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EU Norm 965/2012 bringt deutsches Luftrettungssystem in Schwierigkeiten

Die historische Entwicklung der deutschen Luftrettung geht in die 60iger Jahre zurück, in denen die Zunahme schwerer Verkehrsunfälle in ländlichen Bereichen aufgrund fehlender strukturierter bodengebundener Rettungsmöglichkeiten erstmalig Hubschrauber zum Einsatz kamen. Mit der BO 105, die über eine Heckladetür verfügte, wurde der damalige Patiententransport revolutioniert. Wohl mit Fug und Recht kann man sagen, dass die zivile Luftrettung in Deutschland erfunden wurde.

Der Aufgabenbereich der Luftrettung besteht insofern seit ihrer Installierung zuvorderst in der Bedienung von Primäreinsatzforderungen. Aufgrund einer Konzentration therapeutischer und diagnostischer Spezialeinrichtungen an Zentren der Maximalversorgung sowie einer Verknappung von Intensivbehandlungsplätzen im Krankenhaussektor, entwickelte sich ein zunehmender Bedarf an sogenannten Sekundäreinsätzen zur Verlegung schwerkranker Patienten in für sie geeignete Einrichtungen (zum Beispiel Neurochirurgie, Stroke Unit, Herzkatheterstandorte, Replantationszentren u. a.).

Die Luftrettung ist mit mittlerweile über 100.000 Einsätzen pro Jahr wesentlicher Bestandteil der Gefahrenabwehr und medizinischen Notfallversorgung in Deutschland.

In 40 Jahren ist die Unfallquote mit Personenschäden innerhalb der Luftrettung trotz der hohen Zahl von Flugbewegungen mit 0,01 % gering.

Gleichzeitig hat die drastische Verkürzung der prähospitalen Rettungszeiten zu einer Senkung der Mortalität von Schwerstverletzten von ehemals >70 % auf zurzeit 12 % beigetragen [1].

Insbesondere für Schwerverletzte mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma (GCS<9) scheint die Luftrettung gegenüber einer bodengebundenen Rettung von statistischem Überlebensvorteil zu sein [2].

Die bisherige Regelung gab trotz klarer gesetzlicher Vorgaben insbesondere für Rettungsflüge einen gewissen Spielraum: Nach § 25 Abs. 1 des Deutschen Luftverkehrsgesetzes (LuftVG) müssen alle Luftfahrzeuge auf Flugplätzen landen und von diesen starten (sogenannter Flugplatzzwang). Obwohl Hubschrauber die besondere Eigenschaft haben senkrecht starten und landen zu können und somit Flugplatz unabhängig sind, gilt der oben genannte Paragraph auch für sie. Bauliche und technische Vorgaben für Hubschrauberflugplätze sind in der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift (AVV) zur Genehmigung der Anlage und des Betriebes von Hubschrauber Flugplätzen“ nachzulesen [3].

Die Tatsache, dass Hubschrauber auch auf freiem Feld oder Landeplätzen, die die gesetzlichen Vorgaben nicht erfüllen, landen dürfen, ist § 25 Abs. 2 geschuldet, in dem eine Ausnahmeregelung “für Hilfeleistungen” getroffen wurde. Diese Einsätze unterliegen dem Ermessen des Arztes und Piloten, wobei vorausgesetzt wird, dass „Gefahr für Leib und Leben“ des Patienten besteht.

EU Norm (965/2012) [4]

Ab dem 28.10.2014 wird sich in der deutschen Luftrettung einiges ändern: Eine seit 2012 bereits geltende EU Norm (965/2012), für die Deutschland eine zweijährige Opt-Out Regelung erwirkt hatte, soll dann in Kraft treten.

Zusammengefasst soll mit ihr eine erstmalige Katalogisierung, Neueinteilung und Zulassung der Landeplätze erfolgen. Das sehr komplexe Regelwerk umfasst 148 Seiten und soll EU weite Sicherheitsstandards „harmonisieren“.

Obwohl in Deutschland bereits gewichtsreduzierte Hubschrauber mit neuester Technologie, zuverlässigen Triebwerken und zweimotorigen Modellen unterwegs sind, sollen dann Starts und Landungen über dicht besiedelten Gebieten nur noch mit der sogenannten Flugleistungsklasse 1 möglich sein.

Weiterhin werden Dienst- und Ruhezeiten neu geregelt, wobei die Ruhezeiten ausgedehnt und der Beginn von Nachtflugzeiten zeitlich nach vorne verlegt werden (17:00 Uhr statt 19:00 Uhr). Eine bereits geltende Vorschrift, dass Piloten über 60 Jahre nicht mehr alleine im Cockpit sitzen dürfen, konnte bisher über Ausnahmegenehmigungen geregelt werden. Diese Möglichkeit soll ab Oktober 2014 entfallen.

Landeplätze müssen dann eine Mindestgröße von 15×15 Meter zuzüglich eines Sicherheitsstreifens von 5,50 Meter aufweisen.

Von den Bedürfnissen der sog. Flächenfliegerei abgeleitet ist die neue Vorschrift der Hindernisfreiheit, die dafür sorgt dass sehr weit gefasste, flache An- und Abflugwinkel ermöglicht werden müssen, um auch im Havariefall sicher landen zu können.

Bedeutung der Luftrettung und Auswirkung auf das System

Die Versorgung schwer verletzter Patienten ist eine originäre Aufgabe chirurgischer Fächer, ganz zuvorderst der Unfallchirurgie. In einem Flächenland wie Deutschland, das eine große Variabilität der Krankenhausstrukturen und -kompetenzen aufweist, erschien es bereits in den achtziger Jahren notwendig, eine breite Vernetzung derjenigen zu fördern und zu fordern, die an der Versorgung schwerverletzter Patienten teilnehmen [5, 6]. Die von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) initiierte Bildung kooperierender Klinikpartner in strukturierten und zertifizierten TraumaNetzwerken®) war eine logische Konsequenz aus der Forderung heraus, rund-um-die-Uhr alle notwendigen Kompetenzen flächendeckend vorzuhalten.

Die Möglichkeit der Luftrettung bzw. des luftgebundenen Sekundärtransportes ist ein fester Bestandteil eines funktionierenden Netzwerkes in der Versorgung von Polytraumapatienten [7]: mittlerweile kooperieren deutschlandweit in 45 TraumaNetzwerken® 598 zertifizierte Kliniken (http://www.dgu-traumanetzwerk.de).

Eine Einschränkung, gar ein Ausfall von Luftrettungstransportkapazitäten würde sich auf die Qualität der Versorgung schwerverletzter Patienten ebenso auswirken wie auf Patienten mit Herzinfarkt oder Schlaganfall, auf Frühgeborene und allen anderen, die eine schnelle Verlegung in eine kompetente und weit entfernte Klinik zur Lösung ihrer Probleme bedürfen.

Von 2017 Krankenhäusern in Deutschland werden regelmäßig etwa 1600 Kliniken angeflogen. Von diesen erfüllen etwa 20 % die derzeit gültige AVV, ca. 20 % verfügen über den alten deutschen Standard aus den sechziger Jahren und über 50 % sind nicht im Besitz einer Genehmigung (sog. Duldung ohne luftrechtliche Zulassung) [7]. Detailangaben zu bestehenden Kliniklandeplätzen sind aktuell nicht möglich, da es bisher keinen katalogisierten Gesamtüberblick gibt.

Die DGU initiiert daher derzeit eine entsprechende Umfrage in ihren TraumaNetzwerken® DGU.

Sofern Kliniken ihre Landeplätze nicht nach der neuen EU Vorgabe zertifizieren können, erfolgt ein Down-Grading zum so genannten PIS („Public Interest Site“) für den wiederum Vorgaben und Einschränkungen gelten:

  • Nicht mehr als 100 Flugbewegungen pro Jahr (ca. 1 Flugbewegung/Woche)
  • ausschließlicher Betrieb bei Tageslicht
  • Landestelle muss sich am Boden befinden
  • Landestelle bereits vor dem 1.7.2002 in Betrieb
  • Vorhandensein eines Betriebshandbuches mit Darstellung von Risiken, Verfahren und einem Notfallplan

Bisherige, ausgewiesene Hubschrauberlandeplätze an Kliniken mutieren als PSI damit zu nicht viel mehr als einem rettungs- und flugtechnischem „Trostpflaster“.

Auf Anfrage gab das Bundesverkehrsministerium an, die Möglichkeit für Starts und Landungen von Rettungshubschraubern an Krankenhäusern erhalten und den hohen Standard bei der lebenswichtigen Luftrettung gewährleisten zu wollen. Dabei komme wohl die o. g. PIS Regelung zum Greifen. Zudem soll die Möglichkeit, Krankenhäuser im Rahmen der Hilfeleistung bei Gefahr für Leib und Leben weiterhin anfliegen zu können, erhalten bleiben. Derzeit erstellt eine „Arbeitsgruppe Luftrettung“ (ADAC, DRF Luftrettung, Bundespolizei) eine Liste der Landestellen in Deutschland, die zukünftig nach den Regelungen zu Public Interest Sites angeflogen werden können. Die Fertigstellung dieser Liste bleibt abzuwarten wie auch die Einhaltung der genannten Inkraftsetzungstermine der Bestimmungen.

Es kann davon ausgegangen werden, dass eine Ausdünnung der Landeplätze zu einem sekundären Mehrbedarf an bodengebundenen Transportkapazitäten bei gleichzeitig verlängerten Flugzeiten führen würde. Ob das den mittlerweile gesetzlich verankerten Qualitätsansprüchen der Versicherer und Versicherten entspricht, ist fraglich.

Durch die verkürzten Arbeitszeiten und eine verschärfte Altersregelung entsteht ein geschätzter Mehrbedarf an Personal von ca. 30 %. Thilo Scheffler, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Hubschrauber Verbandes (DHV), bezifferte gegenüber „Der Welt“ den Mehrbedarf an Piloten mit 100 % (Die Welt vom 06.06.2014).

Neben erhöhten Personalkosten, Kosten für Umbau, Neubau und Neuzulassung von Krankenhauslandeplätzen sind die Betreiber der Luftrettung in der Pflicht ihre Hubschrauberflotte den neuen Flugleistungsansprüchen anzupassen. Die ADAC-Luftrettung kalkuliert derzeit ca. 130 Mio. Euro Investitionen für die Anschaffung entsprechender Helikopter. Ähnliche Investitionen in Millionenhöhe wären auch für eventuelle EU-konforme Nachrüstungen weiterer Hubschrauberlandeplätzen an Kliniken erforderlich.

