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Vorgaben und Optimierung des Entlassmanagements: Was bedeutet das im Klinikalltag?

Der Begriff „Entlassmanagement“ ist im klinischen Alltag allgegenwärtig und doch wird er in den zahlreichen Krankenhäusern unseres Landes unterschiedlich verstanden und gelebt. Dabei stellt diese Phase der Versorgung für viele Patientinnen und Patienten eine besonders kritische dar, denn sie kann besonders großen Einfluss auf die zukünftige Lebensqualität und den Ausgang der Erkrankung haben.

In den Helios Standorten in Duisburg verstehen wir unter Entlassmanagement einen übergeordneten Begriff, der zum einen alle Berufsgruppen miteinschließt und zum anderen standardisierte und patientenorientierte Prozesse beinhaltet. Dabei hat die Sicherstellung der individuellen poststationären Nachsorge für unsere Patientinnen und Patienten die höchste Priorität.

Ein interdisziplinäres Team aus den Bereichen Sozialdienst, Familiale Pflege und pflegerischen Case Managern hat dabei die Aufgabe, die notwendigen Versorgungsaspekte im Akutklinikalltag mit den Patient:innen und ihren Angehörigen zu erfassen, zu planen, zu begleiten, zu koordinieren und zu evaluieren. Ziel ist die Entlassung unter Betrachtung der persönlichen „Patienten-Ressourcen“, um eine selbstständigkeitserhaltende häusliche Versorgung zu erzielen und – sofern Unterstützung erforderlich ist – diese zu implementieren.

Aufbau Entlassmanagement

Das Duisburger Entlassmanagement entwickelte sich durch die gesetzlichen Vorgaben (Rahmenvereinbarung Entlassmanagement) und aus dem traditionell bestehenden Sozialdienst des Krankenhauses. Einige der nun auch gesetzlich geforderten Prozesse waren dankbarerweise bereits vorab unbewusst implementiert worden.

Angestoßen durch die Rahmenvereinbarung wurde zunächst eine Arbeitsgruppe am Haus entwickelt, dessen Hauptaufgabe war, die theoretische Rahmenvereinbarung Punkt für Punkt in die Praxis zu übersetzen.

Insbesondere die Erstellung der datenbasierten, gemeinsamen und transparenten Dokumentation für alle an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen war eine Herausforderung.

Im Sozialdienst wurden standardisierte Assessmentbögen für die Erfassung der Ist-Situation (Sozialanamnesebögen) sowie ein effizientes Dokumentationstool eingeführt, welches im Krankenhausinformationssystem (KIS) die Patient:innenübersicht verbessert. Diese Maßnahmen führten zu einer Eliminierung redundanter Informationssammlung bei Neuaufnahmen und ermöglicht anderen Fachbereichen einen einfacheren Zugriff auf bereits vorhandene Daten.

Die Implementierung des Entlassmanagements stieß trotz umfassender Bemühungen im Behandlungsprozess auf nicht unerhebliche Hindernisse: Bei komplexen Nachsorgesituationen traten Kommunikationsfehler im Team sowie gegenüber den Nachsorger:innen auf. Zudem fehlte eine zentrale Kontrollstelle für die Entlassung in all ihren Facetten, was zu Unvollständigkeiten etwa bei Entlassdatum, poststationärer Versorgungsart oder erforderlichen Unterlagen führte. Offensichtlich fehlte ein Bindeglied zwischen dem multidisziplinären Team, den Patient:innen, Angehörigen und externen Nachsorger:innen. Die Konsequenz erfolgte in der Schaffung einer entsprechenden Leitungsposition, die mit dem Aufbau der neuen Abteilung Case Management betraut werden sollte. Die Stelle konnte intern mit einer Bereichsleitung besetzt werden, welche aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung und Qualifikation in der pflegerischen Patientenversorgung ausgewählt wurde und das Case Management bis heute leitet.

Aktuelle Situation mit den erfolgten Schritten

  • Alle relevanten Verordnungen, Rezepte und Formulare sind nun digitalisiert und im KIS für sämtliche Berufsgruppen einsehbar.
  • Ein tägliches Screening aller Neuaufnahmen erfolgt unter bestimmten bereits vorher festgelegten Kriterien. (Barthel<70, Aufnahme aus Kurzzeitpflegeeinrichtungen oder Rehakliniken, Pflegegrad >1, Diagnosen insbesondere C-Diagnosen, je nach Vorwert in Kombination Familienstand und Wohnsituation)
  • Ein sogenannter „Entlassplan“ wird bereits bei jeder Aufnahme nach Pflegeanamnese oder erfolgreichem Initial-Assessment ausgelöst, um schon frühzeitig erforderliche Maßnahmen zu erfassen und Aufträge an Fachabteilungen zu übermitteln. Dieser Entlassplan fungiert als zentrales Tool im Klinikalltag, das sämtliche Konsilanforderungen sowie durchgeführten Maßnahmen zur poststationären Versorgung transparent auflistet.
  • Mitarbeiter:innen des Case Managements begleiten nicht nur die Pflegevisite, sondern auch Arztvisiten, Team- und Fallbesprechungen.
  • Zum Zeitpunkt der Entlassungen wird schlussendlich überprüft, ob das geplante Ziel erreicht und alle Maßnahmen umgesetzt wurden sowie notwendige Unterlagen vorliegen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Mitgabe von (vorläufigen) Arztbriefen, dem bundeseinheitlichen Medikationsplan sowie Entlass-Rezepten und Verordnungen.
  • Falls Fehler bei der Entlassung auftreten, sind direkte Ansprechpartner:innen für externe Leistungserbringer:innen und Nachsorger:innen verfügbar. Dafür wurden all relevanten Pflegeeinrichtungen persönlich besucht und schriftliche Kontaktinformationen bereitgestellt.
  • Darüber hinaus werden ärztliches und pflegerisches Stammpersonal fachabteilungsbezogen kontinuierlich im Entlassmanagement geschult, um auch weiterhin ein gesichertes Informationsniveau zu gewährleisten. Bei neuen Entwicklungen setzt das Team zudem auf persönliche Termine mit Stationen und Fachabteilungen.

Ausblick in die Zukunft

Die bisherige Erfahrung zeigt, dass eine effektive Zusammenarbeit im multidisziplinären Kontext für eine optimale Versorgung hilfreich und notwendig ist. Das Ziel ist eine personelle Aufstockung im Case Management, um Prozesse auf der Station noch intensiver zu begleiten und Versorgungslücken oder erforderliche Anpassungen frühzeitig zu erkennen. Die Duisburger Klinikleitung plant daher, im Jahr 2024 den Aufbau eines Team aus zertifizierten Case Manager:innen, die den verschiedenen Abteilungen als feste Ansprechpartner:innen zugeordnet werden.

Ankica Gagro

Teamleitung Case Management (DGCC)

Helios Klinikum Duisburg

Michalina Krzonkalla

Abteilungsleitung Patientenservicecenter

Helios Klinikum Duisburg

Chirurgie

Gagro A, Krzonkalla M: Vorgaben und Optimierung des Entlassmanagements: Was bedeutet das im Klinikalltag? Passion Chirurgie. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 03_04.

Weitere Artikel zum Thema Entlassmanagement finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Fachübergreifend.

Chirurgie in der DDR – In der Provinz (Teil 1)

Provinz heißt hier „außerhalb der Universität“, und sie ist lokalisiert auf die „Zone“. Die Motivation, von einer Hochschulklinik in die Provinz zu gehen, dürfte in Ost und West so unterschiedlich nicht gewesen sein: Nicht Oberarzt auf Lebenszeit zu sein, den Sprung in die Selbstständigkeit zu suchen, manchmal auch weggelobt oder abgeschoben zu werden. Auch ein unfreiwilliger Wechsel weg von der Alma Mater hat sich nur allzu oft als Glücksfall erwiesen, wo ungeahnte Talente frei und hohes Ansehen erlangt wurden. Die Kollegen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg lebten und arbeiteten jedoch in einem zentralistischen Regime, bei dem die Staatspartei SED in Berlin alle Entscheidungen auch für das Gesundheitswesen traf, die dann bis in den letzten Winkel der Republik „durchgestellt“ wurden. Auch bei einem Wechsel an ein Stadt-, Kreis- oder Bezirkskrankenhaus blieb man als Chefarzt permanentem Druck ausgesetzt, wenngleich dieser an der Universität am höchsten war, da schaute man am genauesten hin! Insbesondere bei Beförderungen und Berufungen waren öffentliches Bekenntnis zum Staat und Mitgliedschaft in der SED die entscheidenden Faktoren. Nach dem Mauerbau 1961 wurden die Zügel noch fester gezogen. „Jetzt haben wir die reaktionären Mediziner, jetzt können sie nicht mehr damit drohen, die DDR zu verlassen!“ (Originalton eines Parteifunktionärs vor Medizinstudenten und Ärzten). So musste sich eine „innere Emigration“ weg von der Universität oder Akademie als Illusion erweisen, es sei denn, man konnte eine der raren Stellen in einem konfessionellen Haus ergattern.

Zone = bewusst oder unbewusst herabsetzende Bezeichnung des Staates DDR (1949-1990). Es gibt im Jahr 2023 noch Menschen, die die fünf „neuen“ Bundesländer immer noch als „Zone“ bezeichnen.

Die über 400 km von Leipzig nach Stralsund hatte Herberts Uebermuths (1901-1986) erster Oberarzt Dr. med. Otto Scholz (1916-2010) 1958 ohne Kulturschock überwunden, als er die Chefarztposition im Krankenhaus am Strelasund übernahm. Wo der Schöngeist Scholz weilte, da war immer auch Kultur und zudem war ihm die Stadt am Meer seit dem Lazarettaufenthalt 1945 ans Herz gewachsen. Während in der BRD mit der Bezeichnung „Bezirkskrankenhaus“ Landeskliniken und Heilanstalten der Psychiatrie verbunden sind, stand in der DDR dieser Name für Allgemeinkrankenhäuser der Schwerpunkt- bzw. Maximalversorgung, auch in Städten, die keine Bezirkshauptstädte waren wie z. B. Stralsund, Brandenburg/Havel, Coswig/Sa., Görlitz oder Meinigen. Obwohl noch 1960 extern bei seinem ehemaligen Chef Uebermuth in Leipzig mit der Arbeit „Konservative Behandlung schwerer gedeckter Hirntraumen“ habilitiert und für ordinariabel gehalten, machte sich Scholz keine Illusionen und blieb 23 Jahre in Stralsund. Zu kritisch stand er dem System DDR und der zunehmenden ideologischen Indoktrination an den Hochschulen gegenüber. Seit 1969 Honorarprofessor der Universität Greifswald, erwarb sich Chefarzt Dr. Scholz nicht nur in Stadt und Land hohe Anerkennung, sondern wirkte auch international bei Auslandseinsätzen der WHO und des IRK.

Auch ein vielversprechender junger Oberarzt von Willi Felix (1892-1962) an der Berliner Charité wählte 1957 den Gang in die Provinz: Eberhard Hasche (1920-1973), seit einem Jahr mit dem „Problem des pleuralen Leerraumes nach Lungenresektion“ habilitiert, folgte dem Ruf als Leiter der Abteilung für Thorax- und Kardiochirurgie der Zentralklinik Bad Berka in Thüringen. Hier baute er unter großen Schwierigkeiten das fünfte und einzige nicht universitäre herzchirurgische Zentrum der DDR auf (neben Berlin, Halle, Leipzig und Rostock). Der versierte Operateur und leidenschaftliche Lehrer wäre gut auf einem Ordinariat vorstellbar gewesen, wenn nicht sein katholischer Glaube und seine Distanz zur Staatspartei und ihrer Politik dagegengesprochen hätten. So blieb ihm von 1960 bis 1972 die Professur mit Lehrauftrag an der Humboldt-Universität Berlin, die er von Bad Berka aus nur sporadisch wahrnehmen konnte. Über Thüringen hinaus genoss Prof. Hasche bis zu seinem frühen Tod mit 53 Jahren einen legendären Ruf, der posthum mit der Benennung eines Weges in Bad Berka seine Würdigung fand.

Abbildung 1: Otto Scholz (Arch. Verf.)

