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Chirurgie ohne Grenzen: Ausländische Chirurgen in Deutschland – Deutsche Chirurgen im Ausland

Bericht von der 4. Herbsttagung des Landesverband BDC|Berlin und der ANC Berlin

Im Rahmen der 4. Herbsttagung des BDC|Berlin wurde am 21.11.2018 ein durchaus aktuelles und brisantes Thema im Rahmen einer im wahrsten Sinne des Wortes grenzüberschreitenden Podiumsdiskussion erörtert. Die Teilnehmer der internationalen Podiumsdiskussion waren:

  • •Dr. med. Eva Grogro, Fachärztin für Viszeralchirurgie, Vivantes Klinikum Neukölln, 1,5 Jahre Dänemark
  • Dr. med. Andrea Caletti, Facharzt für Chirurgie, plastische Chirurgie, Zentrum für Brandverletzte, Unfallkrankenhaus Berlin, 3 Jahre in Italien
  • Lutz Koch, FRCS Ed., Consultant Orthopaedic Surgeon, Spire Elland Hospital, West Yorkshire (United Kingdom) seit 15 Jahren in England (via Zoom-Videokonferenz aus England)
  • Dr. med. Andreas Weskott, FA für Chirurgie und Viszeralchirurgie Jönköpings län (Schweden), seit 7 Jahren in Schweden (via Zoom-Videokonferenz aus Schweden)

Bei der von Dr. Ralph Lorenz (1. Vorsitzender des Landesverbandes BDC|Berlin) moderierten Veranstaltung gab er zunächst im Rahmen eines Einführungsreferates einen Überblick über die Situation in Deutschland zu diesem Thema. Entsprechend der Daten aus der Bundesärztekammer steigt der Anteil der ausländischen Ärzte in Deutschland seit ca. zehn bis 15 Jahren kontinuierlich an. 2017 ist der Anteil auf inzwischen 11,8 Prozent angewachsen [2]. Waren es in den 90er Jahren jährlich nur 1.000 Ärzte sind es im Jahr 2017 bereits weit über 4.000 Ärzte, die jährlich nach Deutschland kommen (Abb. 1).

Abb. 1: Entwicklung der ausländischen Ärzte in Deutschland (Quelle: Bundesärztekammer).

Die größte Zuwanderung kam 2017 aus Europa (66,8 %), gefolgt von Asien (22,7 %) und von Afrika (6,8 %). Die wenigsten kamen aus Amerika mit 3,2 %. Dabei kam der größte Zustrom im Jahr 2017 aus:

  • Syrien (+ 737)
  • Rumänien (+ 220)
  • Serbien (+ 177)
  • Ägypten (+ 177)
  • Ukraine (+ 149)
  • Russland (+ 134)

In der Gesamtheit kommt die größte Zahl ausländischer Ärzte in Deutschland derzeit aus:

  • Rumänien (4.505)
  • Syrien (3.632)
  • Griechenland (3.147)
  • Österreich (2.642)

Seit 2015 gibt es bundesweit verpflichtend einen Sprachtest für alle Ausländer, die in Deutschland arbeiten wollen. Laut Medienberichten gibt es dabei jedoch eine nicht unerhebliche Durchfallquote von bis zu 36 % (Sachsen-Anhalt 2017).

Der entgegengesetzte Strom der Abwanderung deutscher Ärzte wird seit 2005 durch die Bundeärztekammer statistisch erfasst. Die Zahlen stagnieren derzeit bzw. sind leicht rückläufig. Im Jahr 2017 sind insgesamt 1.965 Ärzte aus Deutschland abgewandert, wovon der Anteil deutscher Ärzte 59,3 % beträgt. Die derzeitigen Abwanderungszahlen liegen derzeit auf dem Niveau von 2003. Zu den beliebtesten Auswanderungsländern gehörten 2017 erwartungsgemäß die Schweiz (- 641), Österreich (- 268) und die USA (- 84).

Vor welchem Hintergrund findet der wechselseitige Abwanderungsstrom statt?

Beim Vergleich des Studiums und der Weiterbildung in verschiedenen europäischen Ländern fallen bereits erhebliche Unterschiede auf. In fast allen europäischen Ländern bestehen Zulassungsbeschränkungen zum Medizinstudium [1]. Bereits bei den Studiengebühren gibt es erhebliche Unterschiede. Während in einigen Ländern wie Frankreich, Griechenland und Deutschland seit 2015 keine Studiengebühren erhoben werden, gibt es andere Länder, die zum Teil erhebliche Studiengebühren (Großbritannien, Schweiz) erheben. In Griechenland korreliert die höchste Arbeitslosenquote an Ärzten in Europa mit der größten Abwanderung aus Griechenland ins Ausland. In Polen scheint das Studium komplett privat finanziert zu sein, sodass eine chirurgische Weiterbildung sogar als unbezahltes Volontariat möglich und üblich scheint. Das Modell des Common Trunks als Basisweiterbildung ist nur in einigen Ländern umgesetzt. In Deutschland besteht sichtlich ein einzigartiges chirurgisches Weiterbildungssystem mit insgesamt acht chirurgischen Säulen nach dem Common Trunk. Diese scheint in keinem weiteren europäischen Land zu bestehen. Die chirurgische Weiterbildung kann demnach zwischen vier und zehn Jahren betragen.

Tab. 1: Vergleich des Studiums und der Weiterbildung in ausgewählten Ländern Europas [1]

D

CH

Austria

UK

F

Ita

Gr

NL

Pol

Studien-gebühren

Keine seit 2015

1000-8000 CHF/a

727 €/a

10.00 0€/ a

keine

850-1000 €/a

keine

1951 €/a

Privat finanziert

WB Dauer

6 J.

6 J.

6 J.

10 J.

4-5 J.

4-6 J.

6 J.

4 J.

6 J.

Common Trunk

+

+

+

+

Dr. Andrea Caletti, plastischer Chirurg aus dem Brandverletztenzentrum des Unfallkrankenhaus Berlin, berichtet, dass in Italien während der gesamten chirurgischen Weiterbildungszeit an allen Orten gleichermaßen ein Festgehalt von lediglich 1.700 Euro pro Monat gezahlt wird. Die Facharztweiterbildung ist grundsätzlich bis auf wenige Ausnahmen in universitärer Hand. Die Verteilung der Weiterbildungsstätten erfolgt nach einem festgelegten Leistungsprinzip im Land. Besonders herausragende Studenten haben die erste Wahl. Ärzte mit unterdurchschnittlichen Leistungen müssen am Ende das nehmen, was an Weiterbildungsstätten übrig bleibt. Die chirurgische Weiterbildung ist in der Regel nach spätestens sechs Jahren abgeschlossen. In Italien gibt es jedoch keine Facharztprüfung wie bei uns üblich.

Frau Dr. Eva Grogro, Fachärztin für Viszeralchirurgie aus dem Vivantes Klinikum Neukölln, berichtete über ihre anderthalbjährige Erfahrungen in Dänemark. Sie erlebte dort sehr wertschätzende und kollegiale Arbeitsbedingungen. Auch bezüglich der Sprache ist man es in Dänemark gewohnt, mit Ausländern zu kommunizieren, die nicht perfekt dänisch sprechen. Sie wurde dort rasch in das bestehende Team integriert. Besonderes Interesse fand die Tatsache, dass es in Dänemark keine Aufklärung gibt, wie wir es in unseren Kliniken und Praxen alltäglich kennen.

Beim Vergleich der Hierarchiestrukturen berichtete Lutz Koch, Unfallchirurg aus Berlin, der seit 15 Jahren in England lebt und arbeitet, dass in England ein Kollegialsystem besteht. In seiner Klinik in West Yorkshire arbeiten ca. 15 Consultants in der Regel fachspezialisiert. Der Job eines Klinikleiters scheint in England prinzipiell eher unbeliebt zu sein, da dieser meist nur noch administrative Aufgaben erfüllen muss und in der Regel patientenfern arbeitet. Dr. Andreas Weskott, früherer Chefarzt aus Berlin, berichtete aus Schweden über eine ähnliche Situation. Auch in Schweden scheint demnach ein Kollegialsystem mit Teamleitern zu bestehen, die in der Regel fachspezialisiert arbeiten. Der administrative Klinikleiter wird dort sogar nicht selten von Krankenschwestern besetzt. In beiden Ländern scheint die Karrieremöglichkeit somit tendenziell nachrangig zu sein, da es kein starres Hierarchiesystem gibt. Besteht möglicherweise auch ein Zusammenhang zwischen niedrigem Krankenstand der Mitarbeiter in den schwedischen Kliniken und einer höheren Wertschätzung ihrer Arbeit?

Die Verdienstmöglichkeiten waren in England schon vor Jahren sehr gut und mit 110.000 Pfund gegenüber deutschen Einkommensmöglichkeiten überdurchschnittlich. Viele Kollegen in England haben zudem neben ihrer angestellten Tätigkeit sichtlich eine private Praxis als Nebentätigkeit. Auch in Schweden sind die Verdienstmöglichkeiten trotz hoher Steuersätze gut, da es beispielsweise keinerlei Krankenversicherungsbeiträge gibt. Die Krankenversicherung ist in Schweden zu 100 % staatlich finanziert ohne Zuschüsse von Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Jeder Arztbesuch kostet in Schweden ca. 25 Euro, bei chronisch Kranken entfallen allerdings diese Gebühren.

Die Dienstbelastung scheint sowohl in Schweden als auch in Großbritannien deutlich geringer zu sein als vergleichsweise in Deutschland. In England wird in der Regel im Dienst tatsächlich nur bei vital bedrohlichen Situationen nachts operiert. Selbst eine frische Unterschenkelfraktur wird normalerweise zunächst nur ruhiggestellt und am nächsten Tag im Tages-OP-Programm definitiv operativ versorgt.

Dr. Weskott berichtete auch darüber, dass in schwedischen Krankenhäusern ein elektronisches Zeiterfassungssystem besteht. Nach seiner Einschätzung gehen schwedische Ärzte damit grundsätzlich sehr achtsam um und ein Missbrauch scheint tendenziell eher ausgeschlossen zu sein.

In Schweden besteht seit Jahren ein nahezu papierfreier Arbeitsalltag. Patientenakten existieren lediglich elektronisch. Die Schwester auf Station ist dann nur noch mit einem Tablet unterwegs. Für nahezu alles gibt es in Schweden spezielle Teams, sodass die ärztliche Tätigkeit auf die Kernkompetenz beschränkt ist. Verwaltungsaufgaben werden dort auch in der Regel vollständig delegiert. Auch in England scheint man sehr effektiv den Arbeitsalltag über spezialisierte Teams zu gestalten, wie Herr Koch berichtete.

England ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland. Viele Schwestern und Ärzte kommen dabei aus afrikanischen Ländern, vor allem aus Südafrika, aber auch aus Indien und Pakistan. In Schweden und Dänemark ist man es ebenso seit Jahrzehnten gewohnt, ausländische Kollegen zu haben. Nach Dr. Weskotts Eindruck scheinen auch in Schweden ebenso wie in Deutschland die meisten ausländischen Ärzte aus Rumänien zu kommen. In Schweden gibt es offenbar professionelle Agenturen, sogenannte Rekrutierungsgesellschaften, die für Ausländer Arbeitsplätze vorwiegend in skandinavischen Ländern vermitteln. Die ca. zehnfachen Verdienst- und Einkommensmöglichkeiten in Schweden und die deutlich bessere soziale Absicherung bieten dabei eine starke Verlockung.

Zusammenfassend ist der Tenor der Teilnehmer der Podiumsdiskussion:

  1. Die Work-Life-Balance scheint in vielen europäischen Ländern besser zu sein als in Deutschland.
  2. Die alltägliche Arbeits- und Dienstbelastung ist offenbar in anderen europäischen Ländern geringer als in Deutschland.
  3. Aufgehobene Hierarchiestrukturen im Sinne eines Consultant-Modells, wie sie in vielen europäischen Ländern inzwischen üblich sind, führen durchaus zu einer höheren Zufriedenheit bei den Chirurgen und werden auch vom Patienten geschätzt.

An dieser Stelle sei eine recht politische Frage gestattet: Wie sieht die medizinische Versorgung nach Weggang der Ärzte aus Ländern wie beispielsweise Rumänien aus? Besteht nicht bereits jetzt dort eine eklatante Unterversorgung? Das Thema „Brain Drain“, der Weggang der Akademiker aus geringer entwickelten und vermögenden Ländern, wurde bisher vorwiegend nur für Afrika diskutiert, sichtlich scheint es aber inzwischen ein innereuropäisches Problem zu werden. Bei aller in Deutschland geschätzten Internationalisierung und Globalisierung muss man sich am Ende fragen, welche Mitverantwortung haben wir für dieses globale und auch europäische Ungleichgewicht?