Fazit

Ohne Frage ist die Sicherheit des Flugverkehrs ein unabdingbares Anliegen aller Nutzer und Teilhaber der Luftrettung.

Es stellt sich jedoch die berechtigte Frage, welchen Bedarf die vorgesehene Normung in Deutschland deckt und wie hoch Effizienz und Effektivität unter Berücksichtigung gesundheitsökonomischer Aspekte zu bewerten sein werden. Der Sinn einer durch EU-Gremien beschlossenen und als Harmonisierung bezeichneten Verschärfung von Sicherheitsstandards erschließt sich – bezogen auf die Luftrettung in Deutschland – jedenfalls nicht zwanglos. Hier besteht bereits an den oft unübersichtlichen Einsatzstellen unter nicht selten widrigen Bedingungen offenbar kein relevantes Unfallrisiko. Die glücklicherweise diesbezüglichen geringen Unfallzahlen geben eine „Problemlage“ jedenfalls nicht her: ein Beleg für die hohe Qualifikation, das Verantwortungsbewusstsein und die Qualität der in Deutschland eingesetzten Besatzungen und ihrer Hubschrauber. Ein Regelungsbedarf bedingt durch Unfälle auf den derzeit aktiven Lande- und Flugplätzen an den Kliniken in Deutschland ist noch weniger bekannt.

Die primäre Luftrettung würde auch mit den neuen Bestimmungen zwar nicht „untergehen“. Warum ein weltweit als vorbildlich und beispielgebend angesehenes System der Luftrettung in Deutschland unter dem Aspekt einer „europäischen Harmonisierung“ zusätzlich bürokratisiert, geregelt und faktisch verschlechtert werden soll, ist für ärztliche Verantwortungsträger allerdings nicht nachvollziehbar.

Literatur

[1] Hilbert, P, Lefering, R, Stuttmann, R: Traumaversorgung in Deutschland: Erhebliche Letalitätsunterschiede zwischen den Zentren. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(26): 463-9

[2] Schweigkofler, U; Reimertz, C; Lefering, R; Hoffmann, R: TraumaRegister DGU®: Bedeutung der Luftrettung für die Schwerverletztenversorgung. Der Unfallchirurg, 2014 DOI 10.1007/s00113-014-2566-7 epub ahead of print

[3] AVV: http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_19122005_LR116116413.htm

[4] http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2012:296:0001:0148:DE:PDF

[5] Haas N, v. Fournier, C, Tempka, A, Südkamp, N: Traumazentrum 2000: wie viele und welche Traumazentren braucht Europa um das Jahr 2000? Unfallchirurg 1997, 100: 852-858

[6] Seifert J: Das Weißbuch der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie als Motor für Qualitätsverbesserung in der Versorgung Schwerverletzter in Deutschland. In „Report Versorgungsforschung: Ergebnisverbesserung durch Qualitätsmanagement“ Hrsg: Fuchs C, Kurth BM, Scriba PC. Dt. Ärzteverlag Band 8, 2014: 139-143

[7] Gunter Carloff: Vorgaben für Krankenhauslandeplätze – Wie kann es umgesetzt werden? Vortrag auf der 15. Fachtagung Luftrettung, 29.-31.Oktober 2013, Mainz

Seifert J. / Hoffmann R. / Bouillon B. EU Norm 965/2012 bringt deutsches Luftrettungssystem in Schwierigkeiten. Passion Chirurgie. 2014 August, 4(08): Artikel 07_01.

Editorial: Hygiene und rationale Antibiotika-Therapie

Liebe Leserinnen und Leser,

ich wünsche Ihnen, Ihren Familien und Ihren Freunden Glück und Gesundheit für das gerade angebrochene Jahr 2014!

Die über Jahrzehnte vernachlässigten Themen der Hygiene und des Infektionsschutzes, die im Aufschwung und Wachstum einer marktwirtschaftlich orientierten Gesundheitsbranche dem technischen Fortschritt und Wettbewerb im Wege standen, haben mit der Erneuerung des Infektionsschutzgesetzes Anfang 2013 endlich die Aufmerksamkeit erhalten, die sie benötigen.

Die Fortschritte in der Medizin machen es heute möglich, auch aufwendige Operationen in immer höherem Alter und trotz schwerster Begleiterkrankungen durchzuführen. Damit verbunden ist jedoch ein steigendes Risiko für das Auftreten postoperativer Komplikationen, insbesondere nosokomialer Infektionen. Wiederholte Operationen, Isolierungen, Antibiotikatherapie, Schmerzen, verlängerter Krankenhausaufenthalt und Immobilität sowie möglicherweise dauerhafte Behinderung stellen ethisch und ökonomisch ein Problem dar.

Mit dem 2013 vom AQUA-Institut entwickelten Surveillance Konzept zur „Vermeidung nosokomialer Infektionen: Postoperative Wundinfektionen“ treten wir in eine neue Ära ein: Die nunmehr in Anlehnung an internationale Nomenklatur und Definition angesetzte Dauer von 365 Tagen innerhalb derer ein Auftreten einer Infektion des OP Gebietes als nosokomial bezeichnet wird, wird die Rate der „nosokomialen“ postoperativen Infektionen in ungeahnte Höhen schnellen lassen. Schon jetzt steht zu befürchten, dass Krankenhäuser und Ärzte in die Negativpresse geraten und das Arzt-Patientenverhältnis erneut nachdrücklich geschädigt wird.

Trotz vieler kritischer Stellungnahmen zu diesem Vorgehen von Seiten des BDC und der chirurgischen Fachgesellschaften hat der Gemeinsame Bundesausschuss das Konzept im Juli 2013 verabschiedet.

Mit dem Schwerpunkt Hygiene und Infektionsschutz in diesem Heft möchten wir Sie zu diesem Thema sensibilisieren und hoffen, dass Ihnen das Lesen neue Erkenntnisse und/oder Spannung verschafft.

Prof. Dr. med. Julia Seifert
Vizepräsidentin
Berufsverband der Deutschen Chirurgen e.V. (BDC)

Seifert J. Editorial Hygiene und rationale Antibiotika-Therapie. Passion Chirurgie. 2014 Januar; 4(01): Artikel 01.

Externe Surveillance postoperativer Wundinfektionen

Kritische Würdigung des AQUA Konzeptes zur transsektoralen Qualitätssicherung
Das AQUA Institut (Arbeitsgemeinschaft für Qualitätsförderung in der ambulanten Versorgung) wurde 1992 von Prof. Dr. Joachim Szecsenyi und einigen anderen Wissenschaftlern der Abteilungen für Allgemeinmedizin in Göttingen und Hannover gegründet. 1995 erfolgten die Umstrukturierung zur GmbH und eine räumliche Trennung von der Universität. 2009 erhielt es den Auftrag des Gemeinsamen Bundesauschusses (GBA) Verfahren zur Messung und Darstellung der Versorgungsqualität für die Durchführung der einrichtungsübergreifenden Qualitätssicherung (QS) nach § 115b Abs. 1, § 116b Abs. 3 Satz 3, § 137 Abs. 1 und § 137f Abs. 2 Nr. 2 zu entwickeln, die möglichst sektorenübergreifend anzulegen sind. Damit löste das AQUA Institut die Funktion des BQS-Institutes (Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung) ab.

Im AQUA Institut sind ca. 90 festangestellte Mitarbeiter tätig: Apotheker, Ärzte, Ökonomen, Gesundheitswissenschaftler, Informatiker, Psychologen und Biometriker. Ehrenamtlich tätige Ärzte und Patientenvertreter bilden als „Experten“ entsprechende Fachgruppen, die in Zusammenarbeit mit AQUA für die Weiterentwicklung und Sicherung der fachspezifischen Indikatoren und QS zuständig sind. So soll die wissenschaftliche Qualitätsforschung transparent und im sog. Bottom-up-Prinzip funktionieren.

Prozess der Konzeptionierung

Die Diskussion um hohe Operationszahlen in Deutschland, unzureichende Hygiene und die Tatsache, dass postoperative Wundinfektionen an erste Stelle der nosokomialen Infektionen getreten sind, veranlasste den GBA am 20.10.2011 das AQUA Institut mit der Entwicklung einer transsektoralen Surveillance zur Prävention nosokomialer Infektionen (postoperativer Wundinfektionen) zu beauftragen.

Im Verlauf zeigte sich, dass eine inhaltliche Neuausrichtung und Erweiterung notwendig schien: Statt die Surveillance auf eine Vermeidung postoperativer Wundinfektionen nach Eingriffen, die sowohl ambulant als auch stationär durchgeführt werden (also kleinere und mittlere Eingriffe) zu begrenzen, sollte nun eine Surveillance zur Vermeidung postoperativer Wundinfektionen im generellen Sinne erfolgen, sodass die Tracereingriffe um ausschließlich stationäre Eingriffe (also auch alle großen Eingriffe) erweitert werden mussten.

Diese Neuausrichtung und ein dadurch notwendig gewordener Neuauftrag durch den GBA verzögerte das Verfahren um mehrere Monate. Der Neuauftrag konnte am 21.6.2012 gestellt werden.

Ein Scoping-Workshop mit 86 Teilnehmern wurde dann durchgeführt, in dem von Seiten der Referenten und Teilnehmer als wesentliche Kriterien der Vermeidung nosokomialer Infektionen sog. strukturelle Indikatoren wie z. B. Anzahl des Pflegepersonal, Schulungen etc. angesehen wurden. Diese konnten jedoch nicht berücksichtigt werden, da das beauftragte Qualitätssicherungsverfahren explizit keine Strukturindikatoren, sondern ausschließlich Prozess- und Ergebnisindikatoren aufnehmen sollte.

Von Seiten des AQUA Institutes wurde dann als Grundlage des Indikatorenregisters folg. Erhebungsinstrumente vorgeschlagen (Abb. 1):

  • Sozialdaten der Krankenkassen
  • QS-Dokumentation (fallbezogen) beim Leistungserbringer
  • QS-Dokumentation (einrichtungsbezogen) beim Leistungserbringer

Abb. 1: Erhebungskonzept des QS-Verfahrens Vermeidung nosokomialer Infektionen: Postoperative Wundinfektionen (Quelle AQUA Institut)

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Um eine systematische Qualitätsdifferenzierung der Einrichtungen zu erlangen, basiert das von AQUA entwickelte Konzept auf einer Annahme von mind. 20 Infektionen/Einrichtung/Jahr und der Erfassung von ca. 15 bis 20 Prozent aller stationären Operationen.

