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Viszeralchirurgin Prof. Christiane Bruns an die Spitze der DGCH gewählt

Professorin Dr. med. Christiane Bruns, Direktorin der Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Tumor- und Transplantationschirurgie der Uniklinik Köln und Mitglied der Leopoldina, ist zur Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) der Amtsperiode 2023/24 gewählt worden. Damit wird sie auch den Jahreskongress der Fachgesellschaft, den Deutschen Chirurgie Kongress (DCK) leiten. Er findet vom 23. bis 26. April 2024 in Leipzig unter dem Motto „Mut zur Veränderung – Zukunft mitgestalten“ statt. Darin steckt die Aufforderung, dringend notwendige Veränderungen des Gesundheitssystems in Deutschland „verantwortungsvoll, mutig und engagiert mitzugestalten“. Die Zukunft der Chirurgie in Deutschland wird durch große gesundheitspolitische Projekte wie die Krankenhausstrukturreform mit Zentrumsbildung und Mindestmengen, zunehmende Ambulantisierung mit noch vielen organisatorischen Problemen sowie der flächendeckenden Digitalisierung in fortbestehender Diskussion mit dem Datenschutz geprägt sein. Dabei ist der neuen Präsidentin die Förderung des klinischen und wissenschaftlichen Nachwuchses ein besonderes Anliegen. So betont sie, dass die durch Forschung und Wissenschaft geschaffenen Werte nicht verloren gehen dürfen, nur dadurch könne Fortschritt zustande kommen.

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BDC-Praxistest: Die nachhaltige Balanced Scorecard im Krankenhaus

Vorwort

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

mit bis zu 10 % der landesweiten Emissionen trägt das Gesundheitssystem aktuell in hohem Maße zur Umweltbelastung bei. Gerade die chirurgischen Disziplinen stellen einen der energieaufwendigsten Bereiche dar mit Unmengen an täglich produziertem Müll. So benötigen OP-Säle bis zu 6-mal so viel Energie wie die übrigen Krankenhausbereiche und der Abfall von Krankenhäusern wird zu fast 30 % bei Operationen verursacht.

Entsprechend ist die Diskussion der Nachhaltigkeit in den letzten Jahren auch in der stationären/ambulanten Medizin angekommen, wobei unter Nachhaltigkeit im Krankenhaus eine integrierte Behandlung von sozialen, ökonomischen und ökologischen Aspekten aufgefasst wird.

Die nachhaltige Balanced Scorecard stellt ein System dar, das eine Lösung für schwieriger werdende Umweltsituationen in Krankenhäusern verspricht. So gibt der aktuelle Artikel nach meiner Meinung genau den richtigen Überblick, inwieweit die Balance Scorecard mit Nachhaltigkeitskennzahlen eine Toolbox zur Umsetzung unserer Klimaziele bietet.

Spannende Lektüre,
Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

In den Klimazielen spielt Nachhaltigkeit auch in Kliniken eine wichtige Rolle. Das Gesundheitswesen ist mit global über 5 % der Treibhausgase einer der größten Verursacher des Klimawandels. Deshalb müssen Umwelt- und Klimaschutz im Kennzahlenbereich eines Krankenhauses zukünftig eine zentrale Rolle einnehmen. Beim Deutschen Ärztetag 2021 und im Glasgower Klimaschutzvertrag vom November 2021 [1] hat das deutsche Gesundheitssystem vertraglich zugesichert, bis 2030 klimaneutral zu werden. Der Deutsche Ärztetag (DÄT) 2023 bekräftigte nochmals die bereits erhobenen Forderungen. Auf allen Ebenen des Gesundheitswesens müssen Voraussetzungen für konkretes Handeln geschaffen werden, heißt es in dem Beschlussantrag.

Die Chirurgie trägt in ihren täglichen Abläufen erheblich zu Energie- und Ressourcenverbrauch, zur Umweltverschmutzung und damit zur Klimakrise bei. Das Ziel der Klimaneutralität bis 2030 erfordert damit für diese medizinische Fachrichtung, die relevanten Klimafaktoren zu analysieren und Maßnahmen zur Zielerreichung zu entwickeln und umzusetzen.

Die nachhaltige Balanced Scorecard (BSC) ist ein Mess- und Führungsinstrument aus der Industrie, das zur Evaluation und Steuerung von Unternehmenszielen eingesetzt werden kann. In angepasster Form unterstützt die BSC auch das Erreichen der Klimaziele in der Chirurgie, da die relevanten Parameter bereits existieren. Der folgende Beitrag analysiert die Führung, Umsetzung und Kontrolle von Umwelt- und Klimaschutz mittels einer modifizierten und nachhaltigen Balanced Scorecard [2].

Die Erstbeschreiber Kaplan und Norton sahen die vier Grundperspektiven der BSC nicht als feste Vorgaben, sondern als Vorlage, um eine eigene BSC zu entwickeln [3]. So gewinnt die BSC seit Anfang der 2000er auch im Krankenhausbereich zunehmend an Bedeutung [4, 5, 6, 7]. Zur Steuerung der Nachhaltigkeit einer Klinik fokussiert das bestehende Modell in einer fünften Perspektive zusätzlich den Umwelt- und Klimaschutz [8] (Abb. 1). Für eine ausführliche Beschreibung aller Perspektiven, speziell der auf das Krankenhaus angepassten, wird auf die Literatur verwiesen [9, 10].