Literatur

[1] Seifert J et al. Chirurgische Aus- und Weiterbildung bei uns und unseren Nachbarn Passion Chirurgie 04/2017

[2] www.bundesärztekammer.de (Zugriff 20.11.2018)

Lorenz R, Grogro E, Caletti A, Koch L, Weskott A: Chirurgie ohne Grenzen: Ausländische Chirurgen in Deutschland – Deutsche Chirurgen im Ausland. Passion Chirurgie. 2019 Januar, 9(01): Artikel 03_02.

Die HERNIENSCHULE

Hernienchirurgische Weiterbildung mit internationalem Modellcharakter

Hernienoperationen zählen weltweit zu den häufigsten Operationen in der Allgemein- und Viszeralchirurgie [1]. Durch die Einführung endoskopischer Operationstechniken und die weltweite Verwendung von Kunststoffimplantaten hat sich die Hernienchirurgie inzwischen zu einem eigenständigen Fachgebiet der Allgemein- und Viszeralchirurgie entwickelt. Trotz kontinuierlicher Weiterentwicklung der Operationstechniken konnten bis heute jedoch die Problemfelder – Rezidive und chronische Schmerzen in Folge von Hernienoperationen – noch nicht beseitigt werden [3–7]. Der Einfluss des Chirurgen auf die Ergebnisqualität scheint heute unbestritten [8-10]. Die Weiterbildung junger Chirurgen stellt vor diesem Hintergrund eine besondere Herausforderung dar.

Die Gründe hierfür liegen vor allem in der:

  • Methodenvielfalt [13]
  • Forderung nach individualiserten Therapiekonzepten
  • fehlenden Standardisierung der neuen Operationstechniken [12]
  • rasante Weiterentwicklung der verwendeten Materialien (Kunststoffnetze und Fixationssysteme) [13]
  • häufig komplexen Operationen
  • Verschiebung einfacherer Operationen in das ambulante Setting [13] und
  • fehlenden Weiterbildungsstandards [11, 12, 14].

Insbesondere bei endoskopischen Eingriffen scheint die Lernkurve besonders lang zu sein [15]. Eine weitere Herausforderung für die künftige Weiterbildung stellt jedoch die Tatsache dar, dass bestimmte Operationstechniken im heutigen Alltag scheinbar nahezu verschwunden sind und somit auch nicht an die nächste Generation vermittelt werden können. Bereits im Rahmen von anonymisierten TED-Umfragen z. B. bei bisherigen Kursen und den Hernientagen scheinen hier besonders die netzfreien Techniken auch bei den Chirurgen selbst mehr nachgefragt zu werden als sie derzeit in der chirurgischen Realität angeboten werden.

Heutzutage bestehen neben der chirurgischen Weiterbildung mittels Demonstrationen und Supervisionen zahlreiche weitere methodische Trainingsmöglichkeiten wie E-Learning, Videos, Simulation-Based- und Hands-On-Kurse, Simulationsmodellen und anderen virtuellen Technologien [15, 19-26].

Analyse des Weiterbildungsbedarfs

2014 hat die Deutsche Herniengesellschaft in Kooperation mit dem Berufsverband der Deutschen Chirurgen eine breit angelegte Online-Umfrage unter den Chirurgen zur Zukunft der hernienchirurgischen Weiterbildung durchgeführt. Insgesamt 1.296 Chirurgen in Deutschland haben an dieser Befragung teilgenommen. Die überwiegende Mehrheit (mehr als 80 %) der Befragten hält die Etablierung einer systematischen, stufenweisen und standardisierten Weiterbildung für sinnvoll bzw. sehr sinnvoll.

Entwicklung der Hernienschule

Aufgrund der Analyse des Weiterbildungsbedarfes entwickelte die DHG in Zusammenarbeit mit dem BDC in Deutschland die Hernienschule. Diese beinhaltet die drei Module Hernie Kompakt, Hernie konkret und Hernie komplex. Alle Kursmodule sind überwiegend praktisch orientiert.

Der dreitägige Basiskurs Hernie kompakt richtet sich vor allem an chirurgische Weiterbildungsassistenten, ist jedoch auch für erfahrene Chirurgen geeignet, die ein grundlegendes Update auf dem Gebiet der Hernienchirurgie erhalten möchten. Hernie kompakt beinhaltet die folgenden Bausteine (Tab.1):

Tab.1: Hernie kompakt Bausteine

Tag

Inhalte

Ort

1

  • Anatomie Grundlagen
  • Pelvitrainer-Übungen
  • Sonografie der Hernien
  • Kadaver-Operationen in Kleingruppen

Anatomisches Institut/Universität

2

Hands-On-Kurs im OP in Kleingruppen

ca.10 regionale Hospitationszentren

3

Theorie: State-of-the-Art-Lectures durch international renommierte Hernienexperten

Kongresszentrum

Seit 2011 wurden in Deutschland und seit 2014 auch in Österreich die Basiskurse Hernie kompakt für jeweils 50 Teilnehmer etabliert. Die deutschsprachigen Basiskurse fanden bisher jährlich wechselnd in Berlin, Hamburg, Köln und München sowie in Salzburg in Österreich statt. Durch Anbindung dieser Hernie kompakt Kurse an große Hernienveranstaltungen ist es gelungen, dass mehr junge Chirurginnen und Chirurgen an großen Hernienkongressen teilnehmen und somit frischen Wind in die Hernienchirurgie bringen.

Hernie kompakt steht unter Schirmherrschaft zahlreicher chirurgischer Verbände wie DHG, BDC, BNC, DGCH und DGAV und wird seitens der regionalen Ärztekammern zertifiziert. Begleitend zum Kurs erhalten alle Kursteilnehmer ein ausführliches Skript und voraussichtlich ab 2019 das begleitende Buch zur Hernienschule. Alle Teilnehmer des Hernie kompakt -Kurses erhalten auf Wunsch eine einjährige kostenfreie Mitgliedschaft in der DHG und somit auch einen Online Zugang zur Zeitschrift „Hernia“.

Die weiteren Stufen der Hernienschule konnten mit dem Modul Hernie konkret seit 2016 und Hernie komplex seit 2018 in Deutschland etabliert werden.

Hernie konkret richtet sich vor allem an Fachärzte für Chirurgie und soll in speziellen Operationstechniken weitergehende vor allem praktische Kenntnisse und Standards vermitteln. Das Modul Hernie konkret beinhaltet 1,5-tägige Hospitationen in renommierten Hernienzentren in den drei Themengebieten:

  • offene Leistenhernienchirurgie (SHOULDICE, DESARDA, LICHTENSTEIN, TIPP)
  • endoskopische Leistenhernienchirurgie (TAPP, TEP)
  • offene und endoskopische Ventralhernienchirurgie (Sublay, IPOM, MILOS)

Hernie komplex wird erstmals mit einem theoretischen Teil am 21. Juni 2018 anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Herniengesellschaft in Hamburg angeboten. Dieses Modul besteht aus einem theoretischen Teil sowie praktischen Hospitationen und richtet sich vor allem an Fachärzte mit speziellem Interesse an der Hernienchirurgie. Dabei sollen vor allem folgende Themengebiete besonders berücksichtigt werden:

  • Rezidivhernien und Mehrfachrezidive,
  • Chronische Schmerzen,
  • Komplexe und Loss-of-Domain- Hernien inkl. Komponentenseparation,
  • Parastomale Hernien und
  • Infekt- und Komplikationsmanagement.

Evaluation der bisherigen Kurse

Aufgrund der bisher fehlenden Erfahrungswerte nimmt die kontinuierliche Evaluation der Kursmodule einen wesentlichen Anteil für die Weiterentwicklung dieser Kurse ein. Zusätzlich führt eine systematische Befragung der Kursteilnehmer zu einer kontinuierlichen Anpassung der Kursinhalte an die künftigen Bedürfnisse. Die Evaluation der bisherigen Kurse zeigte, dass sowohl theoretische Kenntnisse als auch praktische Fähigkeiten der Kursteilnehmer durch diese Weiterbildungskurse deutlich verbessert werden können.

Internationaler Modellcharakter

International wurde der Basiskurs seit 2014 auch in Salzburg/Österreich in zweijährigem Turnus umgesetzt. 2017 fand der erste englischsprachige Hernia-Compact-Course im Rahmen des Europäischen Hernienkongress in Wien statt. Das Hernie kompakt -Konzept ist inzwischen ein wichtiger Baustein der European Hernia School der Europäischen Herniengesellschaft (EHS). Mehrere Europäische Länder haben großes Interesse einen gleichartigen Hernien-Basiskurs in ihren Ländern zu entwickeln. Somit ist Hernie kompakt inzwischen ein hernienchirurgischer Weiterbildungskurs mit internationalem Modellcharakter.

Nächste Kurse

  • Die nächsten Hernie kompakt-Kurse finden vom 22. bis 24. Oktober 2018 in Salzburg/Österreich und vom 22. bis 24.Januar 2019 in Berlin statt.
  • Ein englischsprachiger Hernia-Compact-Course ist begleitend für den Europäischen Hernienkongress im September 2019 in Hamburg vorgesehen.
  • Alle Informationen zu den Hernie konkret-Kursen finden Sie auf der Homepage der BDC-Akademie.
  • Hernie komplex wird erstmals am 21.Juni 2018 in Hamburg stattfinden.

Informationen und Anmeldung…

Stechemesser B, Reinpold W, Lorenz R. Die Hernienschule – Hernienchirurgische Weiterbildung mit internationalem Modellcharakter. Passion Chirurgie. 2018 April, 8(04): Artikel 03_02.

Literaturliste zum Download

Editorial: Hernienchirurgie

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

die Hernienchirurgie hat sich in den letzten Jahrzehnten aufgrund der Vielzahl der Methoden und Materialien sowie durch den Anspruch an ein individualisiertes Vorgehen zu einem eigenständigen Gebiet innerhalb der Allgemein- und Viszeralchirurgie entwickelt. Durch die Häufigkeit wird sie dennoch in vielen Kliniken und zahlreichen Praxen in der täglichen Routine für die Patienten angeboten. Gleichzeitig steigt der Qualitätsanspruch seitens der Patienten fortwährend. Für jeden einzelnen Chirurgen ist es eine große Herausforderung geworden den kontinuierlichen Wissenszuwachs zu verfolgen und das eigene Vorgehen ggf. immer wieder anzupassen.

Vor diesem Hintergrund ist das seit 2009 bestehende Deutsche Hernienregister Hernia­med ein wesentlicher Baustein zur Reflektion des täglichen Handelns geworden. Es hat sich zwischenzeitlich mit mehr als einer halben Million Patientendatensätze zur weltweit größten Datensammlung über Hernienchirurgie entwickelt. Dies belegen auch zahlreiche wissenschaftliche Publikationen der jüngsten Zeit. Durch dieses Register wurde eine hervorragende Möglichkeit geschaffen, wichtige Fragen des Alltags zu beantworten. Darüber hinaus können aber auch neue tiefere Einblicke gewonnen werden, die durch wissenschaftliche Studien bisher nicht abgebildet werden konnten. So verhält es sich auch mit den Kenntnissen über die Notfälle in der Hernienchirurgie: Die Erkenntnisse aus den Daten der Versorgungsrealität ermöglichen es uns als Chirurginnen und Chirurgen präzisere Risikoabschätzungen vorzunehmen und Indikationen zu Operationen kritisch zu hinterfragen.

Die nächste Generation Chirurginnen und Chirurgen wird sich künftig auch aufgrund des veränderten Zeitgeistes frühzeitig fachlich spezialisieren. Hier gilt es, neue Angebote für den Nachwuchs zu schaffen. Die Hernienchirurgie wird dabei sicher nur ein Aspekt sein, könnte jedoch exemplarisch wirken. Eine in Zusammenarbeit des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen (BDC) und der Deutschen Herniengesellschaft (DHG) entwickelte modulare HERNIENSCHULE stellt eine vor allem praktisch orientierte Hilfestellung für die Weiterbildung dar. Das Konzept der HERNIENSCHULE konnte in den letzten Jahren erfolgreich weiterentwickelt werden und besitzt schon heute auch internationalen Modellcharakter.

Weiterbildung in der Hernienchirurgie ist jedoch nicht nur ein nationales, sondern auch ein globales Problem. Es gilt auch in Afrika mit standardisierten Ausbildungskonzepten den Nachwuchs für die Chirurgie zu begeistern. Mit einem Artikel über ein nachhaltiges humanitäres Projekt in Ruanda wollen wir den Blick über den Tellerrand wagen.

Die Chirurgie bleibt spannend und ist für viele von uns eine Passion!

Ich wünsche Ihnen viel Spaß an dieser neuen Ausgabe der Passion Chirurgie mit dem Schwerpunkt Hernien.

Ihr
Ralph Lorenz

Lorenz R: Editorial. Hernienchirurgie. Passion Chirurgie. 2018 April; 8(04): Artikel 01.

PASSION CHIRURGIE Ausgabe April 2018

Herniennotfälle – wer ist tatsächlich gefährdet?