Betroffen sind die Fächer Gynäkologie und Geburtshilfe, Gefäßchirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie, Herzchirurgie, Viszeralchirurgie und Urologie (sog. Tracer Fachrichtungen). Die Fächer Thoraxchirurgie, plastische Chirurgie und Kinderchirurgie sind in der neuen Surveillance nicht berücksichtigt. Etwa 1300 operierende Krankenhäuser und ca. 10.000 Vertragsärzte werden in das QS-Verfahren eingeschlossen. Um eine ähnliche Anzahl an Tracer-Eingriffen im ambulanten Sektor zu erreichen, werden aus den oben genannten Tracer-Fachrichtungen alle ambulanten Operationen aus dem AOP-Katalog mit mehr als 15-minütiger Standard-Operationsdauer (nach GOP-Definition) ausgewählt.

Ausgeschlossen von der Surveillance sind Eingriffe im Rahmen der primär septischen Chirurgie sowie Verbrennungen, Verätzungen, Eingriffe bei Patienten mit Immunsuppression (inkl. Transplantationspatienten), Eingriffe bei Patienten mit Chemo-Strahlentherapie, Operationen bei Polytraumapatienten und chronischen Dialysepatienten.

Über ein sog. RAM-Panelverfahren (RAND Appropriateness Method: strukturiertes Auswahl- und Bewertungsverfahren des internationalen Forschungsnetzwerkes „Research and Development“ (RAND)) sollten insgesamt 54 Indikatoren, die das AQUA Institut ausgearbeitet hatte (Abb. 2), durch eine ausgewählte Expertengruppe (RAM Panel) hinsichtlich Relevanz, Praktikabilität und Eignung zur öffentlichen Berichterstattung geprüft und beurteilt werden. Für die Bildung des sog. RAM Panel erfolgte eine öffentliche Ausschreibung im Januar 2012, für das sich 43 Personen bewarben, wovon 13 vom AQUA Institut nach nicht bekannten Kriterien ausgewählt wurden. Besonders verwunderlich, dass ein Experte, der letztlich wegen Arbeitsüberlastung absagen musste, eine Vertretung nominieren konnte.

Abb. 2: Strategie der Indikatorenrecherche (Quelle AQUA Institut)

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Am Ende hielten neun Indikatorenbereiche der Prüfung stand:

  • Nosokomiale post OP WI (nach CDC Kriterien)
  • Perioperative Vorbereitung
  • Vorbereitung des Patienten im OP-Bereich
  • Aufbereitung von Sterilgut
  • Wundpflege und -kontrolle
  • Antibiotikatherapie
  • Entlassungs- und Überleitungsmanagement
  • Personalschulung
  • Qualitätspotenzial übergreifende Indikatoren

Für den Bereich postoperative Wundinfektionen wurden 22 Indikatoren ausgewählt und für praktikabel befunden. Allein für das Fach Orthopädie und Unfallchirurgie waren 163 Seiten notwendig, um alle Tracerdiagnosen zu listen. Dabei wurde die große Anzahl der Operationen nach AQUA Aussage so gewählt, dass Krankenhäuser durchschnittlich über alle Tracer-Eingriffe hinweg 20 Fälle tiefer postoperativer Wundinfektionen pro Jahr aufweisen.

Kritikpunkte aus Sicht einer Orthopädin und Unfallchirurgin

Die umfangreiche Erfassung der Eingriffe in Orthopädie & Unfallchirurgie (O&U) stellt eher eine Vollerhebung als eine Stichprobe dar, denn sie umfasst sämtliche Osteosynthesen, Endoprothesenimplantationen und Prothesenwechsel, subchondrale Knocheneröffnungen mit Einbringen azellulären Implantates und sämtliche Rekonstruktionen mit alloplastischem Material. Im Gegensatz zu anderen chirurgischen Fächern ist damit das Fach der Orthopädie und Unfallchirurgie ganz besonders stark betroffen, da die Mehrheit der Operationen mit einer Einbringung von Fremdmaterial einhergeht.

Ein wesentlicher Kritikpunkt verschiedener Fachgesellschaften und des BDC war, dass die Dauer der postoperativen Surveillance sich nach den amerikanischen CDC-Kriterien [6] richtet und damit bei Operationen mit Einbringung von Fremdmaterial einen Zeitraum von 365 Tagen umfasst. Das bedeutet, dass z. B. ein Endoprotheseninfekt, der am 355. Tag post OP auftritt, als nosokomial bewertet wird, unabhängig ob er in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zum Krankenhausaufenthalt steht oder nicht. Insofern ist hier eine neuartige Verantwortungszuschreibung zu berücksichtigen, die Krankenhäuser, Ärzte und das Gesundheitswesen bei fehlender kritischer Betrachtung in ein ungünstiges Licht rücken könnte, zumal allein aufgrund der langen Surveillancedauer mit einem Anstieg der nosokomialen postoperativen Wundinfektionsraten zu rechnen ist.

Ebenfalls kritikwürdig ist die Tatsache, dass für die QS auch Daten erhoben werden, die laut Medizin-Produkte-Gesetz, Infektionsschutzgesetz bzw. Landes-Hygieneverordnung gesetzlich vorgeschrieben sind (z. B. Durchführung von Hygienefortbildungsmaßnahmen) [3-5]. Dies könnte zu einer Verzerrung der tatsächlichen Bedingungen führen, da eine Nichterfüllung dieses Kriteriums einem Gesetzesverstoß gleich kommt.

Letztlich bleibt unklar, mit welchem Ziel ein so aufwendiges Konzept, das allein aufgrund der schwierigen transsektoralen Datenerhebung nur schwerlich umsetzbar sein wird, ins Rollen gekommen ist, zumal die Punktprävalenzstudie aus dem Jahre 2012 [1] gezeigt hat, dass die Rate der NI mit 3,5 Prozent im Vergleich zu NIDEP Studie aus 1994 [7] keinen signifikanten Unterschied zeigte. Auch existiert langjährig eine funktionierende Surveillance von postoperativen Wundinfektionen über das bekannte KISS (Krankenhaus Infektions Surveillance System)-Modul, an dem rund 500 Kliniken teilnehmen. Die hier erhobenen Daten entsprechen im Gegensatz zur neuen Surveillance des AQUA Institutes tatsächlich Stichproben, umfassen im Gegenzug aber wesentliche und häufige Eingriffe. So z. B. für Orthopädie und Unfallchirurgie: Osteosynthese am Sprunggelenk, Hüft- und Knieendoprothesenimplantation, Osteosynthese proximale Femurfraktur, Hallux valgus OP und seit 15.2.2012 auch Spondylodesen.

Verzögerungen in der Datenaquise und –auswertung sind vorprogrammiert, da vollständige Datensätze von ambulanten Patienten bei den Sozialdaten der Krankenkassen erst im dritten Quartal des Folgejahres zur Verfügung stehen.

Fazit

Angesichts eines so weitreichenden und komplexen Auftrages bleibt es beachtlich, wie es gelungen ist, innerhalb eines so kurzen Zeitraumes (unter Berücksichtigung des drei-monatigen Stopps zur Neuausrichtung nur 14 Monate Dauer) ein mehr als 700 Seiten umfassendes Konzept bereits zum März 2013 fertig zustellen, um es zur Stellungnahme vorzulegen. Erwartungsgemäß haben sich nicht alle chirurgischen Fachgesellschaften und Berufsverbände mit einem so papierstarken Manuskript in die Tiefe befassen können. Die Kommentierungen der Fachgesellschaften, des BDC, der Bundesärztekammer, der AWMF u. a. enthalten neben positiver Kritik einen großen Anteil negativer Kritikpunkte, die nur mit wenigen Ausnahmen zu einer Änderung des Konzeptpapieres führte (z. B. wurde aufgrund der Stellungnahme der DGOU die Fixateur externe Anlage aufgrund per se hoher Infektionsraten im Bereich der Pineintrittsstellen aus der Surveillance ausgeschlossen).

Dennoch: Am 18. Juli 2013 wurde der AQUA Bericht vom GBA abgenommen und im Anschluss publiziert [2]. Die weitere Umsetzung liegt zur Zeit in der Hand des GBA.

In dem aktuellen Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD wurde allerdings die Gründung eines „Qualitätsinstitutes“, das sektorübergreifend Routinedaten sammelt, auswertet und einrichtungsbezogen publiziert, beschlossen. Welche Rolle dann das AQUA Institut in der zukünftigen QS im Gesundheitswesen spielen wird, ist noch unklar.

Den Ärzten und Akteuren im Gesundheitswesen, ganz besonders den Unfallchirurgen und Orthopäden, bleibt aktuell nur, die Öffentlichkeit rechtzeitig und umfangreich über die neue Definition und Begrifflichkeit von „nosokomialer Infektion“ im Rahmen postoperativer Wundinfektionen zu informieren.

Literatur

[1] Behnke M, Hansen S, Leistner R, Peña Diaz LA, Gropmann A, Sohr D, Gastmeier P, Piening B: Nosokomiale Infektionen und Antibiotika-Anwendung. Zweite nationale Prävalenzstudie in Deutschland. DÄB 2013, 110: 627-633

[2] Informationen zur „Vermeidung nosokomialer Infektionen: postoperative Wundinfektionen“ unter: http://www.sqg.de/entwicklung/neue-verfahren/nosokomiale-infektionen-postoperativ.html

[3] KRINKO (2007). Prävention postoperativer Infektionen im Operationsgebiet: Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert-Koch-Institut. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 50(3): 377-393.

[4] KRINKO (2010). Die Kategorien in der Richtlinie für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention – Aktualisierung der Definitionen. Mitteilung der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention. Bundesgesundheitsblatt.Gesundheitsforschung.Gesundheitsschutz. 53: 754-756.

[5] KRINKO (2012). Anforderungen an die Hygiene bei der Aufbereitung von Medizinprodukten. Empfehlung der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) beim Robert Koch-Institut (RKI) und des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 55(10): 1244-1310.

[6] NRZ (2011a). Definitionen nosokomialer Infektionen (CDC-Definitionen). 7. Auflage. Berlin: Robert Koch-Institut.

[7] Rüden, H; Gastmeier, P; Wischnewski, N; Kampf, G; Hauer, T; Schlingmann, J; et al. (1997). Prävalenz der wichtigsten nosokomialen Infektionen in Deutschland. Ergebnisse der NIDEP-Studie nosokomialen Infektionen. Bundesgesundheitsblatt 6: 198-203.

Weiterführende Informationen
Vermeidung nosokomialer Infektionen: Postoperative Wundinfektionen. AQUA-Vorbericht 2013

Seifert J. Externe Surveillance postoperativer Wundinfektionen. Passion Chirurgie. 2014 Januar, 4(01): Artikel 02_02.