Abb. 1: Perspektiven der Balanced Scorecard

Umwelt- und Klimaschutzperspektive

Humane und terrestrische Gesundheit sind untrennbar miteinander verbunden. Es kann keine gesunden Menschen auf einer kranken Erde geben. Daher sind Maßnahmen zum Klima- und Umweltschutz per se eng mit den anderen BSC-Perspektiven im Krankenhaus verbunden. In der Klima- und Umweltschutzperspektive wird festgelegt, wie die globalen Ziele „grüner beziehungsweise netto-null oder net-zero Krankenhäuser“ umgesetzt werden können. Die zentralen Fragen sind hier: Wie wird ein Krankenhaus klimaneutral und bleibt es auch? Was muss ein Krankenhaus leisten, um der allgemeinen Verantwortung für die Welt – und der speziellen für die Patientengesundheit – gerecht zu werden?

Ziele der Klimaschutz- und Umweltperspektive

Jedes Krankenhaus besitzt in seiner übergeordneten Zielsetzung, Gesundheit zu erhalten, eine besondere Verantwortung für den Klima- und Umweltschutz. Ob es um den Ersatz von umweltgefährdenden Ressourcen oder die Beseitigung von Abfällen geht, das Krankenhaus muss sich und seinen Stakeholdern vermitteln, dass Planetary und Human Health eng miteinander vernetzt sind. Damit stehen die Führung, Entscheider und Anwender im Gesundheitssektor an der Spitze einer globalen Bewegung für die planetare Gesundheit [11]. Die Abbildung 2 ist aus meinem Buch „High performance im Krankenhausmanagement 2021“ und wurde von mir erstellt. Die HCWH Aktionspfleiler sind mehr übergeordnete Aktionen, die Ziele im Bereich Klima- und Umweltschutz bildlich darstellen [12].

Abb. 2: Die verschiedenen Aktionspfeiler eines nachhaltigen Krankenhauses

Kennzahlen des Umwelt- und Klimaschutzes

Die zehn Handlungsfelder von HCWHD beinhalten Früh- und Spätindikatoren. Die klassische Bezugsgröße stellt oft der Vorjahreswert. Daher ist es primäre Aufgabe, die Umweltparameter eines Krankenhauses zu messen. Als Benchmark können danach Krankenhäuser dienen, die sich bereits durch eine erfolgreiche Ökologisierung auszeichnen. Hinweise zu Umweltkennzahlen gibt auch das Umweltbundesamt [13]. In einigen Bereichen wie der Beschaffung oder der Abfallwirtschaft gilt zusätzlich die 3R-Regel: Reduce, Reuse, Recycle. Primär sollte man die Vermeidung priorisieren, danach die Wiederverwendung und erst dann das Recycling. Momentan übersteigt die Müllmenge die Recyclingmenge – das Ziel ist eine zirkulare Kreislaufwirtschaft („circular economy“).

Fokus auf die Chirurgie

Die Chirurgie gehört mit ihren anspruchsvollen Eingriffen, komplexem Instrumentarium, Sterilisationsprozeduren und strengen Hygieneanforderungen zu den energieaufwendigsten und damit auch CO2 intensiven Fachrichtungen. Dazu produziert sie große Mengen an Abfall. Zudem gliedert sich die Chirurgie in die gegebenen Krankenhausstrukturen ein. Die Handlungsfelder von HCWH sind: Chemikalien, Abfall, Energie, Wasser, Transport, Ernährung, Arzneimittel, Gebäude, Beschaffung, Führung (Leadership). Die Mehrheit der zehn definierten Handlungsfelder für Umwelt- und Klimaschutz ist deshalb auch für sie relevant. Das NHS in Großbritannien und Schottland hat wie auch das „Royal College auf Surgeons“ dazu Handlungsrichtlinien herausgegeben [14].

1. Führung: Umwelt- und Klimaschutz priorisieren

Das Management eines Krankenhauses muss den Umwelt- und Klimaschutz im Krankenhaus zunächst als strategisches Unternehmensziel festlegen. In einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) werden dann Umwelt- und Klimaziele festgelegt und Maßnahmen ergriffen, die eine eindeutige Verbindung zu den identifizierten Umweltauswirkungen haben. Eine mögliche übergeordnete Zielsetzung könnte die Vermeidung von Emissionen sein. Einzelziele benötigen konkrete, möglichst quantitative Vorgaben wie z. B. die Maßgabe, in einem Jahr der Energieverbrauch um 10 % zu reduzieren.

Die folgenden Kennzahlen sind für den Bereich Führung relevant:

  • Investitionen mit Umweltbezug zu Gesamtinvestitionen
  • Anzahl der umweltrelevanten Schulungen
  • Umgesetzte Umweltziele versus nicht erreichte Umweltziele
  • Zahl der umweltbezogenen Maßnahmen im KVP
  • Mitarbeiter mit Umweltaufgaben in der Stellenbeschreibung
  • Anzahl der Veranstaltungen mit Umwelt-/Klimabezug
  • Anteil ökologischer Themen an der Kommunikation in der Klinik

2. Energie: Implementierung von Energieeffizienz und sauberer, erneuerbarer Energieerzeugung

Krankenhäuser und medizinische Abläufe haben einen hohen Energieverbrauch. Durch die Nutzung von Benzin, Gas, Kohle und Diesel entstehen große Mengen an CO2, Methan und Stickstoffdioxid. Die Ziele sind daher hier verbesserte Energieeffizienz und der Einsatz von erneuerbaren, sauberen Energieformen. Folgende Kennzahlen sind hier relevant:

  • Energieverbrauch pro Fläche (z. B. KWH/m2) oder pro Patientenzimmer
  • Brennstoffverbrauch aus erneuerbaren Quellen vs. Gesamtbrennstoffverbrauch
  • Monitoring des Energieverbrauchs in der Klinik

Klimafaktor Chirurgie

Der größte Anteil an Emissionen in der Chirurgie wird durch die Energienutzung im Operationssaal generiert: Operationssäle benötigen drei- bis sechsmal so viel Energie wie die restlichen Krankenhausräume. Dabei sind die OPs im Durchschnitt bis zu 40 % der Zeit unbesetzt.

3. Chemikalien: Ersatz von schädlichen Chemikalien durch sicherere Alternativen

Die Reduktion und Substitution schädlicher Chemikalien, Narkosegasen und Verbot von Desfluran (NHS Schottland) und Dosieraerosolen läuft bereits. Ein Beispiel ist das internationale Verbot von Quecksilber in medizintechnischen Geräten, ein weiteres das weltweite Verbot von FCKWs in Medizinprodukten

Die folgenden Kennzahlen können im Jahresvergleich gemessen werden:

  • Kg gefährlicher Abfall pro Patient pro Tag
  • Kg gefährlicher Abfall pro Prozedur/OP pro Tag
  • Nutzung von Narkosemitteln mit dem niedrigsten Treibhauspotenzial

Klimafaktor Chirurgie

Im Operationssaal ist die Anästhesie die größte Verursacherin von Treibhausgasen. Während der Narkose werden nur 5 bis 20 % der volatilen Anästhetika vom Patienten metabolisiert, der Rest gelangt in die Atmosphäre. Etwa 20 % der Anästhetika gelangen in die Stratosphäre und erzeugen so eine CO2-Bilanz wie eine Millionen PKWs. Desfluran besitzt dabei das stärkste Erderwärmungspotenzial. Die Nutzung von Stickstoffdioxid oder Desfluran kann an einem durchschnittlichen Tag so viel CO2 ausstoßen wie 1000 km Autofahrt. Intravenöse Anästhetika wären eine Alternative, sind aber nicht alle umweltverträglich. Der Einsatz von Propofol erzeugt z. B. Phenol. Dieses Narkotikum ist damit nicht nur teuer, sondern auch umweltgefährlich [15].

4. Abfall: Gesundheitsabfälle reduzieren und sicher entsorgen

Im Gesundheitssektor fallen multiple Abfälle wie Papier, Plastik, Metalle, Elektronik, Chemikalien und Arzneimittel an. Obwohl ein Großteil dessen Hausmüll entspricht, landen immer noch viele Abfälle aus Krankenhäusern auf Müllhalden, werden umweltbelastend verbrannt oder in Drittländer mit unbestimmtem Ausgang verschifft. Der Anteil an Problemabfällen (z. B. Labor), der gesondert entsorgt werden muss, ist deutlich geringer. Ein effizientes Abfallmanagement durch Trennung Recycling, Kompostierung, Reduktion von toxischem Abfall und ein verminderter Plastikverbrauch können auch durch Kennzahlen gesteuert werden:

  • Abfallaufkommen nach Abfallart
  • Kilogramm Recyclingabfall nach Abfallart bezogen zum Gesamtabfallaufkommen
  • Kilogramm an festem Abfall pro Patientenbett/Tag
  • Kilogramm fester Abfall pro Termin/Tag
  • Abfallzusammensetzung
  • Lebensmittelabfall pro Patienten/Mitarbeiter

Klimafaktor Chirurgie

Bis zu 70 % des gesamten Krankenhausmülls entfallen je nach Aufkommen auf den Operationssaal, wobei davon 80 % bereits entstehen, bevor der Patient den Saal erreicht. Eine einzelne Operation produziert im Schnitt so viel Abfall wie eine vierköpfige Familie in einer Woche.

Neben regulärem Haus- sowie Plastikmüll und jährlich zunehmendem Elektroabfall entsteht im Operationssaal auch giftiger Biomüll. In den USA etwa ist die Verbrennung des speziellen medizinischen Abfalls unter den ersten Fünf der Quecksilber- und Dioxinquellen. Die Entsorgung giftigen Biomülls ist 10- bis 25-mal teurer als bei regulärem Abfall. Sie ist zudem energieaufwendig und setzt toxische Abgase und Schwermetalle frei. Durch fehlende Trennung werden bis zu 90 % des Abfalls im OP falsch als biogefährdend entsorgt, obwohl der Anteil kalkulatorisch nicht über 15 % liegen sollte. Allein 30 % des OP-Mülls entfällt auf Verpackungen. Die Fehler bei der Abfalltrennung entstehen häufig durch Unwissenheit, unpassende Abfalleinrichtungen sowie hohen zeitlichen und finanziellen Druck. Dazu produziert ein durchschnittlicher Operationssaal pro Monat bis zu zwei Tonnen flüssigen Abfall, der zu 25 % biologisch gefährlich ist. Chirurgische Abdecktücher und Textilien aus Polypropylen machen 19 % des gesamten Abfalls im Operationssaal aus. Es ist nicht geklärt, ob diese Einmalprodukte einen hygienischen Vorteil bieten. Unbestritten ist, dass mehrfach verwertbare Tücher eine bessere Umweltbilanz haben.