Bei jeder Diagnosestellung einer Hernie wird im Rahmen der Operationsaufklärung vom Chirurgen auf die Gefahr einer Einklemmung (Inkarzeration) der Bauchorgane hingewiesen. Typische Komplikationen der Einklemmung stellen Ileus und Darmwandperforationen dar. Vor diesem Hintergrund ist es tägliche Praxis bei der Diagnosestellung einer Hernie sofort zu einer Operation zu raten. Dementgegen warten doch zahlreiche Patienten bisweilen Jahre bis sie sich zu einer Operation entschließen. In den letzten Jahren wurde insbesondere bei jüngeren Patienten mit asymptomatischen Leistenhernien die Option Watchful Waiting diskutiert (Fitzgibbons 2006, O´Dwyer 2006). In weiteren Nachuntersuchungen wurde jedoch ebenso festgestellt, dass die Mehrheit der asymptomatischen Patienten in den ersten zwei Jahren nach Diagnosestellung doch Beschwerden entwickelten und daraufhin auch operiert wurden (Fitzgibbons 2013).

Wir haben die Daten des Deutschen Hernienregisters Herniamed im Jahr 2017 analysiert, um zu prüfen wie hoch die Notfallgefahr tatsächlich ist und insbesondere welche Patientengruppen und welche Hernienarten besonders gefährdet sind.

In der wissenschaftlichen Literatur findet man zahlreiche Fallberichte oder Fallserien über Inkarzerationen insbesondere bei seltenen Hernien wie beispielsweise Obturatorhernien, Spieghel´Hernien, Bochdalek´Hernien und Lumbale Hernien. Primäre Ventralhernien scheinen entsprechend einer ersten Analyse der Herniamed-Daten 2014 deutlich häufiger von Notfalleingriffen betroffen zu sein als Leistenhernien. Der Anteil an Notfalleingriffen mit Darmbeteiligung ist jedoch bei allen Hernien äußerst gering (Tab.1).

Tab. 1: Notfalleingriffe bei primären Hernien (Herniamed Daten 2014)

Hernienart

Notfälle

Notfälle mit Darmbeteiligung

Inguinal

3,06 %

0.30 %

Umbilical

7,67 %

0.36 %

Epigastrisch

7,88 %

0.32 %

Alle Hernien

4,06 %

0.38 %

In einer detaillierten Untersuchung haben wir 2017 die Herniamed-Datensätze von 212.591 Leistenhernien-Patienten mit komplettem ein-Jahres Follow-Up statistisch ausgewertet. Dabei haben wir alle Notfalleingriffe mit den Elektiveingriffen sowohl bei Frauen als auch bei Männern miteinander verglichen.

Bei Leistenhernien besteht demnach ein Anteil von ca. 2,5 Prozent Notfalleingriffen. Dies deckt sich mit internationalen Daten. Es bestehen jedoch erhebliche Geschlechtsunterschiede. Das Notfallrisiko scheint bei Frauen erheblich höher zu sein als bei Männern. Der Notfalleingriffsanteil liegt bei Frauen mehr als fünf Mal so hoch wie bei Männern (Tab.2).

Tab.2: Geschlechtsverteilung der Notfalleingriffe bei Leistenhernien

Männer

Frauen

Leistenhernien

N

%

N

%

Elektiveingriffe

183.901

98,4

23.481

91,9

Notfalleingriffe

3.135

1,6

2.074

8,1

Aber welche Hernienpatienten und Hernienarten sind besonders betroffen?

Im direkten Vergleich von Elektiv- und Notfalleingriffen fällt auf, dass überwiegend ältere Patienten bei Notfällen betroffen sind (Abb.1, 2).

a. Elektiveingriffe

b. Notfalleingriffe

Abb. 1: Altersverteilung bei a. Elektiv- und b. Notfalleingriffen bei Männern

a. Elektiveingriffe

b. Notfalleingriffe

Abb. 2: Altersverteilung bei a. Elektiv- und b. Notfalleingriffen bei Frauen

Es zeigt sich bei Frauen, dass fast die Hälfte der Notfälle durch femorale Hernien hervorgerufen wird (Abb.4). Bei Männern sind die größten Unterschiede zwischen Elektiv- und Notfalleingriffen bei Skrotal- und Femoralhernien zu verzeichnen (Abb.3). Die weiteren Statistiken zeigen auch dass die Herniengrößen bis drei Zentimeter häufiger zu Notfällen führen als größere Bruchlückendurchmesser.

a. Elektiveingriffe

b. Notfalleingriffe

Abb. 3: Vergleich der Hernienarten bei Elektiv- und Notfalleingriffen bei Männern

a. Elektiveingriffe

b. Notfalleingriffe

Abb. 4: Vergleich der Hernienarten bei Elektiv- und Notfalleingriffen bei Frauen

Welche Vorteile bestehen bei offenem oder endoskopischem Vorgehen?

Grundsätzlich bietet der offene Zugangsweg zwar einen einfachen und sicheren Zugangsweg jedoch ist eine Beurteilung des Darmes bei endoskopischem Vorgehen deutlich besser möglich. Ebenso ist eine Reposition des Darmes aus der Bruchpforte unter visueller Kontrolle ein eindeutiger Vorteil des endoskopischen Zugangsweges.

Wie werden Notfallhernien in Deutschland operativ versorgt?

Werden die Vorteile des endoskopischen Zugangs in der täglichen Routine tatsächlich genutzt? Die Realität scheint hier entgegengesetzt zu sein. In Deutschland werden Notfalleingriffe häufiger offen operiert und auch auffällig häufig ohne Netz operiert (Tab. 3, 4).

Tab. 3: Verteilung der Operationsmethoden bei Notfall- und Elektiveingriffen bei Männern

Notfalleingriffe

Elektiveingriffe

N

%

N

%

TAPP

770

23,4

105.373

46,4

TEP

294

8,9

67.684

29,8

Lichtenstein

1.732

52,6

44.881

19,8

Shouldice

141

4,3

2.416

1,1

Plug

38

1,2

1.740

0.7

Bassini

73

2,2

132

0,06

GILBERT

6

0,2

2.290

1,0

TIPP

21

0,6

986

0,4

Bruchsackverschluss

78

2,4

0

0

Sonstige

137

4,2

1.701

0,7

3.290

227.203

Tab. 4: Verteilung der Operationsmethoden bei Notfall- und Elektiveingriffen bei Frauen

Notfalleingriffe

Elektiveingriffe

N

%

N

%

TAPP

557

25,9

12.651

47,3

TEP

137

6,4

6.578

24,6

Lichtenstein

556

25,9

5.067

18,9

Shouldice

118

5,5

1.049

3,9

Plug

47

2,2

251

0,9

Bassini

65

3,0

113

0,4

GILBERT

4

0,2

275

1,0

TIPP

32

1,5

247

0,9

Bruchsackverschluss

147

6,8

0

0

Sonstige

483

22,5

539

2,0

2.146

26.770

In zahlreichen wissenschaftlichen Studien wird der Einsatz von Fremdmaterialien selbst im Falle von Dünndarmresektionen empfohlen (Kamtoh 2014, Wysocki 2014, HerniaSurge 2018). Dennoch verhalten sich die deutschen Chirurgen derzeit bei Notfällen zurückhaltender bezüglich der Verwendung von Fremdmaterialien. Notfalleingriffe sollten entsprechend den aktuellen HerniaSurge Leitlinien stets unter Single-Shot-Antibiose erfolgen (HerniaSurge 2018).

Zusammenfassung

Der Anteil der Notfalleingriffe bei Leistenhernien liegt bei ca. 2,5 Prozent. Primäre Ventralhernien, wie epigastrische und Nabelhernien haben einen Anteil von über 7 Prozent.

Notfälle treten besonders häufig auf …

  • bei Frauen
  • im höheren Lebensalter
  • und bei femoralen Hernien

Die Vorteile der Laparoskopie im Rahmen der Notfalleingriffe werden derzeit in Deutschland noch nicht genutzt.

Nach den derzeitigen wissenschaftlichen Daten ist der Einsatz von Netzmaterialien auch bei Notfalleingriffen selbst mit Dünndarmresektion möglich. Notfalleingriffe sollten immer unter Single-Shot-Antibiose erfolgen.

Literatur

Fitzgibbons RJ, Giobbie-Hurder A, Gibbs JO et al. Watchful waiting vs repair of inguinal hernia in minimally symptomatic men: a randomized clinical trial. JAMA. 2006;295(3):285-292.

Fitzgibbons RJ Jr, Ramanan B, Arya S, Turner SA, Li X, Gibbs JO, Reda DJ. Long-term results of a randomized controlled trial of a nonoperative strategy (watchful waiting) for men with minimally symptomatic inguinal hernias. Ann Surg. 2013 Sep;258(3):508-15.

HerniaSurge Group. International guidelines for groin hernia management. Hernia. 2018 Jan 12: 1-165. doi: 10.1007/s10029-017-1668-x. [Epub ahead of print] PMID: 29330835

Kamtoh G Effectiveness of mesh hernioplasty in incarcerated inguinal hernias.Wideochir Inne Tech Malo Inwazyjne.2014 Sep;9(3):415-9.

O´Dwyer PJ, Norrie J, Alani A, Walker A, Duffy F, Horgan P. Observation or operation for patients with an asymptomatic inguinal hernia: a randomized clinical trial. AnnSurg. 2006;244(2):167-173.

Wysocki A, Short- and long-term outcomes of incarcerated inguinal hernias repaired by Lichtenstein technique, Wideochir Inne Tech Malo Inwazyjne.2014 Jun;9(2):196-200

Lorenz R, Köckerling F: Herniennotfälle – wer ist tatsächlich gefährdet? Passion Chirurgie. 2018 April, 8(04): Artikel 03_01.

Hernienschule für Afrika

Bericht vom 2. Hernia Basic Kurs in Kigali und Rwamagana in Ruanda

Hernien gehören zwar weltweit zu den häufigsten chirurgischen Erkrankungen, dennoch bestehen erhebliche nationale Unterschiede in der operativen Versorgung von Hernien. Während in Europa und Nordamerika nahezu alle Patienten mit Hernien operativ versorgt werden, so können in vielen – vor allem auch afrikanischen Ländern – aufgrund der fehlenden Kapazitäten nur ein Bruchteil (vermutlich weniger als 10 Prozent) operativ versorgt werden. Zudem werden Leistenhernien-Patienten in Afrika noch heute in den meisten Fällen operativ in der Technik nach Bassini versorgt.

Die operative Versorgung mit Kunststoffnetzen ist seit mehr als 20 Jahren zunehmend weltweit etabliert und wird in den evidenzbasierten Leitlinien empfohlen. Für bestimmte Situationen sind durchaus auch heute noch kunststoffnetz-freie Operationsverfahren sinnvoll. Unabhängig von der medizinischen Indikation für oder gegen ein Netzverfahren sind in vielen afrikanischen Krankenhäusern Kunststoffnetze aufgrund vergleichsweise hoher Kosten jedoch häufig nicht verfügbar.

Vergleicht man allein die Anzahl der chirurgischen Fachärzte in Afrika mit denen in Europa und Nordamerika muss man die Situation in vielen Ländern Afrikas als geradezu dramatisch einschätzen. Ein Hundertstel an Chirurgen (gemessen an der Anzahl in Europa) muss sich in den meisten Ländern Afrikas in der Regel nicht nur mit chirurgischen Problemen befassen, sondern häufig auch benachbarte Fachdisziplinen wie Gynäkologie, Urologie, Unfallchirurgie und Orthopädie übernehmen.

Aufgrund der fehlenden Ressourcen in vielen afrikanischen Staaten kommt einer standardisierten fachspezialisierten Weiterbildung der regionalen Chirurgen eine ganz besondere Bedeutung zu.

Entwicklung des standardisierten Hernia-Basic-Kurses

Die Hilfsorganisationen OperationHernia und Chirurgen für Afrika entwickelten 2016 gemeinsam einen standardisierten Weiterbildungskurs für junge Chirurgen in Afrika.

Dieser spezifisch auf die Bedürfnisse in afrikanischen Ländern entwickelte Hernia-Basic-Kurs besteht aus einem zweitägigen theoretischen Teil und einem 5-tägigen praktischen Teil.

Die Teilnehmerzahl ist auf 20 Chirurgen je Kurs begrenzt, um ein möglichst intensives Training zu ermöglichen. Der theoretische Teil wird in der Regel in einem zentral gelegenen überregionalen Krankenhaus oder einer der Universitäten des Landes veranstaltet. Dabei werden folgende Themen abgehandelt:

  • Nationale Epidemiologie
  • Anatomie der Leistenregion und der Bauchwand
  • Evidenz Pure-Tissue-Repair
  • Evidenz Mesh-Repair
  • Lokalanaesthesie
  • Videodemonstration Shouldice Repair
  • Videodemonstration Lichtenstein Repair
  • Kindliche Hernien
  • Ventralhernien
  • Komplikationsmanagement

Im 5-tägigen praktischen Teil werden standardisierte Hernien-Operationen in Kleingruppen (3 bis 4 Weiterbildungsassistenten je Tutor) in verschiedenen Referenzkrankenhäusern des Landes durchgeführt. Dabei sind verschiedene Stufen der Lehrassistenz klar definiert (Abb.1).

