 in Rente, sodass der Nachwuchs absehbar fehlen wird. Ohne eine drastische Veränderung wird es im Verlauf der nächsten zehn Jahre zu einem dramatischen Zustand kommen, der zu einer absoluten Minderversorgung auch schwer- und schwerstkranker sowie pflegebedürftiger Menschen führen wird.

Was können die Gesellschaft und wir Ärzte aktiv tun, um den Beruf der Pflege wieder so attraktiv zu machen, wie er einmal war? Wie motivieren wir Pflegekräfte, in den Beruf zurückzukehren?

Es bedarf mehrerer grundlegender Aufwertungen, um die Arbeitsbedingungen für die Pflegenden zu verbessern. Die wichtigsten Bedingungen für die Rückkehr der Pflegenden sind eine bedarfsgerechte Personalbemessung, wertschätzender und respektvoller Umgang, verbindliche Dienstpläne, vereinfachte Dokumentationsformen und angemessene Bezahlung, die insbesondere Fort- und Weiterbildungen anerkennt [16].

Nach einer bundesweiten Befragung bei 12.700 „Ausgestiegenen“ sowie teilzeitbeschäftigten Pflegekräften besteht ein hohes Potenzial für aufstockungswillige Teilzeitpflegekräfte sowie erstmals auch für Beschäftigte in der Pflege, die ihrem Beruf in den vergangenen Jahren den Rücken gekehrt haben und sich eine Rückkehr vorstellen können. Es besteht demnach ein Potenzial von 300.000 Pflegekräften in Vollzeit bei sehr vorsichtiger Kalkulation, in einem optimistischen Szenario sogar von bis zu 660.000 Vollzeitkräften. Dieses Potential sollte unbedingt genutzt werden.

Auch Ärzte können einen sehr großen Anteil dazu beitragen, die Attraktivität des Pflegeberufs zu erhöhen, denn die Pflegekräfte arbeiten in den meisten Einrichtungen ohnehin mit den Ärzten in einem Team zusammen. Im Operationssaal oder der Endoskopie wird gemeinsam auf engstem Raum über Stunden gearbeitet, sodass sich schließlich alle gut kennen und respektieren. Obwohl Ärzte Anordnungen treffen, die die Pflegenden ausführen, sind sie offiziell disziplinarisch der Pflege gegenüber nicht weisungsbefugt. Das sollte sie nicht vom Verantwortungsgefühl der Teambildung abhalten. In einem guten Team wird dann die Kritik in der Regel bilateral akzeptiert. Oftmals werden Ärzte als Teamleader mehr geschätzt als die eigenen Vorgesetzten, die nicht täglich vor Ort sind. Die allgemeinen Grundsätze der Personalführung stärken so die Motivation aller Beteiligten. Dazu gehören flache Hierarchien, gestärktes Teamgefühl, Mitarbeitergespräche, ein motivierendes Umfeld etc.

Von der politischen Seite sollte ein Umdenken erfolgen. Zum Beispiel führen die Strukturen in den skandinavischen Ländern dazu, dass die meisten Pflegekräfte bis zum Rentenalter im Beruf bleiben. Die Finanzierung in Schweden erfolgt über die Steuer und nicht über die Pflegeversicherung, wodurch mehr Geld für die Pflege vorhanden ist. Der Pflegeschlüssel in Schweden ist deutlich vorteilhafter als in Deutschland. Pflegekräfte müssen in Schweden studieren, die akademische Ausbildung zum Bachelor dauert mindestens drei Jahre, zusätzlich können ein Master und sogar eine Promotion absolviert werden. So wird eine hohe fachliche Qualität in der Pflege sichergestellt [17]. Hier scheint die Akademisierung einen positiven Effekt zu erreichen, denn sie betrifft alle und nicht nur einige Beschäftigte.

Konzepte, die Babyboomer Generation aktiv in die Pflege einzubeziehen, scheinen zumindest teilweise erfolgsversprechend. Der Berufsverband der Präventologen veröffentlichte Konzepte aus Norwegen, wo kommunale Einrichtungen über 40 Prozent der Heimeinweisungen durch Bewegung und neue Gemeinschaft verhindern. Hier bilden Nachbarschaftshilfe und menschliche Beziehungen eine wesentliche Stütze.

Die Opto Data Zukunftsstiftung schlägt Pflegekonzepte der Zukunft vor. Konzepte wie Pflegeappartement, Pflegeroboter, Pflege-WG, ECO-System (Expert Care Organization) und ein zweiter Beschäftigungsmarkt zielen darauf ab, die Älteren zur Selbsthilfe zu bewegen, aber auch Hilfe durch Erleichterungen zu erhalten [15].

Ausblick

Wir müssen sofort mit den Maßnahmen beginnen, die hier aufgeführt wurden. Ärzte, Pflegende und die Politik sind hier gleichermaßen gefordert, alles in ihrem jeweiligen Bereich zu tun, um die genannten motivierenden Faktoren auszuschöpfen, sodass die Pflegenden in den attraktiven Beruf zurückkehren. Als Ärzte können wir unmittelbar eingreifen und das Teamgefühl und damit die Motivation der Pflegenden stärken. Obwohl Ärzte nicht die disziplinarischen Vorgesetzten der Pflegekräfte sind, sollten sie eine Führungsrolle übernehmen. Auch eine engere Zusammenarbeit mit den Pflegedienstleitungen mit Mitspracherecht in Bezug auf die Personalplanung erscheint mir mehr als notwendig. Natürlich müssen die Politik und die Verwaltungen der Einrichtungen die genannten Bedingungen ebenfalls umsetzen. Bei deutlich positiven Veränderungen wird es uns gelingen, trotz zunehmenden Bedarfs den Pflegeberuf wieder zur verdienten Attraktivität zurückzuführen und den Mangel an Personal einzudämmen.

Literatur

[1]   Buxel H. Was Pflegekräfte unzufrieden macht. Dtsch Arztebl 2011; 108(17): A 946–8
[2]   Alameddine M, Bauer JM, Richter M et al. Trends in job satisfaction among German nurses from 1990 to 2012. J Health Serv Res Policy 2016, Apr;21(2):101-8.
[3]   Diehl E, Rieger S, Letzel S, et al. The relationship between workload and burnout among nurses: The buffering role of personal, social and organizational recources. PLoS One. 2021 Jan 22;16(1):
[4]   Khan N, Jackson D, Stayt L, Walthall H.Factors influencing nurses’ intentions to leave adult critical care settings. Nurs Crit Care. 2019 Jan;24(1):24-32
[5]   Opta data Zukunfts-Stiftung gGmbH 05.07.2022
[6]   Zeit online. Arbeitsbelastung in der Krankenpflege ist laut Umfrage gestiegen 2023
[7]   DeStatis, Statistisches Bundesamt. Pressemitteilung Nr. N026 vom 11. Mai 2022
[8]   DKI (= Deutsches Krankenhausinstitut), Krankenhausbarometer, Umfrage 2021
[9]   Bundesagentur für Arbeit 2021
[10] Berufsverband der Präventologen e.V. 2022
[11] Schöneck B. Welche alternativen Berufs-Perspektiven Pflegekräfte haben. Rechtsdepesche.de 3. Januar 2022
[12] Meier J. Raus aus der Pflege: Berufliche Alternativen. Medikarriere.de. 2021
[13] Hans Böckler Stiftung 2017
[14] Hans Böckler Stiftung 2019
[15] Druyen T et al. PflegeStudie. Opto Data Zukunftsstiftung 2022
[16] Auf einen Blick. Arbeitsbedingungen in der Pflege. Hans Böckler Stiftung 2022
[17] Hörner L. Gesundheitssystem in Schweden & Norwegen. Medirocket.de. 2022

Prof. Dr. med. Guido Schumacher

Chirurgische Klinik Brixen/Sterzing

Dantestraße 51

39042 Brixen (BZ)/Italien

[email protected]

Chirurgie

Schumacher G: Pflegenotstand überwinden – aber wie? Strategien zur Personalbindung. Passion Chirurgie. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 03_05.

Weitere Artikel zum Thema Pflegenotstand finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Politik | Sektorenübergreifend.



Vorgaben und Optimierung des Entlassmanagements: Was bedeutet das im Klinikalltag?