Im Gegensatz zu den beiden Vorgenannten stand der Parteigenosse Prof. Ernst-Gustav Michelsen [Michelsson] (1917-1994), Sohn eines Medizinprofessors und Chefarztes in Dorpat [Tartu]. Michelsen hatte in Rostock studiert und 1945 promoviert, bevor er als Assistent an der Chirurgischen Universitätsklinik Greifswald bei Willi Felix und Walter Schmitt (1911-2005) arbeitete. Selbständige Stellungen nahm Michelsen als Vor-Vorgänger von Scholz in Stralsund sowie an den Krankenhäusern von Bad Doberan und Kühlungsborn ein, bevor er von der Regierung den Auftrag erhielt, ein neues Großkrankenhaus in Rostock zu konzipieren. Michelsen erledigte unter größtmöglicher Förderung diese Aufgabe mit Bravour. So konnte er sich in Schweden umsehen und sich an der modernen Krankhausarchitektur orientieren. Das im Dezember 1965 eröffnete Südstadt-Krankenhaus in Rostock, das 32,8 Millionen Ostmark gekostet hatte, sollte Michelsens Lebenswerk werden, ein „Palast der Gesundheit“, wie die Presse schrieb, mit dem Status eines Bezirkskrankenhauses. Michelsen verfügte als ärztlicher Direktor über 557 Betten, 100 Ärzte und 600 nichtärztliche Mitarbeiter. Er hatte einen Zweitwohnsitz in Ahrenshoop und genoss das ansonsten nur allerhöchsten Partei- und Regierungsmitgliedern zustehende Privileg, auf der Ostsee, die zu DDR-Zeiten militärisches Sperrgebiet war, segeln zu dürfen. – Ernennungen zum Obermedizinalrat, zum „Verdienten Arzt des Volkes“ und zum Professor blieben nicht aus.

Abbildung 2: Bezirkskrankenhaus Stralsund (alte Postkarte)

Im näheren Umfeld von Berlin mussten sich die Bezirkskrankenhäuser von Brandenburg und Potsdam an der übermächtigen Chirurgie der Hauptstadt messen lassen. Das gelang ihnen dank profilierter Chefs an der Spitze. Der eine war gebürtiger Dresdner und Schüler von Albert Fromme (1881-1966): OMR Dr. med. Ludwig Krafft (1920-2013) in Brandenburg an der Havel. Er war Truppenarzt im Krieg gewesen, als er bei Fromme in Dresden-Friedrichstadt anfing. Dieser schickte ihn Mitte der 1950er Jahre zu Rudolf Frey (1917-1981) nach Heidelberg, um die moderne Anästhesie zu erlernen. So wurde Krafft einer der ersten Fachärzte für Anästhesiologie in der DDR. Als Fromme in den Ruhestand ging, leitete Krafft zusammen mit dem Griechen Elias Ligdas (1912-?) kommissarisch die 350-Betten-Klinik und wechselte mit dem Amtsantritt von Hans-Dietrich Schumann (1911-2001) 1957 als chirurgischer Chefarzt nach Brandenburg, wo noch vollklimatisierte und funktionsfähige Operationsbunker aus der Kriegszeit vorhanden waren. Unter Krafft erfolgten Um-, Aus- und Neubauten und die Verselbstständigung von Spezialdisziplinen wie z. B. Anästhesie, Traumatologie und Urologie. Auch der Geschichte seines Fachgebietes hat Krafft viel Interesse entgegengebracht, wie aus Veröffentlichungen und persönlichen Gesprächen des Verfassers mit ihm hervorgehen. Außerdem ist OMR Dr. Krafft viele Jahre Vorsitzender der Regionalgesellschaft Potsdam innerhalb der Gesellschaft für Chirurgie der DDR gewesen.

Abbildung 3: Wilhelm Matthias Haßlinger (Prof. Frank Marusch)
Abbildung 4: Ernst-Rulo Welcker (Wikipedia)

Als „Nachbar um die Ecke“ sorgte Prof. Wilhelm Matthias Haßlinger (1905-1997), genannt WM, 21 Jahre als Chefarzt des Bezirkskrankenhauses Potsdam für Furore. Die chirurgische Schulung erfuhr der Bayer in Würzburg bei Fritz König (1866-1952), Max Kappis (1881-1938) und Ernst Seifert (1887-1969). Der zweite Weltkrieg entwurzelte den noch in Würzburg Habilitierten von der akademischen Karriere, und so gelangte der Sanitätsoffizier der Luftwaffe nach Kriegsende zunächst an das Stadtkrankenhaus in Nauen und dann aufgrund seiner Qualifikation schon 1949 als Chef an die Großklinik in Potsdam, das spätere Bezirkskrankenhaus. Es erfolgten Umhabilitation und Ernennung zum a. o. Professor für Chirurgie an der Humboldt-Universität in Berlin, womit Haßlinger wieder einen gewissen Anschluss an die Hochschulmedizin fand. Prof. W. M. Haßlinger konnte 1970 das Haus in bestem Zustand an seinen Schüler und Nachfolger Prof. Hans Röding (1930-1998) übergeben. Dieser bezog 1985 einen Neubau in zeitgenössischem Glas-Beton-Stil. 1991 erhielt das Klinikum den Namen Ernst von Bergmanns (1836-1907), der hier 1899 die erste Appendektomie durchgeführt hatte.

Abbildung 6: Gedenktafel Heinz Funke am Klinikum Görlitz (Wikipedia)

Im südlichen Brandenburg, in Cottbus, steht nicht nur das größte Jugendstil-Theater Deutschlands, sondern es befindet sich hier auch ein imposantes Krankenhaus. Die „Städtische und Thiemsche Heilanstalt“ wurde 1914 auf Initiative und mit Geldern des Arztes Carl Thiem (1850-1917) eingeweiht. Dr. Carl Thiem hatte sich vorwiegend autodidaktisch zum Chirurgen entwickelt, die „Monatsschrift für Unfallheilkunde“ mitbegründet und ein „Handbuch der Unfallheilkunde“ verfasst, das wohl ausschlaggebend für seinen Professorentitel gewesen war. Mehrere Chefärzte folgten auf Prof. Thiem, bis in den Wirren der Nachkriegszeit der Greifswalder Universitätschirurg und Professor Ernst-Rulo Welcker (1904-1971) in die Spreestadt gelangte. Welcker imponierte, er war gut und man brauchte ihn dringend, sodass er rasch entnazifiziert wurde. Während seines fast 25-jährigen Wirkens brachte er die durch den Krieg baulich und personell in Mitleidenschaft gezogene Klinik zu neuer Blüte. Als Abgeordneter der SED wurde er 1950 in den Landtag von Brandenburg entsandt. Die Bettenzahl der Chirurgie schwankte zwischen 200 und 300. Welckers hohes Arzttum hat eine ganze Generation von Ärzten beeinflusst, wie Zeitgenossen aussagen. Der in den Jahren von 1972 bis 1982 errichtete Neubau sollte den Namen des ursprünglichen Gründungsvaters Carl Thiem tragen, was staatlicherseits aus ideologischen Gründen – man sah in Prof. Thiem den Vertreter des Bürgertums – nicht gestattet wurde. Nach der politischen Wende 1990 erhielt das 1400-Betten-Haus den Ehrennamen „Carl-Thiem-Klinikum“ und wurde Schwerpunktkrankenhaus und Lehrkrankenhaus der Charité in Berlin.

Abbildung 7: Reinhard Schroth (Wikipedia)

Die Länderstruktur wurde in der DDR 1952 aufgehoben und dafür 14 Bezirke gegründet. Erst nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 entstanden die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen.

Man sagt, Görlitz sei eine der schönsten Städte Deutschlands, die östlichste ist sie ohnehin. Nach hier zog es 1955 den Sachsen Heinz Funke (1911-1993), der aus einfachen Verhältnissen stammte und den Krieg als Sanitätsoffizier und schwer Verwundeter hinter sich hatte. Nach dem Studium in Würzburg war er zunächst Assistenzarzt in Osterburg in der Altmark gewesen. Über seinen dortigen chirurgischen Lehrer Fritz Walter Pommrich (1900-1967), dem „Sauerbruch der Altmark“, war Funke gewissermaßen Enkelschüler von Fromme in Dresden. Kurz nach Kriegsende erhielt Funke schon die Anstellung als Chefchirurg am Kreiskrankenhaus in Lichtenstein im Erzgebirge, wo er zehn Jahre blieb und auch politisch aktiv war. Als Abgeordneter der SED saß er von 1949 bis 1958 in der DDR-Volkskammer. Als er 1955 nach Görlitz wechselte, stand er vor der Mammutaufgabe, Chefarzt der Chirurgie und später Ärztlicher Direktor zu sein, das 50 Jahre alte Großkrankenhaus zu renovieren und gleichzeitig einen Neubau in die Wege zu leiten. Trotz dieser Mehrfachbelastungen schaffte es Funke, Freund der schönen Künste und leidenschaftlicher Jäger zu sein. In seiner Klinik war der exzellente Operateur Initiator zahlreicher Neuerungen, Pionier der Intubationsnarkose und der Transfusionsmedizin, Förderer einer eigenständigen Dialyse und Notfallmedizin. Ehrungen blieben nicht aus: Verdienter Arzt des Volkes, Professor, Ehrenbürger von Görlitz u. a. Seine Hauptschüler waren Peter Heinrich (1927-2012), der nachmalige Ordinarius an der Medizinischen Akademie Magdeburg, und Reinhard Schroth (1926-2017), Chefarzt am Paul-Gerhard-Stift in Wittenberg, dem der folgende Abschnitt gewidmet ist.

Abbildung 8: „Chirurgischer Ratgeber“ von R. Schroth (Arch. Verf.)

Sein „Chirurgischer Ratgeber“ passte in jede Kitteltasche, ist in fünf Auflagen erschienen, eine auch in der BRD. Reinhard Schroth kam aus Freiwaldau (Fryvaldov) im heutigen Tschechien, hatte alle nur denkbaren Schrecken des Krieges und der Gefangenschaft erlebt, bevor er in Jena studieren konnte. Seit seiner Anstellung in Lichtenstein begleitete er seinen Meister Funke (s. o.) bis nach Görlitz. Funke förderte ihn umfassend, schickte ihn zu Hospitationen nach Jena (Kuntzen), Berlin (Felix), Pässler (Leverkusen), Leipzig (Uebermuth) und sogar in die Schweiz zur Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO). Bei Heinrich Kuntzen (1893-1977) habilitierte er sich 1964 extern; alles war mit Kampf verbunden. 1972 wurde Schroth zum Chefarzt der Chirurgie am evangelischen Paul-Gerhard-Stift in der Lutherstadt Wittenberg gewählt. Mit zahlreichen Veröffentlichungen, Vorträgen und der Habilitation wissenschaftlich ausgewiesen, wartete er vergeblich auf eine Dozentur, zu offensichtlich waren sein christlicher Glaube, seine kritische Haltung zur Obrigkeit im Allgemeinen und seine Weigerung, aus der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie auszutreten im Besonderen. Hochbetagt starb Dr. Schroth mit 91 Jahren an den Folgen eines Sturzes.

Teil 2 folgt.

Korrespondierender Autor:

Dr. med. habil. Volker Klimpel

Grazer Straße 3

01279 Dresden

Panorama

Klimpel V: Chirurgie in der DDR – In der Provinz (Teil 1). Passion Chirurgie. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 09.

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Passion Chirurgie im Dezember 2023

Unsere Dezemberausgabe zur „Aus-, Weiter- und Fortbildung in der Chirurgie“ wird Sie zwischen den Jahren bestens informieren und unterhalten! Wie man z. B. die nachwachsende Generation an Chirurginnen und Chirurgen für die Klinik begeistern kann, lesen sie in „Letzter Halt PJ – Nachwuchs für die Klinik motivieren“.

Beachten Sie vor allem das frische Jahresprogramm der BDC-Akademie, dass wir Ihnen im Heft vorstellen. Auch 2024 halten wir wieder für alle Karrierestufen qualitativ hochwertige Fortbildungsangebote bereit, sofort buchbar.

Zwei CME-Punkte können Sie (fast) direkt einsammeln: Der Artikel „Der Thoraxmagen“ ist zertifiziert und steht BDC-Mitgliedern kostenlos in der eAkademie zur Verfügung. Sie müssen sich nur einloggen und 10 Fragen zum Text richtig beantworten!

Berlin ist immer eine Reise wert! Derzeit auch wegen der die Ausstellung „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ des Medizinhistorischen Museum der Charité. Die Kuratorin Henriette Pleiger hat exklusiv für PASSION CHIRURGIE einen Beitrag dazu geschrieben (s. Panorama).