Abb. 1: Trainingsstufen der Lehrassistenz

Inhaltlich liegt der Fokus des praktischen Kursteils auf folgenden Operationstechniken:

  • Versorgung von kindlichen Hernien mit Bruchsackresektion
  • Durchführung der Lokalanästhesie
  • Standardisiertes Shouldice Repair
  • Standardisiertes Lichtenstein Repair

Wesentlicher Bestandteil des Kurses ist eine kontinuierliche Evaluation aller Inhalte. Dabei werden sowohl Trainees als auch Trainer gegenseitig bewertet. Nach Abschluss des Kurses werden alle Teilnehmer durch die Trainer beurteilt, welche Kompetenz sie im Rahmen des Kurses erreicht haben (Abb. 2).

Afrikanische Hernien sind in der Regel mit europäischen nicht zu vergleichen. Es besteht in Afrika ein deutlich höherer Anteil an Notfalleingriffen mit Einklemmungen und Inkarzerationen. Viele, vor allem junge Patienten haben überwiegend indirekte bis skrotale, bisher nicht operierte kindliche Hernien. Häufig sind diese auch mit einer Hydrozele assoziiert. In vielen Fällen ist bei diesen Konstellationen ein netzfreies Operationsverfahren eine sinnvolle Alternative.

Abb. 2: Kompetenzstufen zur Durchführung von Operationen

Umsetzung

Die Chirurgen für Afrika führen gemeinsam mit der britischen Organisation OperationHernia seit 2014 jährlich humanitäre Einsätze in verschiedenen Krankenhäusern Ruandas durch. Im Jahr 2016 und 2017 wurden oben beschriebene Hernia-Basic-Kurse in Ruanda veranstaltet.

Ruanda, das Land der Tausend Hügel, ist eines der bevölkerungsdichtesten Staaten Afrikas mit knapp 12 Millionen Einwohnern auf einer Fläche die den deutschen Bundesländern Hessen oder Rheinland-Pfalz und Saarland zusammen entspricht. Das Gesundheitssystem in Ruanda wurde in den letzten Jahren in mancherlei Hinsicht mustergültig entwickelt. Nahezu jeder Einwohner Ruandas ist mit einem minimalen Geldbetrag krankenversichert und hat somit Zugang zu einer medizinischen Versorgung. Für diese 12 Millionen Einwohner in Ruanda gibt es allerdings lediglich ca. 60 Chirurgen!

Die Koordination der humanitären Einsätze der Chirurgen für Afrika in Ruanda übernahm Pastor Osee Ntavuka von der Hilfsorganisation Rwanda Legacy of Hope, der auch den Kontakt zum Gesundheitsministerium in Ruanda herstellte. Der Hernia-Basic-Kurs wurde seit 2016 als nationaler Weiterbildungskurs anerkannt und mit insgesamt 35 CPD Credits = Weiterbildungspunkten zertifiziert.

AUF 12 MILLIONEN MENSCHEN KOMMEN CA. 60 CHIRURGEN!

Dank der großzügigen finanziellen Unterstützung durch die Rotariervereinigung „Zitadelle Spandau“ in Berlin konnte am Provincial Krankenhaus in Rwamagana bereits im Jahre 2016 ein Weiterbildungszentrum für Hernienchirurgie ausgestattet werden.

2017 fand der theoretische Teil des Hernia-­Basic-Kurses erstmals an der Universität CHUK in Kigali statt. Daran anschließend wurden je sieben Trainees am CHUK in Kigali und im Provincial Hospital in Rwamagana eine Woche lang praktisch unterrichtet. In drei weiteren Distrikt-Krankenhäusern (Gahini, Kigeme und Kilinda) wurden weitere lokale Ärzte gezielt hernienchirurgisch weitergebildet. Das 32-köpfige Deutsch-Britische Team bestand aus Chirurgen, Anästhesisten, Anaethesie-Schwestern und OP-Schwestern und hat in den beteiligten Krankenhäusern die regionalen OP-Teams nicht nur chirurgisch aus- und weitergebildet. Alle Trainees haben innerhalb dieser Weiterbildungswoche zahlreiche Hernieneingriffe selbstständig und unter unserer Supervision durchgeführt. Alle Operationen verliefen komplikationslos und jeder operierte Patient konnten noch während unseres Aufenthaltes nach Hause entlassen werden. Am Ende des Hernia-Basic-Kurses konnten nahezu alle Trainees Leistenhernien-Operationen selbstständig oder unter geringer Supervision durchführen. Alle Kursteilnehmer erhielten über einen externen Datenzugang Videos, alle Präsentationen des Kurses, wissenschaftliche Literatur und zusätzliches Informationsmaterial. Zusätzlich wurde erneut zahlreiches medizinisches Equipment zum Verbleib nach Ruanda transportiert.

Das mediale Interesse an dem diesjährigen Einsatz war erneut beeindruckend. Sowohl das Fernsehen sowie einige Zeitungen berichteten im Verlauf der Woche über diesen Workshop. Während des Einsatzes ist ein kurzer Dokumentarfilm mit dem Titel „Participatience“ des Filmemachers Felix Vollmann entstanden.

Kurz vor der Abreise erhielt ich als Leiter des Deutschen Teams noch die Möglichkeit mit der amtierenden Gesundheitsministerin Ruandas, Fr. Dr. Diane Gashumba zusammenzukommen und ihr persönlich unser Projekt vorzustellen.

https://www.youtube.com/watch?v=Kcvhh4p4Cc0

Dank

Den ungeheuerlichen Enthusiasmus und Wissensdurst der jungen Chirurgen erleben zu dürfen war sicher eine der eindrucksvollsten Erfahrungen (Abb.3). Innerhalb der kurzen gemeinsamen Zeit ist eine sehr persönliche und kollegiale Partnerschaft entstanden.

Abb. 3: Feedback Kommentar eines Kursteilnehmers: „…thank you to renew my enthusiasm and broaden my mind…”

Ohne das selbstlose Engagement aller Freiwilligen wäre solch ein nachhaltiger Einsatz undenkbar. Der Fluggesellschaft Brussels Airlines, die uns bei Buchung/Umbuchung und Durchführung des Transportes unkompliziert und großzügig unterstützte, sei besonders gedankt. Wir danken dem Botschafter Ruandas in Deutschland, seiner Exzellenz Herrn Igor Cesar sowie seinen Mitarbeitern für die konstruktive und unkomplizierte Unterstützung. Last but not least gilt ein besonderer Dank allen privaten und kommerziellen Spendern, ohne deren finanzielle Unterstützung das ganze Projekt undenkbar wäre.

Ausblick

Für 2019 ist ein erneuter Einsatz in Ruanda geplant. Dann soll neben einem erneuten Hernien-Basiskurs zusätzlich ein Aufbaukurs für alle bisherigen Teilnehmer und alle fortgeschrittenen Chirurgen stattfinden.

Darüber hinaus bestehen derzeit Verhandlungen mit weiteren afrikanischen Ländern, um dieses nachhaltige hernienchirurgische Kurskonzept in weiteren Ländern zu etablieren.

Literatur erhalten Sie via lorenz@3chirurgen.de beim Verfasser.

Lorenz R, Lechner M, Frunder A: Hernienschule für Afrika. Passion Chirurgie. 2018 April, 8(04): Artikel 09.

CME-Artikel: Leistenhernien bei Frauen

„One fits all“ oder doch maßgeschneiderte OP?

Leistenhernien finden sich zwar bei Frauen deutlich seltener als bei Männern, dennoch kann davon ausgegangen werden, dass in Deutschland pro Jahr mehr als 30.000 Leistenhernien-Operationen bei Frauen vorgenommen werden.

Die Analyse der vorhandene Literatur bringt erstaunliches zutage: Es existieren weder Metaanalysen noch randomisierte Studien – explizit über Leistenhernien bei Frauen. Die derzeitigen Behandlungsempfehlungen und Leitlinien beruhen auf Subgruppenanalysen von epidemiologischen Studien vor allem der skandinavischen Hernienregister. Vor diesem Hintergrund haben wir die vorhandenen Daten mit denen aus dem deutschen Hernienregister Herniamed mit über 26.000 Leistenhernien-Operationen von Frauen verglichen.

Wie häufig sind die Leistenhernien bei Frauen und welches Alter betreffen sie? Welche Hernientypen sind besonders häufig und wie häufig sind dabei Notfalleingriffe?

Sowohl in der Literatur als auch in den Herniamed-Daten wird ein Verhältnis Männer zu Frauen von ca. 9:1 angegeben. Die Mehrheit der Leistenhernien bei Frauen treten in einem Alter ab 50 Jahren auf (Abb. 1, 2 und Tab. 1). Sowohl bei Primärhernien als auch bei ­Rezidivhernien treten 70 % der Leistenhernien erst bei Frauen über 50 Jahren auf.

 

OEBPS/images/03_02_A_12_Q4_2016_CME_Hernien_image_01.png

Abb. 1: Altersverteilung bei Leistenhernien von Frauen/Primärhernien

 

OEBPS/images/03_02_A_12_Q4_2016_CME_Hernien_image_02.png

Abb. 2: Altersverteilung bei Leistenhernien von Frauen/Rezidivhernien

Geschlechtsunterschiede bestehen auch beim Hernientyp. Bei Frauen sind die Mehrzahl (über 60 %) der Leistenhernien indirekte Hernien (Abb. 3). Femorale Hernien kommen bei Frauen in ca. 15 % der Fälle vor und sind somit deutlich häufiger zu finden als bei Männern (0,8 %). Der Anteil von kombinierten Hernien beträgt wie bei Männern ca. 15 % (Tab. 2). Die Daten aus der Shouldice Klinik (Abb. 4), aber auch anderer Studien sind bezüglich der Verteilung der Hernientypen vergleichbar.

Eine niederländische Arbeitsgruppe beschreibt, dass bei systematischer intraoperativer Diagnostik die Anteile an femoralen Hernien bei primären Hernien bei 23 % und bei Rezidivhernien sogar bei 35 % liegen [1].

Auch das Myopectineal orifice (= MPO), also das Ausmaß der drei potenziellen Hernienlücken (indirekte, direkte und femorale) zeigt ebenso Geschlechtsunterschiede. So konnte in einer Kadaverstudie gezeigt werden, dass das MPO bei Frauen rechteckig ist und im Durchschnitt ein Ausmaß von 8,1 x 5,3 cm beträgt (zum Vergleich bei Männern eher quadratisches Ausmaß mit 7,6 x 7,6 cm) [2].

Die meisten Operationen in Deutschland sind wie bei Männern Elektivoperationen. Der Anteil an Notfalloperationen bei Frauen beträgt bei primären Leistenhernien laut den HERNIAMED Daten 8,8 %. Der Anteil an Inkarzerationen mit Darmresektionen beträgt lediglich 1,7 % (Tab. 3).

Auch bei Rezidiv-Operationen wächst der Anteil an Notfalleingriffen nicht an. Im Gegenteil: der Anteil an Notfalleingriffen bei Rezidiv-Operationen beträgt nur 5,6 % und ist somit geringer als bei Primäroperationen. Lediglich bei 0,6 % besteht eine Inkarzeration die eine Darmresektion notwendig machte (Tab. 4).

Tabelle 1: Patientinnen mit Leistenhernien nach Altersgruppen bei Primär- und Rezidivhernien

Primärhernien

n=23.476

Rezidivhernien

n=2.153

Altersgruppe (Jahre)

Anzahl Patienten

Prozent

Anzahl Patienten

Prozent

0 bis 10

237

1,0

3

0,1

10 bis 20

319

1,4

25

1,2

20 bis 30

1.325

5,6

150

7,0

30 bis 40

2.158

9,2

201

9,3

40 bis 50

3.241

13,8

348

16,2

50 bis 60

3.655

15,5

358

16,6

60 bis 70

3.407

14,5

336

15,6

70 bis 80

5.327

22,7

484

22,5

80 bis 90

3.194

13,6

218

10,1

90 bis 100

613

2,6

30

1,4

Tabelle 2: Verteilung der Leistenhernien bei Frauen nach Hernientyp n = 22.604 Hernien (HERNIAMED Register)

Medial

Lateral

Femoral

Kombiniert

5.877

13.607

3.120

3.441

26,0 %

60,2 %

13,8 %

15,2 %

Tabelle 3: Notfalloperationen bei Frauen bei Primäroperationen

Elektive Operationen

Notfalloperationen

17.866

1.732

91,3 %

8,8 %

Elektive und Notfalloperationen bei primären Leistenhernien (N = 19.578)

Notfall ohne Inkarzeration

217

1,1 %

Notfall mit Inkarzeration, ohne Darmresektion

1.188

6,1 %

Notfall mit Inkarzeration, mit Darmresektion

327

1,7 %

Notfalloperationen ohne/mit Inkarzeration und Darmresektion (N = 1.732)

Tabelle 4: Notfalloperationen bei Frauen bei Rezidiv-Operationen

Elektive Operation

Notfall

1.787

106

94,4 %

5,6 %

Elektive und Notfalloperationen bei Rezidiv- Leistenhernien (N = 1.893)

Notfall ohne Inkarzeration

14

0,7 %

Notfall mit Inkarzeration, ohne Darmresektion

80

4,2 %

Notfall mit Inkarzeration, mit Darmresektion

12

0,6 %

Notfalloperationen ohne/mit Inkarzeration und Darmresektion (N = 106)

Wie häufig kommen Rezidiv-Leistenhernien bei Frauen vor?