Der Begriff „Entlassmanagement“ ist im klinischen Alltag allgegenwärtig und doch wird er in den zahlreichen Krankenhäusern unseres Landes unterschiedlich verstanden und gelebt. Dabei stellt diese Phase der Versorgung für viele Patientinnen und Patienten eine besonders kritische dar, denn sie kann besonders großen Einfluss auf die zukünftige Lebensqualität und den Ausgang der Erkrankung haben.

In den Helios Standorten in Duisburg verstehen wir unter Entlassmanagement einen übergeordneten Begriff, der zum einen alle Berufsgruppen miteinschließt und zum anderen standardisierte und patientenorientierte Prozesse beinhaltet. Dabei hat die Sicherstellung der individuellen poststationären Nachsorge für unsere Patientinnen und Patienten die höchste Priorität.

Ein interdisziplinäres Team aus den Bereichen Sozialdienst, Familiale Pflege und pflegerischen Case Managern hat dabei die Aufgabe, die notwendigen Versorgungsaspekte im Akutklinikalltag mit den Patient:innen und ihren Angehörigen zu erfassen, zu planen, zu begleiten, zu koordinieren und zu evaluieren. Ziel ist die Entlassung unter Betrachtung der persönlichen „Patienten-Ressourcen“, um eine selbstständigkeitserhaltende häusliche Versorgung zu erzielen und – sofern Unterstützung erforderlich ist – diese zu implementieren.

Aufbau Entlassmanagement

Das Duisburger Entlassmanagement entwickelte sich durch die gesetzlichen Vorgaben (Rahmenvereinbarung Entlassmanagement) und aus dem traditionell bestehenden Sozialdienst des Krankenhauses. Einige der nun auch gesetzlich geforderten Prozesse waren dankbarerweise bereits vorab unbewusst implementiert worden.

Angestoßen durch die Rahmenvereinbarung wurde zunächst eine Arbeitsgruppe am Haus entwickelt, dessen Hauptaufgabe war, die theoretische Rahmenvereinbarung Punkt für Punkt in die Praxis zu übersetzen.

Insbesondere die Erstellung der datenbasierten, gemeinsamen und transparenten Dokumentation für alle an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen war eine Herausforderung.

Im Sozialdienst wurden standardisierte Assessmentbögen für die Erfassung der Ist-Situation (Sozialanamnesebögen) sowie ein effizientes Dokumentationstool eingeführt, welches im Krankenhausinformationssystem (KIS) die Patient:innenübersicht verbessert. Diese Maßnahmen führten zu einer Eliminierung redundanter Informationssammlung bei Neuaufnahmen und ermöglicht anderen Fachbereichen einen einfacheren Zugriff auf bereits vorhandene Daten.

Die Implementierung des Entlassmanagements stieß trotz umfassender Bemühungen im Behandlungsprozess auf nicht unerhebliche Hindernisse: Bei komplexen Nachsorgesituationen traten Kommunikationsfehler im Team sowie gegenüber den Nachsorger:innen auf. Zudem fehlte eine zentrale Kontrollstelle für die Entlassung in all ihren Facetten, was zu Unvollständigkeiten etwa bei Entlassdatum, poststationärer Versorgungsart oder erforderlichen Unterlagen führte. Offensichtlich fehlte ein Bindeglied zwischen dem multidisziplinären Team, den Patient:innen, Angehörigen und externen Nachsorger:innen. Die Konsequenz erfolgte in der Schaffung einer entsprechenden Leitungsposition, die mit dem Aufbau der neuen Abteilung Case Management betraut werden sollte. Die Stelle konnte intern mit einer Bereichsleitung besetzt werden, welche aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung und Qualifikation in der pflegerischen Patientenversorgung ausgewählt wurde und das Case Management bis heute leitet.

Aktuelle Situation mit den erfolgten Schritten

  • Alle relevanten Verordnungen, Rezepte und Formulare sind nun digitalisiert und im KIS für sämtliche Berufsgruppen einsehbar.
  • Ein tägliches Screening aller Neuaufnahmen erfolgt unter bestimmten bereits vorher festgelegten Kriterien. (Barthel<70, Aufnahme aus Kurzzeitpflegeeinrichtungen oder Rehakliniken, Pflegegrad >1, Diagnosen insbesondere C-Diagnosen, je nach Vorwert in Kombination Familienstand und Wohnsituation)
  • Ein sogenannter „Entlassplan“ wird bereits bei jeder Aufnahme nach Pflegeanamnese oder erfolgreichem Initial-Assessment ausgelöst, um schon frühzeitig erforderliche Maßnahmen zu erfassen und Aufträge an Fachabteilungen zu übermitteln. Dieser Entlassplan fungiert als zentrales Tool im Klinikalltag, das sämtliche Konsilanforderungen sowie durchgeführten Maßnahmen zur poststationären Versorgung transparent auflistet.
  • Mitarbeiter:innen des Case Managements begleiten nicht nur die Pflegevisite, sondern auch Arztvisiten, Team- und Fallbesprechungen.
  • Zum Zeitpunkt der Entlassungen wird schlussendlich überprüft, ob das geplante Ziel erreicht und alle Maßnahmen umgesetzt wurden sowie notwendige Unterlagen vorliegen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Mitgabe von (vorläufigen) Arztbriefen, dem bundeseinheitlichen Medikationsplan sowie Entlass-Rezepten und Verordnungen.
  • Falls Fehler bei der Entlassung auftreten, sind direkte Ansprechpartner:innen für externe Leistungserbringer:innen und Nachsorger:innen verfügbar. Dafür wurden all relevanten Pflegeeinrichtungen persönlich besucht und schriftliche Kontaktinformationen bereitgestellt.
  • Darüber hinaus werden ärztliches und pflegerisches Stammpersonal fachabteilungsbezogen kontinuierlich im Entlassmanagement geschult, um auch weiterhin ein gesichertes Informationsniveau zu gewährleisten. Bei neuen Entwicklungen setzt das Team zudem auf persönliche Termine mit Stationen und Fachabteilungen.

Ausblick in die Zukunft

Die bisherige Erfahrung zeigt, dass eine effektive Zusammenarbeit im multidisziplinären Kontext für eine optimale Versorgung hilfreich und notwendig ist. Das Ziel ist eine personelle Aufstockung im Case Management, um Prozesse auf der Station noch intensiver zu begleiten und Versorgungslücken oder erforderliche Anpassungen frühzeitig zu erkennen. Die Duisburger Klinikleitung plant daher, im Jahr 2024 den Aufbau eines Team aus zertifizierten Case Manager:innen, die den verschiedenen Abteilungen als feste Ansprechpartner:innen zugeordnet werden.

Ankica Gagro

Teamleitung Case Management (DGCC)

Helios Klinikum Duisburg

Michalina Krzonkalla

Abteilungsleitung Patientenservicecenter

Helios Klinikum Duisburg

Chirurgie

Gagro A, Krzonkalla M: Vorgaben und Optimierung des Entlassmanagements: Was bedeutet das im Klinikalltag? Passion Chirurgie. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 03_04.

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Chirurgie in der DDR – In der Provinz (Teil 1)

Provinz heißt hier „außerhalb der Universität“, und sie ist lokalisiert auf die „Zone“. Die Motivation, von einer Hochschulklinik in die Provinz zu gehen, dürfte in Ost und West so unterschiedlich nicht gewesen sein: Nicht Oberarzt auf Lebenszeit zu sein, den Sprung in die Selbstständigkeit zu suchen, manchmal auch weggelobt oder abgeschoben zu werden. Auch ein unfreiwilliger Wechsel weg von der Alma Mater hat sich nur allzu oft als Glücksfall erwiesen, wo ungeahnte Talente frei und hohes Ansehen erlangt wurden. Die Kollegen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg lebten und arbeiteten jedoch in einem zentralistischen Regime, bei dem die Staatspartei SED in Berlin alle Entscheidungen auch für das Gesundheitswesen traf, die dann bis in den letzten Winkel der Republik „durchgestellt“ wurden. Auch bei einem Wechsel an ein Stadt-, Kreis- oder Bezirkskrankenhaus blieb man als Chefarzt permanentem Druck ausgesetzt, wenngleich dieser an der Universität am höchsten war, da schaute man am genauesten hin! Insbesondere bei Beförderungen und Berufungen waren öffentliches Bekenntnis zum Staat und Mitgliedschaft in der SED die entscheidenden Faktoren. Nach dem Mauerbau 1961 wurden die Zügel noch fester gezogen. „Jetzt haben wir die reaktionären Mediziner, jetzt können sie nicht mehr damit drohen, die DDR zu verlassen!“ (Originalton eines Parteifunktionärs vor Medizinstudenten und Ärzten). So musste sich eine „innere Emigration“ weg von der Universität oder Akademie als Illusion erweisen, es sei denn, man konnte eine der raren Stellen in einem konfessionellen Haus ergattern.