Ihre PASSION Chirurgie-Redaktion wünscht Ihnen besinnliche Festtage. Kommen Sie gut ins neue Jahr!

„Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ – Eine Ausstellung in der Berliner Charité

Die laufende Ausstellung „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ im neugestalteten Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité (noch bis 8. September 2024, Das Gehirn | Ausstellungen | bmm – Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité (bmm-charite.de) ist ein interdisziplinäres Ausstellungsprojekt, das im Hinblick auf die Vermittlung von jüngsten Forschungsergebnissen in der Medizin neue Wege beschreitet.

Das Gehirn ist eines der letzten großen Rätsel des menschlichen Körpers. Als zentrales Körperorgan, das unser Sein und Wesen ausmacht, gilt es in seinen Strukturen und Funktionen in vielerlei Hinsicht noch als unverstanden. Aktuell unternimmt die Neurowissenschaft die größten Forschungsanstrengungen, um den Funktionen des Gehirns genauer auf die Spur zu kommen. Daraus schöpft sie innovative Ansätze für Diagnose und Therapie von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen, zum Beispiel an hervorragender Stelle auch in der Berliner Charité.

Abb. 1: Blick in die Ausstellungsräume „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ (Foto: H. Pleiger)

Die Ausstellung „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ bietet allen Interessierten einen Gang hinter die Kulissen der Hirnforschung. Sie zeigt, wie detailliert sich die Landkarte des Gehirns inzwischen zeichnen lässt, wo Wahrnehmung, Empfinden, Erinnern und Denken sitzen, wie sich die einzelnen Hirnregionen zu höheren Funktionseinheiten vernetzen und welche medizinischen Hilfsangebote inzwischen gemacht werden können, wenn Hirnleistungen durch Alter, Krankheit oder Unfall eingeschränkt sind.

Abb. 2: Blick in die Ausstellungsräume „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ (Foto: H. Pleiger)

Die Ausstellung weitet aber auch bewusst den Blick. Sie stellt philosophische Fragen, wie die nach dem Ich und dem Selbst und wie wir uns in die Welt stellen und uns mit ihr verbinden. Dabei setzt sie bewusst auch auf das Mittel der Kunst als eine andere, inspirierende Perspektive auf das spannende Thema. Denn neben der Medizin beteiligen sich seit jeher auch andere Disziplinen wie Philosophie, Religion, Psychologie und eben auch die Kunst mit großer Neugier und Hingabe an der Entdeckungsgeschichte des menschlichen Gehirns.

Die Entwicklung der Ausstellung hat eine längere Vorgeschichte. Sie wurde unter dem noch etwas kunstbetonteren Titel „Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft“ zunächst in der Bundeskunsthalle in Bonn konzipiert und gezeigt (28. Januar bis 26. Juni 2022), bevor Prof. Dr. Thomas Schnalke, Leiter des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité, sich zu unserer großen Freude entschloss, die Ausstellung für das Jahr 2023 in Berlin zu adaptieren. Doch die Charité war schon ab einem früheren Zeitpunkt in das Projekt eingebunden. Johanna Adam und ich, als die zwei zuständigen Kuratorinnen der Bundeskunsthalle, interessierten uns besonders für eine künstlerische, philosophische und kulturhistorische Betrachtung des Themas. Als fulminanten Sparringspartner konnten wir unseren Co-Kurator Prof. Dr. John-Dylan Haynes gewinnen, Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging und renommierter Hirnforscher der Charité, der die wissenschaftlichen Aspekte unseres Themas vertreten sollte.

Abb. 3: Zehn menschliche Neuronen und ihre Verknüpfungen, 2022, Anatomische Rekonstruktion, Yangfan Peng, Sabine Grosser, AG Vida, AG Geiger, AG Schmitz, Medical Research Council Brain Networks Dynamics Unit (MRC BNDU) Oxford

So hatte sich ab 2020 ein interdisziplinäres Kuratorenteam gebildet, das sich aufgrund der Pandemie in unzähligen Online-Meetings zwischen Bonn und Berlin traf, um eine gemeinsame kuratorische Sprache auszuhandeln, die in ein prägnantes Ausstellungskonzept münden sollte. Bencard et al. nennen diesen interdisziplinären Prozess „curating experimental entanglements“ (Bencard et al. 2019, S. 133) und beziehen sich dabei auf die Entwicklung der Dauerausstellung Mind the Gut im Medical Museion in Kopenhagen, für die sie sowohl Künstler als auch Biomediziner in ihr Team eingeladen hatten. In ähnlicher Weise haben wir versucht, das menschliche Gehirn aus einer Vielzahl von Perspektiven und Disziplinen zu beleuchten, um die Komplexität dieses Organs umfassender darzustellen.

Abb. 4 a,b: Broken Ladies: Camilla (li.) und Gail (re.), 2021, Keramik, Jessica Harrison (geb. 1982), Edinburgh, Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin

Einer der Hauptgründe, warum wir das Gehirn als Thema für unsere Ausstellung gewählt haben, war, dass es uns immer noch wie ein nahezu unerforschtes Gebiet erschien, das sowohl Raum für Fiktionen und Fantasien als auch für kühne wissenschaftliche Theorien bietet. Die Hirnforschung liefert ständig neue Erkenntnisse, steht aber auch noch vor vielen ungelösten (und ethisch umstrittenen) Fragen. Das Gehirn regt daher zu einer Fülle von Spekulationen und Hypothesen an – nicht nur bei Neurowissenschaftlern, sondern auch bei Philosophen, Künstlern und Forschern vieler anderer Disziplinen, und ist damit ein ideales Thema für eine interdisziplinäre Ausstellung. Bei diesem interdisziplinären Dialog mussten wir allerdings darauf achten, einerseits einen vielfältigen Blick auf das Thema zuzulassen, aber andererseits die Besucher auf eine nachvollziehbare und nicht zu verwirrende Reise durch die Geschichte der Erforschung des Gehirns mitzunehmen.

Die Ausstellung widmet sich fünf scheinbar einfachen Frage, die sich die Besucher auch selbst hätten stellen können:

Die erste Frage lautet: „Was habe ich im Kopf?“ Das so betitelte erste Ausstellungskapitel untersucht die bloße Anatomie des menschlichen Gehirns. Zu den wichtigsten Objekten der Wissenschaftsgeschichte gehören hier beispielsweise Santiago Ramón y Cajals fantastische Zeichnungen von Gehirnzellen und -strukturen aus dem ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, die auch derzeit in Berlin im Original zu sehen sind.

Die zweite Frage lautet: „Wie stelle ich mir die Vorgänge im Gehirn vor?“ Dieses Ausstellungskapitel fragt nach den kognitiven Funktionen und aktiven Prozessen im Gehirn. Es werden bedeutende technische Erfindungen vorgestellt, wie zum Beispiel die Magnetresonanztomografie, die das Studium des aktiven Gehirns ermöglicht. Andererseits laden Analogien und Metaphern für die Abläufe im Gehirn – wie zum Beispiel den Denkprozess – zu künstlerischen Interpretationen ein.

Die dritte Frage ist eher philosophischer Natur: „Sind ich und mein Körper dasselbe?“ Die dualistische Vorstellung von der Seele als einer vom Körper losgelösten Entität ist immer noch verbreitet, vor allem in unseren Vorstellungen vom Tod. Die moderne Hirnforschung zieht es vor, statt von der „Seele“ von „Bewusstsein“ zu sprechen und betrachtet geistige Prozesse als untrennbar von körperlichen.

Das Zusammenspiel von Körper und Geist zeigt sich in der Funktion unserer Sinne. Die vierte Frage lautet daher: „Wie mache ich mir die Welt?“ In diesem Ausstellungskapitel geht es um die Frage, wie die Welt in unseren Kopf kommt und wie zuverlässig unsere Wahrnehmung und unser Gedächtnis sind.

Die fünfte Frage der Ausstellung lautet schließlich: „Soll ich mein Gehirn optimieren?“ Heute helfen neurologische Implantate, Krankheitssymptome zu lindern, zum Beispiel bei der Parkinson-Krankheit. Doch wie wird der Mensch der Zukunft aussehen? Werden wir eines Tages zu Cyborgs? Künstlerische Visionen als Antwort auf diese Frage sind oft von der neuesten Forschung inspiriert. Vieles davon bleibt reine Fantasie oder Science-Fiction, aber es regt zu interessanten Gedanken und grundsätzlicheren, ethischen Überlegung an: Was ist es, das uns zum Menschen macht?

Diese fünf Fragen sollten als Einstieg in eine komplexere Auseinandersetzung mit dem Thema dienen. Als wir mit der Entwicklung dieses interdisziplinären Ausstellungskonzepts begannen, mussten wir zunächst einen Weg finden, unsere unterschiedlichen Arbeitsweisen in Einklang zu bringen. Wir mussten gemeinsam erkunden, wie diese Zusammenarbeit zwischen zwei kunstaffinen Ausstellungskuratorinnen und einem Hirnforscher aussehen könnte und wie wir uns auf ein gemeinsames Narrativ zum Thema „Gehirn“ einigen könnten. Manchmal fühlte es sich an, als wären wir drei verschiedene Wirbeltiere, die um einen Tisch sitzen: ein Vogel, ein Fisch und ein Säugetier. Obwohl wir ein ähnliches Rückgrat haben, bevorzugten wir – wie die Objekte, die wir jeweils vorschlugen – drei sehr unterschiedliche Umgebungen: Luft, Wasser und Land. Ich möchte diese – natürlich grob vereinfachende – Analogie noch ein wenig weitertreiben. Kunstwerke brauchen eine luftige Umgebung, wie Vögel, die ihre Flügel ausbreiten, um ihre Wirkung zu entfalten. Historische Objekte und Dokumente benötigen vielleicht eine eher flüssige Umgebung, die es ihnen ermöglicht, tief einzutauchen und sich in ihre historischen Kontexte einzubetten. Wissenschaftliche Objekte verlangen vielleicht nach einem festeren Boden, um ihre faktische Natur zu unterstützen. Wir mussten also nichts Geringeres tun, als ein „luftiges Wasserland“ zu schaffen, das es uns und den ausgewählten Geschichten und Objekten ermöglichte, auf Augenhöhe zu kommunizieren.

Abb. 5: Indecision, 1983, Öl auf Pappe, Reproduktion, Bryan Charnley (1949–1991), Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Bethlem Museum of the Mind, Beckenham

Glücklicherweise zeigten wir alle drei großes Interesse daran, die Perspektiven der jeweils anderen kennenzulernen, und versuchten so zumindest vorübergehend, zu eierlegenden halbaquatischen Säugetieren wie Schnabeltieren zu werden, während wir einen Blick in die Lebenswelt der anderen warfen. Diese Analogie hat natürlich ihre Tücken, denn unsere Fachgebiete waren in Wahrheit nicht so weit voneinander entfernt, wie es den Anschein gehabt haben mag, denn so hatte zum Beispiel auch der beteiligte Hirnforscher ein tiefes Interesse an philosophischen Fragen und künstlerischen Hypothesen, während wir anderen beiden über die neusten medizinischen Verfahren staunten. Und zumindest in Bezug auf unsere Neugier waren wir drei von Anfang an Mischwesen – bereit, ein gemeinsames Territorium zu schaffen, in dem wir alle atmen und uns bewegen konnten, ohne Kunstwerke oder wissenschaftliche Objekte zu „neutralisieren oder zu instrumentalisieren“ (Bencard et al. 2019, S. 137). Mit den vorgenannten fünf Fragen gelang uns eine klare und einvernehmliche Ausstellungserzählung. In ihr einigten wir uns auf fünf „Spielwiesen“, in denen jeder von uns „artgerechte“ Vorschläge für die Geschichten und Objekte machen konnte, die wir in das Gesamtnarrativ einbeziehen wollten. Eine Win-win-Situa­tion, denn unser aller Horizont erweiterte sich enorm.

Abb. 6: Gedächtnistest, 2002, Brett mit 16 Spielfiguren, Klinik für Neurologie, Charité

Die laufende zweite Station der Ausstellung in Berlin ergänzt dieses Grundkonzept noch durch einen stärkeren Fokus auf die jüngsten Ergebnisse der Hirnforschung an der Charité. Hierbei begeisterte uns auch schon in Bonn besonders ein Projekt der Sektion Bewegungsstörungen und Neuromodulation der Klinik für Neurologie der Charité, das von Prof. Dr. Andrea Kühn und Dr. Lucia Feldmann entwickelt wurde. „Printed by Parkinson‘s“ (Printed by Parkinsons – Innocean Berlin) verbindet künstlerische und wissenschaftliche Methoden, um die Wirkung der tiefen Hirnstimulation auf Menschen mit der Parkinson-Erkrankung auf so berührende Weise zu zeigen, wie es sich kein*e Museumskurator*in hätte besser ausdenken können.