5. Wasser: Reduktion des Wasserverbrauches im Krankenhaus

Die Verfügbarkeit von sauberem Trinkwasser wird durch die zunehmenden Dürre- und Hitzeperioden weltweit und auch in Europa reduziert. In Deutschland leiden besonders die östlich gelegenen Bundesländer unter Wassermangel. Der Gesundheitssektor verbraucht viel Wasser durch Reinigung, Waschen, Ernährung und medizinische Therapien (Dialyse). Die konsequente Reduktion des Wasserverbrauchs spart Energie und wirkt Wassermangel und -krisen entgegen. Relevante Kennzahlen z. B. gesamt, pro Patienten oder Bett sind z. B.:

  • Wasserverbrauch (in m3)
  • Grauwasser (Grey-Water)-Nutzung (in m3)

Klimafaktor Chirurgie

34 % des Krankenhausabwassers entfällt auf die Stationen, 17 % auf Operationssaal, Kreißsaal und Zentralsterilisation. Operationen benötigen das meiste Wasser für die Aufbereitung chirurgischer Instrumente.

6. Transport: Verbesserung der Transportstrategien für Patienten und Mitarbeiter

Der meist fossil betriebene Transport von Patienten und Personal belastet die Umwelt, sodass ein Übergang zu klimaverträglichen Alternativen notwendig ist. Kennzahlen im Transportbereich könnten beispielsweise sein:

  • Verkehrsmittel (PKW, Elektrofahrzeug, ÖPNV, Fahrrad/zu Fuß) der Mitarbeiter/Patienten für den Arbeitsweg bzw. Weg zur Klinik: Mitarbeiter/Patient je Verkehrsmittel zur jeweiligen Gesamtzahl
  • Anteile der verschiedenen Verkehrsmittel an Dienstreisen jeweils bezogen auf die zurückgelegten Kilometer
  • Anteile der verschiedenen Verkehrsmittel an den Transportprozessen der Klinik bezogen auf die zurückgelegten Kilometer

7. Beschaffung: Einkauf von sicheren und nachhaltigen Produkten und Materialien mit niedrigem CO2-Fußabdruck

Der Gesundheitssektor ist ein Großeinkäufer von Produkten und Dienstleistungen mit einem hohen CO2-Ausstoß. Außerdem werden Luft, Wasser und Boden durch Abgase, Schadstoffe und Abfälle verschmutzt. In der Beschaffung dominiert meist nur der Kostenfaktor, ohne dass die sekundären Folgen oder der CO2-Fußabdruck berücksichtigt werden. Eine umweltschonende Beschaffung benötigt Richtlinien für Nachhaltigkeit. Der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. bietet dazu ein Nachhaltigkeitssystem mit PDCA-Zyklus (plan, do, check, act) als Handlungsleitfaden [16] an. Neue Bestell-Richtlinien wie das Lieferkettengesetz 2023 unterstützen die Transition zu nachhaltigen Produkten.

Folgende beispielhafte Kennzahlen weisen hier die Richtung:

CO2-Fußabdruck der eingekauften Produkte und Dienstleistungen im Vergleich zum Vorjahr (z. B. Reduzierung durch die Beschaffung von nachhaltigen Berufstextilien – sie generieren 25 % des CO2-Ausstoßes einer Klinik mit durchschnittlich 2000 Mitarbeitern)

  • Anteil der Kosten von lokalen Produkten zu den Gesamtkosten des Einkaufs
  • Anteil Recyclingmaterial für bestimmte Produktgruppen (z. B. Büroverbrauchsmaterialen)
  • Anteil der nach umweltrelevantem Label zertifizierten Produkte

Klimafaktor Chirurgie

Einmalartikel haben in den vergangenen Jahrzehnten deutlich an Bedeutung gewonnen, was die Müllberge im Gesundheitssystem steigen ließ: Bereits bis 2020 stieg die Abfallproduktion pro Jahr um mindestens 15 %. Die oft in Asien produzierten Einwegartikel sind über die vor- und nachgeschalteten Lieferketten besonders emissionsbelastet. Die Lieferketten machen über zwei Drittel der Gesamtemissionen in der Gesundheitsversorgung aus. Zudem werden Mülltrennung und Materialrecycling in Krankenhäusern wie bereits beschrieben oft nur rudimentär durchgeführt. Für Krankenhausbetreiber bieten Einmalartikel neben der industriellen Haftung Einsparungen in Zentralsterilisation und Wäscherei. Dagegen stehen negativ neben der Umweltbelastung häufig Qualitätsverluste und die immer häufiger auftretenden Lieferengpässe [17].