Das dänische Hernienregister konnte als signifikante Risikofaktoren für das Auftreten einer Rezidiv-Leistenhernie neben den direkten Hernien (RR 1.91, 95 % CI 1.62-2.26, I2 = 10 %), den Rezidiveingriffen (RR 2.2, 95 % CI 2.0-2.42, I2 = 6 %) und dem Rauchen (OR 2.53, 95 % CI 1.43-4.47, I2 = 0 %) auch das weibliche Geschlecht (RR 1.38, 95 % CI 1.28-1.48, I2 = 0 %) identifizieren [4].

Der Einfluss der direkten Hernien sowie der Rezidiv-Operationen für das Auftreten einer Rezidiv-Leistenhernie bestätigt sich auch im deutschen Hernienregister HERNIAMED. Weder das Rauchen noch das weibliche Geschlecht scheinen in Deutschland die Rezidivraten signifikant zu beeinflussen.

Rezidiveingriffe bei Frauen scheinen in Deutschland deutlich seltener aufzutreten als bei Männern. Im Deutschen Hernienregister beträgt der Anteil an Rezidiveingriffen bei Frauen lediglich 8,3 % im Vergleich zu 12,2 % bei Männern (Tab. 5). Auch im schwedischen Hernienregister sind Reoperationen bei Frauen deutlich seltener als bei Männern zu finden (Abb. 5) [5].

Tabelle 5: Anteil von Rezidiv-Operationen bei Frauen n = 26.071 (HERNIAMED Daten)

Primäre Operationen

Rezidiv-Operationen

23.917

2.154

91,7 %

8,3 %

OEBPS/images/03_02_A_12_Q4_2016_CME_Hernien_image_03.png

Abb. 3: Verteilung der Leistenhernien bei Frauen nach Hernientypen HERNIAMED n = 22.604

 

Of 894 Operations on Females (2008–2012)

Femoral

151/894

16.9%

Indirect

578/894

64.7%

Direct

55/894

6.2%

Combined

110/894

12,4%

Abb. 4: Verteilung der Leistenhernien bei Frauen nach Hernientypen – Shouldice Hospital [3]

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Abb. 5: Anteil an Reoperationen bei Männern (Män) und Frauen (Kvinnor) (Daten schwedisches Hernienregister 2015) [5]

Welche Besonderheiten bestehen bei der Diagnose der Leistenhernie der Frau?

Die Diagnostik einer Leistenhernie der Frau sollte stets durch die Anamnese, die klinische Untersuchung und eine obligate Ultraschalluntersuchung erfolgen [6]. Typische belastungsabhängige Symptome, eine sicht- und/oder tastbare Vorwölbung und der sichere Ausschluss anderer Ursachen der Leistenschwellung oder Leistenschmerzen sind Voraussetzung für die korrekte Indikation zur Hernienoperation. Wie beim Mann sollte eine sichere Abgrenzung aller anderen Möglichkeiten für Leistenschmerzen zwingend dazu gehören. In einzelnen Fällen kann eine weitere bildgebende Diagnostik mit CT und MRT ggf. Valsalva MRT notwendig sein.

Ca. 15 % der Leistenhernien der Frauen sind femorale Hernien, daher ist insbesondere bei der klinischen Untersuchung besonders darauf zu achten. In vielen Fällen scheint die präoperative Diagnostik mit dem intraoperativen Befund nicht übereinzustimmen [1].

Da in manchen Fällen sogar eine Inkarzeration vorgetäuscht werden kann sind bei Frauen folgende weitere Differentialdiagnosen zu beachten:

  • Nucksche Zyste, die einer Hydrozele beim Mann entspricht [7],
  • Varicosis des Lig. Rotundum [8, 9, 10] vor allem während der Schwangerschaft aber auch bei koinzidenter Varicosis,
  • Varixknoten [11], bei entsprechenden Hinweisen sollte eine zusätzliche Farbdoppleruntersuchung [10] erfolgen,
  • ektope oder genitale Endometriose: Diese können sowohl zeitgleich mit einer Hernie oder auch an Stelle einer Hernie vorkommen. Nicht immer sind zyklusabhängige Symptome oder die Eigenanamnese bei Zustand nach Endometriose hinweisend [12][13],
  • Aneurysmen der Femoralarterien [7],
  • Lymphknoten [7],
  • Psoasabszesse [7],
  • De Garengeot Hernien (= Appendizitis im femoralen Bruchsack) sind insgesamt äußerst selten[7],
  • Bruchinhalt mit Ovarien, entsprechenden Tumoren oder Zysten kommen bei Frauen in seltenen Fällen vor [14].

Welche Therapieoptionen bestehen bei der Operativen Versorgung bei Leistenhernien von Frauen?

Tatsächliche operative Versorgung in Deutschland

Die meisten Operationen werden in Deutschland in Allgemeinnarkose durchgeführt. Sowohl Spinal- als auch Lokalanästhesie spielen hierzulande keine Rolle (Tab. 6).

Tabelle 6: Anästhesieverfahren bei Leistenhernienoperationen (N = 23.495)

Lokal

Spinal

Allgemein

306

644

22.545

Grundsätzlich können sowohl offene mit oder ohne Netz als auch endoskopische Verfahren angewandt werden. In Deutschland werden nahezu alle OP-Verfahren durchgeführt. Die Anteile sind mit denen bei männlichen Patienten vergleichbar.

Ambulante Leistenhernienoperationen

Die europäischen Leitlinien empfehlen grundsätzlich die ambulante Operation von allen ASA I- und ASA II-Patienten sowie auch Teilen von ASA III-Patienten egal in welcher Technik. Auch die in Rotterdam vorgestellten World Guidelines entsprechen in diesem Punkt vollständig den europäischen Leitlinien der European Hernia Society (EHS) [15][16]. In Deutschland werden diese Empfehlungen aufgrund der fehlenden gesundheitspolitischen Anreize bis heute nicht umgesetzt.

Der Anteil der ambulanten Operationen von Leistenhernien in Deutschland stagniert seit Jahren, liegt bei lediglich ca. 17 % (Abb. 6) und somit deutlich unter dem internationalen Durchschnitt (OECD Durchschnitt über 50 %).

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Abb. 6: Anteil ambulanter Leistenhernienoperationen bei Frauen in Deutschland

Tabelle 7: Operationsmethoden bei primären und Rezidiv-Leistenhernien bei Frauen laut HERNIAMED-Daten

Primär­operationen

n=23.495/OPs=26.064

Rezidiv-­Operationen

n=2154/OPs=2419

Anzahl

Prozent

Anzahl

Prozent

TAPP

10.046

38,5

1.034

42,7

Lichtenstein

5.458

20,9

514

21,2

TEP

5.244

20,1

429

17,7

Shouldice

1.841

7,1

108

4,5

Sonstige

1.229

4,7

112

4,6

GILBERT

739

2,8

67

2,8

Plug

733

2,8

69

2,9

TIPP

434

1,7

63

2,6

Bassini

187

0,7

15

0,6

Bruchsackverschluss

153

0,6

8

0.3

Therapieoptionen

Welche Parameter sollten zur Abwägung der Methodenwahl herangezogen werden?

Folgende Faktoren sollen dabei näher betrachtet werden:

  • Rezidivrate,
  • Rate an intra- und postoperativen Komplikationen,
  • Rate an chronischen Schmerzen.

Rezidivraten

Grundsätzlich scheint die Rezidivrate ein Jahr nach OP auch bei Frauen nicht wesentlich erhöht zu sein (Tab. 8). Überraschend ist bei den HERNIAMED-Daten, dass nur die Hälfte der im Rahmen der Ein-Jahres-Nachuntersuchung festgestellten Rezidive auch zu einer Operation führt. In den dänischen und schwedischen Hernienregistern erfolgen grundsätzlich keine Follow-Up-Untersuchungen, lediglich die Re-Operationsraten werden erfasst und in einigen Registerstudien den Rezidivraten scheinbar gleichgestellt. Bei der in Deutschland durch konsequente Follow-Ups erfassten hohen Zahl nicht reoperierter Rezidiv-Leistenhernien muss nunmehr der Schluss gezogen werden, dass die in Dänemark und Schweden durch Hernienregister erfassten Re-Operationsraten sich nicht für eine Beurteilung der Rezidivraten eignen.

Intra- und postoperative Komplikationen

Gibt es methodenspezifische Unterschiede bei den intra- und postoperativen Komplikationen? Hierbei haben wir die HERNIAMED Daten aller Methoden miteinander vergleichen. Es scheinen grundsätzlich keine nennenswerten Unterschiede zwischen Primär- und sekundären Eingriffen zu bestehen.

Die Metaanalyse von O´Reilly zeigte beim direkten Vergleich der drei häufigsten Verfahren zur operativen Versorgung von Leistenhernien, dass die TAPP das größte Risiko an Major-Komplikationen aufweist [17]. Die HERNIAMED-Daten bestätigen, dass besonders endoskopische Verfahren ein höheres Risiko an intraoperativen Major Komplikationen aufweisen (Tab. 10, 11). Insbesondere sind die intraoperativen Verletzungen von Gefäßen, Darm und Blase deutlich höher bei endoskopischen Eingriffen, insbesondere bei der TAPP. Die niedrigste Rate an intraoperativen Komplikationen weist demnach das Plug-Verfahren sowie das Shouldice-Verfahren auf. Bei den offenen Verfahren kommt es nach den vorliegenden HERNIAMED-Daten häufiger zu Nerv-Verletzungen, wobei die Frage unbeantwortet bleibt, ob diese tatsächlich Nervenläsionen betreffen oder ob es sich ggf. um Neurektomien at risk der inguinalen Nerven handelt.

Bei den postoperativen Komplikationen fällt auf, dass besonders das Lichtenstein-Verfahren signifikant mehr Komplikationen zeigt. Die meisten postoperativen Komplikationen fanden sich beim Lichtenstein- und beim Plug-Verfahren. Die niedrigsten postoperativen Komplikationsraten weist die TEP, das Gilbert- Verfahren und das Shouldice Verfahren auf.

Tabelle 8: Rezidivquote bei Leistenhernien der Frauen nach einem Jahr n = 12.750

Nein

Ja, ohne Operation

Ja, mit Operation

N

N

 %

N

 %

12.582

78

0,61

90

0,71

Tabelle 9: Anteil intraoperativer Komplikationen bei Primär- und Rezidiveingriffen bei Frauen

Primärhernien

n = 23.497/OPs = 26.073

Rezidivhernien

N = 2.154/Ops = 2.420

Anzahl

 %

Anzahl

 %

Keine intraoperativen Komplikationen

25.823

99,0

2.388

98,7

Blutungen

59

0,2

10

0,4

Verletzungen innerer Organe/Gefäße

147

0,6

14

0,6

Blutungen und Verletzungen innerer Organe/Gefäße

44

0,2

8

0,3

Tabelle 10: Intraoperative Major-Komplikationen bei Primäroperationen nach OP-Techniken

Referenz

Major

Blutungen

Verletzungen innerer

Organe/Gefäße

Anzahl

Anzahl

 %

Anzahl

 %

Anzahl

 %

TAPP

10.046

132

1,3

57

0,6

75

0,7

Lichtenstein

5.458

51

0,9

13

0,2

38

0,7

TEP

5.244

66

1,3

21

0,4

45

0,9

Shouldice

1.841

10

0,5

0

0

10

0,5

GILBERT

739

7

0,9

5

0,7

2

0,3

Plug

733

0

0

0

0

0

0

Tabelle 11: Intraoperative Major Komplikationen bei Primäroperationen nach OP-Techniken und Organbeteiligung

Referenz

Gefäß

Darm

Blase

Nerv

Sonstige

N

N

 %

N

 %

N

 %

N

 %

N

 %

TAPP

10.046

31

0,31

14

0,14

23

0,23

1

0

14

0,14

Lichtenstein

5.458

5

0,09

1

0,01

2

0,04

22

0,40

10

0,18

TEP

5.244

8

0,15

1

0,01

9

0,17

2

0,04

27

0,51

Shouldice

1.841

1

0,05

1

0,05

2

0,11

6

0,33

1

0,05

GILBERT

739

1

0,13

0

0

0

0

0

0

1

0,13

Plug

733

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

Chronische Schmerzen

Die O´Reilly Metaanalyse zeigte, dass die Lichtenstein-Technik die höchste Rate an chronischen Schmerzen aufweist [17].