Begleitend zur Ausstellung wurde 2022 eine virtuelle Ausstellung entwickelt, die einen spannenden didaktischen und ästhetischen Ansatz verfolgt und im Internet weiterlebt (www.gehirn.art). Zur Ausstellung in Bonn erschien 2022 darüber hinaus die umfangreiche Publikation Das Gehirn. In Kunst & Wissenschaft (www.hirmerverlag.de/de/titel-1-1/das_gehirn-2307/). In einer eigenen Publikation mit dem Titel Geistesblitze. Gedankenströme stellt das Berliner Medizinhistorische Museum ergänzend die Hirnforschung an der Charité vor (Geistesblitze | Shop | Über das Museum | bmm – Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité (bmm-charite.de).

Literatur

[1]   Bencard, A., Whiteley, L. and Thon, C. H. (2019). “Curating experimental entanglements”, in: Hansen, M. V., Henningsen, A. F. and Gregersen, A. (2019) (eds.). Curatorial Challenges: Interdisciplinary Perspectives on Contemporary Curating, London/New York: Routlegde, pp. 133-146.

Henriette Pleiger

Ausstellungskuratorin

Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland

Bonn

pleiger@bundeskunsthalle.de

www.bundeskunsthalle.de

Panorama

Pleiger H: „Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“ – Eine Ausstellung in der Berliner Charité. Passion Chirurgie. 2023 Dezember; 13(12): Artikel 09_01.

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BDC-Praxistest: Neue flexible Ansätze für Sichten auf die medizinischen Daten tun Not

Vorwort – Klinisches Dashboard – Alles auf einen Blick

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Zeitalter der Information ist die wahre Kunst, nicht alles zu wissen, sondern die entscheidenden Informationen richtig miteinander zu kombinieren. Neben der Erhebung und Sammlung von Daten gehört dazu ihre Gewichtung. Erhebung und Sammlung werden mittlerweile in nahezu allen Sparten elektronisch abgehandelt. Der wandelnde humane Almanach alter Schule ist immer noch beeindruckend, aber in der modernen Lern- und Lehrtheorie eigentlich überholt. Jedes Smartphone bietet den jederzeitigen Zugang zur Weltbibliothek. Man muss also nicht mehr auswendig, sondern kombinieren lernen.

Da moderne Informationssammlungen den Informationssuchenden auch in der Medizin mit Informationsinhalten geradezu überschütten, liegt ein entscheidender Schritt auch in der Informationsdarstellung. Alles auf einen Blick ist doch das alte Ideal aus Schüler- und Studententagen zur Erfassung komplexer Themenfelder. Ein Spickzettel wird auch in Mikroschrift diesem Anspruch heute nicht mehr gerecht.

Klinische Dashboards, die standardisiert aufgebaut individuell angepasst werden können, bieten hier eine sehr interessante Alternative. Und weil die sichtbare Information vom Interpreten – hier also dem Arzt – zusammengestellt wird, bleibt im Gegensatz zu Diagnosehilfen, die passiv konsumiert werden, auch Platz für die intellektuelle Leistung der Synopse, was Lernfortschritt und Verständnis sicher fördert. Klinische Dashboards sind ein spannendes Tool in einer Zeit medizinscher Diagnostik und Therapie, in der frei nach Neil Postman der Erfolg dadurch bestimmt wird, das Wesentliche zu erkennen und Unwesentliches einfach wegzulassen.

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Prof. Dr. med. C. J. Krones

und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Anzahl und Komplexität von medizinischen Daten zu Patient:innen steigen kontinuierlich – z. B. durch Hinzukommen neuer diagnostischer und therapeutischer Verfahren, Multimorbidität oder Zunahme geriatrischer Fälle. So wird es immer schwieriger und aufwändiger, alle relevanten Daten im Blick zu halten. Dafür können – wie in anderen Branchen oft üblich – Dashboards zum Einsatz kommen, wobei klinische Dashboards eine hohe Flexibilität und Individualität bieten müssen und besondere Anforderungen haben. Die Vorteile: Hat der Arzt/die Ärztin beim Öffnen einer Patientenakte immer sofort alles Relevante im Blick, kann einerseits Zeit gespart werden und andererseits die Qualität und Effektivität von klinischen Entscheidungen erhöht werden. Dafür muss es auch möglich sein, dass vordefinierte Dashboards in Form von generellen oder indikationsspezifischen Vorlagen zum Einsatz kommen können. Für eine hohe Patient:innen-Orientierung muss eine Patient:innen-individuelle Anpassung der Sichten möglich sein. Die Zusammenstellung des Dashboardaufbaus muss einfach und für jeden Arzt/jede Ärztin ohne großen Schulungsaufwand möglich sein. Am Beispiel eines Diabetes-Dashboard werden der Grundaufbau und die möglichen Komponenten vorgestellt und erläutert.

Hintergrund und Motivation

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen und der Einsatz elektronischer Patientenaktensysteme führen zu immer mehr Informationen über Patient:innen. Neue diagnostische und therapeutische Verfahren sowie die Zunahme von chronisch kranken und multimorbiden Patient:innen verstärken diesen Aspekt. So sieht sich der Arzt/die Ärztin bei seinen/ihren Entscheidungen und dem Monitoring der Patient:innen-Situationen im Rahmen wiederkehrender Vorstellungen immer mehr Daten gegenüber. Diese Daten können für klinische Entscheidungen kaum mehr effizient gesichtet werden, denn die Visualisierungen von relevanten Patient:innen-Informationen mittels statischen Bildschirmmasken und hierarchischen Ordnerbäumen erfordern in den gängigen klinischen Softwaresystemen viele Klicks und Aktionen, um alle in klinische Entscheidungen einzubeziehenden Informationen abzurufen und einzusehen. Hier bedarf es neuer intelligenter und flexibler Ansätze, die auf einen Blick alles Wichtige sachgerecht anzeigen lassen.

Das prinzipielle Konstrukt ‚Dashboard‘

Als Dashboard wird eine Visualisierungsform bezeichnet, mit welcher Daten übersichtlich auf einem Bildschirm dargestellt werden. Die Daten stammen dabei aus einem großen Daten-Pool, der nur schwerlich rasch überblickt werden kann. Die anzuzeigenden Daten hängen vom Anwendungsgebiet und dem Nutzungskontext ab, somit ist ein Dashboard stets auf einen speziellen Anwendungsfall ausgerichtet [1]. Da in einem Anwendungsbereich viele Anwendungsfälle existieren, gibt es in einem Anwendungsbereich oftmals zahlreiche Dashboards. Durch die von Dashboards bereitgestellten Daten kann das Verständnis des Benutzers/der Benutzerin über die Gegebenheiten verbessert [1] und ein effizienteres Arbeiten und sachgerechtere Entscheidungen unterstützt werden. Medizinische Dashboards können u. A. dafür genutzt werden, um medizinische Daten aus Patientenakten darzustellen. Diese sollen Mediziner:innen durch ihre übersichtliche Darstellung von relevanten Informationen bei der Entscheidungsfindung innerhalb der Behandlung unterstützen und zur Behandlungsqualität beitragen [2].

Grundidee und Anforderungen

Medizinische Informationen aus durchgeführten diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen sind umfangreich und vielfältig. Mit Blick auf eine Fragestellung oder bezogen auf eine bestimmte Indikation haben aber nicht alle Informationen den gleichen Stellenwert und sind dauerhaft relevant. Man kann hier von einer „Halbwertszeit“ gewisser Information sprechen. Die Information einer chronischen Erkrankung hat ab Feststellungszeitpunkt dauerhaft Bedeutung, ein Laborwert aber nur für einen bestimmten kurzen Zeitraum, es sei denn, dieser wird für eine Trendanalyse (Beispiel Entwicklung des Tumormarkerwertes) benötigt. So macht es also wenig Sinn, alles auf Basis einer Patientenakte, die alle Informationen über lange Zeit enthält, durchsuchen zu müssen, um bestimmte Aspekte oder nur einen kleinen Zeitabschnitt zu Daten der letzten Tage anzuschauen. Daher ist die Grundidee eines klinischen Dashboards, je nach Wichtigkeit der Informationen bezogen auf eine Indikation oder die spezielle Patient:innen-Situation eine vorkonfigurierte klinische Übersichtsansicht zur Verfügung zu stellen.

Dabei ergeben sich eine Reihe von Anforderungen:

  • Ein Dashboard sollte die Informationen nach bestimmten Kategorien darstellen können. Auf oberster Ebene sind dies z. B. die Phänomenarten Symptome, Diagnosen, Maßnahmen, Vorfälle, Medikationen, Einteilungen und Scores, klinische Parameter zu sehen. Die Kategorisierung sollte ausdrucksstark und granular sein, um die klinische Phänomenologie eines Patienten/einer Patientin gut abbilden zu können.
  • Für die Anzeige sollten, ähnlich wie man das von Textverarbeitungssoftware kennt, Vorlagen definiert und hinterlegt werden können.
  • Vorlagen müssen für bestimmte Anwendungsfälle definiert werden können, z. B. bezogen auf spezielle Indikationen, wobei es auch alternative Sichten/Dashboards je Indikation geben können muss.
  • Eine Anpassung von Vorlagen auf die individuelle Patient:innen-Situation muss möglich sein, gegebenenfalls z. B. auch für wichtige Informationen über zwei Indikationen und/oder mehrere Aspekte hinweg (Beispiel Patient:in hat Diabetes und Asthma und Übergewicht).
  • Einem Patienten/einer Patientin müssen auch mehrere verschiedene Dashboards zugewiesen werden können, zwischen denen rasch umgeschaltet können werden muss.
  • Die Integration oder der rasche Aufruf von Bild- und Signalobjekten muss möglich sein.

Aufbau und Elemente eines klinischen Dashboards

Aufbau

Bei jeder klinischen Anwendung bzw. Maske ist es unabdingbar, dass der Anwendungskontext klar ist. Unser Dashboard (siehe Abbildung 1) enthält daher im oberen Headerbereich sehr präsent eine Übersicht der Patienten:innen-Stammdaten und den problemorientierten Dashboard-Fokus. Aber auch der aktuelle klinische Status des Patienten/der Patientin sollte direkt deutlich werden. Daher befinden sich im Headerbereich zusätzlich die Patient:innen-spezifischen wichtigen klinischen Zielwerte sowie gegebenenfalls erhobene Assessment- und Score-Werte.

Neben diesen schnell zu überblickenden generellen Angaben werden spezifischere Behandlungsinformationen zu den einzelnen klinischen Phänomenen benötigt. Diese werden, nach Typen gruppiert und in Form von Bausteinen im zentralen Bausteinbereich unseres Dashboards angezeigt. Diese Bausteine nennen wir im Folgenden CliPICs (Clinical Phenomenon Information Components). Ein CliPIC repräsentiert entweder eine der o. a. Phänomenarten oder einen speziellen benutzer:innen-definierten Inhalt.

Um optimal und ganz spezifisch im Behandlungs- und Patienten:innen-Kontext den Arzt/die Ärztin in seinen/ihren Entscheidungen unterstützen zu können, werden statt einer statischen Patientenaktenansicht für alle Arten von Patient:innen und Indikationen ganz individuell-anpassbare (Dashboard-)Ansichten benötigt.

Je nach Indikation und spezieller Patienten:innen-Situation sollten individuell ausgewählte relevante Informationen zusammengestellt und visuell präsentiert werden können. Gerade in Zeiten von Termindruck und Zunahme der zu behandelnden Patient:innen pro Zeiteinheit kann eine solche angepasste Gesamtsicht auf die Patienten:innen-Situation einen Wertebeitrag zum Behandlungserfolg leisten.

Damit das Dashboard schnell angepasst werden kann, können Konfigurationen und Filterungen durch einen Klick auf Chips, d. h. kleine Rechtecke mit maximal abgerundeten Ecken, im Baustein- und Konfigurationsbereich angepasst werden. Da je nach klinischem Anwendungsfall die vielfältig vorhandenen klinischen Informationen bzw. Informationstypen von unterschiedlicher Relevanz sind, können diese in unserem Dashboard auch mithilfe von Chips ein- und ausgeblendet, inhaltlich gefiltert und in ihrer Anzeigegröße und -position angepasst werden. So können die Plasmaglukosewerte z. B. bei Patient:innen mit T2DM besonders relevant sein und in unserem Dashboard in einem Extra-Bereich sehr detailliert über eine Zeitspanne angezeigt werden, und bei anderen Patient:innen nur als je ein Wert unter vielen verschiedenen Laborwert en angezeigt werden.