Ist eine räumliche Trennung septischer und aseptischer Operationen nötig?

Frage:

Ist es statthaft nach den neu geltenden Hygiene-Regeln im OP ohne Not auf Grund von fehlendem Instrumentarium eine septische Vacuumversiegelung im Routineprogramm vorzuziehen und anschließend noch drei bereits seit Wochen geplante Gelenkeingriffe (2x ASK und 1x Schulterprothese) durchzuführen?


Antwort:

Eine räumliche Trennung septischer und aseptischer Operationen ist nicht zwingend notwendig, sofern die Regeln der Hygiene und Asepsis eingehalten werden.

Aufgrund der zunehmenden Prävalenz von MRE Trägern in der Bevölkerung muss prinzipiell jeder Patient so behandelt werden, als sei er kontaminiert.

Insofern ergibt sich auch die Möglichkeit, septische Operationen vor aseptischen Operationen durchzuführen. Dabei ist auf die strikte Einhaltung der Hygieneregeln zu achten. Der Kontakt zu dem Patienten ist auch von Seite der Anästhesisten auf das unbedingt Notwendige zu reduzieren, enstprechende Schutzkleidung ist zu tragen.

Mehr dazu finden Sie in dem angehängten Artikel.

Das Thema Ihrer Frage ist ein häufig gestelltes Problem und sollte eigentlich auch in der Hygienekommission des Krankenhauses, in dem Sie arbeiten/operieren bearbeitet worden sein, so dass hierzu eine Stellungnahme bzw. ein Prozedere hausintern existieren müsste.

Antwort von Prof. Dr. med. Julia Seifert:
Vizepräsidentin des BDC
Unfallkrankenhaus Berlin
Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie
Warenerstr. 7, 12683 Berlin

[email protected]

Seifert J. Ist eine räumliche Trennung septischer und aseptischer Operationen nötig? Passion Chirurgie. 2014 Januar; 4(01): Artikel 08_01.

Weiterführende Informationen
Artikel ‚Funktionelle Trennung von septischen und aseptischen OPs’:

Contra Einführung eines Facharzt Notfallmedizin

Anhang zur BDC-Pressmeldung “BDC, DGCH und DIVI warnen dringend vor dem Facharzt für Notfallmedizin”

  1. Deutschland weist eine hohe Qualität der Notfallversorgung auf. Im internationalen Vergleich ist das deutsche System effizienter und effektiver.
  2. Daraus ergibt sich, dass nach Ärzte-Weiterbildungsgesetz derzeit keine Voraussetzungen für die Schaffung einer neuen Facharztbezeichnung vorliegen, da solche nur von den Kammern geschaffen werden sollen, wenn „dies im Hinblick auf die wissenschaftliche Entwicklung und eine angemessene Versorgung der Bevölkerung …….. erforderlich ist“ (§2 AWBG). Hier aber würde die Qualität der Versorgung sinken.
  3. Eine sogenannte Zentrale Notaufnahme erscheint aus organisatorischen Aspekten sinnvoll und wird von allen Fachgesellschaften befürwortet.
  4. Die Fachgesellschaften befürworten einen unabhängigen Ärztlichen Leiter (Facharzt), der auch die organisatorische Verantwortung in einer Zentralen Notaufnahme besitzt.
  5. Die Fachgesellschaften befürworten zusätzliche fachliche Kompetenz eines Ärztlichen Leiters einer Notaufnahme durch Fort- und Weiterbildung und erarbeiten daher aktuell ein erweitertes Curriculum für die bereits bestehende Zusatzbezeichnung „Notfallmedizin“.
  6. Die Erlangung der Zusatzbezeichnung „Notfallmedizin“ ist bisher Ärzten in Fächern der unmittelbaren Patientenversorgung möglich. Der 115. Deutsche Ärztetag 2012 hat die für die Weiterbildung verantwortlichen Gremien der Bundesärztekammer aufgefordert, bei der Umsetzung der Weiterbildung in klinischer Akut- und Notfallmedizin sicherzustellen, dass für die Erlangung dieser Qualifikation ein Modul etabliert wird, das eine Zusatz-Weiterbildung für alle Fachärzte ermöglicht, die mit diesem Aufgabenbereich befasst sind.
  7. Notfallmedizinische Kompetenz ist integraler Bestandteil einer Facharztweiterbildung, gewährleistet die notwendige Interdisziplinarität in der Notfallversorgung und die Fähigkeit zum Management auch innerklinischer Notfälle.
  8. Der Wegfall notfallmedizinischer Kompetenz in den Fächern würde zu einem diagnostischen und therapeutischen Kompetenzverlust auch in der stationären Akutversorgung führen.
  9. Punkt 7 hätte entsprechende Negativauswirkungen auf die fachärztliche Kompetenz von Kollegen, die in die Niederlassung gehen und dort verpflichtet sind, für den ambulanten Sektor an der Notfallversorgung teil zu nehmen.
  10. Ein neuer Facharzt Notfallmedizin kann lediglich Teilaspekte der Fächer abbilden und befugt nicht zur eigenständigen Therapie, da nicht der Facharztstandard eines Faches erlangt wird und kann daher qualitativ zu keiner Verbesserung der Notfalltherapie führen.
  11. Die Schaffung eines neuen Facharztes Notfallmedizin ist nicht die Lösung struktureller Schwächen, sondern benötigt neue Ressourcen, verteuert die notfallmedizinische Versorgung und beschneidet Fächer in ihrer notfallmedizinischen Kompetenz.
  12. Umgekehrt ist es sinnvoll, die bestehenden Facharztqualifikationen durch eine entsprechend überarbeitete Zusatzweiterbildung Notfallmedizin aufzustocken, sodass sich hieraus diagnostische und therapeutische Kompetenzen erweitern lassen.
  13. Unter dem Aspekt einer europäischen Arbeitsmarktliberalisierung und –öffnung für einen neuen Facharzt Notfallmedizin zeigt sich Zurückhaltung der Länder: mit gegenseitiger Anerkennung der Berufsqualifikation Emergency Medicine sind bisher gelistet: Bulgarien, Tschechien, Irland, Ungarn, Malta, Polen, Rumänien, Slowakei und Großbritannien (Anhang V RL 2005/36/EG, Stand 24.03.2011).
  14. Qualitätsaspekte einer notfallmedizinischen Behandlung könnten aus medizinischer Sicht eine korrekte Risikostratifizierung des Patienten in angemessener Zeit, diagnostische und therapeutische Effizienz sowie aus Managementsicht Kosteneffektivität und Ressourcenschonung, Patienten- und Mitarbeiterzufriedenheit sein. Vergleichbare Daten existieren hierzu bisher nicht, weshalb entsprechende Daten in Studien generiert werden sollten.

Strukturwandel in der Behandlung von Notfallpatienten: Plädoyer für mehr notfallmedizinische Kompetenz

Die Versorgung von Notfallpatienten ist in Deutschland nach sektoralen Aspekten und föderal geregelt und somit von großer Diversität. Der ambulante Notdienst wird einerseits über den ärztlichen Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigungen andererseits über die Rettungsdienste der Länder organisiert. Beide agieren unabhängig voneinander.

Gesetzliche Grundlagen bilden hierzu das SGB V (§75, §§107-109), Rettungsdienstgesetze der Länder sowie die ländereigenen Krankenhauspläne, in denen Vorgaben zur Notfallversorgung gemacht werden [1].

Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung stellen die Notaufnahmen der Krankenhäuser dar. Ihre Aufgaben und Strukturen sind gemäß der föderalen Struktur Deutschlands in recht unterschiedlicher Ausführlichkeit in den ländereigenen Krankenhausplänen geregelt [1]. Diese sind bundesrechtlich nach § 6 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes vorgeschrieben. Ziel dieser Pläne ist es, eine patienten- und bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung im jeweiligen Bundesland mit leistungsfähigen und wirtschaftlichen Krankenhäusern sicherzustellen.

Für Berlin wurde der Plan 2010 in neuer Version verabschiedet [2]. Er gibt nunmehr sehr detaillierte Vorgaben zu Versorgungszeiten, Struktur und Organisation sowie medizinischer Kompetenz, die in den Notaufnahmen vorgehalten werden soll und teilt die an der Notfallversorgung teilnehmenden Häuser in zwei Kategorien, „Notfallkrankenhaus“ und „Notfallzentrum“, ein. In Anhang 3 („Stellungnahme der Berliner Ärztekammer zum Facharztstandard“) wird die Forderung der Berliner Ärztekammer nach einem eigenen Facharzt Notfallmedizin unkommentiert als Lösung bisheriger personeller und struktureller Engpässe aufgenommen.

Die enormen Aktivitäten der DGINA sowie des ‚Arbeitskreises Interdisziplinäre Notaufnahmen und Notfallmedizin’ der Ärztekammer Berlin zur Durchsetzung und Implementierung eines neuen Facharztes Notfallmedizin bedürfen einer kritischen Beleuchtung und Erwiderung [3].

Begrifflichkeit

Es existiert keine konsentierte Begriffsbestimmung. Am ehesten ist darunter ein Zustand der akuten Lebensgefahr und/oder ein Zustand zu verstehen, der ohne unverzügliche medizinische Versorgung die Gefahr schwerer Gesundheitsschäden birgt [4].

Patientenrekrutierung und Patientenzahlen

Die gesundheitspolitisch induzierte Umstrukturierung der Krankenhauslandschaft in Deutschland hat zu einer Reduzierung der Bettenkapazitäten, einer klinischen Fallzahlsteigerung, einem Personalabbau im nicht-ärztlichen Bereich sowie einer Personalaufstockung im ärztlichen Bereich geführt. Aus den Krankenhaus Rating Reporten geht hervor, dass im Jahr 2020 eine Großzahl von Krankenhäusern sich den ökonomischen Zwängen nicht werden anpassen können, erhebliche Defizite ausweisen oder von Insolvenz bedroht sind [5]. Andere Kliniken wenden sich von dem durch hohe Vorhaltekosten gezeichneten akutmedizinischen Versorgungssegment ab und der Elektivmedizin zu und stehen somit der Notfallbehandlung nicht mehr zur Verfügung.

Im ambulanten Sektor ist in strukturschwachen Regionen eine wohnortnahe fachärztliche Versorgung bereits heute nicht mehr gewährleistet. Die Mikrozensuserhebungen 1993, 1999 und 2003 haben einen rückläufigen Trend für die Inanspruchnahme niedergelassener Ärzte gezeigt [6].