Zone = bewusst oder unbewusst herabsetzende Bezeichnung des Staates DDR (1949-1990). Es gibt im Jahr 2023 noch Menschen, die die fünf „neuen“ Bundesländer immer noch als „Zone“ bezeichnen.

Die über 400 km von Leipzig nach Stralsund hatte Herberts Uebermuths (1901-1986) erster Oberarzt Dr. med. Otto Scholz (1916-2010) 1958 ohne Kulturschock überwunden, als er die Chefarztposition im Krankenhaus am Strelasund übernahm. Wo der Schöngeist Scholz weilte, da war immer auch Kultur und zudem war ihm die Stadt am Meer seit dem Lazarettaufenthalt 1945 ans Herz gewachsen. Während in der BRD mit der Bezeichnung „Bezirkskrankenhaus“ Landeskliniken und Heilanstalten der Psychiatrie verbunden sind, stand in der DDR dieser Name für Allgemeinkrankenhäuser der Schwerpunkt- bzw. Maximalversorgung, auch in Städten, die keine Bezirkshauptstädte waren wie z. B. Stralsund, Brandenburg/Havel, Coswig/Sa., Görlitz oder Meinigen. Obwohl noch 1960 extern bei seinem ehemaligen Chef Uebermuth in Leipzig mit der Arbeit „Konservative Behandlung schwerer gedeckter Hirntraumen“ habilitiert und für ordinariabel gehalten, machte sich Scholz keine Illusionen und blieb 23 Jahre in Stralsund. Zu kritisch stand er dem System DDR und der zunehmenden ideologischen Indoktrination an den Hochschulen gegenüber. Seit 1969 Honorarprofessor der Universität Greifswald, erwarb sich Chefarzt Dr. Scholz nicht nur in Stadt und Land hohe Anerkennung, sondern wirkte auch international bei Auslandseinsätzen der WHO und des IRK.

Auch ein vielversprechender junger Oberarzt von Willi Felix (1892-1962) an der Berliner Charité wählte 1957 den Gang in die Provinz: Eberhard Hasche (1920-1973), seit einem Jahr mit dem „Problem des pleuralen Leerraumes nach Lungenresektion“ habilitiert, folgte dem Ruf als Leiter der Abteilung für Thorax- und Kardiochirurgie der Zentralklinik Bad Berka in Thüringen. Hier baute er unter großen Schwierigkeiten das fünfte und einzige nicht universitäre herzchirurgische Zentrum der DDR auf (neben Berlin, Halle, Leipzig und Rostock). Der versierte Operateur und leidenschaftliche Lehrer wäre gut auf einem Ordinariat vorstellbar gewesen, wenn nicht sein katholischer Glaube und seine Distanz zur Staatspartei und ihrer Politik dagegengesprochen hätten. So blieb ihm von 1960 bis 1972 die Professur mit Lehrauftrag an der Humboldt-Universität Berlin, die er von Bad Berka aus nur sporadisch wahrnehmen konnte. Über Thüringen hinaus genoss Prof. Hasche bis zu seinem frühen Tod mit 53 Jahren einen legendären Ruf, der posthum mit der Benennung eines Weges in Bad Berka seine Würdigung fand.

Abbildung 1: Otto Scholz (Arch. Verf.)

Im Gegensatz zu den beiden Vorgenannten stand der Parteigenosse Prof. Ernst-Gustav Michelsen [Michelsson] (1917-1994), Sohn eines Medizinprofessors und Chefarztes in Dorpat [Tartu]. Michelsen hatte in Rostock studiert und 1945 promoviert, bevor er als Assistent an der Chirurgischen Universitätsklinik Greifswald bei Willi Felix und Walter Schmitt (1911-2005) arbeitete. Selbständige Stellungen nahm Michelsen als Vor-Vorgänger von Scholz in Stralsund sowie an den Krankenhäusern von Bad Doberan und Kühlungsborn ein, bevor er von der Regierung den Auftrag erhielt, ein neues Großkrankenhaus in Rostock zu konzipieren. Michelsen erledigte unter größtmöglicher Förderung diese Aufgabe mit Bravour. So konnte er sich in Schweden umsehen und sich an der modernen Krankhausarchitektur orientieren. Das im Dezember 1965 eröffnete Südstadt-Krankenhaus in Rostock, das 32,8 Millionen Ostmark gekostet hatte, sollte Michelsens Lebenswerk werden, ein „Palast der Gesundheit“, wie die Presse schrieb, mit dem Status eines Bezirkskrankenhauses. Michelsen verfügte als ärztlicher Direktor über 557 Betten, 100 Ärzte und 600 nichtärztliche Mitarbeiter. Er hatte einen Zweitwohnsitz in Ahrenshoop und genoss das ansonsten nur allerhöchsten Partei- und Regierungsmitgliedern zustehende Privileg, auf der Ostsee, die zu DDR-Zeiten militärisches Sperrgebiet war, segeln zu dürfen. – Ernennungen zum Obermedizinalrat, zum „Verdienten Arzt des Volkes“ und zum Professor blieben nicht aus.

Abbildung 2: Bezirkskrankenhaus Stralsund (alte Postkarte)

Im näheren Umfeld von Berlin mussten sich die Bezirkskrankenhäuser von Brandenburg und Potsdam an der übermächtigen Chirurgie der Hauptstadt messen lassen. Das gelang ihnen dank profilierter Chefs an der Spitze. Der eine war gebürtiger Dresdner und Schüler von Albert Fromme (1881-1966): OMR Dr. med. Ludwig Krafft (1920-2013) in Brandenburg an der Havel. Er war Truppenarzt im Krieg gewesen, als er bei Fromme in Dresden-Friedrichstadt anfing. Dieser schickte ihn Mitte der 1950er Jahre zu Rudolf Frey (1917-1981) nach Heidelberg, um die moderne Anästhesie zu erlernen. So wurde Krafft einer der ersten Fachärzte für Anästhesiologie in der DDR. Als Fromme in den Ruhestand ging, leitete Krafft zusammen mit dem Griechen Elias Ligdas (1912-?) kommissarisch die 350-Betten-Klinik und wechselte mit dem Amtsantritt von Hans-Dietrich Schumann (1911-2001) 1957 als chirurgischer Chefarzt nach Brandenburg, wo noch vollklimatisierte und funktionsfähige Operationsbunker aus der Kriegszeit vorhanden waren. Unter Krafft erfolgten Um-, Aus- und Neubauten und die Verselbstständigung von Spezialdisziplinen wie z. B. Anästhesie, Traumatologie und Urologie. Auch der Geschichte seines Fachgebietes hat Krafft viel Interesse entgegengebracht, wie aus Veröffentlichungen und persönlichen Gesprächen des Verfassers mit ihm hervorgehen. Außerdem ist OMR Dr. Krafft viele Jahre Vorsitzender der Regionalgesellschaft Potsdam innerhalb der Gesellschaft für Chirurgie der DDR gewesen.