Besondere Berücksichtigung sollte dabei auch finden, dass Frauen, kleine Hernien, junge Patienten und Netzverfahren in einer HERNIAMED Analyse als unabhängige Risikofaktoren für die Entwicklung eines chronisch inguinalen Schmerzsyndroms ermittelt werden konnten [3] (Abb. 7).

Chronische Schmerzen

Unabhängige Risikofaktoren

Alter (jünger)

p<0.001

Frauen

p<0.001

Herniengröße (kleiner)

p<0.001

– Rezidivhernie

p<0.001

Netzverfahren

p<0.001

– stationär (vs. ambulant)

p<0.001

Abb. 7: Multivariable Analyse der HERNIAMED Daten 2016 Vergleich TAPP vs. TEP vs. Lichtenstein vs. Shouldice bei Männern [3]

In einer dänischen Studie wurden die postoperativen Schmerzen nach TAPP zwischen Männern und Frauen verglichen. Es zeigte sich, dass diese bei Frauen sowohl direkt postoperativ als auch kumulativ bis zum Tag drei signifikant mehr Schmerzen in Ruhe (p = 0.015) als auch unter Belastung h (p = 0.012) hatten. Darüber hinaus klagten sie über mehr Dyskomfort (p = 0.001) und Ermüdung (p = 0.020) [18].

Leitlinien zur operativen Versorgung

Auf der Jahrestagung der European Hernia Society im Juni 2016 in Rotterdam wurden die „World Guidelines for Groin Hernia Management“ vorgestellt und Schlüsselfragen dem Auditorium in einer Art Konsensus Abstimmung mittels TED Verfahren zur Abstimmung vorgestellt:

Eine dieser Schlüsselfragen ist, ob bei vorhandener Expertise jede primäre Leistenhernie der Frau einer laparoskopischen Reparation unterzogen werden soll (Abb. 8). Diese Empfehlung wird von der World Guidelines Gruppe auf das Evidenzlevel „strong“ aufgewertet.

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Abb. 8: World Guidelines vorgestellt während des EHS Kongress in Rotterdam 2016 [19]

Tatsache ist, dass es hier weder randomisierte Untersuchungen, geschweige denn Metaanalysen gibt [19]. In den 2009 publizierten European Guidelines liegt der Level of Evidence bei „2C“ (outcome studies) und es wird angemerkt, dass es aus der Studienlage unklar ist, ob es sich um wirkliche femorale Rezidive oder ob es sich um beim Primäreingriff übersehene Femoralhernien handelt [15].

Eine in diesem Zusammenhang häufig zitierte Arbeit stammt aus dem dänischen Hernienregister [20] publiziert im Jahre 2002. Die Analyse von 34.849 Leistenbruchoperationen zeigte, dass nach vorausgegangener Leistenbruchoperation ein 15-fach erhöhtes Risiko für ein femorales Rezidiv besteht. Aber bereits in dieser Arbeit wird die Frage gestellt, ob es sich um möglicherweise übersehene Femoralhernien beim Primäreingriff handelt. Ebenfalls aus Dänemark stammt eine Untersuchung zur Prävalenz der Femoral- und Inguinalhernien [21] (Abb. 9). Ein rein endoskopisches Vorgehen bei allen erwachsenen Frauen ist damit nicht zu rechtfertigen.

 

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Abb. 9: Prävalenz von Femoralhernien in Dänemark [21]

Tabelle 12: Anteil an postoperativen Komplikationen bei Primäroperationen nach OP-Techniken

Keine postoperativen Komplikationen

Postoperative Komplikationen

 % Komplikationen

TAPP

9.793

271

2,8

Lichtenstein

5.214

262

5,0

TEP

5.159

100

1,9

Shouldice

1.799

44

2,4

GILBERT

727

16

2,2

Plug

708

30

4,2

Tabelle 13: Anteil an postoperativen Komplikationen bei Primäroperationen nach OP-Techniken und Art der Komplikation

Komplikation/
OP-Methode

Nach-blutung

Darmverletzung
Nahtinsuffizienz

Wundheilungs-
störung

Serom

Infektion

Ileus

TAPP

72

7

9

165

11

16

Lichtenstein

116

5

31

98

28

9

TEP

54

6

12

29

6

0

Shouldice

14

0

8

16

10

2

GILBERT

8

0

0

7

1

0

Plug

10

1

3

17

2

0

In der Gruppe der Frauen zwischen 30 und 60 Jahren beträgt diese in der Normalbevölkerung 0,04 %. Mit dem 15-fachen Risiko multipliziert ergibt sich ein Risiko von 0,6 % – damit niedriger als das Risiko eines inguinalen Rezidivs. Auch Bay-Nielsen wies bereits auf die Wichtigkeit der intraoperativen Exploration auf eine Femoralhernie hin [22]. Grundsätzlich muss also unterschieden werden, ob es sich um eine primäre Leistenhernie oder Femoralhernie handelt.

Zweifelsohne nachgewiesen ist, dass Femoralhernien, wenn sie mit einem anterioren Netz in Lichtenstein Technik oder mit Naht versorgt werden, ein höheres Rezidiv- oder Reoperationsrisiko haben als posteriore Netztechniken. Leider wird – wie in der Arbeit von Andresen [23] – der anterior Approach mit anteriorer Netzlage gleichgesetzt und daraus resultierend das laparoskopische Vorgehen empfohlen. Aus der gleichen Arbeitsgruppe kommt auch eine Arbeit, die bei Frauen einen anterioren Zugang und mediale Hernien als unabhängige Risikofaktoren für eine Rezidiv-Operation herausgearbeitet hat [4]. In der Shouldice Klinik werden femorale Hernien mit einem hohen Anteil (50 %) Netzreparationen versorgt, allerding nicht in Lichtenstein-Technik sondern präperitoneal (Abb. 5) bei einer Rezidivrate von 2,7 %.

Insgesamt muss zusammengefasst werden, dass alle Operationsverfahren zur Versorgung der Leistenhernien bei Frauen sowohl Vor- als auch Nachteile aufweisen. Keine Operationstechnik ist für alle Situationen den anderen Techniken überlegen.

Ein differenziertes Herangehen je nach Hernientyp- und Herniengröße, je nach Patientenalter und Begleitumständen erscheint sinnvoll. Eine 100 prozentige laparoskopische Netzreparation zur Versorgung von Leistenhernien bei Frauen, wie durch die „World Guideline Group“ gefordert, ist sicher infrage zu stellen. Bis auf Expertenmeinungen und Registerstudien mit den oben genannten Limitierungen gibt es hierfür bis heute keinerlei Evidenz.

Was kann man aus den HERNIAMED-Daten und der aktuellen Literatur für die operative Versorgung von Leistenhernien bei Frauen für die tägliche Praxis ableiten?

1.Die Exploration des Femoralkanals sollte obligater Bestandteil der Leistenhernienoperation der Frau sein.

2.Frauen haben einen höheren Anteil femoraler Hernien als Männer, allerdings bestehen auch in zwei Drittel der Fälle indirekte Hernien.

3.Im Falle einer Femoralhernie besteht die Indikation zur präperitonealen Netzreparation laparoskopisch oder offen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Ableitung von Leitlinien zur Behandlung von Leistenhernien bei Frauen vor dem Hintergrund derzeit noch fehlender randomisierter Studien und Metaanalysen noch recht fraglich erscheint.

Ein maßgeschneidertes Vorgehen ist einer „one fits all– Mentalität vermutlich vorzuziehen.

Im Sinne eines „Tailored approach könnte intraoperativ beispielhaft folgendermaßen entschieden werden:

  • Laterale Hernie, keine Femoralhernie – Shouldice Repair
  • Femorale Hernie mit oder ohne Leistenhernie – offene oder endoskopische präperitoneale Netzreparation je nach Expertise des Operateurs
  • Mediale Typ I Hernie ohne weitere Risikofaktoren – Shouldice Repair
  • Mediale Hernien Typ II oder III – offenes oder endoskopisches präperitoneales Netzrepair je nach Expertise des Operateurs

Weitere geschlechtsspezifische randomisierte und multivariable Register-Studien mit einer Differenzierung nach Hernientyp, Herniengröße und Alter scheinen notwendig.  

Literaturliste auf Anfrage via
passion_chirurgie@bdc.de.

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Lorenz R. / Koch A. / Köckerling, F. CME-Artikel: Leistenhernien bei Frauen – „One fits all“ oder doch maßgeschneiderte OP? Passion Chirurgie. 2016 Dezember; 6(12/Q4): Artikel 03_02

Leserbrief und Antwort zu Ausgabe 12/2016 „CME-Artikel: Leistenhernien bei Frauen“

Akademie aktuell: Die Hernienschule

Weltweit erkranken fast 25 Prozent der Männer im Laufe ihres Lebens an einer Hernie. Auch in Deutschland zählen Hernienoperationen mit ca. 300.000 Eingriffen pro Jahr zu den am häufigsten durchgeführten allgemeinchirurgischen Eingriffen. Eine Operation, die für alle Chirurgen der Grund- und Regelversorgung zum chirurgischen Alltag gehört. Deshalb hat die Deutsche Herniengesellschaft (DHG) zusammen mit der BDC|Akademie die Hernienschule entworfen.

Die dreiteilige curriculare Fortbildung zur Chirurgie der Hernien umfasst Seminare zu den theoretischen Grundlagen, anatomische Demonstrationen, E-Learning und Hospitationen in Kleingruppen. Zum Abschluss erfolgt die Zertifizierung von der DHG und dem BDC. Der Besuch der Hernientage (www.hernientage.de) und der Besuch der drei curricularen Veranstaltungen sind Voraussetzung für die Abschlussprüfung.

Hernie kompakt ist das Basismodul der dreiteiligen aufeinander aufbauenden Hernienschule. Es wird geleitet von national und international renommierten Hernienexperten. Der Kurs richtet sich vor allem an Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung zum Allgemein- und Viszeralchirurgen, aber auch an alle Kolleginnen und Kollegen, die sich im Rahmen der Hernienchirurgie auf den neuesten Stand bringen möchten.

Hernie konkret umfasst zahlreiche Hospitationsveranstaltung, die momentan geplant werden und ab September 2016 stattfinden. Die Hospitationen zu operativen Standardverfahren in der Hernienchirurgie finden in Kleingruppen mit sechs Teilnehmern statt.

Bei den Hospitationen gibt es insgesamt vier konkrete Inhalte, die belegt werden können:

Leistenhernien endoskopisch

Leistenhernien offen

Ventralhernien endoskopisch

Ventralhernien offen

Von den vier Möglichkeiten sind vier Hospitationen an unterschiedlichen Orten auszuwählen und nachzuweisen. Der eigene Standort ist allerdings nicht zulässig, um den Blick über den Tellerrand für alle Teilnehmer zu garantieren.

Hernie Komplex stellt, im Gegensatz zum Basismodul und den Hospitationen bei Standardverfahren, operative Verfahren der komplexen Hernienversorgung in den Fokus. Die Hospitationen dieses Moduls (jeweils zwei Teilnehmer) finden in Hospitationszentren statt, die von der DHG ausegwählt wurden. Als Blended Learning-Modul umfasst es neben der Hospitation zusätzlich einen E-Learning-Kurs.

Die aktuellen Termine in der zweiten Jahreshälfte finden Sie auf BDC|Online unter der Rubrik BDC|Akademie.

Lorenz R. / Schröder W. Akademie aktuell: Die Hernienschule. 2016 April; 6(04): Artikel 03_01.

 

Herausforderungen und ein geschenktes Leben

Bericht eines humanitären Einsatzes in Ruanda

Ruanda – bei diesem Land tauchen bei den meisten zunächst Bilder vom grausamen Genozid vor 20 Jahren auf, dem schätzungsweise bis zu einer Million Menschen zum Opfer gefallen sind. In diesem Frühjahr konnte der Interessierte zahllose Dokumentationen dazu in den Medien verfolgen. Herausragend und weltweit einzigartig ist sicher die Aufarbeitung nach diesem Genozid mit der Wiederbelebung der über Jahrhunderte bestehenden Dorfgerichtsbarkeit, der Gacaca-Gerichte und der Versöhnungspolitik.