Sollten Risikofaktoren vorliegen, können diese innerhalb des Dashboards visuell hervorgehoben dem Benutzer/der Benutzerin angezeigt werden. Zusätzlich können Dashboard-Inhalte nach Freitexten durchsucht und einmal erstellte Dashboard-Vorlagen gespeichert, verwaltet und wiederverwendet werden.

Abb. 1: Dashboard Mockup; Beispiel für Typ 2 Diabetes Mellitus, mit Bereichen/Bausteinen, Filterungen, Konfigurationen und Risikofaktorkennzeichnungen

Clinical Phenomenon Information Components (CLiPICs)

Ein wichtiger Aspekt für die Medizinische Dokumentation und digitale Patientenakten ist die Granularität der Dokumentation. So sind Systeme die nur Dokumente verwalten wenig geeignet, klinische Entscheidungen und Handeln zu unterstützen. Man sollte also die klinische Phänomenologie aus z. B. Diagnosen, Maßnahmen, Medikation, Symptomen, Vitalparametern, Laborwerten, Sonstigen Gesundheitsbelangen oder Notizen/Zusatzdokumenten (siehe Abbildung 2) gut abbilden können.

Diese medizinischen Inhalte können für Speicherung und Anzeige in Bausteinen gekapselt werden, wobei auch Beziehungen zwischen den Phänomenen möglich sind.

CliPICs bestehen aus einem Bezeichner, aktiven Filterungschips (inhaltlich, zeitlich und statusabhängig), einem Chip zur Anpassung der Darstellungsform (Tabelle, Graph und Zeitstrahl), und Buttons zum Hinzufügen weiterer inhaltlicher Filter und medizinischer Daten. Visuelle Markierungen können optional einzelne medizinische Phänomene innerhalb von CliPICs als Risikofaktoren kennzeichnen.

Abb. 2: Phänomenklassen (grau) und -unterklassen (blau) einer Indikation

Dashboard-Vorlagen

Nun macht es jedoch wenig Sinn mit Blick auf Aufwand und Standardisierung, immer wieder für jeden Patienten/jede Patientin ein Dashboard zu konfigurieren, denn einerseits generell und andererseits je nach Indikation gibt es aus medizinischer Sicht immer eine Menge von Informationen, die von besonderer Bedeutung sind.

Ähnlich wie bei gängiger Textverarbeitungssoftware, welche Vorlagen für Briefe, Rechnungen usw. nutzen, nutzt auch unser Dashboard Vorlagen. Durch Dashboard-Vorlagen können die Konfiguration und das Layout eines einmal zusammengestellten Dashboards gespeichert und für weitere Anwendungsfälle mit unterschiedlichen Benutzer:innen und Patient:innen angepasst und wiederverwendet werden.

Als Anwendungsfall unseres generisch-konfigurierbaren und problemorientierten Dashboards haben wir beispielhaft die chronische Erkrankung Typ 2 Diabetes Mellitus (T2DM) genutzt. Medizinisches Fachwissen zur Behandlung und zum Management dieser Indikation (siehe Abbildung 3) wurden hierzu einer Behandlungsleitlinie [3], einer aufbauenden praktischen Empfehlung [4] und einer thematisch verwandten Publikation [5] entnommen. Die beispielhaft vorgestellte T2DM-Dashboard-Vorlage verdeutlicht auch, wie Dashboard-Vorlagen spezifisches Expert:innen-Wissen darüber, welche Phänomene und Ergebnisse in einem bestimmten Anwendungsfall und Kontext überwacht und überblickt werden sollten für weitere Anwendungsfälle vererben können. Ein indikationsspezifisches Dashboard bildet somit Fachwissen ab.

Abb. 3: Mindmap medizinischen Fachwissens der Indikation Typ 2 Diabetes Mellitus der Phänomenklasse (grau) Klinische Parameter und -unterklassen (blau) Vitalparameter und Laborwerte mit verschiedenen Phänomenentitäten (violett), Attributen (farblos) und möglichen Risikofaktorkennzeichnungen (Fettschrift)

Schlussfolgerung

Klinische Dashboards können Ärzten und Ärztinnen dabei helfen, den Überblick über klinische Patient:innen-Situationen zu behalten und somit bei klinischen Entscheidungen unterstützen. Eine von uns durchgeführte nicht repräsentative qualitative Umfrage hat u. A. gezeigt, dass die meisten Proband:innen mit ihren aktuellen Informationssystemen keine spezifischen Übersichten erstellen können. Es zeigt sich, dass sie sich von unserem Dashboard besser unterstützt fühlen würden. Es bedarf somit in den verschiedenen klinischen Informationssystemen neuer intelligenter und flexibler Ansätze, die auf einen Blick alles Wichtige sachgerecht anzeigen lassen.

In der digitalen Ausgabe der PASSION klicken Sie hier für ein 2-Minuten-Video „Klinische Dashboards“ von Jessica Swoboda und Prof. Peter Haas oder Sie geben in Ihren Browser ein: https://bit.ly/BDC-Dashboard-Video.

Literatur

[1]   Matheus R, Janssen M, Maheshwari D. Data science empowering the public: Data-driven dashboards for transparent and accountable decision-making in smart cities. Gov Inf Q. 2020;37(3):101284. doi:10.1016/j.giq.2018.01.006
[2]   Dowding D, Randell R, Gardner P, et al. Dashboards for improving patient care: review of the literature. Int J Med Inform. 2015;84(2):87-100. doi:10.1016/j.ijmedinf.2014.10.001
[3]   Nationale VersorgungsLeitlinie (Bundesärztekammer, KBV, AWMF). Therapie des Typ-2-Diabetes: Langfassung 1. Auflage. Available at: https://www.leitlinien.de/mdb/downloads/nvl/diabetes-mellitus/archiv/therapie/dm-therapie-1aufl-vers4-lang.pdf. Accessed September 01, 2023
[4]   Landgraf R, Aberle J, Birkenfeld AL, et al. Therapy of Type 2 Diabetes. Exp Clin Endocrinol Diabetes. 2019;127(S 01):S73-S92. doi:10.1055/a-1018-9106
[5]   Zghebi SS, Mamas MA, Ashcroft DM, et al. Development and validation of the DIabetes Severity SCOre (DISSCO) in 139 626 individuals with type 2 diabetes: a retrospective cohort study. BMJ Open Diabetes Res Care. 2020;8(1):e000962. doi:10.1136/bmjdrc-2019-000962

Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. Peter Haas

Fachhochschule Dortmund

Fachbereich Informatik, Medizinische Informatik

haas@fh-dortmund.de

Jessica Swoboda, M. Sc.

Fachhochschule Dortmund

Fachbereich Informatik, Medizinische Informatik

Universitätsklinikum Essen

Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin

Gesundheitspolitik

Haas P, Swoboda J: BDC-Praxistest: Neue flexible Ansätze für Sichten auf die medizinischen Daten tun Not. Passion Chirurgie. 2023 Dezember; 13(12): Artikel 05_01.

Mehr BDC-Praxistests finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de).

Passion Chirurgie im November 2023

Im Novemberheft steht das Thema “Neurochirurgie” im Fokus. Werfen Sie einen Blick in die spinale Neurochirurgie, lesen Sie Neues zum Karpaltunnelsyndrom oder dem Schädel-Hirn-Trauma, ein Krankheitsbild im Wandel.

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Montag, den 13. November, findet um 19.00 Uhr ein BDC-Live-Webinar zum Thema „Hybrid-DRG bei ambulanten Operationen: aktueller Gesetzesstand und Handlungsempfehlungen” statt. BDC-Mitglieder zahlen 50 Euro, für Informationen klicken Sie HIER.

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Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

BDC-Praxistest: Chirurgische Lehre – Alles auf Anfang?

Vorwort – Alles virtuell oder was?

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Lehrformate aller Art unterliegen einem ständigen Reformdruck. Neue Lehrinhalte, reformierte edukative Konzepte, technische Innovationen und gesellschaftliche Erwartungen von Lernenden und Lehrenden sind die Treiber einer ständigen Bewegung. Dem Reformeifer steht der Traditionalismus entgegen, bewährte Strukturen zu erhalten. Im ewigen Wettstreit scheinen manchmal 80 Millionen Studienräte zu konkurrieren. Aber eine einzige Wahrheit existiert, wie so oft, natürlich nicht. Lehrreformen stellen kein zwingendes Elaborat, sondern vielmehr ein Konvolut an Prämissen und Entscheidungen. Jede politisch getriebene Schulreform diene als Beispiel.

Die Covid-Pandemie hat diesen fließenden Reformprozess ganz erheblich beschleunigt. Die strengen Isolationsmaßnahmen führten zu einem Boom digitaler und virtueller Ausgestaltungen, ohne die eine Fortführung auch der universitären Lehre nicht möglich gewesen wäre. Die Pandemie ist jetzt beendet – aber stellt man jetzt alles wieder auf Anfang? Nein, so sollte und wird es nicht kommen. Auch wenn manche innovative Lehrvermittlung nur der Improvisation geschuldet war, lässt sich die Zeit nicht einfach zurückdrehen. Die Gunst der Stunde nutzen heißt vielmehr, Neues mit Bewährtem zu kombinieren.

Blended Learning at its best? Auch hier kann es keine eindeutigen Antworten geben – zu vielfältig und unterschiedlich sind die Bedingungen und Möglichkeiten. Klar ist nur – Hörsäle und Katheder kriegt man nicht wieder so einfach besetzt, aber Praxis lernt man auch nicht am Rechner. Diese Diskrepanz zu überwinden benötigt Engagement und Kreativität. Ein guter Grund, über den Tellerrand zu blicken – heute nach Mainz. Das Autorenteam hat schon in der Pandemie Konzeptionen publiziert, um die chirurgische Lehre zu erhalten. Jetzt folgt ihr Resümee für die Zeit danach.

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Welche Änderungen wir aus der Pandemie beibehalten sollten – und welche nicht

Die Lehre in der Chirurgie hat in den vergangenen Jahren durch die Digitalisierung und die COVID-19-Pandemie große Veränderungen erfahren. Nach Beendigung des COVID-19-bedingten Social Distancing stellt sich nun die Frage: Chirurgische Lehre – quo vadis? Rückkehr zu altbewährten Strukturen oder den Wind der Veränderung nutzen? Die chirurgischen Fächer leiden unter Nachwuchsmangel und müssen daher ihre Möglichkeiten, das Interesse der Studierenden zu wecken, nutzen.

Chirurgische Lehre – ein Dilemma zwischen Theorie und Praxis

Die Chirurgie nimmt seit jeher eine zentrale Position im Studium der Humanmedizin ein. Mit einem Pflichttertial im praktischen Jahr, einem beträchtlichen Fragenanteil von ca. 5 bis 7 % im zweiten Staatsexamen [1] und als mündliches Prüfungsfach im dritten Staatsexamen ist die Chirurgie in der aktuellen sowie der kommenden Approbationsordnung gemeinsam mit der Inneren Medizin eines der zentralen Fächer des Humanmedizinstudiums. Doch ähnlich wie in der Inneren Medizin haben sich aus einem „Mutterfach“ Chirurgie im Verlauf der letzten Jahrzehnte viele hochspezialisierte Sparten ausdifferenziert, sodass mittlerweile an den meisten Universitätsklinika rund zehn chirurgische Disziplinen im Fach „Chirurgie“ zusammengefasst werden.

Von den Studierenden wird in den Staatsexamina teils hoch komplexes Wissen erwartet, das einen festen Grundstock aus Anatomie und Physiologie benötigt und einen breiten Umfang theoretischer Lernziele mit sich bringt. Doch die Chirurgie ist auch ein praktisches Fach mit vielen Fertigkeiten, die erlernt werden sollten und auch müssen, bisher aber kaum in Prüfungen abgebildet werden. Die meisten Chirurginnen und Chirurgen haben ihren faszinierenden Beruf nicht zuletzt aufgrund des praktischen Arbeitens, der zu erlernenden Fingerfertigkeit und der körperlichen und geistigen Herausforderung des Operierens gewählt.