8. Pharmazie: Pharmazeutika angemessen verschreiben, sicher verwalten und entsorgen

Die pharmazeutische Industrie ist der zweitgrößte Umweltverschmutzer des Gesundheitssektors, im ambulanten Bereich sogar der größte. Neben CO2-intensiven Aktivitäten kommen der Wasser- und Energieverbrauch und die Abfallmenge hinzu. Als Folge der Globalisierung werden Schutzmaterialien und Medikamente weit überwiegend in China und Indien produziert. Dies führt neben den zunehmenden Lieferengpässen zu einem hohen CO2-Fußabdruck sowohl durch den langen Transportweg als auch die lokale Energieerzeugung z. B. durch Kohle. Propagiert werden deshalb vom HCWH kleine Startmengen bei Neu-Rezeptur, das Vermeiden von Miniplastikproben, eine sichere Entsorgung, die zentralisierte Beschaffung und Verteilung und die Rückgabe überschüssiger Arznei- und Hilfsmittel

Folgende Kennzahlen zur Kontrolle dieser Maßnahmen sind:

  • Abgelaufene und selbst zu entsorgende Medikamente im Verhältnis zu der Gesamtabfallmenge von Medikamenten in kg im Vergleich zum Vorjahr
  • Quote der Medikamente und Schutzmaterialien aus inländischer Produktion
  • Quote der Menge abgelaufener Medikamente an Hersteller zur Gesamtabfallmenge von abgelaufenen Medikamenten

Klimafaktor Chirurgie

In den chirurgischen Fächern steht die Neuverschreibung von Medikamenten außerhalb von Antibiosen und Analgetika nicht im Vordergrund. Die größten Sparpotenziale ergeben sich in der strengen Indikationsstellung und zeitnahen Beendigung einer medikamentösen Therapie.

9. Gebäude: Planung und Bau umweltfreundlicher und gesunder Krankenhäuser

Das Ziel der Planung und des Bauens von umweltfreundlichen Krankenhäusern ist ein komplexes Thema, sodass hier nur die Anregungen des HCWH zur Anwendung von „grünen Leitlinien und best practices“ präsentiert werden. Als konkrete Maßnahmen werden u. a. die folgenden Punkte aufgeführt:

  • Beachtung von nationalen oder regionalen Green-Building-Richtlinien
  • Klimaneutraler Gebäudebetrieb mit naturintegrierenden Elementen; Minimieren des kombinierten Platzbedarfs von Gebäude, Parkplatz, Straßen und Wegen
  • Verwendung lokaler und regionaler Materialien; Einsatz recycelter Materialien
  • Hochreflektierende Dächer, Pflaster und „Gründach“-Systeme und durchlässige Pflasterung, um städtische Wärmeinseln zu verringern, Regenwasser zu nutzen und einen grünen Lebensraum zu fördern
  • Vermeidung blei- und cadmiumhaltiger Farben und Beschichtungen, Asbest und schwarzen Gebäudeverschalungen

Beispielhafte Kennzahlen sind:

  • Freiwillig renaturierte Flächen mit hoher Biodiversität/Kompensationsflächen im Vergleich zur genutzten Fläche
  • Flächenverbrauch in Quadratmeter bebauter Fläche
  • Anteil Recyclingmaterial

10. Lebensmittel: Einkauf und Ausgabe nachhaltig angebauter, gesunder Lebensmittel

Die Landwirtschaft in Europa verursacht vom Anbau bis zur Verarbeitung 15 % der Schadstoffemissionen. Komplett verschwendete Nahrungsabfälle haben einen wesentlichen Anteil daran. Sie bilden in Europa jährlich 100 Millionen Tonnen [18]. Eine Verringerung der Nahrungsabfälle und die Reduktion des Fleischkonsums auf maximal 300 bis 600 g pro Woche/Person [19] trägt erheblich zum Klimaschutz bei. Die geringere Menge von Klimagasen und der verringerte Fleischkonsum reduzieren zudem Lungen- und Kreislauferkrankungen als auch Krebsraten [20]. Trotzdem sind gesunde und nachhaltige Mahlzeiten in Krankenhäusern wegen des übermäßigen Kostendrucks eher eine Seltenheit. Mahlzeiten im Krankenhaus bieten zumeist eine mindere Qualität und einen geringen Nährgehalt. Die Umstellung auf die Planetary Health Diet stellt eine Lösung dar [21].

Praktikable Kennzahlen sind:

  • Anteil der Lebensmittelabfälle zum Gesamtabfall oder pro Patient
  • Integration regionaler Lieferanten
  • Reduktion des Fleischanteils
  • Lebensmittelabfall pro Patient oder Mitarbeiter
  • Anteil der veganen/vegetarischen Mahlzeiten pro Patient oder Mitarbeiter
  • Zufriedenheit von Mitarbeitern und Patient mit der Krankenhauskost

Ausblick

Klima- und Umweltfaktoren müssen fester Bestandteil des Wirtschafts- und Strategieplans von Krankenhäusern werden. Der Gesundheitssektor unterliegt im Gegensatz zur Industrie in ökologischen Angelegenheiten zurzeit noch deutlich geringeren Kontrollen. Durch die Vorgabe der Klimaneutralität bis 2030 wird sich der Druck erhöhen. Die im Gesundheitssystem tradierten Managementprinzipien müssen deshalb revidiert und neu bewertet werden. Hier müssen neue Aspekte wie ein ganzheitlicher Ansatz (system thinking) erfolgen. Das betrifft auch Hygienevorgaben und das alles überlagernde Kostenprinzip. Die Balance Scorecard mit Nachhaltigkeitskennzahlen bietet hierzu eine etablierte und bewährte Toolbox zur Umsetzung dieser Ziele.

Das DHOW-Modell zeigt, wie Nachhaltigkeit in die Krankenhauskultur integriert werden kann, wobei die modifizierte nachhaltige BSC dabei eine zentrale Rolle übernimmt (Abb. 3).