Neben den o. g. Umständen verursachen die Kliniken wettbewerbgetriggert selbst Anreize für ihre Inanspruchnahme durch Werbung für z. B. spezialisierte Medizin, 24 h Vorhaltung spezieller High-Tech Geräte für Diagnostik und Therapie, besondere ärztliche Expertise, Integration des Rettungsdienstes und sorgen so für eine Umleitung von Patientenströmen, die selbverständlich auch den Bereich der Notfallversorgung umfasst. Die Untersuchung von Steffen et al [7] zeigt, dass neben dem tatsächlichen Notfallbedarf außerdem Faktoren wie Unkenntnis, Bequemlichkeit und Qualitätsvorteil wesentlichen Einfluss auf die Entscheidung des Patienten haben, eine Notaufnahme eines Krankenhauses aufzusuchen, statt sich in ambulante Behandlung eines niedergelassenen Arztes zu begeben.

Laut statistischem Bundesamt wurden 39 % aller Krankenhauspatientinnen und -patienten im Jahr 2010 als Notfall eingewiesen (6,8 Millionen Patienten) (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung 02.02.2008). Aufgrund fehlender Surveillance sowie uneinheitlicher Klassifikationen liegen für Deutschland keine belastbaren statistischen Zahlen über die gesamten Behandlungsfälle und die tatsächlichen Notfälle in Notaufnahmen vor. Aus Einzelstatistiken können wir schätzen, dass in etwa 40 % aller Patienten, die in einer Notaufnahme behandelt, auch stationär aufgenommen werden. Die überwiegende Mehrheit (60 %) verbleibt ambulant.

Unter Zugrundelegung des Manchester Triage Systems (MTS) [8], in dem Patienten sofort bei Ankunft mit einem klinischen Dringlichkeitsscore bewertet werden, konnten in der Notaufnahme der Universität Leipzig insgesamt 19 % der Patienten als unmittelbar behandlungsbedürftig, äußerst dringlich und dringlich behandlungsbedürftig (2 % rot, 4 % orange und 13 % gelb) eingeschätzt werden. Im Umkehrschluss bestand bei 81 % der Patienten nach den Kriterien des MTS keine Behandlungsdringlichkeit.

Die Auswertung von über 48.000 Notfallpatienten (Abb 1) einer interdiziplinären Zentralen Notaufnahme aus dem Unfallkrankenhaus Berlin zeigt, dass immerhin 66 % der Patienten als unmittelbar bzw. äußerst dringlich und dringlich behandlungsbedürftig triagiert wurden (2 % rot, 17 % orange und 46 % gelb). Im Rahmen eines internen Audits wurde die Triagequalität des Monats Juli 2012 überprüft, dabei ergab sich anhand einer Stichprobe, dass 73 % korrekt eingeschätzt, 6 % unter- und immerhin 20 % übertriagiert wurden (Abb. 2).

Abb. 1: Fachliche Verteilung Patienten 2012 ukb (Gesamt 51.681)

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Abb. 2: Triageergebnisse Rettungsstelle Unfallkrankenhaus Berlin 2012 (n= 48.865)

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Es bestehen aktuell Bemühungen des „Deutschen Netzwerks Ersteinschätzung“, konkrete und vergleichbare deutschlandweite Daten aus den Kliniken zu rekrutieren, die das MTS verwenden, um ein sog. Deutsches Einschätzungsregister aufzubauen.

Qualität der Notfallversorgung

Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) beschäftigt sich schon lange mit dem Thema der Verbesserung der Notfallversorgung von Schwerstverletzten (SV) in Deutschland.

Die DGU konnte bereits 1993 ein weltweit einzigartiges Traumaregister ins Leben rufen [9], das mittlerweile Daten über 23.416 Patienten verfügt. Des Weiteren initiierte die Gesellschaft frühzeitig die Erstellung eines Weißbuches, in dem Kriterien zur Organisation und Struktur von Krankenhäusern, die an der SV-Versorgung teilnehmen, formuliert und 2006 erstmalig publiziert wurden [10]. Im Weiteren wurde eine bundesweite Netzwerkkooperation initiiert (TraumaNetzwerk DGU), die deutschlandweit mittlerweile 38 zertifizierte Netzwerke mit 521 zertifizierten Kliniken umfasst.

Aus den Daten des DGU Traumaregisters geht hervor, dass die durchschnittliche Letalität Schwerstverletzter seit 1999 von 22 % auf 15 % gesenkt werden konnte. Sie liegt nach Schweregradadjustierung damit deutlich unter den errechenbaren Vorhersagewerten [9].

Ebenso wie für den Bereich der unfallchirurgischen Notfallversorgung existieren Daten zur Versorgung und zum Outcome kardialer Notfallpatienten: die intrahospitale Myokardinfarktletalität konnte durch Standardisierung und Professionalisierung der Akuttherapie und –intervention innerhalb der letzten 20 Jahre um 50 % gesenkt werden und liegt aktuell bei etwa 11 % [11].

Für Schlaganfallpatienten konnte die Letalität gesenkt und das Outcome durch eine Optimierung der Notfalltherapiemaßnahmen verbessert werden, insbesondere auch durch wesentliche Fortschritte in der interventionellen Radiologie [12].

Die o. g. Beispiele aus dem Bereich der Unfallchirurgie, Kardiologie und Neurologie zeigen eine stetige Verbesserung der Patientenversorgung und des Outcome im Rahmen lebensbedrohlicher Erkrankungen in den letzten Jahren. Eine klare Zuordnung hinsichtlich der Effekteinflüsse der prähospitalen Behandlung, der Behandlung in der Notaufnahme sowie der akutstationären Maßnahmen auf das verbesserte Outcome ist jedoch nicht möglich.

Bei der Durchsicht der „Fälle des Monates“ (06/2009 – 02/2013) im CIRS-Netzwerk Berlin lässt sich aktuell ein Critical Incidence Report ausmachen, der einen kritischen Ablauf in einer Notaufnahme berichtet. Unter Zugrundelegung dieser publizierten Fälle lässt sich so zum jetzigen Zeitpunkt eine Inzidenz von 3 % für „Beinahe Fehler“ in Berliner Notaufnahmen berechnen.

Nach Harald Dormann können sich Prozessabläufe innerhalb der Notaufnahme unter Qualitätsaspekten konkret darstellen lassen: Dabei spielen die Sicht des Patienten, des Kostenträgers, des Arztes und des Krankenhausbetreibers eine wesentliche Rolle.

Seine Analyse durch Auswertung von Routinedaten von 6.683 Notfallpatienten der Uni Erlangen zeigte für das Gesamtkollektiv eine diagnostische Übereinstimmung (dÜ) von 71 %. Bei einer mittleren Aufenthaltsdauer von 116 Minuten betrug die diagnostische Effizienz (dEff) 0,61/min. Mit 92 % war die dÜ am höchsten für Patienten mit Vorhofflimmern/-flattern und die dEff mit 0, 85/min für Patienten mit akuten Myokardinfarkt [13].

Auch im innereuropäischen Vergleich schneidet die Notfallversorgung in Deutschland gut ab: In einer internationalen Systemvergleichsstudie mit Großbritannien konnte nachgewiesen werden, dass die deutsche Notfallbehandlung unter verschiedenen Aspekten der Effizienz und Effektivität überlegen war [14].

Bedeutung und Struktur einer Notaufnahme

Die Bedeutung von sogenannten zentralen Notaufnahmen im Rahmen der notfallmedizinischen Behandlung der Bevölkerung ist von allen deutschen Organisationen und Fachgesellschaften anerkannt und konsentiert [15, 16, 17]. Eckpunktepapiere mit entsprechenden Anforderungen auch an die ärztliche Leitung einer solchen Notaufnahme wurden bereits publiziert [18]. Die interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft Zentrale Notaufnahme deutscher Fachgesellschaften (DGAI, DGCH, DGU, DGIM, DGKJM, DGN, DGMC, DIVI und DRG) erarbeitet derzeit ein neues Curriculum, das auf dem Curriculum für die Zusatzbezeichnung Notfallmedizin aufbaut, welches besonders auf die präklinische Notfallversorgung fokussiert war und jetzt um einen klinischen Teil erweitert werden soll.

Die Notaufnahme stellt häufig den Ort des Erstkontaktes von Patienten mit der Klinik dar. Sie ist die Visitenkarte des Hauses. Es ist also erstrebenswert, dass die Notaufnahme hinsichtlich technischer und personeller Struktur so aufgestellt ist, dass sie das Patientenaufkommen in angemessener Zeit und Qualität bewältigen kann. Eine Entlastung der Notaufnahme durch Verschiebung von Patienten ist dann möglich und sinnvoll, wenn sogenannte Routineambulanzen räumlich integriert sind. Eine solche Verschiebung von Patienten, die im eigentlichen Sinne keinen Notfall darstellen, gelingt auch, wenn im Sinne einer transsektoralen Versorgung MVZ Praxen in unmittelbarer räumlicher Nähe angebunden sind.

Eine weitere Entlastung, nicht nur der Notaufnahme, sondern auch der Stationen gelingt durch die Integration sogenannten Notaufnahmestationen, die die Option eines kurzzeitigen Monitorings mit klinischer sowie paraklinischer Verlaufskontrolle bieten.

Für die Kompetenz notfallmedizinisch aktiver Ärzte ist es von Vorteil über wesentliche Kenntnisse und Erfahrungen auch der prähospitalen Notfallmedizin zu verfügen, da sie in ganz besonderem Maße auf einer typischen symptomorientierten und interdisziplinären Vorgehensweise basiert. Durch die enge Verzahnung von Rettungsmedizin und Notaufnahme ist auch eine eigene interne Qualitätskontrolle des Notarztes über seine Diagnosen und Therapiemaßnahmen möglich, sodass die Lerneffekte groß sind.

Die Notaufnahme ist der vorrangige Platz, an dem Weiterbildungsassistenten unter Aufsicht und Anleitung eines Facharztes notfallmedizinische Kenntnisse erlangen sollen. Diese sind integraler Bestandteil der Weiterbildungsordnung der Fächer des Gebietes Innere Medizin und Chirurgie.

Neben einer symptomorientierten Herangehensweise, die ja bereits in der studentischen Ausbildung curricular verankert wurde, sollen hier z. B. Techniken und Algorithmen der notfallmäßigen Untersuchung und des leitliniengerechten Managements von Schwerstverletzten (z. B. FAST Sonografie, ATLS) [19], der chirurgischen Wundversorgung, Reposition von Luxationen und verschobenen Frakturen, Gipstechniken, Indikationen zur erweiterten radiologischen Diagnostik, Anlage von Thoraxdrainagen und Beckenzwingen erlernt werden. Die Einführung eines festen Stammpersonals mit eigenem Facharzt Notfallmedizin würde die Möglichkeiten der Weiterbildung der verschiedenen Fächer ganz wesentlich beschränken. Ein neuer Facharzt Notfallmedizin würde die Ressourcen nicht erweitern, sondern verknappen, da die Personalstellen anderer Fächer, die bis dahin die Notaufnahmen mit ihren Mitarbeitern besetzt haben, genutzt würden. Der Wegfall oder die Reduzierung von Bereitschaftsdiensten in einer Notaufnahme durch eine Schichtbesetzung mit festem Stammpersonal würde außerdem die finanzielle Attraktivität der Fächer schwächen.