Abbildung 3: Wilhelm Matthias Haßlinger (Prof. Frank Marusch)
Abbildung 4: Ernst-Rulo Welcker (Wikipedia)

Als „Nachbar um die Ecke“ sorgte Prof. Wilhelm Matthias Haßlinger (1905-1997), genannt WM, 21 Jahre als Chefarzt des Bezirkskrankenhauses Potsdam für Furore. Die chirurgische Schulung erfuhr der Bayer in Würzburg bei Fritz König (1866-1952), Max Kappis (1881-1938) und Ernst Seifert (1887-1969). Der zweite Weltkrieg entwurzelte den noch in Würzburg Habilitierten von der akademischen Karriere, und so gelangte der Sanitätsoffizier der Luftwaffe nach Kriegsende zunächst an das Stadtkrankenhaus in Nauen und dann aufgrund seiner Qualifikation schon 1949 als Chef an die Großklinik in Potsdam, das spätere Bezirkskrankenhaus. Es erfolgten Umhabilitation und Ernennung zum a. o. Professor für Chirurgie an der Humboldt-Universität in Berlin, womit Haßlinger wieder einen gewissen Anschluss an die Hochschulmedizin fand. Prof. W. M. Haßlinger konnte 1970 das Haus in bestem Zustand an seinen Schüler und Nachfolger Prof. Hans Röding (1930-1998) übergeben. Dieser bezog 1985 einen Neubau in zeitgenössischem Glas-Beton-Stil. 1991 erhielt das Klinikum den Namen Ernst von Bergmanns (1836-1907), der hier 1899 die erste Appendektomie durchgeführt hatte.

Abbildung 6: Gedenktafel Heinz Funke am Klinikum Görlitz (Wikipedia)

Im südlichen Brandenburg, in Cottbus, steht nicht nur das größte Jugendstil-Theater Deutschlands, sondern es befindet sich hier auch ein imposantes Krankenhaus. Die „Städtische und Thiemsche Heilanstalt“ wurde 1914 auf Initiative und mit Geldern des Arztes Carl Thiem (1850-1917) eingeweiht. Dr. Carl Thiem hatte sich vorwiegend autodidaktisch zum Chirurgen entwickelt, die „Monatsschrift für Unfallheilkunde“ mitbegründet und ein „Handbuch der Unfallheilkunde“ verfasst, das wohl ausschlaggebend für seinen Professorentitel gewesen war. Mehrere Chefärzte folgten auf Prof. Thiem, bis in den Wirren der Nachkriegszeit der Greifswalder Universitätschirurg und Professor Ernst-Rulo Welcker (1904-1971) in die Spreestadt gelangte. Welcker imponierte, er war gut und man brauchte ihn dringend, sodass er rasch entnazifiziert wurde. Während seines fast 25-jährigen Wirkens brachte er die durch den Krieg baulich und personell in Mitleidenschaft gezogene Klinik zu neuer Blüte. Als Abgeordneter der SED wurde er 1950 in den Landtag von Brandenburg entsandt. Die Bettenzahl der Chirurgie schwankte zwischen 200 und 300. Welckers hohes Arzttum hat eine ganze Generation von Ärzten beeinflusst, wie Zeitgenossen aussagen. Der in den Jahren von 1972 bis 1982 errichtete Neubau sollte den Namen des ursprünglichen Gründungsvaters Carl Thiem tragen, was staatlicherseits aus ideologischen Gründen – man sah in Prof. Thiem den Vertreter des Bürgertums – nicht gestattet wurde. Nach der politischen Wende 1990 erhielt das 1400-Betten-Haus den Ehrennamen „Carl-Thiem-Klinikum“ und wurde Schwerpunktkrankenhaus und Lehrkrankenhaus der Charité in Berlin.

Abbildung 7: Reinhard Schroth (Wikipedia)

Die Länderstruktur wurde in der DDR 1952 aufgehoben und dafür 14 Bezirke gegründet. Erst nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 entstanden die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen.

Man sagt, Görlitz sei eine der schönsten Städte Deutschlands, die östlichste ist sie ohnehin. Nach hier zog es 1955 den Sachsen Heinz Funke (1911-1993), der aus einfachen Verhältnissen stammte und den Krieg als Sanitätsoffizier und schwer Verwundeter hinter sich hatte. Nach dem Studium in Würzburg war er zunächst Assistenzarzt in Osterburg in der Altmark gewesen. Über seinen dortigen chirurgischen Lehrer Fritz Walter Pommrich (1900-1967), dem „Sauerbruch der Altmark“, war Funke gewissermaßen Enkelschüler von Fromme in Dresden. Kurz nach Kriegsende erhielt Funke schon die Anstellung als Chefchirurg am Kreiskrankenhaus in Lichtenstein im Erzgebirge, wo er zehn Jahre blieb und auch politisch aktiv war. Als Abgeordneter der SED saß er von 1949 bis 1958 in der DDR-Volkskammer. Als er 1955 nach Görlitz wechselte, stand er vor der Mammutaufgabe, Chefarzt der Chirurgie und später Ärztlicher Direktor zu sein, das 50 Jahre alte Großkrankenhaus zu renovieren und gleichzeitig einen Neubau in die Wege zu leiten. Trotz dieser Mehrfachbelastungen schaffte es Funke, Freund der schönen Künste und leidenschaftlicher Jäger zu sein. In seiner Klinik war der exzellente Operateur Initiator zahlreicher Neuerungen, Pionier der Intubationsnarkose und der Transfusionsmedizin, Förderer einer eigenständigen Dialyse und Notfallmedizin. Ehrungen blieben nicht aus: Verdienter Arzt des Volkes, Professor, Ehrenbürger von Görlitz u. a. Seine Hauptschüler waren Peter Heinrich (1927-2012), der nachmalige Ordinarius an der Medizinischen Akademie Magdeburg, und Reinhard Schroth (1926-2017), Chefarzt am Paul-Gerhard-Stift in Wittenberg, dem der folgende Abschnitt gewidmet ist.

Abbildung 8: „Chirurgischer Ratgeber“ von R. Schroth (Arch. Verf.)

Sein „Chirurgischer Ratgeber“ passte in jede Kitteltasche, ist in fünf Auflagen erschienen, eine auch in der BRD. Reinhard Schroth kam aus Freiwaldau (Fryvaldov) im heutigen Tschechien, hatte alle nur denkbaren Schrecken des Krieges und der Gefangenschaft erlebt, bevor er in Jena studieren konnte. Seit seiner Anstellung in Lichtenstein begleitete er seinen Meister Funke (s. o.) bis nach Görlitz. Funke förderte ihn umfassend, schickte ihn zu Hospitationen nach Jena (Kuntzen), Berlin (Felix), Pässler (Leverkusen), Leipzig (Uebermuth) und sogar in die Schweiz zur Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO). Bei Heinrich Kuntzen (1893-1977) habilitierte er sich 1964 extern; alles war mit Kampf verbunden. 1972 wurde Schroth zum Chefarzt der Chirurgie am evangelischen Paul-Gerhard-Stift in der Lutherstadt Wittenberg gewählt. Mit zahlreichen Veröffentlichungen, Vorträgen und der Habilitation wissenschaftlich ausgewiesen, wartete er vergeblich auf eine Dozentur, zu offensichtlich waren sein christlicher Glaube, seine kritische Haltung zur Obrigkeit im Allgemeinen und seine Weigerung, aus der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie auszutreten im Besonderen. Hochbetagt starb Dr. Schroth mit 91 Jahren an den Folgen eines Sturzes.

Teil 2 folgt.

Korrespondierender Autor:

Dr. med. habil. Volker Klimpel

Grazer Straße 3

01279 Dresden

Panorama

Klimpel V: Chirurgie in der DDR – In der Provinz (Teil 1). Passion Chirurgie. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 09.

Diesen Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | XXX | XXX.

Passion Chirurgie im Dezember 2023

Unsere Dezemberausgabe zur „Aus-, Weiter- und Fortbildung in der Chirurgie“ wird Sie zwischen den Jahren bestens informieren und unterhalten! Wie man z. B. die nachwachsende Generation an Chirurginnen und Chirurgen für die Klinik begeistern kann, lesen sie in „Letzter Halt PJ – Nachwuchs für die Klinik motivieren“.

Beachten Sie vor allem das frische Jahresprogramm der BDC-Akademie, dass wir Ihnen im Heft vorstellen. Auch 2024 halten wir wieder für alle Karrierestufen qualitativ hochwertige Fortbildungsangebote bereit, sofort buchbar.

Zwei CME-Punkte können Sie (fast) direkt einsammeln: Der Artikel „Der Thoraxmagen“ ist zertifiziert und steht BDC-Mitgliedern kostenlos in der eAkademie zur Verfügung. Sie müssen sich nur einloggen und 10 Fragen zum Text richtig beantworten!