Abb. 3: DHOW Modell zur Nachhaltigkeit

Ausblick für die Chirurgie

Das Thema Klimaschutz ist mittlerweile auch in der Chirurgie angekommen. Operateure und OP-Teams bemängeln durchgehend die wachsenden Abfallmengen, das unzureichende Recycling und die stetig steigende Rate an Einmalinstrumenten und Lieferengpässen. Nachhaltige Konzepte stellen bei Ärzteschaft und Pflege bereits jetzt einen Faktor in der Personalakquise, der in Zukunft sicher weiter an Bedeutung gewinnen wird. Auch für die Chirurgie existieren bereits diverse Konzepte, mit deren Hilfe die enormen Herausforderungen strukturiert bearbeitet werden können. Organisationen wie die Health Care Without Harm, Greening the Operating Room oder Practice Greenhealth liefern dazu dezidierte Vorschläge.

Weitere Informationen zu Initiativen in Deutschland:

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via [email protected].

Korrespondierende Autorin:

Prof. Dr. Edda Weimann, MPH

University of Cape Town (Health Information Systems)

Technische Universität München (Global Health & Planetary Health)

[email protected]

Prof. Dr. Carsten Krones

Chefarzt

Marienhospital Aachen

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Minimalinvasive Chirurgie

[email protected]

Olivia Pässler

Presse- & Öffentlichkeitsarbeit

Berufsverband der Deutschen Chirurgie e.V. (BDC), Berlin

[email protected]

Gesundheitspolitik

Weimann E, Krones C, Päßler O: BDC-Praxistest: Die nachhaltige Balanced Scorecard im Krankenhaus. Passion Chirurgie. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 05_01.

Alle Artikel zum Thema „Nachhaltigkeit“ finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Panorama | Nachhaltigkeit.

Neues Weiterbildungsprogramm des BDC mit Amboss 17.-18.10.2023

Der BDC hat gemeinsam mit der Lernplattform Amboss ein neues Lernprogramm für Chirurg:innen in Weiterbildung entwickelt. Das neue Blended-Learning-Programm „Basic Surgery – Learn and Chat“ zielt darauf ab, chirurgisches Basiswissensicher sicher zu beherrschen und souverän zu kommunizieren.
Das Programm besteht aus drei Teilen: befristeter Zugang zur gesamten AMBOSS-Plattform um sich auf den Präsenz-Kurs vorzubereiten, dann ein zweitägiger Workshop in Berlin. Hier wird das Wissen durch Fallpräsentationen in Kleingruppen mit erfahrenen Chirurg:innen diskutiert. Aktive Beteiligung ist durch den Parcours mit realistischen Patient:innen-Fällen garantiert. Am ersten Tag durchlaufen alle Teilnehmer:innen die Basic cases und für den zweiten Tag suchen sie sich ihren Schwerpunkt vorab aus – Allgemein-/Viszeralchirugie oder Orthopädie/Unfallchirurgie. Der dritte Teil ist eine AMBOSS Online-Prüfung: 60 Multiple-Choice-Fragen mit direktem Bezug zu den präsentierten Fällen, bequem zu Hause.

Personalia

Juli/August 2023


PD Dr. med. Patrick H. Alizai
, MHBA
, zuvor Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am Universitätsklinikum Aachen, ist neuer Chefarzt der Allgemein- und Viszeralchirurgie am Gemeinschaftskrankenhaus Bonn, Haus St. Elisabeth.

Dr. med. Cornelius Grimme, seit 2007 Leitender Oberarzt in der septischen Knochen- und Gelenkchirurgie und seit 2015 leitender Arzt im Fachbereich Septische Unfallchirurgie und Orthopädie, ist seit Anfang Juli 2023 neuer Chefarzt, gemeinsam mit dem bisherigen Chefarzt des Fachbereichs, Dr. med. Ulf-Joachim Gerlach, des BG Klinikums Hamburg.

Dr. med. Jan Ludolf Kewer ist seit Juli 2023 der neue Chefarzt der Chirurgie am Krankenhaus Stockach. Er wechselte aus Tuttlingen, wo er langjähriger Chefarzt der chirurgischen Klinik war.

Prof. Dr. med. Werner Kneist ist seit Juli 2023 neuer Chefarzt der Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie am Klinikum Darmstadt. Er war zuvor Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am St. Georg-Klinikum in Eisenach.

Dr. med. Matthias Krüger ist seit April 2023 Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie des AMEOS Klinikum Haldensleben, zusätzlich zu seiner chefärztlichen Leitung am AMEOS Klinikum Schönebeck, wo er seit März 2022 tätig ist.

Dr. Dr. med. univ. Markus Mille ist neuer Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am St. Georg-Klinikum in Eisenach. Der Facharzt für Viszeralchirurgie, Spezielle Viszeralchirurgie mit Zusatzqualifikation für „Chirurgische Onkologie“ wechselte im Juli 2023 vom HELIOS Klinikum Erfurt, wo er als Oberarzt tätig war.

Prof. Dr. med. Alexander Novotny ist seit Mai 2023 neuer Chefarzt für Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie am Klinikum Freising. Der Facharzt für Chirurgie mit Schwerpunkt Viszeralchirurgie, mit den Schwerpunkten Kolorektalchirurgie, Speiseröhren-, Magen-, Pankreas- und Leberchirurgie, wechselte von der Technischen Universität München, Klinikum Rechts der Isar.