Dieser praktische Aspekt der Chirurgie bleibt im Studium der Humanmedizin weiterhin sträflich unterrepräsentiert. Das Interesse der Studierenden an der Chirurgie allein mit der Masse an theoretischen Lernzielen zu wecken, stellt eine kaum zu überwindende Hürde dar. Die zusätzlichen Überschneidungen der Lernziele mit den angrenzenden internistischen Fächern (z. B. Herzchirurgie und Kardiologie, Viszeralchirurgie und Gastroenterologie usw.) bieten einen guten Einblick in die Interdisziplinarität des klinischen Alltags, beinhalten aber dabei häufig auch das Problem einer zunehmenden Vermischung. Die Einzigartigkeit der Chirurgie bleibt so auf der Strecke. In den Vordergrund rücken stattdessen dann die vermeintlich schlechteren Arbeitsbedingungen in den chirurgischen Fächern gegenüber ihren internistischen Counterparts. Die chirurgischen Fächer erscheinen für eine Vielzahl der Studierenden damit so unattraktiv, dass der Nachwuchsmangel ein kontinuierliches Problem ist.

Einfluss der Pandemie auf die Lehre

Im Rahmen der COVID-19-Pandemie wurden Schul- und Lehranstalten aller Art weltweit abrupt aus ihrem Tagesgeschäft gerissen. Lehrkonzepte wie der Unterricht von Grundschülern via Videokonferenz wären vor fünf Jahren von den meisten Deutschen noch belächelt worden. Im Jahr 2020 wurden sie innerhalb kürzester Zeit zur notgeborenen Realität. Auch die Universitätsklinika mussten neben der regulären Krankenversorgung, der Behandlung COVID-19-Erkrankter und der Implementierung weitreichender Hygienemaßnahmen die komplette Lehre umstrukturieren. Die chirurgischen Fächer waren dabei wie kaum andere eingeschränkt, denn hier fielen das Erlernen praktischer Fertigkeiten und die Hospitationen im Operationssaal in weiten Teilen weg. Die chirurgische Lehre unter diesen Bedingungen aufrechtzuerhalten, war eine extreme intellektuelle und logistische Herausforderung.

Die Autoren haben sich in dieser Situation für einen bewussten Fokus auf praktische Lehre in der Chirurgie ausgesprochen und ihre Lehrkonzepte während der Pandemie bereits frühzeitig vorgestellt [2, 3]. Auch andere Autoren aus den unterschiedlichsten Fächern haben innovative Lehrkonzepte unter Pandemiebedingungen erarbeitet und publiziert [4–6]. Allen gemein ist ein großer Organisationsaufwand für Umstrukturierungen, der nur mit einem starken Engagement der Lehrenden kombiniert mit dem Willen der Studierenden, sich auf neue Konzepte einzulassen, zu leisten war. Dabei ist zu beachten, dass in keiner Publikation der Zustand der Lehre in der Pandemie als akzeptabler Dauerzustand angesehen wird.

Kronenfeld und Kolleg:innen konnten zeigten, dass die Prüfungsergebnisse nach E-Learning-basierten Lehrkonzepten keine signifikanten Unterschiede gegenüber der Präsenzlehre zeigten, diese bereiteten also gut auf theoretisch ausgelegte Prüfungen vor [7]. Auf explizite Nachfrage räumten die Autoren in einem weiteren Artikel allerdings ein, dass wichtige interpersonelle Fähigkeiten wie Kommunikation mit Patienten:innen, Angehörigen und Kolleg:innen nicht im selben Ausmaß durch Online-Lehre abgebildet und der klinische Blick nicht am heimischen PC geschärft werden könne [8]. Dies unterstreicht die nicht nur in Deutschland zu geringe Praxisorientierung von Prüfungen im Medizinstudium.

Hernandez und Kolleg:innen haben sich insbesondere mit der chirurgischen Lehre Studierender in fortgeschrittenem Ausbildungsstand beschäftigt, die zunächst eine virtuelle Rotation und dann eine verkürzte Präsenzrotation in die Chirurgie absolvierten. Nach virtueller Rotation fanden die Autoren sowohl im Bereich theoretischer Kenntnisse als auch praktischer Fertigkeiten beträchtliche Lücken vor, die jedoch nach der Präsenzrotation signifikant verbessert waren [9].

Wind of Change – Neubewertung alter Strukturen

Die Covid-19-Pandemie wurde am 05.05.2023 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für beendet erklärt [10]. Stück für Stück sind die verschärften Hygienemaßnahmen auch in Krankenhäusern zurückgenommen worden und Normalität ist in den klinischen Alltag eingekehrt.

Doch wie steht es um die Lehre? Hier teilen sich die Meinungen. Einerseits sehnen viele die präpandemische Lehre herbei – Präsenzlehre ggf. unterstützt mit Lehrmaterialien online. Die Argumente sind bekannt und stark. Das konventionelle Konzept ermöglicht im Idealfall eine enge Interaktion von Studierenden und Lehrenden, die Lehrenden werden greifbarer und können ihre Vorbildfunktion besser ausfüllen. Die reine Online-Lehre wird dagegen häufig als unpersönlich wahrgenommen [11]. Auf der anderen Seite stehen neu angeschaffte, digitale Lehrmedien und aufwändig erarbeitete Lehrkonzepte. Die Stundenpläne wurden zudem umfangreich angepasst, um Querschnittsfächern und zusätzlichem Kleingruppenunterricht ausreichenden Platz zu schaffen. Die ehemaligen Zeitslots für Vorlesungen existieren im alten Umfang gar nicht mehr. Als lediglich empfohlene Unterrichtsveranstaltungen werden Vorlesungen nur spärlich evaluiert. Die praktische Erfahrung zeigt, dass herkömmliche Vorlesungen oft unbeliebt sind und bereits vor der Pandemie nur sporadisch besucht wurden.

Ein Zurückdrehen der Zeit auf „vor der Pandemie“ ist also allein aus organisatorischen Gründen an vielen Standorten kaum möglich. Die hart erarbeiteten neuen Lehrformate, die unter hohem Ressourceneinsatz sowie starkem persönlichem Einsatz entstanden sind und vielerorts ausgezeichnet evaluiert wurden, nun komplett zu verwerfen, erscheint dazu nicht nur wenig nachhaltig, sondern geradezu verschwenderisch.

How we did it – How we do it

Die Chirurgie wird im Studium der Humanmedizin an der Universitätsmedizin Mainz im achten und neunten Fachsemester abgebildet und gemeinsam durch die Kliniken und Polikliniken für Neurochirurgie, Kinderchirurgie, Herz- und Gefäßchirurgie, Thoraxchirurgie, Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie sowie das Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie gelehrt. Im achten Semester wird das Praktikum der Chirurgie als Blockwoche abgehalten, hier werden neben praktischen Fertigkeiten wie z. B. Nähen, Untersuchungstechniken, chirurgischer Händedesinfektion auch die Arzt-Arzt-Übergabe (als Teil des longitudinalen Curriculums Kommunikation) in Kleingruppen gelehrt und am Ende des Semesters als praktische OSCE (Objective Structured Clinical Examination) abgeprüft. Dieses Konzept wurde während der COVID-19-Pandemie implementiert [3] und konnte seitdem nicht nur fortgesetzt, sondern ausgebaut werden. So werden mittlerweile zehn statt fünf Stationen gelehrt und sieben statt fünf Stationen geprüft, was das Spektrum deutlich erweitert. Das Praktikum wird durch ein ausführliches Online-Angebot aus asynchron abrufbaren Videos (z. B. zur chirurgischen Naht), Vorlesungen und Textmaterial ergänzt.

Das Blockpraktikum der Chirurgie findet im neunten Fachsemester statt. Es wurde während der COVID-19-Pandemie aufgrund der eingeschränkten Interaktionsmöglichkeiten unter strengen Testregimes als Kleinstgruppen-Unterricht am Krankenbett im Sinne einer halbtägigen Famulatur in den einzelnen Kliniken strukturiert und mit synchronen online Seminaren zur Vermittlung theoretischer Inhalte kombiniert. Dieses Konzept wurde nach der Pandemie grundlegend beibehalten, allerdings finden die Seminare mittlerweile auch wieder in Präsenz statt. Online abrufbare Lehrinhalte ermöglichen die Nutzung der Methoden des „Reversed Classrooms“ und des „Blended Lerarnings“. Die Studierenden bereiten Fälle für die Seminare vor oder komplettieren Rechercheaufträge und präsentieren einander die Ergebnisse im Seminar. Da der Unterricht am Krankenbett aufgrund des sich stetig ändernden Patientenguts und kurzfristiger Änderungen des OP-Plans eingeschränkt planbar bleibt, sind die Seminare notwendig, um die theoretischen Lernziele vermitteln zu können. Des Weiteren werden online asynchron abrufbare Videovorlesungen zu wichtigen viszeralchirurgischen Themen zur Verfügung gestellt, die nach Möglichkeit im Unterricht am Krankenbett abgedeckt werden sollen und jederzeit wiederholt werden können. Inhaltlich handelt es sich hierbei um perioperative Risikoeinschätzung, die Patientencheckliste, Drainagen in der Viszeralchirurgie und Stomata. Alle Studierenden erhalten im Rahmen des Blockpraktikums zudem eine verpflichtende Trainingseinheit an Laparoskopie-Simulatoren (VR-Simulatoren und Lübecker Toolbox), Robotik-Simulatoren und Knotentrainern sowie nach Möglichkeit auch Osteosynthesetrainern, um den praktischen Aspekt der Chirurgie besser abzudecken.

Komplettiert wird die Lehre im achten und neunten Fachsemester durch die Vorlesung Chirurgie, die zwei Semester umfasst. Im Rahmen der COVID-19-Pandemie wurde die Vorlesung auf asynchron online abrufbare Videos umgestellt. Nach Beendigung der Hygienemaßnahmen wird nun im achten Semester einmal wöchentlich eine Präsenzvorlesung angeboten, die durch Online-Vorlesungen ergänzt werden. Das Konzept beinhaltet vorbereitende Vorlesungen (u. A. Wiederholung der Anatomie unter chirurgischen Aspekten, Fragen des Komplikationsmanagements und der Lebensqualität), während die Vorlesungen in Präsenz die wichtigsten Krankheitsbilder der Viszeralchirurgie behandeln und auf die online abrufbaren Inhalte aufbauen sollen.

Aufbauend auf den Bemühungen in der Lehre und dem wissenschaftlichen Schwerpunkt der Autoren im Bereich der virtuellen und augmentierten Realität wurden auch diese Aspekte als Pilotprojekte in die Lehre integriert: Noch vor Beginn der Pandemie wurde gemeinsam mit der Rudolf-Frey-Lernklinik der Universitätsmedizin Mainz mit Schauspielpatienten eine Station zur Arzt-Arzt- Übergabe implementiert. Da die Übergabe für die Studierenden in der Praxis erschwert zu trainieren ist, wurde im Rahmen eines BMBF-geförderten Verbundprojekts (FKZ 16SV8057 „AVATAR“) eine Applikation zum Training der Übergabe in virtueller Realität konzipiert. Der Einsatz von Schauspielpatienten ist bekanntlich sehr aufwändig und teuer und insbesondere durch die Hygienebestimmungen während der COVID-19-Pandemie wurde der Einsatz von alternativen Konzepten notwendig. Die Virtuelle Realität eignet sich als Alternative zur direkten persönlichen Interaktion besonders gut.

Des Weiteren wurde gemeinsam mit der Virtual and Augmented Reality Group der Fakultät für Informatik der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg eine Applikation in augmentierter Realität zum Erlernen der Untersuchung des Abdomens entwickelt. Die Idee für diese Anwendung wurde durch die eingeschränkten Interaktionsmöglichkeiten mit Patienten befeuert. Beide der genannten Anwendungen befinden sich aktuell im Test mit freiwilligen Studierenden und werden anhand von Evaluationen kontinuierlich verbessert und weiterentwickelt, um den Einsatz auf das gesamte Semester auszuweiten. Der Einsatz von virtueller und augmentierter Realität sowie seine Entwicklung gehen mit einem hohen Aufwand und beträchtlichen Investitionskosten für das entsprechende Equipment einher. Die Unterstützung dieser Bemühungen durch das Gutenberg Lehrkolleg der Universität Mainz sowohl im Rahmen eines „Innovativen Lehrprojekts“ mit dem Titel „Augmented Reality (AR) unterstützte Untersuchung des Abdomens in der Viszeralchirurgie“ als auch eines „Schwerpunktprojekts“ mit dem Titel „Lehren aus der Pandemie – nachhaltige, innovative Lehrkonzepte in Präsenz, online und in virtueller Realität in der Chirurgie“ zeigen den Stellenwert der innovativen Technologien in der medizinischen Lehre auf.