Berlin ist immer eine Reise wert! Derzeit auch wegen der die Ausstellung „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ des Medizinhistorischen Museum der Charité. Die Kuratorin Henriette Pleiger hat exklusiv für PASSION CHIRURGIE einen Beitrag dazu geschrieben (s. Panorama).

Ihre PASSION Chirurgie-Redaktion wünscht Ihnen besinnliche Festtage. Kommen Sie gut ins neue Jahr!

„Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ – Eine Ausstellung in der Berliner Charité

Die laufende Ausstellung „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ im neugestalteten Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité (noch bis 8. September 2024, Das Gehirn | Ausstellungen | bmm – Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité (bmm-charite.de) ist ein interdisziplinäres Ausstellungsprojekt, das im Hinblick auf die Vermittlung von jüngsten Forschungsergebnissen in der Medizin neue Wege beschreitet.

Das Gehirn ist eines der letzten großen Rätsel des menschlichen Körpers. Als zentrales Körperorgan, das unser Sein und Wesen ausmacht, gilt es in seinen Strukturen und Funktionen in vielerlei Hinsicht noch als unverstanden. Aktuell unternimmt die Neurowissenschaft die größten Forschungsanstrengungen, um den Funktionen des Gehirns genauer auf die Spur zu kommen. Daraus schöpft sie innovative Ansätze für Diagnose und Therapie von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen, zum Beispiel an hervorragender Stelle auch in der Berliner Charité.

Abb. 1: Blick in die Ausstellungsräume „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ (Foto: H. Pleiger)

Die Ausstellung „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ bietet allen Interessierten einen Gang hinter die Kulissen der Hirnforschung. Sie zeigt, wie detailliert sich die Landkarte des Gehirns inzwischen zeichnen lässt, wo Wahrnehmung, Empfinden, Erinnern und Denken sitzen, wie sich die einzelnen Hirnregionen zu höheren Funktionseinheiten vernetzen und welche medizinischen Hilfsangebote inzwischen gemacht werden können, wenn Hirnleistungen durch Alter, Krankheit oder Unfall eingeschränkt sind.

Abb. 2: Blick in die Ausstellungsräume „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ (Foto: H. Pleiger)

Die Ausstellung weitet aber auch bewusst den Blick. Sie stellt philosophische Fragen, wie die nach dem Ich und dem Selbst und wie wir uns in die Welt stellen und uns mit ihr verbinden. Dabei setzt sie bewusst auch auf das Mittel der Kunst als eine andere, inspirierende Perspektive auf das spannende Thema. Denn neben der Medizin beteiligen sich seit jeher auch andere Disziplinen wie Philosophie, Religion, Psychologie und eben auch die Kunst mit großer Neugier und Hingabe an der Entdeckungsgeschichte des menschlichen Gehirns.

Die Entwicklung der Ausstellung hat eine längere Vorgeschichte. Sie wurde unter dem noch etwas kunstbetonteren Titel „Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft“ zunächst in der Bundeskunsthalle in Bonn konzipiert und gezeigt (28. Januar bis 26. Juni 2022), bevor Prof. Dr. Thomas Schnalke, Leiter des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité, sich zu unserer großen Freude entschloss, die Ausstellung für das Jahr 2023 in Berlin zu adaptieren. Doch die Charité war schon ab einem früheren Zeitpunkt in das Projekt eingebunden. Johanna Adam und ich, als die zwei zuständigen Kuratorinnen der Bundeskunsthalle, interessierten uns besonders für eine künstlerische, philosophische und kulturhistorische Betrachtung des Themas. Als fulminanten Sparringspartner konnten wir unseren Co-Kurator Prof. Dr. John-Dylan Haynes gewinnen, Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging und renommierter Hirnforscher der Charité, der die wissenschaftlichen Aspekte unseres Themas vertreten sollte.

Abb. 3: Zehn menschliche Neuronen und ihre Verknüpfungen, 2022, Anatomische Rekonstruktion, Yangfan Peng, Sabine Grosser, AG Vida, AG Geiger, AG Schmitz, Medical Research Council Brain Networks Dynamics Unit (MRC BNDU) Oxford

So hatte sich ab 2020 ein interdisziplinäres Kuratorenteam gebildet, das sich aufgrund der Pandemie in unzähligen Online-Meetings zwischen Bonn und Berlin traf, um eine gemeinsame kuratorische Sprache auszuhandeln, die in ein prägnantes Ausstellungskonzept münden sollte. Bencard et al. nennen diesen interdisziplinären Prozess „curating experimental entanglements“ (Bencard et al. 2019, S. 133) und beziehen sich dabei auf die Entwicklung der Dauerausstellung Mind the Gut im Medical Museion in Kopenhagen, für die sie sowohl Künstler als auch Biomediziner in ihr Team eingeladen hatten. In ähnlicher Weise haben wir versucht, das menschliche Gehirn aus einer Vielzahl von Perspektiven und Disziplinen zu beleuchten, um die Komplexität dieses Organs umfassender darzustellen.

Abb. 4 a,b: Broken Ladies: Camilla (li.) und Gail (re.), 2021, Keramik, Jessica Harrison (geb. 1982), Edinburgh, Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin

Einer der Hauptgründe, warum wir das Gehirn als Thema für unsere Ausstellung gewählt haben, war, dass es uns immer noch wie ein nahezu unerforschtes Gebiet erschien, das sowohl Raum für Fiktionen und Fantasien als auch für kühne wissenschaftliche Theorien bietet. Die Hirnforschung liefert ständig neue Erkenntnisse, steht aber auch noch vor vielen ungelösten (und ethisch umstrittenen) Fragen. Das Gehirn regt daher zu einer Fülle von Spekulationen und Hypothesen an – nicht nur bei Neurowissenschaftlern, sondern auch bei Philosophen, Künstlern und Forschern vieler anderer Disziplinen, und ist damit ein ideales Thema für eine interdisziplinäre Ausstellung. Bei diesem interdisziplinären Dialog mussten wir allerdings darauf achten, einerseits einen vielfältigen Blick auf das Thema zuzulassen, aber andererseits die Besucher auf eine nachvollziehbare und nicht zu verwirrende Reise durch die Geschichte der Erforschung des Gehirns mitzunehmen.

Die Ausstellung widmet sich fünf scheinbar einfachen Frage, die sich die Besucher auch selbst hätten stellen können:

Die erste Frage lautet: „Was habe ich im Kopf?“ Das so betitelte erste Ausstellungskapitel untersucht die bloße Anatomie des menschlichen Gehirns. Zu den wichtigsten Objekten der Wissenschaftsgeschichte gehören hier beispielsweise Santiago Ramón y Cajals fantastische Zeichnungen von Gehirnzellen und -strukturen aus dem ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, die auch derzeit in Berlin im Original zu sehen sind.

Die zweite Frage lautet: „Wie stelle ich mir die Vorgänge im Gehirn vor?“ Dieses Ausstellungskapitel fragt nach den kognitiven Funktionen und aktiven Prozessen im Gehirn. Es werden bedeutende technische Erfindungen vorgestellt, wie zum Beispiel die Magnetresonanztomografie, die das Studium des aktiven Gehirns ermöglicht. Andererseits laden Analogien und Metaphern für die Abläufe im Gehirn – wie zum Beispiel den Denkprozess – zu künstlerischen Interpretationen ein.

Die dritte Frage ist eher philosophischer Natur: „Sind ich und mein Körper dasselbe?“ Die dualistische Vorstellung von der Seele als einer vom Körper losgelösten Entität ist immer noch verbreitet, vor allem in unseren Vorstellungen vom Tod. Die moderne Hirnforschung zieht es vor, statt von der „Seele“ von „Bewusstsein“ zu sprechen und betrachtet geistige Prozesse als untrennbar von körperlichen.

Das Zusammenspiel von Körper und Geist zeigt sich in der Funktion unserer Sinne. Die vierte Frage lautet daher: „Wie mache ich mir die Welt?“ In diesem Ausstellungskapitel geht es um die Frage, wie die Welt in unseren Kopf kommt und wie zuverlässig unsere Wahrnehmung und unser Gedächtnis sind.