PD Dr. med. Jörg Schröder übernahm im Mai 2023 die Position des Chefarztes der Klinik für Orthopädie am Klinikum Ernst von Bergmann Potsdam. Vorher war er am Unfallkrankenhaus Berlin tätig, zuletzt als Oberarzt und ärztlicher Leiter des Zentrums für Gelenkerhalt und Endoprothetik.

Chirurgie+

Personalia-Meldungen finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de), unter der Rubrik Wissen | Karriere.

Leserbrief

Betrifft: Artikel aus Passion Chirurgie 06/QII/2023: „CME-Artikel: Rückenschmerzen – interventionelle Schmerztherapie“ von Dr. med. Roland Minda.

Sie finden den Artikel auf BDC|Online (www.bdc.de) im Bereich WISSEN | Aus-, Weiter- und Fortbildung | CME, oder klicken HIER.

Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Minda, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

das Thema ist wichtig. Im Text fehlt jedoch mindestens zweierlei:

1) Der Hinweis auf wichtige chirurgische Differentialdiagnosen und ihre orientierende Untersuchung. Beim tiefen Kreuzschmerz die Erkrankung der Aorta, beim Beinschmerz die Erkrankung der Beinarterien. Beide sind nicht extrem selten sondern „Volkskrankheiten“ und im doppelten Wortsinn „Red Flags“. Die Palpation der Leisten- und Beinarterien ist mühelos, kostengünstig und führt zu objektiven Befunden. Ein lumbaler Bandscheibenvorfall links/rechts in Verbindung mit einer paVK rechts/links kommt vor.

2) „Yellow Flags“ und „Blue Flags“ sind wichtig. Dafür gibt es bei drohender Erwerbsminderung, ab einer Arbeitsunfähigkeitsdauer von sechs Wochen rehabilitative Angebote, führend z. B. den Rehatherapiestandard „Chronischer Rückenschmerz“ der Deutschen Rentenversicherung im Rahmen einer Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation nach § 15 SGB VI. Vorteilhaft an einer rehabilitativen Maßnahme sind zum einen die Zweitmeinung durch den orthopädisch/chirurgischen Kollegen der Rehaeinrichtung und zum anderen, ausgesprochen wichtig, die Ergebnisse der dort durchgeführten sozialdienstlichen Befassung, für die Zuweisungsmöglichkeiten in der Kurativmedizin nicht vorgesehen sind.

Nach gründlicher Untersuchung sind Präventionsmaßnahmen nach §§ 20, 23, 24 SGB V der Krankenversicherung oder § 14 SGB VI als RV Fit der Deutschen Rentenversicherung sicher ein besserer Einstieg in die Selbstwirksamkeit als die primäre Injektionstherapie. Hier ist Kollegen Dr. Minda uneingeschränkt beizupflichten.

Mit freundlichen und kollegialen Grüßen
Hans – Friedrich Bär

Antwort des Autors

Sehr geehrter Herr Kollege Bär,

Zu 1.: „Der Hinweis auf wichtige chirurgische DD. …“ ist richtig. Arterielle Durchblutungsstörungen sind natürlich nicht selten, wir werden ja auch älter, aber die Symptomatik, vertebragener Schmerz vs. Schmerzen bei Durchblutungsstörungen der unteren Extremität, sind different zu betrachten. Eine Aufarbeitung dieses Themas „Red Flags“ in Gänze hätte zum Beispiel auch die Neuropathie etc. mit diskutabel verlangt.

Der allgemeine Status, auch in einer hausärztlichen Praxis, verlangt zwingend eine mindestens palpatorische Untersuchung der arteriellen Strombahn, wie auch einen orientierenden neurologischen Status. Stichwort CVI mit Schwäche/Parästhesie, z. B. auch nur eines Beins.

Zu 2: „Yellow Flags“ und „Blue Flags“ sind wichtig“ … Auch dies ist ein wichtiger Punkt, wenn nicht sogar der wichtigste.

Die Problematik, die sich dahinter verbirgt, ist die fachkompetente Beurteilung. Eine entsprechende Weiterbildung bezüglich des Erkennens und dann auch Behandlung von psychosomatischen/psychischen/sozialen Störungen und deren Einflüsse auf das komplexe Geschehen „Rückenschmerz“ wäre sicherlich wichtig und auch nötig. Auch hier ist ein interdisziplinärer kollegialer Schulterschluss wünschenswert.

Die Realität, zum Beispiel ein Konsiliartermin in einer kollegialen Praxis, ist jedoch etwas ganz Besonderes. Oft hat sich der primäre Vorstellungsgrund dann schon von selbst geklärt bzw. verschärft und der konsiliarisch angedachte Kollege wird der primäre Ansprechpartner.

Sehr geehrter Herr Bär – Kompliment für Ihre tolle Anfrage und Ihre diesbezügliche Positionierung, Empathie ist zunehmend wichtig.

Mit freundlichen Grüßen
Roland Minda

Dipl.-Ing. (FH) Hans-Friedrich Bär

Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie

Sepzielle Schmerztherapie – Sozialmedizin

Werl – Nürnberg

Chirurgie+

Bär HF: Leserbrief. Passion Chirurgie.
2023 Juli/August; 13(07/08):
Artikel 04_08.