Zusammenfassung

  1. Aktuell liegen belastbare Daten vor, die eine hohe Qualität der Notfallversorgung in Deutschland nachweisen. Auch im internationalen Vergleich scheint das deutsche System effizienter und effektiver zu sein.
  2. Daraus ergibt sich, dass nach dem Ärzte-Weiterbildungsgesetz derzeit kein Bedarf für die Schaffung einer neuen Facharztbezeichnung vorliegt, da solche nur von den Kammern geschaffen werden sollen, wenn „dies im Hinblick auf die wissenschaftliche Entwicklung und eine angemessene Versorgung der Bevölkerung …….. erforderlich ist“ (§2 AWBG).
  3. Eine sogenannte Zentrale Notaufnahme erscheint aus organisatorischen Aspekten sinnvoll und wird von allen Fachgesellschaften befürwortet.
  4. Die Fachgesellschaften befürworten einen unabhängigen Ärztlichen Leiter (Facharzt), der auch die organisatorische Verantwortung in einer Zentralen Notaufnahme besitzt.
  5. Die Fachgesellschaften befürworten zusätzliche fachliche Kompetenz eines ärztlichen Leiters einer Notaufnahme durch Fort- und Weiterbildung und erarbeiten daher aktuell ein erweitertes Curriculum für die bereits bestehende Zusatzbezeichnung Notfallmedizin.
  6. Die Erlangung der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin ist bisher Ärzten in Fächern der unmittelbaren Patientenversorgung möglich. Der 115. Deutsche Ärztetag 2012 hat die für die Weiterbildung verantwortlichen Gremien der Bundesärztekammer aufgefordert, bei der Umsetzung der Weiterbildung in klinischer Akut- und Notfallmedizin sicherzustellen, dass für die Erlangung dieser Qualifikation ein Modul etabliert wird, das eine Zusatz-Weiterbildung für alle Fachärzte ermöglicht, die mit diesem Aufgabenbereich befasst sind.
  7. Notfallmedizinische Kompetenz ist integraler Bestandteil einer Facharztweiterbildung und gewährleistet die notwendige Interdisziplinarität in der Notfallversorgung sowie die Fähigkeit zum Management auch innerklinischer Notfälle.
  8. Der Wegfall notfallmedizinischer Kompetenz in den Fächern würde zu einem diagnostischen und therapeutischen Kompetenzverlust auch in der stationären Akutversorgung führen.
  9. Punkt 7 hätte entsprechende Negativauswirkungen auf die fachärztliche Kompetenz von Kolleginnen und Kollegen, die in die Niederlassung gehen und dort verpflichtet sind, für den ambulanten Sektor an der Notfallversorgung teil zu nehmen.
  10. Ein neuer Facharzt Notfallmedizin mit sechsjähriger Weiterbildungszeit kann lediglich Teilaspekte der Fächer abbilden, da er bestenfalls Kenntnisse erlangt hat, die einer ein bis zwei jährigen Weiterbildung in diesem Fach entsprechen und befugt daher nicht zur eigenverantwortlichen Therapie, da nicht der Facharztstandard eines Faches erlangt wird. Folglich kann er nicht zu einer qualitativen Verbesserung der Behandlung von Notfallpatienten beitragen.
  11. Die Schaffung eines neuen Facharztes Notfallmedizin ist nicht die Lösung struktureller Schwächen, sondern benötigt neue Ressourcen, verteuert die notfallmedizinische Versorgung und beschneidet Fächer in ihrer notfallmedizinischen Kompetenz.
  12. Umgekehrt scheint es sinnvoll, die bestehenden Facharztqualifikationen durch eine entsprechend überarbeitete Zusatzweiterbildung Notfallmedizin aufzustocken, sodass sich hieraus diagnostische und therapeutische Kompetenzen erweitern lassen.
  13. Unter dem Aspekt einer europäischen Arbeitsmarkliberalisierung und -öffnung für einen neuen Facharzt Notfallmedizin zeigt sich Zurückhaltung der Länder: Mit gegenseitiger Anerkennung der Berufsqualifikation Emergency Medicine sind bisher gelistet: Zypern, Tschechien, Irland, Ungarn, Malta, Polen, Rumänien, Slowakei und Großbritannien (Anhang V RL 2005/36/EG, Stand 24.03.2011).
  14. Qualitätsaspekte einer notfallmedizinischen Behandlung könnten aus medizinischer Sicht eine korrekte Risikostratifizierung des Patienten in angemessener Zeit, diagnostische und therapeutische Effizienz sowie aus Managementsicht Kosteneffektivität und Ressourcenschonung, Patienten- und Mitarbeiterzufriedenheit sein. Vergleichbare Daten existieren hierzu bisher nicht, weshalb entsprechende Daten in Studien generiert werden sollten.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via [email protected].

Weiterführende Informationen
TraumaNetzwerk DGU

Seifert J. Strukturwandel in der Behandlung von Notfallpatienten. Passion Chirurgie. 2013 Mai, 3(05): Artikel 02_01.

Editorial: Notfallmedizin – Fachkompetenz vs. Facharzt

Liebe Leserinnen und Leser,

Rettungsstellen und Notaufnahmen weisen kontinuierlich steigende Fallzahlen auf.

Immer häufiger wird die ärztliche Kompetenz der Krankenhäuser auch für die Einholung von Zweit- oder Expertenmeinungen zu elektiven oder nicht dringlichen Operationen im Rahmen eines Besuches der Notaufnahme/Rettungsstelle genutzt, da die Zulassungen für Sprechstunden im stationären Sektor durch die Kassenärztlichen Vereinigungen streng reguliert und in der Regel nur mit erheblichen Einschränkungen zu erlangen sind.

Umso wichtiger erscheint es, dass Notfallpatienten bei Eintreffen in das Krankenhaus nach einer Behandlungsdringlichkeit triagiert werden, anschließend eine zeitlich- und fachlich angemessene Diagnostik und Therapie erfahren und ggfls. auch von einem interdisziplinär agierenden Team untersucht und behandelt werden.

Die Notaufnahme ist also ein spannender Ort, in dem zeitgleich Patienten mit wund gelaufenen Füßen neben Patienten im septischen Schock die Extreme einer großen Bandbreite von Verletzungen und Erkrankungen sein können.

Der Umgang mit Notfällen ist wesentlicher Inhalt unserer chirurgischen Disziplinen und integraler Bestandteil chirurgischer Weiterbildung, ja sogar unseres Selbverständnisses im Fach. Chirurgisches Denken und Handeln ist ganz besonders geprägt von der in Notfallsituationen erlernten raschen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit sowie der unmittelbaren Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme. Stets führt sie zu unmittelbarer Erkenntnis und erweitert so Kompetenz und interne Evidenz.

Notfälle begleiten uns ein berufliches Leben lang, nicht nur in der Notaufnahme, sondern auch auf der Station oder in der Praxis.

Allerdings: Unser Anspruch auf chirurgische Präsenz in den Notaufnahmen, mit oder ohne leitende Funktion, ist in Gefahr. Im Mai 2012 wurde im Rahmen des 115. Deutschen Ärztetages eine sogenannte Vorstandsüberweisung verabschiedet, in der die zuständigen Bundesärztekammergremien aufgefordert werden, inhaltliche Voraussetzungen zu erarbeiten, um die klinische Akut- und Notfallmedizin in der Muster-Weiterbildungsordnung zu verankern.

Ziel ist dabei die Einführung eines neuen Facharztes Notfallmedizin.

Wir sind der Meinung, dass Informationsbedarf besteht, weshalb sich dieses Heft aus verschiedenen Perspektiven ausführlich und kritisch den Hintergründen und Folgen dieser Entwicklung widmet sowie die aktuellen Aktivitäten der Fachgesellschaften (DGAI, DGCH, DGIM, DGKJM, DGN, DGNC, DIVI und DRG) in dieser Sache darlegt, damit Sie sich eine Meinung bilden können.

Wir hoffen, Ihr Interesse für dieses brisante Thema geweckt zu haben!

Ihre
Prof. Dr. med. Julia Seifert

Seifert J. Editorial Notfallmedizin – Fachkompetenz vs. Facharzt. Passion Chirurgie. 2013 Mai; 3(05): Artikel 01.

Familienfreundliches Krankenhaus: Return on Investment

Krankenhäuser, ehemals überwiegend kirchlich geführte Orte der Fürsorge für schwache, bedürftige und kranke Menschen, sind mittlerweile vor dem Hintergrund eines boomenden Gesundheitsmarktes zu erfolgreichen Wirtschaftsunternehmen gewachsen und partiell zu Großkonzernen fusioniert.

Dieser Wandel birgt Chancen, insbesondere im Bereich der Krankenhausmedizin: auf dem Boden einer professionalisierten Ökonomisierung hat auch die momentane Begrenztheit der Ressource „Arzt“ zu einem betriebsorientierten Umdenken hinsichtlich ärztlicher Arbeit, Struktur und Organisation geführt.

Krankenhäuser als sogenannte Gesundheitsunternehmen stehen im Wettbewerb um Ärzte, insbesondere Fachärzte, was sich eindrücklich im Umfang des Anzeigenteiles des Deutschen Ärzteblattes widerspiegelt. Immer häufiger werben Kliniken mit einer leistungsgerechten und verhandelbaren Vergütung (Stichwort AT-Verträge) sowie mit dem Versprechen von Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Längst ist die Familie vom Bundesfamilienministerium zum „Erfolgsfaktor“ für Unternehmen benannt und ein Netzwerk ins Leben gerufen worden, dem bereits 3600 Unternehmen angehören, die sich verpflichtet haben, eine neue Balance zwischen Familie und Beruf zu erarbeiten (siehe Link am Ende des Artikels).

Familienfreundliche Strukturen im Krankenhaus

Rechnet sich eine „familienbewußte Personalpolitk“?

Im „Forschungszentrum Familienbewusste Personalpolitik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Steinbeis- Hochschule Berlin sind mittlerweile auch betriebswirtschaftliche Aspekte untersucht worden [1].