Die fünfte Frage der Ausstellung lautet schließlich: „Soll ich mein Gehirn optimieren?“ Heute helfen neurologische Implantate, Krankheitssymptome zu lindern, zum Beispiel bei der Parkinson-Krankheit. Doch wie wird der Mensch der Zukunft aussehen? Werden wir eines Tages zu Cyborgs? Künstlerische Visionen als Antwort auf diese Frage sind oft von der neuesten Forschung inspiriert. Vieles davon bleibt reine Fantasie oder Science-Fiction, aber es regt zu interessanten Gedanken und grundsätzlicheren, ethischen Überlegung an: Was ist es, das uns zum Menschen macht?

Diese fünf Fragen sollten als Einstieg in eine komplexere Auseinandersetzung mit dem Thema dienen. Als wir mit der Entwicklung dieses interdisziplinären Ausstellungskonzepts begannen, mussten wir zunächst einen Weg finden, unsere unterschiedlichen Arbeitsweisen in Einklang zu bringen. Wir mussten gemeinsam erkunden, wie diese Zusammenarbeit zwischen zwei kunstaffinen Ausstellungskuratorinnen und einem Hirnforscher aussehen könnte und wie wir uns auf ein gemeinsames Narrativ zum Thema „Gehirn“ einigen könnten. Manchmal fühlte es sich an, als wären wir drei verschiedene Wirbeltiere, die um einen Tisch sitzen: ein Vogel, ein Fisch und ein Säugetier. Obwohl wir ein ähnliches Rückgrat haben, bevorzugten wir – wie die Objekte, die wir jeweils vorschlugen – drei sehr unterschiedliche Umgebungen: Luft, Wasser und Land. Ich möchte diese – natürlich grob vereinfachende – Analogie noch ein wenig weitertreiben. Kunstwerke brauchen eine luftige Umgebung, wie Vögel, die ihre Flügel ausbreiten, um ihre Wirkung zu entfalten. Historische Objekte und Dokumente benötigen vielleicht eine eher flüssige Umgebung, die es ihnen ermöglicht, tief einzutauchen und sich in ihre historischen Kontexte einzubetten. Wissenschaftliche Objekte verlangen vielleicht nach einem festeren Boden, um ihre faktische Natur zu unterstützen. Wir mussten also nichts Geringeres tun, als ein „luftiges Wasserland“ zu schaffen, das es uns und den ausgewählten Geschichten und Objekten ermöglichte, auf Augenhöhe zu kommunizieren.

Abb. 5: Indecision, 1983, Öl auf Pappe, Reproduktion, Bryan Charnley (1949–1991), Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Bethlem Museum of the Mind, Beckenham

Glücklicherweise zeigten wir alle drei großes Interesse daran, die Perspektiven der jeweils anderen kennenzulernen, und versuchten so zumindest vorübergehend, zu eierlegenden halbaquatischen Säugetieren wie Schnabeltieren zu werden, während wir einen Blick in die Lebenswelt der anderen warfen. Diese Analogie hat natürlich ihre Tücken, denn unsere Fachgebiete waren in Wahrheit nicht so weit voneinander entfernt, wie es den Anschein gehabt haben mag, denn so hatte zum Beispiel auch der beteiligte Hirnforscher ein tiefes Interesse an philosophischen Fragen und künstlerischen Hypothesen, während wir anderen beiden über die neusten medizinischen Verfahren staunten. Und zumindest in Bezug auf unsere Neugier waren wir drei von Anfang an Mischwesen – bereit, ein gemeinsames Territorium zu schaffen, in dem wir alle atmen und uns bewegen konnten, ohne Kunstwerke oder wissenschaftliche Objekte zu „neutralisieren oder zu instrumentalisieren“ (Bencard et al. 2019, S. 137). Mit den vorgenannten fünf Fragen gelang uns eine klare und einvernehmliche Ausstellungserzählung. In ihr einigten wir uns auf fünf „Spielwiesen“, in denen jeder von uns „artgerechte“ Vorschläge für die Geschichten und Objekte machen konnte, die wir in das Gesamtnarrativ einbeziehen wollten. Eine Win-win-Situa­tion, denn unser aller Horizont erweiterte sich enorm.

Abb. 6: Gedächtnistest, 2002, Brett mit 16 Spielfiguren, Klinik für Neurologie, Charité

Die laufende zweite Station der Ausstellung in Berlin ergänzt dieses Grundkonzept noch durch einen stärkeren Fokus auf die jüngsten Ergebnisse der Hirnforschung an der Charité. Hierbei begeisterte uns auch schon in Bonn besonders ein Projekt der Sektion Bewegungsstörungen und Neuromodulation der Klinik für Neurologie der Charité, das von Prof. Dr. Andrea Kühn und Dr. Lucia Feldmann entwickelt wurde. „Printed by Parkinson‘s“ (Printed by Parkinsons – Innocean Berlin) verbindet künstlerische und wissenschaftliche Methoden, um die Wirkung der tiefen Hirnstimulation auf Menschen mit der Parkinson-Erkrankung auf so berührende Weise zu zeigen, wie es sich kein*e Museumskurator*in hätte besser ausdenken können.

Begleitend zur Ausstellung wurde 2022 eine virtuelle Ausstellung entwickelt, die einen spannenden didaktischen und ästhetischen Ansatz verfolgt und im Internet weiterlebt (www.gehirn.art). Zur Ausstellung in Bonn erschien 2022 darüber hinaus die umfangreiche Publikation Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft (www.hirmerverlag.de/de/titel-1-1/das_gehirn-2307/). In einer eigenen Publikation mit dem Titel Geistesblitze. Gedankenströme stellt das Berliner Medizinhistorische Museum ergänzend die Hirnforschung an der Charité vor (Geistesblitze | Shop | Über das Museum | bmm – Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité (bmm-charite.de).

Literatur

[1]   Bencard, A., Whiteley, L. and Thon, C. H. (2019). “Curating experimental entanglements”, in: Hansen, M. V., Henningsen, A. F. and Gregersen, A. (2019) (eds.). Curatorial Challenges: Interdisciplinary Perspectives on Contemporary Curating, London/New York: Routlegde, pp. 133-146.

Henriette Pleiger

Ausstellungskuratorin

Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland

Bonn

[email protected]

www.bundeskunsthalle.de

Panorama

Pleiger H: „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ – Eine Ausstellung in der Berliner Charité. Passion Chirurgie. 2023 Dezember; 13(12): Artikel 09_01.

Panorama-Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der
Rubrik Wissen | Panorama.

BDC-Praxistest: Neue flexible Ansätze für Sichten auf die medizinischen Daten tun Not

Vorwort – Klinisches Dashboard – Alles auf einen Blick

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Zeitalter der Information ist die wahre Kunst, nicht alles zu wissen, sondern die entscheidenden Informationen richtig miteinander zu kombinieren. Neben der Erhebung und Sammlung von Daten gehört dazu ihre Gewichtung. Erhebung und Sammlung werden mittlerweile in nahezu allen Sparten elektronisch abgehandelt. Der wandelnde humane Almanach alter Schule ist immer noch beeindruckend, aber in der modernen Lern- und Lehrtheorie eigentlich überholt. Jedes Smartphone bietet den jederzeitigen Zugang zur Weltbibliothek. Man muss also nicht mehr auswendig, sondern kombinieren lernen.

Da moderne Informationssammlungen den Informationssuchenden auch in der Medizin mit Informationsinhalten geradezu überschütten, liegt ein entscheidender Schritt auch in der Informationsdarstellung. Alles auf einen Blick ist doch das alte Ideal aus Schüler- und Studententagen zur Erfassung komplexer Themenfelder. Ein Spickzettel wird auch in Mikroschrift diesem Anspruch heute nicht mehr gerecht.

Klinische Dashboards, die standardisiert aufgebaut individuell angepasst werden können, bieten hier eine sehr interessante Alternative. Und weil die sichtbare Information vom Interpreten – hier also dem Arzt – zusammengestellt wird, bleibt im Gegensatz zu Diagnosehilfen, die passiv konsumiert werden, auch Platz für die intellektuelle Leistung der Synopse, was Lernfortschritt und Verständnis sicher fördert. Klinische Dashboards sind ein spannendes Tool in einer Zeit medizinscher Diagnostik und Therapie, in der frei nach Neil Postman der Erfolg dadurch bestimmt wird, das Wesentliche zu erkennen und Unwesentliches einfach wegzulassen.