Diesem Trauma zum Trotz hat sich das Land in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht rasant verändert. Als eines der Länder mit dem niedrigsten Korruptionsindex in Afrika vermeldet Ruanda ein enormes Wirtschaftswachstum, es besteht eine Schulpflicht für alle Kinder bis zur sechsten Klasse und der Schulbesuch ist zudem kostenfrei. Außerdem ist innerhalb von wenigen Jahren ein geradezu revolutionäres Gesundheitssystem eingeführt worden. Jeder Bürger zahlt den äußerst geringen Beitrag von ca. 1,50 €/Jahr zur staatlichen Krankenversicherung und jeder! erhält dafür eine medizinische Grundversorgung. Damit sind weit über 90 % der Bevölkerung in Ruanda krankenversichert. Ein weitgehend staatlich strukturiertes Gesundheitssystem sieht folgende Rahmenbedingungen vor, die aufeinander aufbauen [1]:

      • Zahlreiche lokale Health Worker in fast jedem Dorf
      • 451 Health Centers mit Gemeindeschwestern in jeder kleinen Region
      • 41 District Hospitals mit jeweils mehreren ärztlichen Kollegen in den Landesdistrikten
      • fünf National Referral Hospitals als Maximalversorger in den größten Städten

Kaum vorstellbar hingegen ist die Tatsache, dass es im ganzen Lande weniger als zehn intensivmedizinische Beatmungsbetten gibt! Größtes Problem des Gesundheitswesens in Ruanda ist jedoch der Ärztemangel im Lande. Für die über 12 Millionen Einwohner des dicht bevölkerten Landes gibt es derzeit nur ca. 250 Ärzte [2, 3].

Tab. 1: Auszug aus World Health Statistics 2012 – Ausgewählte Länder (3)

Land

Bevölkerung in Mio. Einwohner

Ärzte Anzahl absolut

Ärzte/10.000 Einwohner

Kranken-schwestern Anzahl absolut

Kranken-schwestern/ 10.000 Einwohner

Deutschland

82,3

297.835

36,0

918.000

111,0

Ruanda

10,6

221

0,2

4050

4,5

Bereits im Jahre 2011 haben die Anästhesistin Frau Dr. Petra Wölkerling und der Autor einen steuerbegünstigten Verein CHIRURGEN für Afrika gegründet und führen seitdem regelmäßig humanitäre Einsätze in Afrika durch.

Nach unserem ersten erfolgreichen humanitären Einsatz mit zwei OP-Teams im Februar 2013 in Nyamata und Remera Rukoma kehrten wir ein Jahr später mit insgesamt vier OP-Teams zurück nach Ruanda; erstmals waren dabei ein plastischer Chirurg und ein Medizintechniker im Team. Das insgesamt 18-köpfige deutsch/britische Team war somit im Februar 2014 in vier regionalen Krankenhäusern Ruandas (Nyamata Hospital, Remera Rukoma Hospital, Kirinda Hospital und Gahini Hospital) im Einsatz.

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Mit dabei waren 26 Kisten Übergepäck (mehr als 0,7 Tonnen) mit dem vor Ort nötigen Equipment und den chirurgischen Verbrauchsmaterialien. Der Einsatz vor Ort wurde bereits im Vorfeld von der Hilfsorganisation Legacy of Hope und Operationhernia koordiniert und unterstützt.

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Bereits der Transport in die zum Teil weit entfernten Hospitäler von der Hauptstadt Kigali aus war eine erste Herausforderung. Eine defekte Federung, fehlendes Kühlwasser und ein Straßenzustand, bei dem unser Gepäck von der Ladefläche zu rutschen drohte, seien hier nur beispielhaft genannt. Wir ahnten erst auf der Rückfahrt bei Tageslicht dass die nicht asphaltierten Straßen nach stärkeren Regenfällen komplett unpassierbar sein dürften.

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Am Abend des ersten Einsatztages wurde uns im Kirinda Hospital ein kurz zuvor aufgenommener 18-jähriger junger Mann mit einem akuten Abdomen konsiliarisch vorgestellt. Sofort wurde hier klar dass Eile geboten war. Intraoperativ bestätigte sich eine perforierte Appendizitis. Es gelang trotz der Einfachheit der OP-Bedingungen die Operation erfolgreich zu beenden. Bangten wir anfangs noch mit der Mutter um sein Leben jedoch erholte sich der junge Mann im weiteren Verlauf auch unter der mitgebrachten hochdosierter Anibiotikatherapie schnell.

Der schönste und emotional berührendste Erfolg war sicher, dass der junge Mann mit der perforierten Appendizitis an unserem Abreisetag aus dem Kirinda Hospital nach Hause entlassen werden konnte – ein geschenktes Leben.

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Die OP-Statistik unseres Einsatzes ergab 125 Operationen an 116 Patienten in fünf Tagen: Operiert wurden vor allem Leisten- und Ventralhernien und Hydrozelen. Darüber hinaus fanden auch zahlreiche plastisch-chirurgische Eingriffe statt. Alle derzeit möglichen offenen Operationsverfahren mit und ohne Netz kamen bei den Hernieneingriffen zum Einsatz. Die meisten Eingriffe erfolgten in Allgemeinnarkose mit Larynxmaske. Fast alle Patienten wurden aufgrund der zum Teil weiten Anfahrtswege zu den Hospitälern für ein bis zwei Tage stationär im Hospital nachbehandelt. Alle Operationen verliefen glücklicherweise komplikationslos, wenngleich so manche Operation insbesondere auch anästhesiologisch aufgrund der einfachen und zum Teil unzureichenden technischen Ausstattung im Hospital eine nicht unbeträchtliche weitere Herausforderung darstellte.

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Die Nachhaltigkeit der Mission bestand nicht nur darin, möglichst viele Patienten zu operieren und Medizingeräte, Verbrauchsmaterialien und chirurgische Instrumente vor Ort zu lassen, sondern vor allem auch in der Ausbildung der Kollegen vor Ort. Die regional tätigen Ärzte konnten durch uns schrittweise an moderne Operationstechniken herangeführt werden. Auch unser Pflegepersonal konnte viele Tipps und Tricks weitergeben. Das Gesundheitsministerium Ruandas akkreditierte uns während des Einsatzes 2014 als Ausbilder.

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Nach dieser überaus arbeitsintensiven Woche konnte das gesamte Team im Rahmen einer kurzen Rundreise noch die atemberaubende Schönheit Ruandas am Kivusee und im Nyungwe-Nationalpark kennenlernen.

Ohne die großzügige auch finanzielle Unterstützung von zahlreichen privaten aber auch Firmenspenden, der Fluggesellschaft Brussel Airlines, der Ruandischen Botschaft, des Gesundheitsministeriums in Ruanda sowie dem herausragenden und selbstlosen Engagement der Teammitglieder, die auch Ihren persönlichen Urlaub dafür verwendeten wäre dieser Einsatz undenkbar gewesen. Der großartige Erfolg dieser humanitären Arbeit wurde auch durch die hervorzuhebende Teamfähigkeit jedes Einzelnen ermöglicht. Es war ein überaus angenehmes Miteinander in diesen gemischten OP-Teams aus Ruandischen und Deutschen Kollegen.

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Alle Teammitglieder hatten unzählige positive Eindrücke bei dieser humanitären Arbeit, zu den schönsten zählt sicher die enorme Dankbarkeit und Wertschätzung seitens der Patienten, Ärzte, Schwestern und Krankenhausmitarbeiter. Innerhalb einer Woche ist so eine sehr persönliche und kollegiale Partnerschaft entstanden. Wir sind zutiefst dankbar und freuen uns auf ein Wiedersehen in Ruanda!

Literatur

[1] Rwanda Annual Health Statistics Booklet 2012 http://www.moh.gov.rw/fileadmin/templates/MOH-Reports/MOH_Booklet_2012_final_September_2013.pdf

[2] Policies and practices of countries that are experiencing a crisis in human resources for health: tracking survey Human Resources for Health Observer – Issue No. 6, December 2010, WHO, http://www.who.int/hrh/resources/observer6/en/index.html

[3] World Health Statistics 2012 http://www.who.int/healthinfo

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CHIRURGEN für Afrika

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Operationhernia

Lorenz R. Herausforderungen und ein geschenktes Leben. Passion Chirurgie. 2015 Februar, 5(02): Artikel 02_06.

Editorial: Maßgeschneiderte Hernienchirurgie

Die Hernienchirurgie ist heute durch eine noch nie da gewesene Vielfalt an OP-Verfahren und verfügbaren Materialien bestimmt. Wie soll da ein breit ausgerichteter Chirurg den Überblick über alle möglichen OP-Techniken und Materialien behalten?

Alle Chirurgen scheinen sich inzwischen einig zu sein, dass es kein Idealverfahren für alle Hernien gibt. Gegenwärtig geht man vielmehr davon aus, dass ein maßgeschneidertes Vorgehen in der Hernienchirurgie sinnvoll ist. Doch gibt es hierzu weder konkrete Studienergebnisse oder gar nationale bzw. internationale Leitlinien. Jede/r scheint sein maßgeschneidertes Vorgehen durch eigene Erfahrungswerte selbst zu bestimmen.

Der Erfolg einer Maßschneiderei ergibt sich aus einer Vielzahl einzelner Komponenten. Das Ergebnis ist dabei jedoch nicht nur von der richtigen Auswahl aller Materialien und Techniken abhängig, sondern ganz entscheidend auch vom Schneider selbst.

Übertragen auf die Hernienchirurgie ist der Erfolg nicht nur von der OP-Technik und dem verwendeten Netzmaterial bzw. dessen Fixierung abhängig, sondern auch von der richtigen Patientenselektion und von den Fähigkeiten des Chirurgen.

Für eine Standardisierung des tailored approach fehlen bisher in der evidenzbasierten Medizin randomisierte Studien, die eine Differenzierung der einzelnen Hernienpatienten vornehmen. Auch bleibt der Einfluss der Risikoprofile für das Vorliegen einer sogenannten Herniose scheinbar weitgehend unberücksichtigt. Einen Ausweg aus dieser Misere könnten die großen Datensammlungen der Hernienregister bieten, um Antworten auf bisher ungelöste Fragen zu geben.

Einen besonderen Einfluss auf die Ergebnisqualität in der Hernienchirurgie hat jedoch ebenso eine gute Ausbildung des Chirurgen – diese ist ebenso wichtig wie die richtige Diagnostik und Indikationsstellung für einen Hernieneingriff.

Mit dieser Ausgabe wollen wir Ihnen einen Überblick über alle Möglichkeiten der modernen Hernien-Maßschneiderei geben. Eine Hilfestellung zur besseren Orientierung in einem besonders innovativen chirurgischen Segment zu geben – das ist das Ziel.

Mit kollegialen Grüßen

Ihr Ralph Lorenz

 

Lorenz R. Editorial Maßgeschneiderte Hernienchirurgie! Aber wie? Passion Chirurgie. 2014 April; 4(04): Artikel 01.

Arbeitsplatz Entwicklungsland: Albert Schweitzers next generation

Vor genau 100 Jahren gründete Albert Schweitzer sein Urwaldhospital in Lambarene in Gabun – ein wunderbarer aktueller Anlass über einen Arbeitsplatz in Entwicklungsländern nachzudenken.

Viel mehr chirurgische Kollegen als Sie glauben leisten bereits heute einen persönlichen aktiven Beitrag, um das globale Ungleichgewicht wenigstens minimal auszugleichen. Jede Einzelaktion ist einerseits zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aus dem mit Ihrer persönlichen Hilfe jedoch ein Strom entstehen kann.

Insbesondere auch nach Beendigung der aktiven Chirurgenlaufbahn ist ein Einsatz im Ausland eine hervorragende Möglichkeit, die lebenslang gesammelten beruflichen Erfahrungen auch an jüngere Kollegen weiterzugeben. Während Sie diesen Artikel lesen, bereitet sich beispielsweise ein im Ruhestand befindlicher niedergelassener Chirurg aus Berlin auf seinen dreimonatigen Einsatz in Malawi vor. Er wird dort das Team eines Versorgungskrankenhauses unterstützen und zusätzlich jüngere Kollegen ausbilden.

OEBPS/images/02_05_A_02_2013_Entwicklung_image_01.jpgAbb. 1: Operationsteam und Patienten vor Ort

In diesem Artikel will ich Ihnen nicht nur einen Überblick über die Möglichkeiten der humanitären Hilfe geben, sondern auch über die Bedingungen, Fallstricke und das Arbeitsumfeld für Chirurgen in Entwicklungsländern berichten. Lesen Sie im Folgenden die häufigsten Fragen zum Thema „Arbeitsplatz Entwicklungsland“.

Welche Anforderungen sollte ein Chirurg für diesen Arbeitsplatz in Entwicklungsländern erfüllen?

Sicher sollte ein Chirurg Entdeckerfreude, Zielstrebigkeit, Improvisationstalent, Anpassungsfähigkeit und eine gewisse Furchtlosigkeit für einen Arbeitsplatz in Entwicklungsländern mitbringen. Bereits Albert Schweitzer musste für seine Vision der Gründung eines Missionskrankenhauses in Gabun Beharrlichkeit beweisen. So soll er erst nach längerer Zeit aufgrund einer Sondergenehmigung zum Medizinstudium zugelassen worden sein, da er zu diesem Zeitpunkt bereits als Dozent für Theologie an der Universität Strassburg tätig war. Eine breite Kenntnis auf dem Gebiet der Allgemein- und Unfallchirurgie ist generell von Vorteil. Da der häufigste operative Eingriff z. B. in Afrika der Kaiserschnitt ist, ist es sicher sinnvoll, sich ein paar gynäkologische Grundkenntnisse auch über geburtshilfliche Notfälle anzueignen. Durchaus kontrovers kann man die von einigen Hilfsorganisationen empfohlene Zusatzausbildung Public Health beurteilen. Für die eigentliche medizinische Arbeit vor Ort ist sie meines Erachtens nicht nötig.