Familienbewusste Personalpolitik beeinflusst den Unternehmenserfolg positiv. Die Mitarbeiter sind motivierter, produktiver und seltener krank: Der sogenannte „Return on investment“ wird mit 23 % beziffert.

Konkrete und eindrucksvolle Berechnungen zur Effizienz einer Kinderbetreuung am Krankenhaus hat die BG-Klinik Murnau durchgeführt [2]. Die Personalfluktuation konnte von über 30 % auf unter 10 % reduziert werden, die Bindung der Mitarbeiter an das Krankenhaus wurde größer, die Teilzeitquote während der Elternzeit wurde mit etwa 17 % (gegenüber 0% bei Betrieben ohne familienfreundliche Maßnahmen) gemessen. Fünfundneunzig Prozent der Mitarbeiter kehrten aus der Elternzeit wieder. In der Bilanz ergab sich so für das Jahr 2004 ein Gesamtaufwand von 522.000 Euro unter Abzug von Gebühreneinnahmen in Höhe von 80.000 Euro und damit ein Fehlbetrag von 442.000 Euro. Die Kosteneinsparungen wurden mit 525.000 Euro berechnet, sodass sich eine Kosten-Nutzen-Differenz zugunsten der Klinik errechnen ließ.

Familienfreundlichkeit ist mehr als Kinderbetreuung.

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass immer mehr Frauen in den Arztberuf streben und Männer immer häufiger Teilhabe am Familienleben einfordern, haben wir uns dem Aspekt der Kinderbetreuung gewidmet und eine Umfrage unter deutschen Chirurginnen und Chirurgen durchgeführt.

Unser Ziel war es, diesem Begriff einen möglichst konkreten Inhalt zu geben und eine „Internet-Deutschlandkarte“ zu erstellen, die stellensuchenden Ärzten und Ärztinnen die Möglichkeit bietet, per Mausklick möglichst umfangreiche Informationen über die Krankenhäuser hinsichtlich ihrer Familienfreundlichkeit zu gewinnen.

Zweifelsohne kann aber „Familienfreundlichkeit“ nicht nur auf Kinderbetreuung reduziert werden. In Anlehnung an den Katalog des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB) haben wir daher in unserer 2011 durchgeführten Umfrage vier Hauptkriterien benannt:

1.    Kinderbetreuungsmöglichkeit

2.    Flexible Arbeitszeitregelung

3.    Abteilungs-/Klinikinterne Personalstruktur

4.    Mitarbeiterkommunikation

Teilnehmerstruktur

Die Umfrage wurde von April 2011 bis September 2011 über BDC|Online durchgeführt. Dabei wurden alle BDC-Mitglieder per E-Mail eingeladen, sich an der Umfrage zu beteiligen und die Fragen online zu beantworten.

Die große Resonanz von 1.307 Teilnehmern zeigt uns das bestehende Interesse zum Thema Familie und Beruf. Dreiviertel der Umfrageteilnehmer (72,7 %) sind männlichen Geschlechts, sodass wir davon ausgehen können, dass Familie und Beruf längst nicht mehr nur ein weiblich besetztes Thema ist. Fast 70 % der Umfrageteilnehmer waren Ober- oder Chefärzte, 31 % Facharzt oder in Weiterbildung befindliche Kolleginnen und Kollegen. Das Durchschnittsalter der Antwortenden lag bei 44 Jahren.

Wir müssen also festhalten, dass das Interesse bei den jungen Kolleginnen und Kollegen, für die wir diese Umfrage und Initiative initiiert haben, sich bei der Teilnahme eher zurück gehalten haben.

Kinderbetreuungsmöglichkeiten

Erstaunt und erfreut sind wir über den recht hohen Anteil von Kliniken mit Kita-Betreuung (39 %), von denen immerhin ein Drittel räumlich in das Krankenhaus integriert bzw. angegliedert sind. Ein Drittel der Befragten (33.8 %) gibt allerdings an, dass eine Bevorzugung bei Kindern von Pflege- und Verwaltungspersonal existiert.

Differenziert man die Antworten nach den Kliniktypen der Teilnehmer, zeigt sich, dass die Möglichkeit zur Kinderbetreuung proportional zum Versorgungsgrad des Krankenhauses, und damit einhergehend der Mitarbeiteranzahl, steigt. Während nur für ein Fünftel (20,2 %) der Kollegen aus Häusern der Grund- und Regelversorgung eine Kinderbetreuung am eigenen Krankenhaus besteht, berichten Dreiviertel (77,5 %) aller Kollegen an Unikliniken, dass dort eine Kinderbetreuung angeboten wird (Abb. 1).

Abb. 1: Kinderbetreuung nach Krankenhaus-Typ

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Abb. 2: Kinderbetreuung-Priorisierung nach Krankenhaus-Typ

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Es zeigt sich weiterhin, dass aber gerade in Kindertagesstätten großer Häuser eine Bevorzugung von Kindern des Pflegepersonals sowie der Verwaltung existiert (Abb. 2). Kinder von Ärzten haben es in Unikliniken am schwersten, in eine Kindertagestätte aufgenommen zu werden. Dies wird auch bei Auswertung der Freitextkommentare deutlich. Vergleicht man die Angebote zur Kinderbetreuung verschiedener Krankenhausträger, zeigt sich ein interessantes, aber folgerichtiges Bild. Während Häuser in Landesträgerschaft, wie Universitätskliniken, überwiegend Betreuungsmöglichkeiten anbieten (76 %), sind es nur knapp ein Drittel der Häuser in gemeinnütziger und privater Trägerschaft (Abb. 3 und Abb. 4).

Abb. 3: Kinderbetreuung nach Krankenhaus-Träger

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Abb. 4: Kinderbetreuung-Priorisierung nach Krankenhaus-Träger

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Eine Betreuung über 24 Stunden (1,1 %) oder die Betreuung am Wochenende (2,5 %) wird nur in Ausnahmefällen angeboten. Eine Altersbegrenzung besteht bei einem Drittel der Kitas (36,5 %), wobei die Kinder in der Regel ab dem 12. Lebensmonat aufgenommen werden.

Flexible Arbeitszeitregelung

Erfreulich ist, dass in 77 % der Abteilungen eine Teilzeitbeschäftigung möglich ist. Nur bei 23 % der Antwortenden existiert diese flexible Form der Arbeitszeitgestaltung nicht. Die Unterschiede zwischen den Versorgungstypen waren marginal (Abb. 5) und zwischen den Krankenhausträgern nicht feststellbar.

Abb. 5: Teilzeit nach Krankenhaus-Typ

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Das Dienstmodell variiert bei den Kolleginnen und Kollegen nach Dienststellung und Versorgungstyp des Hauses. Assistenzärzte arbeiten mehrheitlich im 24-Stundendienst (Abb. 6). Zwischen 10 und 20 Prozent der Antwortenden gibt an, im Schichtdienst zu arbeiten.

Abb. 6: Dienstmodell Assistenten nach Krankenhaus-Typ

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Die Oberärzte arbeiten mehrheitlich im Rufdienst, wobei die Anwesenheitspflicht entsprechend der Dienstbelastung mit dem Versorgungstyp zunimmt und in Universitätskliniken ein Viertel der Oberärzte ihren Dienst im Haus versehen (Abb. 7).

Abb. 7: Dienstmodell Oberarzt nach Krankenhaus-Typ

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Personalstruktur

Weibliche Vorbilder in Oberarzt- und Leitungsfunktion sind eher rar. Allerdings zeigt sich in den nachwachsenden Generationen eine Angleichung des zahlenmäßigen Verhältnisses zwischen Frauen und Männern in der Chirurgie. In den Reihen der Assistenzärzte ist das Geschlechterverhältnis bereits ausgeglichen (Abb. 8).

Einschränkend muss hier beachtet werden, dass sich Assistenzärzte nur unterdurchschnittlich an dieser Umfrage beteiligt haben und die Frage leider nicht ganz eindeutig gestellt wurde. Die hier gefundenen Ergebnisse müssen bei einer Folgeumfrage durch eindeutige Fragestellung geprüft werden.

Abb. 8: Dienststellung männlich/weiblich

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Mitarbeiterkommunikation

Zielvereinbarungsgespräche finden bei zwei Dritteln (63,4 %) der Kolleginnen und Kollegen regelmäßig statt, wobei am häufigsten ein Gespräch pro Jahr angeboten wird. Bei einem Viertel der Antwortenden (26,8 %) existieren außerdem Rückkehrgespräche nach Elternzeit, längerer Krankheit oder Abwesenheit.

77 % der Umfragebeteiligten gaben an, dass es keinen benannten Ansprechpartner für personal- und familienspezifische Fragen gibt.

Unterschiede zwischen den Krankenhaustypen und -trägern ergaben sich bei diesen Fragen nicht. Dass nur in einem Viertel der Abteilungen Ansprechpartner für Familienfragen existieren und ebenfalls nur in einem Viertel der Abteilungen Rückkehrgespräche nach längerer Abwesenheit zeigt, welches Verbesserungspotential in den Kliniken besteht, ohne dass dafür enorme Mittel aufgebracht werden müssten.

Fazit

Die Bedeutung von Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist längst auch in den Krankenhausunternehmen angekommen. Inhalte und Qualität des Werbeslogans „Familienfreundlichkeit“ sind jedoch krankenhausspezifisch, d. h. individuell definiert, und waren bisher nicht transparent. Ein erstes Licht ins Dunkel konnten wir mit der hier vorgestellten anonymen Umfrage bringen.

Je höher die Versorgungsstufe, desto wahrscheinlicher bietet das Krankenhaus Kinderbetreuungsmöglichkeiten an. Allerdings stehen diese Ärztekindern nur eingeschränkt zur Verfügung.

Dreiviertel der Arbeitgeber bieten heute Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse an und reagieren damit flexibel auf die Anforderungen junger Familien, insbesondere von Ärztinnen mit Kindern. So wählen immer mehr Frauen eine chirurgische Karriere, was sich in einer ausgeglichenen Geschlechterverteilung unter den Assistenzärzten wiederspiegelt. Über die nächsten Jahre wird sich dieser Trend auch bei den höheren Dienststellungen fortsetzen.

Die abteilungsinterne Kommunikation mit den Mitarbeitern lässt jedoch noch zu wünschen übrig und bietet erhebliches Verbesserungspotential. Dies gilt bekanntermaßen für die Zielvereinbarungs- und Weiterbildungsgespräche, aber auch für die Klärung personal- und familienspezifischer Probleme. Durch Einrichtung eines permanenten Ansprechpartners in jeder Abteilung kann hier Abhilfe geschaffen werden.