Erhellende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Anzahl und Komplexität von medizinischen Daten zu Patient:innen steigen kontinuierlich – z. B. durch Hinzukommen neuer diagnostischer und therapeutischer Verfahren, Multimorbidität oder Zunahme geriatrischer Fälle. So wird es immer schwieriger und aufwändiger, alle relevanten Daten im Blick zu halten. Dafür können – wie in anderen Branchen oft üblich – Dashboards zum Einsatz kommen, wobei klinische Dashboards eine hohe Flexibilität und Individualität bieten müssen und besondere Anforderungen haben. Die Vorteile: Hat der Arzt/die Ärztin beim Öffnen einer Patientenakte immer sofort alles Relevante im Blick, kann einerseits Zeit gespart werden und andererseits die Qualität und Effektivität von klinischen Entscheidungen erhöht werden. Dafür muss es auch möglich sein, dass vordefinierte Dashboards in Form von generellen oder indikationsspezifischen Vorlagen zum Einsatz kommen können. Für eine hohe Patient:innen-Orientierung muss eine Patient:innen-individuelle Anpassung der Sichten möglich sein. Die Zusammenstellung des Dashboardaufbaus muss einfach und für jeden Arzt/jede Ärztin ohne großen Schulungsaufwand möglich sein. Am Beispiel eines Diabetes-Dashboard werden der Grundaufbau und die möglichen Komponenten vorgestellt und erläutert.

Hintergrund und Motivation

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen und der Einsatz elektronischer Patientenaktensysteme führen zu immer mehr Informationen über Patient:innen. Neue diagnostische und therapeutische Verfahren sowie die Zunahme von chronisch kranken und multimorbiden Patient:innen verstärken diesen Aspekt. So sieht sich der Arzt/die Ärztin bei seinen/ihren Entscheidungen und dem Monitoring der Patient:innen-Situationen im Rahmen wiederkehrender Vorstellungen immer mehr Daten gegenüber. Diese Daten können für klinische Entscheidungen kaum mehr effizient gesichtet werden, denn die Visualisierungen von relevanten Patient:innen-Informationen mittels statischen Bildschirmmasken und hierarchischen Ordnerbäumen erfordern in den gängigen klinischen Softwaresystemen viele Klicks und Aktionen, um alle in klinische Entscheidungen einzubeziehenden Informationen abzurufen und einzusehen. Hier bedarf es neuer intelligenter und flexibler Ansätze, die auf einen Blick alles Wichtige sachgerecht anzeigen lassen.

Das prinzipielle Konstrukt ‚Dashboard‘

Als Dashboard wird eine Visualisierungsform bezeichnet, mit welcher Daten übersichtlich auf einem Bildschirm dargestellt werden. Die Daten stammen dabei aus einem großen Daten-Pool, der nur schwerlich rasch überblickt werden kann. Die anzuzeigenden Daten hängen vom Anwendungsgebiet und dem Nutzungskontext ab, somit ist ein Dashboard stets auf einen speziellen Anwendungsfall ausgerichtet [1]. Da in einem Anwendungsbereich viele Anwendungsfälle existieren, gibt es in einem Anwendungsbereich oftmals zahlreiche Dashboards. Durch die von Dashboards bereitgestellten Daten kann das Verständnis des Benutzers/der Benutzerin über die Gegebenheiten verbessert [1] und ein effizienteres Arbeiten und sachgerechtere Entscheidungen unterstützt werden. Medizinische Dashboards können u. A. dafür genutzt werden, um medizinische Daten aus Patientenakten darzustellen. Diese sollen Mediziner:innen durch ihre übersichtliche Darstellung von relevanten Informationen bei der Entscheidungsfindung innerhalb der Behandlung unterstützen und zur Behandlungsqualität beitragen [2].

Grundidee und Anforderungen

Medizinische Informationen aus durchgeführten diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen sind umfangreich und vielfältig. Mit Blick auf eine Fragestellung oder bezogen auf eine bestimmte Indikation haben aber nicht alle Informationen den gleichen Stellenwert und sind dauerhaft relevant. Man kann hier von einer „Halbwertszeit“ gewisser Information sprechen. Die Information einer chronischen Erkrankung hat ab Feststellungszeitpunkt dauerhaft Bedeutung, ein Laborwert aber nur für einen bestimmten kurzen Zeitraum, es sei denn, dieser wird für eine Trendanalyse (Beispiel Entwicklung des Tumormarkerwertes) benötigt. So macht es also wenig Sinn, alles auf Basis einer Patientenakte, die alle Informationen über lange Zeit enthält, durchsuchen zu müssen, um bestimmte Aspekte oder nur einen kleinen Zeitabschnitt zu Daten der letzten Tage anzuschauen. Daher ist die Grundidee eines klinischen Dashboards, je nach Wichtigkeit der Informationen bezogen auf eine Indikation oder die spezielle Patient:innen-Situation eine vorkonfigurierte klinische Übersichtsansicht zur Verfügung zu stellen.

Dabei ergeben sich eine Reihe von Anforderungen:

  • Ein Dashboard sollte die Informationen nach bestimmten Kategorien darstellen können. Auf oberster Ebene sind dies z. B. die Phänomenarten Symptome, Diagnosen, Maßnahmen, Vorfälle, Medikationen, Einteilungen und Scores, klinische Parameter zu sehen. Die Kategorisierung sollte ausdrucksstark und granular sein, um die klinische Phänomenologie eines Patienten/einer Patientin gut abbilden zu können.
  • Für die Anzeige sollten, ähnlich wie man das von Textverarbeitungssoftware kennt, Vorlagen definiert und hinterlegt werden können.
  • Vorlagen müssen für bestimmte Anwendungsfälle definiert werden können, z. B. bezogen auf spezielle Indikationen, wobei es auch alternative Sichten/Dashboards je Indikation geben können muss.
  • Eine Anpassung von Vorlagen auf die individuelle Patient:innen-Situation muss möglich sein, gegebenenfalls z. B. auch für wichtige Informationen über zwei Indikationen und/oder mehrere Aspekte hinweg (Beispiel Patient:in hat Diabetes und Asthma und Übergewicht).
  • Einem Patienten/einer Patientin müssen auch mehrere verschiedene Dashboards zugewiesen werden können, zwischen denen rasch umgeschaltet können werden muss.
  • Die Integration oder der rasche Aufruf von Bild- und Signalobjekten muss möglich sein.

Aufbau und Elemente eines klinischen Dashboards

Aufbau

Bei jeder klinischen Anwendung bzw. Maske ist es unabdingbar, dass der Anwendungskontext klar ist. Unser Dashboard (siehe Abbildung 1) enthält daher im oberen Headerbereich sehr präsent eine Übersicht der Patienten:innen-Stammdaten und den problemorientierten Dashboard-Fokus. Aber auch der aktuelle klinische Status des Patienten/der Patientin sollte direkt deutlich werden. Daher befinden sich im Headerbereich zusätzlich die Patient:innen-spezifischen wichtigen klinischen Zielwerte sowie gegebenenfalls erhobene Assessment- und Score-Werte.

Neben diesen schnell zu überblickenden generellen Angaben werden spezifischere Behandlungsinformationen zu den einzelnen klinischen Phänomenen benötigt. Diese werden, nach Typen gruppiert und in Form von Bausteinen im zentralen Bausteinbereich unseres Dashboards angezeigt. Diese Bausteine nennen wir im Folgenden CliPICs (Clinical Phenomenon Information Components). Ein CliPIC repräsentiert entweder eine der o. a. Phänomenarten oder einen speziellen benutzer:innen-definierten Inhalt.

Um optimal und ganz spezifisch im Behandlungs- und Patienten:innen-Kontext den Arzt/die Ärztin in seinen/ihren Entscheidungen unterstützen zu können, werden statt einer statischen Patientenaktenansicht für alle Arten von Patient:innen und Indikationen ganz individuell-anpassbare (Dashboard-)Ansichten benötigt.