Die Sicht der Lehrenden

Bereits in den Jahren 2020 und 2021 haben die Autoren die Lehrbeauftragten der chirurgischen Kliniken der Universitätsklinika in Deutschland zur Lehre während der COVID-19-Pandemie befragt [2]. Im Jahr 2023 nahmen acht der 37 Lehrbeauftragten (21,6 %) der chirurgischen Kliniken an einer erneuten kurzen Online-Umfrage teil. Während die Lehrbeauftragten während der Pandemie einheitlich den Wunsch geäußert hatten, die neu erstellten Lehrkonzepte in Zukunft zumindest in Teilen beizubehalten, gaben aktuell nur 50 % an, dies auch getan zu haben. Auf die Frage, ob positive Veränderungen in der Lehre durch die Änderungen während der COVID-19-Pandemie aufgefallen sind, fielen die Meinungen geteilt aus (12,5 % sehr positiv, 12,5 % positiv, 25 % weder positiv noch negativ, 50 % keine Antwort). Jedoch waren sich die Teilnehmenden einig, dass sie seit der Lockerung der Hygienemaßnahmen deutlich mehr Freude an der Lehre haben.

Diskussion

Das gesamte Konzept „die Lehre der Chirurgie“ sollte darauf beruhen, die wertvolle gemeinsame Zeit während der Lehre in Präsenz optimal zu nutzen. Darum bedarf es einer optimierten Vorbereitung von Studierenden und Dozierenden. Hierfür sind klare und konkrete Lernziele und detailliert ausgearbeitete Lehrmaterialien notwendig, was einen nicht zu unterschätzenden Aufwand für die Lehrenden bedeutet. Vermieden werden sollte die Kombination aus Studierenden, die nicht wissen, in welcher Veranstaltung sie sitzen, Dozierenden, die ihnen unbekannte Power-Point-Folien vorlesen, und dem Lernziel „alles aus dem Buch XY kann in der Klausur gefragt werden“. Erfahrungsgemäß stecken motivierte Lehrende auch die Studierenden mit ihrer Begeisterung an. Natürlich sollen Unterrichtsveranstaltungen auf das bevorstehende Staatsexamen vorbereiten, gleichermaßen stellen sie jedoch auch eine Möglichkeit dar, für das eigene Fach zu werben, und können so ein Aushängeschild für die Abteilung sein. Dies schließt ein, dass die gesamte Abteilung in die Lehre involviert wird und vom erfahrenen Oberarzt/der erfahrenen Oberärztin bis zum jungen Assistenzarzt/der jungen Assistenzärztin alle ihren Eifer einbringen und transportieren können. Auch wenn Lehre im klinischen Alltag zuweilen organisatorische Herausforderungen stellt, sollte die Wichtigkeit jeder einzelnen Veranstaltung als Visitenkarte sowohl für die Chirurgie im Allgemeinen als auch für die Abteilung als möglicher Arbeitgeber nicht unterschätzt werden.

Die Erfahrung des aktuellen Sommersemesters 2023 zeigt jedoch auch, dass das Angebot der Vorlesung in Präsenz auch nach Ende der Pandemie kaum genutzt wird, insbesondere im Vergleich zur online abrufbaren Vorlesung. Als Erklärung wird von den Studierenden hier häufig Zeitdruck wegen des hohen Lernaufwands vieler hoch spezialisierter Fächer in Kombination mit der Vereinbarkeit mit Promotionsarbeiten, Familie und Nebenjobs genannt. Gemäß der Recherche ergibt sich zwischen 1995 und 2021 lediglich ein Anstieg des Prozentsatzes von Studierenden mit Kind von 7 % auf 8 %, jedoch ist die Zahl der Studierenden in dieser Zeit von 1.872.490 auf 2.941.915 um über eine Million angestiegen [12–14]. Im Vergleich ergibt sich hieraus zwar nur ein Zuwachs von 1 %, dies entspricht jedoch mehr als 100.000 Studierenden mit Kind in Deutschland mehr als im Jahr 1995. Während die Zahlen also steigen, hat sich an der Struktur des Studiums und der Vereinbarkeit von Studium und Familie in vielen Fächern wenig geändert.

Die aktuelle Sozialerhebung des Deutschen Studierendenwerks ergibt dazu, dass etwa ein Drittel aller Studierenden Schwierigkeiten hat, ihr Studium und ihr tägliches Leben zu finanzieren und 63 % neben dem Studium erwerbstätig sind [12]. Im persönlichen Gespräch geben Studierende an, online abrufbare Vorlesungen häufig abends z. B. während der Hausarbeit oder des Abendessens anzusehen, analog zu dem, wie ihre Peers Netflix und andere Streaming-Anbieter konsumieren. Die persönliche Erfahrung zeigt auch, dass insbesondere Studierende, die zur Sicherung des Lebensunterhalts im medizinischen Sektor im Nachtdienst arbeiten (z. B. Rettungsdienst oder Pflege), die Vorlesungen nachts während der ruhigen Phasen der Schicht ansehen.

Die Begeisterung für ein Fach ausschließlich online im Videoformat zu vermitteln, ist sicherlich schwieriger als in der persönlichen Interaktion, sodass auch unter diesem Gesichtspunkt die gemeinsame Zeit in Anwesenheit optimal genutzt werden sollte. Letztlich lassen sich die wenig besuchten Vorlesungen aber nicht nur auf diese Tatsachen zurückführen. Eventuell ist auch das Format der Vorlesung im Hörsaal nicht mehr zeitgemäß für die Digital Natives der aktuellen Generation von Medizinstudierenden. Es muss überdacht werden, wie wir Wissen vermitteln. Dies kann nicht als Top-Down der Ordinarien und Unterrichtsbeauftragten funktionieren, die Einbindung der Studierenden und die Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen sind bei der Umsetzung der neuen Approbationsordnung an den Medizinischen Fakultäten unerlässlich [15]. Unser Ziel als Chirurginnen und Chirurgen muss sein, dem Nachwuchs unser großartiges Fach so nahezubringen, dass dieser auf die Prüfungen vorbereitet ist, aber auch eine fundierte Entscheidung über die Chirurgie als Beruf treffen kann. Leider gelingt dies durch personelle Engpässe und zu wenig Zeit für Lehre zu selten. Nachwuchsprogramme wie z. B. „Nur Mut! Kein Durchschnittsjob: ChirurgIn“ des BDC oder das Zertifikat studentische OP-Assistenz der DGAV sind Beispiele dafür, wie die Faszination Chirurgie neben der chirurgischen Lehre an den Universitäten plastisch vermittelt werden kann.

Welche Änderungen wir aus der Pandemie beibehalten sollten – und welche nicht

Die ausschweifenden Umstrukturierungen im Rahmen der COVID-19-Pandemie haben der chirurgischen Lehre zu einem Update in Richtung der Digitalisierung verholfen, das längst überfällig war. Diese Chance sollte genutzt und das erworbene Wissen zu neuen Lehrmethoden weiter ausgebaut werden. Die Chirurgie als praktisches Fach benötigt einen hohen Anteil an Anwesenheitslehre, um manuelle und klinische Fertigkeiten wie die Durchführung von Untersuchungen, das Anlegen von Verbänden, Nahttechniken, aber auch Kommunikationsfähigkeiten weiterhin vermitteln zu können – reine Online-Lehre ist hier undenkbar. Chirurgische Lehre verdient Zeit und Einsatz, um die nächste Generation an Chirurg:innen zu motivieren und auszubilden.

Literatur

[1]   Amboss. Zweites Staatsexamen. 2021 30.03.2021 [cited 2023 14.08.2023]; Available from: https://www.amboss.com/de/wissen/zweites-staatsexamen/.
[2]   Hanke, L.I., et al., [Surgical Education of Medical Students in Times of COVID-19 – Necessary Adjustments are Chances for the Future]. Zentralbl Chir, 2021. 146(6): p. 586-596.
[3]   Kurz, S., et al., [Prüfung praktisch-chirurgischer Lehre auf Distanz – Erfahrungen mit einem Hybrid-OSCE in der Chirurgie]. submitted article, 2022.
[4]   Boyle, J.G., et al., Viva la VOSCE? BMC Med Educ, 2020. 20(1): p. 514.
[5]   Baqir, S.M. and F. Mustansir, Online Medical Education and Examinations during COVID-19: Perspectives of a Teaching Associate. J Coll Physicians Surg Pak, 2021. 31(1): p. S16-s18.
[6]   Chung, M.S., COVID-19 Changes Medical Learning. J Korean Med Sci, 2021. 36(1): p. e9.
[7]   Kronenfeld, J.P., et al., Medical Student Education During COVID-19: Electronic Education Does Not Decrease Examination Scores. Am Surg, 2021. 87(12): p. 1946-1952.
[8]   Kronenfeld, D.S. and J.P. Kronenfeld, Medical Student Surgical Education Was Feasible During the COVID-19 Pandemic. Am Surg, 2022. 88(8): p. 2074.
[9]   Hernandez, S., et al., Third year medical student knowledge gaps after a virtual surgical rotation. Am J Surg, 2022. 224(1 Pt B): p. 366-370.
[10] WHO erklärt Corona-Notstand für beendet. 2023 [cited 2023 31.07.2023]; Available from: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-who-gesundheit-notstand-aufgehoben-100.html.
[11] Chinelatto, L.A., et al., What You Gain and What You Lose in COVID-19: Perception of Medical Students on their Education. Clinics (Sao Paulo), 2020. 75: p. e2133.
[12] Studierendenwerk, D. Die Studierendenbefragung in Deutschland: 22. Sozialerhebung. 2023 [cited 2023 31.07.2023]; Available from: https://www.studierendenwerke.de/fileadmin/user_upload/SE22_Hauptbericht_barrierefrei.pdf.
[13] Deutschland, S.d.S.K.d.K.d.L.i.d.B. Bericht übr die Situation Studierender mit Kind. 1995 [cited 2023 31.07.2023]; Available from: https://www.kmk.org/fileadmin/
veroeffentlichungen_beschluesse/
1995/1995_09_08_Studierende-mit-Kind.pdf
.
[14] Statis, D. Hochschulen – Studierende insgesamt und Studierende Deutsche nach Geschlecht. [cited 2023 31.07.2023]; Available from: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Hochschulen/Tabellen/lrbil01.html#242472.
[15] Gesundheit, B.f. Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit, Verordnung zur Neuregelung der ärztlichen Ausbildung. 2021 [cited 2022 19.01.2022]; Available from: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/A/Referentenentwurf_AEApprO.pdf.

Korrespondierende Autorin:

Dr. med. Laura Isabel Hanke

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie

Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Langenbeckstraße 1

55131 Mainz

Laura.Hanke@unimedizin-mainz.de

Prof. Dr. med. Hauke Lang

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie

Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

PD Dr. med. Tobias Huber

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie

Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Gesundheitspolitik

Hanke LI, Lang H, Huber T: BDC-Praxistest: Chirurgische Lehre – Alles auf Anfang? Passion Chirurgie. 2023 November; 13(11): Artikel 05_01.

Mehr zum Thema finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Aus-, Weiter- und Fortbildung | Medizinstudium.

Editorial 11/2023: Neurochirurgie vor großen Aufgaben

Zur Ausgabe 11/2023: Neurochirurgie

Die Gesundheitspolitiker von Bund und Ländern haben in den letzten Monaten zur Umsetzung der geplanten Krankenhausreform viel Arbeit investiert. Einig ist man, dass hierzu ein Strukturwandel in der stationären Versorgung notwendig ist. Die stationäre Versorgung kann nicht ohne Berücksichtigung der ambulanten Versorgung reformiert werden.

Hier weisen die Berufsverbände aller medizinischen Fachgebiete auf den Zusammenhang von Budgetierungen ärztlicher Leistungen und guter medizinischer Versorgung in Deutschland hin. Die Budgetierung von medizinischen Leistungen ist in der ambulanten Versorgung der Ursprung einer zunehmend schlechteren Versorgung. Neben der Reform der stationären Versorgung müssen auch die ambulanten ärztlichen Leistungen nicht mehr der Budgetierung ausgesetzt sein.