Notwendig sind in jedem Falle englische und/oder französische Sprachkenntnisse. Auch sind vorherige Urlaubsreisen in Entwicklungsländer von Vorteil, um Infrastruktur, Menschen und Kultur besser zu begreifen.

Zahlreiche nationale und internationale Hilfsorganisationen existieren heutzutage. Es gibt NGO (non-governmental organisations), die vorwiegend in Krisengebieten agieren (z. B. Ärzte ohne Grenzen). Hier ist vorwiegend der breit ausgebildete Allround-Chirurg gefragt.

Es gibt aber auch die Möglichkeit, sich einer fachspezialisierten internationalen Hilfsorganisation wie zum Beispiel Operationhernia (siehe Link am Ende des Artikels) anzuschließen. Hier wird der erfahrene Hernienchirurg solche Patienten operieren, mit denen er auch im eigenen Lande die größte Erfahrung hat. Prof. Andrew Kingsnorth und Chris Oppong aus Plymouth in England begründeten diese Organisation in Jahre 2006. Begann man damals nur mit humanitären Einsätzen in Ghana sind zwischenzeitlich zahlreiche internationale Teams auch für kürzere ein- bis zweiwöchige Missionen in vielen Entwicklungsländern vor allem Afrikas, aber auch in Asien und Südamerika engagiert.

Darüber hinaus gibt es zahlreiche kirchliche Organisationen (z. B.: Brot für die Welt, Evangelischer Entwicklungsdienst (EED), Bischöfliches Hilfswerk Misereor) und zahlreiche Stiftungen (z. B. Alexander von Humboldt- Stiftung, Heinrich Böll-Stiftung, Friedrich Ebert-Stiftung, Konrad Adenauer-Stiftung), die entsprechende Kontakte vermitteln.

Warum sollte ich gerade in ein Entwicklungsland gehen?

Der Mangel an Ärzten in Entwicklungsländern ist bereits jetzt enorm. Die UNESCO beziffert heute 57 Länder mit kritischer Unterversorgung im Gesundheitswesen. Von diesen befinden sich 37 in Afrika [1].

OEBPS/images/02_05_A_02_2013_Entwicklung_image_02.jpgAbb. 2: Europäisches und afrikanisches OP-Personal bei der Arbeit

Die Gesundheitsversorgung wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten jedoch keinesfalls verbessern. Diese wird sich durch das sogenannte brain drain (Abwanderung von Akademikern aus den Entwicklungsländern in hochentwickelte Industrieländer) und die weitere Bevölkerungsexplosion in den Entwicklungsländern sogar noch weiter dramatisch verschlechtern.

Wie ist die ärztliche Versorgung in den Krankenhäusern der Entwicklungsländer?

Es gibt erhebliche Unterschiede in den einzelnen Entwicklungsländern und zusätzlich regional. Auch wenn die Spanne weit reicht, ist sie generell mit einer europäischen medizinischen Versorgung (siehe Tab. 1) nicht zu vergleichen.

Tab. 1: Auszug aus World Health Statistics 2012 – Ausgewählte Länder [2]

Land Bevölkerung in Mio. Einwohner Ärzte Anzahl absolut Ärzte/10.000 Einwohner Kranken-schwestern Anzahl absolut Kranken-schwestern/ 10.000 Einwohner
Deutschland 82,3 297.835 36,0 918.000 111,0
Nigeria 158,4 55.376 4,0 224.943 16,1
Ghana 24,4 2033 0,9 24.974 10,4
Malawi 14,9 257 0,2 3896 2,8
Ruanda 10,6 221 0,2 4050 4,5
Liberia 4,0 51 0,1 978 2,7

In den meisten Krankenhäusern z. B. in Westafrika gibt es lediglich einen einzigen praktischen Arzt, der das gesamte Krankenhaus betreut und leitet. Dieser ist dann gleichermaßen für die Behandlung aller häufigen Infektionskrankheiten wie Malaria und Tuberkulose, für die Versorgung von Notfällen und Unfällen, für die Durchführung von Operationen z. B. Appendektomien und Herniotomien, aber auch für Entbindungen und Kaiserschnitte zuständig. Krankenschwestern übernehmen hier recht häufig auch ärztliche Tätigkeiten, die in unserem Gesundheitssystem völlig undenkbar wären. Urlaubs- oder Vertretungsregelungen entfallen. So kann es schon mal vorkommen (wie selbst in Ghana erlebt), dass eine frisch examinierte Anästhesieschwester ohne jegliche Berufserfahrung für die Durchführung einer Narkose alleinig zuständig ist. Entgegen so mancher Vorurteile habe ich sehr oft ein hochmotiviertes und engagiertes medizinisches Personal erleben dürfen.

Welche Patienten erwarten mich in Entwicklungsländern?

Sie sollten Patienten mit oftmals sehr ausgeprägten Krankheitsbildern erwarten, welche meist über Jahre bisher medizinisch unversorgt blieben. Die Leidensfähigkeit und Geduld der Patienten beeindruckt fast ebenso wie die unglaubliche und emotional berührende Dankbarkeit nach erfolgter Therapie. Es gibt darüber hinaus zahlreiche Erkrankungen, die unseren Breiten völlig unbekannt sind. Andere bei uns häufige Erkrankungen spielen im Gegenzug in Entwicklungsländern kaum eine oder gar keine Rolle. Auf die Infektionswege und Ansteckungsmöglichkeiten sollte man stets achten. In vielen allerdings nicht in allen Hospitälern wird vor einer geplanten Operation ein Hepatitis- und/oder HIV-Test des zu operierenden Patienten obligat durchgeführt. Die Verwendung von doppelten Handschuhen und eines Augenschutzes helfen zusätzlich für die eigene Sicherheit während der Operationen.

Die Patientenakquise für einen kurzzeitigen humanitären Einsatz sollte vorab rechtzeitig in Zusammenarbeit mit der entsprechenden Hilfsorganisation geplant werden. Meist werden die potentiellen Patienten über die regionalen Medien, wie Rundfunk und Zeitungen, informiert.

Welche Arbeitsbedingungen erwarten mich in den Krankenhäusern?

Die technische und apparative Ausstattung der Krankenhäuser ist von Land zu Land verschieden und auch regional sehr unterschiedlich, meist jedoch auf niedrigem Niveau. Die extremsten Unterschiede erlebte ich persönlich im Jahre 2010 auf Mauritius, wo sehr einfach ausgestattete staatliche Kliniken direkt neben, von zumeist indischen Investoren, bestausgestatteten Privatkliniken existierten.

OEBPS/images/02_05_A_02_2013_Entwicklung_image_03.jpgAbb. 3: Ein Op-Team bei der Arbeit vor Ort

Meist sind die Kliniken in der Dritten Welt auf ausrangierte Geräte und Spenden aus den Industrieländern angewiesen. Stromausfälle und fehlende Notstromversorgung erschweren die Arbeitsbedingungen zum Teil erheblich. Es macht dennoch insgesamt durchaus viel Spaß, Medizin unter einfachen Bedingungen zu machen. Die Vorstellungen von Arbeitszeiten, Termineinhaltungen und Zuverlässigkeit sind kulturell unterschiedlich. Hier sollten Sensibilität und Kompromissbereitschaft aber auch Disziplin sich ergänzen und zielführend wirken.

Was wird in den Krankenhäusern der Entwicklungsländer benötigt?

Wir versuchen bei jedem geplanten humanitären Einsatz viele Dinge möglichst zum dortigen Verbleib mitzunehmen. Dazu ist es immer notwendig, in dem jeweiligen Krankenhaus anzufragen, was ggf. vorhanden und was benötigt wird. Für chirurgische Einsätze zählen hierzu Monitore, Elektrokautergeräte, einfache Autoklaven, chirurgische Instrumente, resterilisierbare OP- Abdeckungen und -kittel und natürlich sämtliche Verbrauchsmaterialien. So manches bestens funktionierendes allerdings in der deutschen Klinik durch ein neueres und besseres High-Tech-Gerät ersetztes findet so ein neues Zuhause. Hier kann der Kontakt zu den Medizinprodukteherstellern oft überraschende Spenden generieren. Damit jedoch das gespendete Gerät nicht wie so oft in irgendwelchen Abstellkammern afrikanischer Krankenhäuser verstaubt, sollten wirklich nur benötigte Geräte mitgeführt werden und ggf. auch Ersatzteile mitgenommen werden. Ansonsten könnte so manch gut gemeinte Gabe die Wirkung verfehlen oder gar gefährlich für das medizinische Personal oder Patienten werden [3].

OEBPS/images/02_05_A_02_2013_Entwicklung_image_04.jpgAbb. 4: Europäische und afrikanische Ärztinnen im OP

Versuchen Sie darüber hinaus immer auch Kontakt zu Ihrer Fluggesellschaft aufzunehmen, um für das zu planende Übergepäck ggf. Sonderkonditionen zu verhandeln. Damit alles auch am rechten Ort ankommt scheint es immer sinnvoll zu sein, das gesamte Equipment mit dem eigenen Transport mitzuführen.

Welche bürokratischen Hürden gibt es zu beachten?

Über die entsprechende Hilfsorganisation sollten vorab Kontakte zu den entsprechenden Krankenhäusern bzw. regionalen Gesundheitsbehörden hergestellt werden, um eine Arbeitserlaubnis für alle Teammitglieder zu beantragen. Dieses offizielle Einladungsschreiben ist für den Visumantrag bzw. für die Einreise nötig. Darüber hinaus sollte für das mitgeführte medizinische Equipment über das zuständige Gesundheitsministerium eine Einfuhrgenehmigung bzw. Zollbescheinigung erwirkt werden. Auch hier helfen im Allgemeinen die Hilfsorganisationen.

Die Planung eines humanitären Einsatzes benötigt viel Zeit, ein Zeitfenster von bis zu sechs Monaten ist sinnvoll, um alles in Ruhe vorbereiten zu können.

Darüber hinaus benötigen Sie für einen solchen humanitären Einsatz natürlich finanzielle Mittel. Viele internationale Organisationen haben ihren Sitz nicht unbedingt in Deutschland, sodass diese für ggf. eingehende Spendengelder keine Spendenbescheinigung ausstellen können. Große Hilfsorganisationen haben darüber hinaus einen nicht geringen Verwaltungs- und Werbeaufwand.

Wir haben aus diesem Grund 2011 einen steuerbegünstigten, nicht eingetragenen Verein CHIRURGEN für Afrika gegründet, damit den Sponsoren garantiert werden kann, dass die Spendengelder fast ausschließlich für die Projektarbeit verwendet werden und darüber hinaus auch eine entsprechende Bescheinigung für das Finanzamt ausgestellt werden kann.

Vor der Abreise sollten Sie sich natürlich auch über empfohlene Impfungen informieren und Ihren Versicherungsschutz (z. B. Krankenversicherung, Rücktransportversicherung) prüfen.

Sind Sie dann schließlich mit ihrem Team und ihrem Material am Einsatzort angekommen werden Sie überrascht sein, dass man auch mit wenig Bürokratie gute Medizin machen kann. Sie werden sicher auch im eigenen Interesse ein OP-Buch führen. Weitere Formalitäten bestehen jedoch im Allgemeinen nicht. Das heißt, Sie müssen weder akribisch Patientenakten führen, OP-Einwilligungen ausführlich dokumentieren, OP-Berichte oder Entlassungsberichte schreiben, geschweige denn die in deutschen Krankenhäusern und Praxen allgegenwärtigen Versicherungsanfragen beantworten.

Sie werden nach einem solchen humanitären Auslandseinsatz stets geistig und emotional bereichert und vielleicht auch geerdet zurückkehren.

Habe ich Ihr Interesse für eine solche andersartige Erfahrung geweckt?

Literatur

[1] Policies and practices of countries that are experiencing a crisis in human resources for health: tracking survey Human Resources for Health Observer – Issue No. 6, December 2010 , WHO, http://www.who.int/hrh/resources/observer6/en/index.html

[2] World Health Statistics 2012, http://www.who.int/healthinfo 2012,

[3] Schäfer S. Medizinische Spenden können Armen schaden in Spiegel online 02.08.2012 http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/medizinische-geraete-zu-spenden-ist-als-entwicklungshilfe-ungeeignet-a-847181.html

Weiterführende Informationen
Praxishomepage 3CHIRURGEN
Verein Chirurgen für Afrika
Internationalen Hilfsorganisation Operationhernia

Lorenz R. Arbeitsplatz Entwicklungsland: Albert Schweitzers next generation. Passion Chirurgie. 2013 Februar; 3(02): Artikel 02_05.