Ausblick

Familienfreundliche Strukturen werden in den kommenden Jahren eine zunehmende Bedeutung beim Wettbewerb um motivierte ärztliche Mitarbeiter spielen. Um hier Transparenz für den chirurgischen Nachwuchs zu schaffen, wurden einige der im Rahmen dieser Erhebung abgefragten Strukturen in den Karrierebereich des Klinik- und Praxisportals „Chirurgie-Suche“ des BDC übernommen.

Unter www.chirurgie-suche.de können sich interessierte Medizinstudenten und Assistenzärzte gezielt über Weiterbildungsangebote und familienfreundliche Strukturen von Krankenhäusern informieren. Je breiter gefächert und je familienfreundlicher die Angebote einer Klinik sind, desto höher der „CS-Index Karriere“, der als roter Balken in der Trefferliste einer Suchanfrage die Kliniken vergleichbar macht.

Mit diesem Portal kommen wir unserer Idee einer Deutschlandkarte der familienfeindlichen Krankenhäuser bereits sehr nahe. In den kommenden Jahren wollen wir mit dem Portal „Chirurgie-Suche“ Transparenz im Markt schaffen und dem chirurgischen Nachwuchs eine sachliche Entscheidungsgrundlage für ihre Karriere- und Stellenwahl bieten (Abb. 9).

Abb. 9: Chirurgie-Suche ‚Karriere’

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Literatur

[1] H. Schneider, I. Gerlach, D. Juncke, J. Krieger: Betriebswirtschaftliche Ziele und Effekte einer familienbewussten Personalpolitik. Forschungszentrum familienbewusste Personalpolitik – Arbeitspapier Nr. 5, ISSN: 1861-5538

[2] E.M. Kinateder: Kinderbetreuung in der Klinik – betriebswirtschaftlich eine gute Entscheidung. Der Chirurg BDC 12/2006, 370-371

Weiterführende Informationen
Webseite des Unternehmensprogramms ‘Erfolgsfaktor Familie’ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Klinikportal des BDC "Chirurgie-Suche"

Seifert J. / Hennes N. / Ansorg J. Familienfreundliches Krankenhaus: Return on Investment. Passion Chirurgie. 2012 November; 2(11): Artikel 02_01.

Editorial: Überwindung von Grenzen und Sektoren: Denkbar, aber auch machbar?

Der chirurgische Lebenslauf ist zwischenzeitlich für viele Kollegen durch Stagnation auf dem Niveau des Oberarztes oder gar Facharztes gekennzeichnet. Die Gründe dafür sind vielfältig und sicher ist es nicht immer primär persönliches Desinteresse an einer Weiterentwicklung. Doch was kann man tun? Schnell fällt bei dieser Frage der Blick ins Ausland und bekanntlich sind die Kirschen in Nachbars Garten ja immer dicker.

Um in die Diskussion etwas Sachlichkeit einzubringen, haben wir auf dem vergangenen Chirurgenkongress eine Sitzung unter dem Motto „Machen was denkbar ist – Beschäftigungsmodelle für Chirurgen im In- und Ausland“ abgehalten. Die rege Diskussion während der gesamten Sitzung zeigt die Relevanz des Themas, weshalb wir es gerne noch einmal für „Passion Chirurgie“ aufgearbeitet haben.

Die meisten der heute tätigen Chirurgen sind in klassisch hierarchischen Klinik-Modellen groß geworden – dessen Vor- und Nachteile sind uns allen bekannt.

Die gravierenden Veränderungen der Krankenhauslandschaft über die letzten Jahre haben allerdings zu neuen Rahmenbedingungen geführt, die das alte System oftmals als „etwas verstaubt“ erscheinen lassen. So ist die Anzahl vorhandener Chefarztstellen in etwa konstant geblieben. Allerdings ist die Position des Chefarztes aufgrund neuer Krankenhausorganisationsstrukturen mit einer in der Regel stark ökonomisch ausgerichteten Geschäftsführungsebene heute bei weitem weniger interessant als noch vor 20 Jahren.

Außerdem stagniert die Karriere Vieler auf dem Niveau des Oberarztes in Folge fehlender Abgänge in andere Bereiche. Angebote für Praxistätigkeiten sind reichlich vorhanden, diese werden allerdings kaum wahrgenommen. Gleichzeitig ist ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen ländlicher und städtischer Arztdichte entstanden, sodass in den ländlichen und kleinstädtischen Bereichen ein Nachwuchsmangel in Krankenhäusern und Praxen zu verzeichnen ist. Unter den Verbliebenen hat sich eine Umkehr des Geschlechterverhältnisses eingestellt, die nun auf der Ebene der Assistenzärzte angekommen ist.

Um das Berufsbild des Chirurgen wieder attraktiver zu gestalten, bedarf es somit auch im Hinblick auf die Karriere der Schaffung attraktiver Alternativen für Fach- und Oberärzte, wodurch das gesamte System wieder „beweglicher“ würde. Dabei müssen die oftmals geäußerten Wünsche der „Nachwuchsgeneration“ ausreichend gewürdigt werden.

Die heutige Situation zeigt, was Umfragen bestätigen: „Selbstständigkeit“ gilt für den Nachwuchs als eher unattraktiv. Vielmehr wird gezielt nach familienfreundlichen Arbeitszeiten, sicheren, d. h. tarifrechtlich geschützten Gehältern und Arbeitsbedingungen gesucht und natürlich sollen die Anforderungen des neuen Geschlechterverhältnisses berücksichtigt werden (Kinderbetreuung etc.).

Für eine solche Entwicklung kommen nur zwei Richtungen in Frage:

Die Neugestaltung der Chefarztebene und die Modifikation im Bereich des ambulanten/stationären Sektors (zunehmende Aufhebung der bisher gesetzlich streng geregelten Sektorengrenzen).

Was ist hier denkbar?

Bezüglich einer Umgestaltung der Chefarztebene ist schnell klar, dass dies im traditionellen deutschen System nicht möglich ist: Die Anzahl verfügbarer Stellen ist konstant oder eher rückläufig, z.B. durch die Zusammenführung von ehemals zwei eigenständigen Fächern Orthopädie und Unfallchirurgie.

Ein Modell, welches diesen Ansprüchen scheinbar nachkommen könnte, wäre ein Kollegialsystem, wie es aus dem Ausland bekannt ist. Da in Systemen mit etablierten Kollegialsystemen selbstverständlich andere Rahmenbedingungen herrschen, stellt sich natürlich die Frage, welche Vorraussetzungen hierfür erfüllt sein müssen. Zweifelsfrei haben aber solche Systeme auch Nachteile, da in flachen Arbeitshierarchien oft Vorbilder fehlen und nur wenige Motivationsreize für eine individuelle Karriere oder Innovationen gesetzt werden.

Aus diesem Grunde wollen wir in den nachfolgenden Artikeln Kollegen zu Wort kommen lassen, die über langjährige Erfahrung in entsprechenden Systemen verfügen: Frau Dr. Merten hat ihre Ausbildung zur Chirurgin in den Niederlanden absolviert, Herr Lutz Koch, MD arbeitet als Consultant Orthopedic Surgeon im Mid Yorkshire NHS Trust. Beide berichten über die persönlichen Erfahrungen, Vorteile und Schwächen von Kollegialsystemen.

Der zweite „Hebel“ des ambulanten Sektors ist unmittelbar mit der sektorübergreifenden Versorgung/integrierten Versorgung verknüpft. Entsprechend der derzeitigen gesundheitspolitischen Förderung solcher Prozesse gibt es einen komplexen ordnungs- und berufspolitischen Rahmen, den der BDC-Justitiar Dr. J. Heberer erläutert.

Bei allen ordnungspolitischen Vorgaben dürfen bei der Gestaltung des ambulanten Sektors aber zwei Dinge nicht auf der Strecke bleiben: die Interessen der Patienten einerseits, andererseits aber auch die aktuellen Bedürfnisse und Wünsche der Ärzte: schließlich sollen diese unter den Bedingungen nicht nur arbeiten, sondern es muss das erklärte Ziel sein, diesen Bereich für die Ärzteschaft wieder attraktiv zu machen (Stichwort Weiterbildung).

Ein unseres Erachtens nach gelungenes Praxis-Klinik Modell wird Dr. P. Kalbe, Rinteln, vorstellen.

Die hier vorgestellten Erfahrungen sollen Anlass zum „Weiterdenken“ sein, welche Entwicklungen zur Schaffung attraktiver Beschäftigungsalternativen vorstellbar sind.

Seifert J. / Hennes N. Überwindung von Grenzen und Sektoren: Denkbar, aber auch machbar? Passion Chirurgie. 2012 Oktober; 2(10): Artikel 01_01.

Rezension: Operationsberichte Unfallchirurgie

Operationsberichte Unfallchirurgie
Hrsg. von Holger Siekmann und Lars Irlenbusch
Springer-Verlag
1st. Edition, 2012, XII, 234 S., 150 Abb., Softcover
ISBN: 978-3-642-20783-9, EUR [D] € 49,95
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Das vorliegende Buch umfasst auf insgesamt 231 Seiten eine kurze Einleitung, in der auf die Wichtigkeit der korrekten ärztlichen Dokumentation, im Besonderen der OP-Dokumentation als Operationsbericht hingewiesen wird, eine Übersicht zur Gliederung von Operationsberichten, Aspekte zur Verschlüsselung des Operationsberichtes sowie juristische Aspekte, die bei der Erstellung eines Operationsberichtes zu berücksichtigen sind und im Weiteren dann beispielhafte Operationsberichte, die nach anatomischen Kriterien gegliedert, den gesamten Bereich der Unfallchirurgie inklusive Weichteilchirurgie der Hand, Schulter und des Kniegelenkes und Fußes berücksichtigen.

Abschließend werden Nachbehandlungsschemata für osteosynthetisch oder anderweitig operativ versorgte Verletzungen der oberen und unteren Extremität dargestellt.

Leider unberücksichtigt bleiben plastische und rekonstruktive Techniken, wie z.B. lokale Muskellappenplastiken und Ringfixateurtechniken sowie die Anlage einer Thoraxdrainage und Eingriffe im Rahmen visceraler Traumata.

Fazit:

Insbesondere in Zeiten zunehmender Arzthaftungsprozesse bietet das Buch als Nachschlagewerk einen strukturierten Einblick in die korrekte Erstellung und Formulierung von Operationsberichten auf dem Gebiet der unfallchirurgischen Extremitäten-, Becken- und Wirbelsäulenversorgung.

Seifert J. Rezension: Operationsberichte Unfallchirurgie. Passion Chirurgie. 2012 Mai; 2(05): Artikel 03_05.