Die Neurochirurgie steht vor großen Aufgaben. Kaum eine chirurgische Disziplin hat sich in den letzten 20 Jahren so dynamisch entwickelt und technologisch revolutioniert wie die Neurochirurgie. Wir haben für das Schwerpunktheft Neurochirurgie innerhalb des BDC die Themen „Schädel-Hirn-Trauma“, „Wirbelsäulenchirurgie“ und „Update Karpaltunnelsyndrom“ ausgesucht. Dabei ist das Schädel-Hirn-Trauma naturgemäß der stationären Versorgung ausschließlich vorbehalten. Teile der Wirbelsäulenchirurgie werden in Zukunft sowohl ambulant wie stationär zu erbringen sein.

Das Schädel-Hirn-Trauma in Deutschland wird über eine neue Datenerfassungsstruktur unter enger Kooperation der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie im sogenannten Traumaregister konzentriert. Hierüber berichtet PD Dr. med. Alexander Younsi. Die Weiterentwicklung im Bereich der spinalen Neurochirurgie wird mit Erklärung der Robotik und minimalinvasiver Technik von Herrn Dr. Ridwan vorgestellt. Das Karpaltunnelsyndrom als rein ambulante operative Leistungen wird von Herrn Dr. Heinen nach Übersicht der aktuellen Literatur neu beleuchtet.

Übergeordnet müssen wir uns im Klaren sein, dass technischer innovativer Fortschritt bei den operativen vorgestellten Themen nur mit einer Kostensteigerung einhergehen, es muss Ziel der Neurochirurgie sein, diese Entwicklung mit zu gestalten und im Fach der chirurgischen Disziplinen den Strukturwandel zu begleiten.

Dr. med. Dr. PH Michael A. Conzen

Präsident des Berufsverbands Deutscher Neurochirurgen e.V. (BDNC)

Praxisklinik für Neurochirurgie

Herforder Straße 1-3

33602 Bielefeld

praxisklinikdrconzen@gmail.com

Editorial

Conzen MA: Editorial Neurochirurgie vor großen Aufgaben. Passion Chirurgie. 2023 November; 13(11): Artikel 01.

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Einblick in die spinale Neurochirurgie

Rückenbeschwerden sind in der heutigen Zeit ein alltägliches Problem, das einen beachtlichen Teil der Bevölkerung belastet. Nicht immer, aber auch nicht selten ist eine Operation an der Wirbelsäule indiziert. Ursächlich sind am häufigsten degenerative Veränderungen wie die Spinalkanalstenose, der Bandscheibenvorfall oder die Spondylolisthese. In der Klinik begegnet man zudem einer Vielzahl komplexerer Wirbelsäulenerkrankungen, die eine aufwendigere operative Versorgung benötigen. In der modernen Wirbelsäulenchirurgie stehen den Chirurg:innen zahlreiche technische Hilfsmittel zur Verfügung, auch das operative Equipment hat sich weiterentwickelt. Insbesondere die Reduktion der Strahlenexposition hat einen hohen Stellenwert erfahren.

Im Folgenden gebe ich eine kompakte Darstellung des Spektrums und einiger Hilfsmittel und Technologien, die der modernen spinalen Neurochirurgie heute zur Verfügung stehen.

Spektrum

Die spinale Neurochirurgie umfasst die konservative und chirurgische Behandlung von Wirbelsäulenerkrankungen. Hierzu gehören einfache mikrochirurgische oder endoskopische dekompressive Eingriffe bei Bandscheibenvorfällen und Spinalkanalstenosen aller Wirbelsäulenabschnitte, Instrumentationen und Fusionen bei degenerativen, onkologischen, traumatischen und entzündlichen Wirbelsäulenerkrankungen, der Wirbelkörperersatz, die chirurgische Behandlung intraspinaler, epiduraler, intraduraler extra- und intramedullärer Läsionen u. a. spinale Metastasen, Neurinome, Meningeome und Ependymome, vaskuläre spinale Pathologien, Erkrankungen des kraniozervikalen Übergangs, die chirurgische Behandlung osteoporotischer Frakturen und die Neuromodulation. Speziellen Zentren vorbehalten ist die Deformitäten-Chirurgie sowie ausgedehnte Tumoroperationen mit u. a. En-Bloc-Spondylektomien.

Neuro-Navigation und Augmented Reality

Die Neuronavigation findet seit mehr als zwei Jahrzehnten Anwendung in der kranialen Neurochirurgie, um Tumore genauer zu lokalisieren und sogenannte „Tailored Approaches“, sprich maßgeschneiderte patientenindividuelle Zugänge zu ermöglichen. Dadurch konnten Kraniotomien präziser platziert und teilweise deutlich kleiner und weniger invasiv geplant werden. Heute findet diese Technologie gleichermaßen in der spinalen Neurochirurgie Anwendung und ermöglicht vordergründig eine genauere Implantatplatzierung (z. B. Pedikelschrauben) insbesondere bei schwierigen anatomischen Gegebenheiten und reduziert die Strahlenexposition des Personals. Letzteres gewinnt zunehmend an Bedeutung. Zudem können heute weitere Implantate navigiert eingesetzt werden, wie beispielsweise intervertebrale Cages. Jüngere Kolleg:innen profitieren von der dreidimensionalen Darstellung, da diese ein besseres Verständnis der ausgeführten Schritte erlaubt. Der zusätzliche Zeitaufwand ist heute, bei weit verbreiteten intraoperativen 3-D-Bildgebunsmöglichkeiten und der erreichten Reduktion der Strahlenexposition für das Personal, zu vernachlässigen.

Mit der heute zur Verfügung stehenden Software können präoperativ genaue Pläne erstellt werden. Zum Teil können diese Programme die Wirbel automatisch erkennen und auf Knopfdruck korrekte Pedikelschrauben-Trajektorien virtuell anzeigen, die von den Chirurg:innen individuell angepasst werden können. Bei komplexen Deformitäten und größeren Tumoroperationen sind dies durchaus nützliche Tools, um in Kombination mit der intraoperativen Navigation zusätzlich die Operationszeit zu verkürzen. Die Planung kann zudem als Virtual Reality (VR) betrachtet und im Operationssaal am Situs als Augmented Reality (AR) sichtbar gemacht werden. Bisher ist der Mehrwert von AR und VR für die Ausbildung wissenschaftlich untersucht worden. Der Effekt auf das Patienten-Outcome ist jedoch nicht bewiesen.

Abb. 1a: Beispiel geplanter Schraubentrajektorien an fusionierter MRT- und CT-Bildgebung

Abb. 1b: Beispiel 3-D-Darstellung der Planung

Robotik

Die Robotik ist seit Jahren auf dem Vormarsch in der spinalen Neurochirurgie, allerdings sind, mit wenigen Ausnahmen, hohe Anschaffungskosten ein limitierender Faktor.

Robotisch assistierte spinale Eingriffe sind im Grunde navigierte Eingriffe, bei denen der Roboter die vorab geplanten Trajektorien am Situs nach entsprechender Registrierung einstellt, somit ist diese vorgegeben und die Chirurg:innen können sich auf die Einbringung der Implantate konzentrieren. Wissenschaftlich ist bis heute kein eindeutiger Vorteil gegenüber der konventionellen Neuronavigation bewiesen.

Minimalinvasive Techniken

Perkutane Eingriffe sind heute weit verbreitet, auch die Endoskopie findet zunehmend Einzug in immer mehr Kliniken. Die perkutane Instrumentationstechnik kann bei kurz- oder längerstreckigen Instrumentationen eingesetzt werden. Das geringere Muskeltrauma ermöglicht eine raschere Mobilisation. Am häufigsten ist dies bei Frakturen oder monosegmentalen degenerativen Erkrankungen der Fall. Sie kann dennoch auch langstreckig bei älteren Patient:innen mit oder ohne Zementaugmentation verwendet werden. Spezielle Retraktorensysteme erlauben es, übliche offene Zugänge wie transthorakale und retroperitoneale Eingriffe deutlich kleiner zu gestalten. Zudem sind zweizeitige Eingriffe heute als „Single Position“ in einem Eingriff möglich, indem technische Möglichkeiten wie Navigation und Robotik auf minimalinvasive Zugänge mit entsprechenden Retraktorensystemen treffen. So können eine minimalinvasive Instrumentation von dorsal und eine Cage Fusion von lateral in einer Sitzung erfolgen, ohne den Patienten umlagern zu müssen. Endoskopische Eingriffe sind heute an allen Wirbelsäulenabschnitten möglich, auch im Bereich der Halswirbelsäule. Ob uni- oder biportal, die Endoskopie findet sowohl bei einfachen Eingriffen (z. B. Bandscheibenvorfälle, Spinalkanalstenosen) als auch bei komplexeren Eingriffen (z. B. Spondylodiszitis, thorakoskopische Wirbelsäuleneingriffe) zunehmend Anwendung.

Abb. 2: Perkutane Technik mit minimalinvasivem Zugang

Implantate

Schrauben-Stab- und Schrauben-Platten-Konstrukte aus Carbon-PEEK werden heute in der Tumor-Wirbelsäulenchirurgie eingesetzt. Diese ermöglichen postoperativ Artefakt-ärmere MR- und CT- Aufnahmen und erleichtern den Kolleg:innen der Strahlentherapie eine genauere Dosisberechnung für die nachgeschaltete Radiotherapie z. B. bei spinalen Metastasen. Diese Implantate sind als Schrauben-Stab-System zurzeit nur für die Brust- und Lendenwirbelsäule verfügbarund als Schrauben-Platten-System ebenfalls für die Halswirbelsäule verfügbar. Heute stehen den Chirurg:innen eine Vielzahl dieser Implantate auch als Fusionsmaterial oder Wirbelkörperersatz für alle Wirbelsäulenabschnitte zur Verfügung.

Im Bereich der lumbalen Wirbelsäule sind distrahierbare intervertebrale Implantate zunehmend erhältlich. Diese bieten bei minimalinvasiven Eingriffen eine gute Möglichkeit, die Lordose wiederherzustellen. Mit starren Implantaten sind der Aufwand und der benötigte Zugang etwas größer. Ein wissenschaftlich bewiesener Vorteil ist auch hier zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhanden.

Abb. 3: Carbon-PEEK Schrauben-Stab-System im Situs

Abb. 4: Carbon-PEEK Schrauben-Stab-System im Vergleich zum üblichen Titan-Schrauben-Stab-System

Ausblick

Mit der heutigen Geschwindigkeit der technischen Entwicklung erleben wir bereits jetzt eine dramatische Veränderung von der Wirbelsäulenchirurgie mit dem Bildwandler zur hochtechnisierten Wirbelsäulenchirurgie. Der Vorteil moderner Techniken liegt in erster Linie in der Reduktion der Strahlenexposition des Personals und der höheren Genauigkeit der Implantatplatzierung. Ein weiterer wichtiger Vorteil findet sich in der Ausbildung der kommenden Generationen an hochaufgelösten 3-D-Modellen und -Simulationen. Mit diesen Mitteln erreicht man heute junge Kolleg:innen und insbesondere Studierende und kann diese für das Fach und die spinale Neurochirurgie früh begeistern. Der Einsatz von navigierten Instrumenten, AR und VR erhält bereits heute vielerorts Einzug in den klinischen Alltag. Der Einsatz von Exoskopen und die Bedeutung für die Ergonomie und Fehlbelastung der eigenen Wirbelsäule im Operationssaal bei bestimmten Eingriffen wird in Zukunft vermutlich eine größere Rolle spielen. Die Verfügbarkeit spezieller Schrauben-Stab-Systeme, auch für die Halswirbelsäule u. a. aus Carbon-PEEK, wird bei Tumorerkrankungen von Bedeutung sein. Zuletzt sollte man einen bestimmten Trend aus den USA kritisch beachten, die „Awake Spinal Fusion“. Heute werden in den USA Instrumentationen und Fusionen zum Teil in Analgosedierung durchgeführt und die Patient:innen als „Same-Day Surgery“ ambulant behandelt. Bei all der raschen technischen Entwicklung sollten die strenge Operationsindikation und die absolute Patientensicherheit stets von höchster Priorität sein.

 

Dr. med. Sami Ridwan

Leitender Oberarzt Neurochirurgie

Projektleiter NCH TO GO
www.nchtogo.de

Klinikum Ibbenbüren

Große Str. 41

49477 Ibbenbüren

s.ridwan@mathias-stiftung.de

Chirurgie

Ridwan S: Einblick in die spinale Neurochirurgie. Passion Chirurgie. 2023 November; 13(11): Artikel 03_01.

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