Je nach Indikation und spezieller Patienten:innen-Situation sollten individuell ausgewählte relevante Informationen zusammengestellt und visuell präsentiert werden können. Gerade in Zeiten von Termindruck und Zunahme der zu behandelnden Patient:innen pro Zeiteinheit kann eine solche angepasste Gesamtsicht auf die Patienten:innen-Situation einen Wertebeitrag zum Behandlungserfolg leisten.

Damit das Dashboard schnell angepasst werden kann, können Konfigurationen und Filterungen durch einen Klick auf Chips, d. h. kleine Rechtecke mit maximal abgerundeten Ecken, im Baustein- und Konfigurationsbereich angepasst werden. Da je nach klinischem Anwendungsfall die vielfältig vorhandenen klinischen Informationen bzw. Informationstypen von unterschiedlicher Relevanz sind, können diese in unserem Dashboard auch mithilfe von Chips ein- und ausgeblendet, inhaltlich gefiltert und in ihrer Anzeigegröße und -position angepasst werden. So können die Plasmaglukosewerte z. B. bei Patient:innen mit T2DM besonders relevant sein und in unserem Dashboard in einem Extra-Bereich sehr detailliert über eine Zeitspanne angezeigt werden, und bei anderen Patient:innen nur als je ein Wert unter vielen verschiedenen Laborwert en angezeigt werden.

Sollten Risikofaktoren vorliegen, können diese innerhalb des Dashboards visuell hervorgehoben dem Benutzer/der Benutzerin angezeigt werden. Zusätzlich können Dashboard-Inhalte nach Freitexten durchsucht und einmal erstellte Dashboard-Vorlagen gespeichert, verwaltet und wiederverwendet werden.

Abb. 1: Dashboard Mockup; Beispiel für Typ 2 Diabetes Mellitus, mit Bereichen/Bausteinen, Filterungen, Konfigurationen und Risikofaktorkennzeichnungen

Clinical Phenomenon Information Components (CLiPICs)

Ein wichtiger Aspekt für die Medizinische Dokumentation und digitale Patientenakten ist die Granularität der Dokumentation. So sind Systeme die nur Dokumente verwalten wenig geeignet, klinische Entscheidungen und Handeln zu unterstützen. Man sollte also die klinische Phänomenologie aus z. B. Diagnosen, Maßnahmen, Medikation, Symptomen, Vitalparametern, Laborwerten, Sonstigen Gesundheitsbelangen oder Notizen/Zusatzdokumenten (siehe Abbildung 2) gut abbilden können.

Diese medizinischen Inhalte können für Speicherung und Anzeige in Bausteinen gekapselt werden, wobei auch Beziehungen zwischen den Phänomenen möglich sind.

CliPICs bestehen aus einem Bezeichner, aktiven Filterungschips (inhaltlich, zeitlich und statusabhängig), einem Chip zur Anpassung der Darstellungsform (Tabelle, Graph und Zeitstrahl), und Buttons zum Hinzufügen weiterer inhaltlicher Filter und medizinischer Daten. Visuelle Markierungen können optional einzelne medizinische Phänomene innerhalb von CliPICs als Risikofaktoren kennzeichnen.

Abb. 2: Phänomenklassen (grau) und -unterklassen (blau) einer Indikation

Dashboard-Vorlagen

Nun macht es jedoch wenig Sinn mit Blick auf Aufwand und Standardisierung, immer wieder für jeden Patienten/jede Patientin ein Dashboard zu konfigurieren, denn einerseits generell und andererseits je nach Indikation gibt es aus medizinischer Sicht immer eine Menge von Informationen, die von besonderer Bedeutung sind.

Ähnlich wie bei gängiger Textverarbeitungssoftware, welche Vorlagen für Briefe, Rechnungen usw. nutzen, nutzt auch unser Dashboard Vorlagen. Durch Dashboard-Vorlagen können die Konfiguration und das Layout eines einmal zusammengestellten Dashboards gespeichert und für weitere Anwendungsfälle mit unterschiedlichen Benutzer:innen und Patient:innen angepasst und wiederverwendet werden.

Als Anwendungsfall unseres generisch-konfigurierbaren und problemorientierten Dashboards haben wir beispielhaft die chronische Erkrankung Typ 2 Diabetes Mellitus (T2DM) genutzt. Medizinisches Fachwissen zur Behandlung und zum Management dieser Indikation (siehe Abbildung 3) wurden hierzu einer Behandlungsleitlinie [3], einer aufbauenden praktischen Empfehlung [4] und einer thematisch verwandten Publikation [5] entnommen. Die beispielhaft vorgestellte T2DM-Dashboard-Vorlage verdeutlicht auch, wie Dashboard-Vorlagen spezifisches Expert:innen-Wissen darüber, welche Phänomene und Ergebnisse in einem bestimmten Anwendungsfall und Kontext überwacht und überblickt werden sollten für weitere Anwendungsfälle vererben können. Ein indikationsspezifisches Dashboard bildet somit Fachwissen ab.

Abb. 3: Mindmap medizinischen Fachwissens der Indikation Typ 2 Diabetes Mellitus der Phänomenklasse (grau) Klinische Parameter und -unterklassen (blau) Vitalparameter und Laborwerte mit verschiedenen Phänomenentitäten (violett), Attributen (farblos) und möglichen Risikofaktorkennzeichnungen (Fettschrift)

Schlussfolgerung

Klinische Dashboards können Ärzten und Ärztinnen dabei helfen, den Überblick über klinische Patient:innen-Situationen zu behalten und somit bei klinischen Entscheidungen unterstützen. Eine von uns durchgeführte nicht repräsentative qualitative Umfrage hat u. A. gezeigt, dass die meisten Proband:innen mit ihren aktuellen Informationssystemen keine spezifischen Übersichten erstellen können. Es zeigt sich, dass sie sich von unserem Dashboard besser unterstützt fühlen würden. Es bedarf somit in den verschiedenen klinischen Informationssystemen neuer intelligenter und flexibler Ansätze, die auf einen Blick alles Wichtige sachgerecht anzeigen lassen.

In der digitalen Ausgabe der PASSION klicken Sie hier für ein 2-Minuten-Video „Klinische Dashboards“ von Jessica Swoboda und Prof. Peter Haas oder Sie geben in Ihren Browser ein: https://bit.ly/BDC-Dashboard-Video.

Literatur

[1]   Matheus R, Janssen M, Maheshwari D. Data science empowering the public: Data-driven dashboards for transparent and accountable decision-making in smart cities. Gov Inf Q. 2020;37(3):101284. doi:10.1016/j.giq.2018.01.006
[2]   Dowding D, Randell R, Gardner P, et al. Dashboards for improving patient care: review of the literature. Int J Med Inform. 2015;84(2):87-100. doi:10.1016/j.ijmedinf.2014.10.001
[3]   Nationale VersorgungsLeitlinie (Bundesärztekammer, KBV, AWMF). Therapie des Typ-2-Diabetes: Langfassung 1. Auflage. Available at: https://www.leitlinien.de/mdb/downloads/nvl/diabetes-mellitus/archiv/therapie/dm-therapie-1aufl-vers4-lang.pdf. Accessed September 01, 2023
[4]   Landgraf R, Aberle J, Birkenfeld AL, et al. Therapy of Type 2 Diabetes. Exp Clin Endocrinol Diabetes. 2019;127(S 01):S73-S92. doi:10.1055/a-1018-9106
[5]   Zghebi SS, Mamas MA, Ashcroft DM, et al. Development and validation of the DIabetes Severity SCOre (DISSCO) in 139 626 individuals with type 2 diabetes: a retrospective cohort study. BMJ Open Diabetes Res Care. 2020;8(1):e000962. doi:10.1136/bmjdrc-2019-000962

Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. Peter Haas

Fachhochschule Dortmund

Fachbereich Informatik, Medizinische Informatik

[email protected]

Jessica Swoboda, M. Sc.

Fachhochschule Dortmund

Fachbereich Informatik, Medizinische Informatik

Universitätsklinikum Essen

Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin

Gesundheitspolitik

Haas P, Swoboda J: BDC-Praxistest: Neue flexible Ansätze für Sichten auf die medizinischen Daten tun Not. Passion Chirurgie. 2023 Dezember; 13(12): Artikel 05_01.

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