Wenn der Partner nicht mehr entscheiden kann

Eine Person landet im Krankenhaus und ist nicht mehr entscheidungsfähig. Ehepartnern und eingetragenen Lebenspartnern waren ohne Vorsorgedokumente bis vor Kurzem die Hände gebunden. Entgegen der landläufigen Meinung konnten sie keinerlei Entscheidungen darüber treffen, wie ihr Partner behandelt werden sollte. Dieses Szenario stellte auch die behandelnden Ärzte zumindest vor einen moralischen Konflikt. Dem wurde nun Abhilfe geschaffen. Seit dem 1. Januar 2023 ist das Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts in Kraft getreten mit grundlegenden Änderungen, die auch Ärzte kennen sollten. Die gesetzliche Regelung verankert ein Vertretungsrecht für Ehepartner und eingetragene Lebenspartner.

Vor dem Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung musste für einen volljährigen Patienten, der zustandsbedingt nicht in der Lage war, in eine ärztliche Behandlung einzuwilligen, mit einer zur Vertretung berechtigten Person das ärztliche Aufklärungsgespräch geführt werden. Sofern keine Vorsorgevollmacht erteilt wurde, musste das Gericht einen Betreuer bestellen. Dieses Vorgehen war – anders als in breiten Kreisen der Bevölkerung vermutet – auch bei Verheirateten oder eingetragenen Lebenspartnerschaften erforderlich.

Voraussetzungen bzw. Ausschlussgründe (§ 1358 BGB)

  • Unfähigkeit zur Besorgung eigener Angelegenheiten der Gesundheitsfürsorge infolge Krankheit und/oder Bewusstlosigkeit
  • Die Ehepartner leben nicht getrennt (keine Trennungsabsicht). Wichtig: Sofern ein Ehepartner ohne Trennungsabsicht im Seniorenheim oder aus beruflichen Gründen in einer Zweitwohnung lebt, leben die Eheleute nicht getrennt

Keine positive Kenntnis des behandelnden Arztes oder des (vertretenden) Ehegatten von:

  • Ablehnung der Ehegattenvertretung durch den erkrankten Ehegatten;
  • anderweitiger Bevollmächtigung (zum Beispiel Vorsorgevollmacht) oder gerichtliche Bestellung eines Betreuers in Angelegenheit der Gesundheitssorge
  • Kein Ablauf von sechs Monaten seit dem Eintritt der Unfähigkeit zur Besorgung

Zur Vereinfachung dieser Situation wurde für medizinische Akutsituationen das Recht auf Ehegattennotvertretung geschaffen. Nach der gesetzlichen Regelung können Ehepartner füreinander medizinische Entscheidungen treffen, Behandlungsverträge abschließen und Aufklärungen entgegennehmen, wenn der Ehepartner aufgrund von Bewusstlosigkeit und/oder Krankheit dazu selbst nicht in der Lage ist und für diesen Fall kein bevollmächtigter Vertreter oder gesetzlicher Betreuer zur Seite steht. Die ärztliche Schweigepflicht wird gegenüber dem vertretenden Ehegatten aufgehoben.

Weitere Vorgänge im Zusammenhang mit dem Vertretungsrecht

  • Ärztliche Dokumentation des Eintritts des Vertretungsrechts
  • Schriftliche Zusicherung des vertretenden Ehegatten über Nichtvorliegen von Ausschlussgründen

Das Vertretungsrecht gilt nur in bestimmten Bereichen und ist auf einen Zeitraum von sechs Monaten beschränkt. Das Gesetz sieht Ausschlussgründe (zum Beispiel bei getrennten Ehepartnern) vor. Behandelnde Ärzte haben dem vertretenden Ehegatten bei erstmaliger Ausübung des Vertretungsrechts ein Dokument auszustellen, aus dem sich das Vorliegen der Voraussetzungen für das Vertretungsrecht und der Zeitpunkt, ab dem das Vertretungsrecht gilt, ergibt. Es gibt für die Bescheinigung ein im Internet hinterlegtes Formular „Ehegattennotvertretung“ – ein gemeinsames Muster von Bundeministerium der Justiz, Bundesärztekammer und Deutscher Krankenhausgesellschaft. Das Vertretungsrecht endet, wenn seine Voraussetzungen entfallen, spätestens aber nach sechs Monaten.

UMFANG DES VERTRETUNGSRECHTS

  • Insbesondere: Einwilligung und Untersagung von Untersuchungen, Heilbehandlungen und ärztlichen Eingriffen sowie Entgegennahme der zugehörigen ärztlichen Aufklärung. Erfasst sind nur Behandlungen, die aus medizinischer Sicht notwendig sind, insbesondere Fälle von akuten behandlungsbedürftigen Beeinträchtigungen

Sandra Miller

Rechtsanwältin

Ecclesia Holding GmbH

Unternehmensbereich Schaden, Abteilung Krankenhaus

Ecclesia Holding GmbH

Ecclesiastraße 1-4

32758 Detmold

[email protected]

Chirurgie+

Miller S: Wenn der Partner nicht mehr entscheiden kann. Passion Chirurgie. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 04_09.

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F+A: Anwendung innovativer Behandlungsmethoden im Krankenhaus

Frage:

Ein Chefarzt fragt an, unter welchen Voraussetzungen eine noch nicht anerkannte innovative Behandlungsmethode in einem Krankenhaus zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) angewendet werden kann.

Antwort:

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann eine Behandlungsmethode im Krankenhaus dann zu Lasten der GKV angewandt werden, wenn die Krankenhausbehandlung dem maßgeblichen Qualitätsgebot (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) entspricht, die vollstationäre Leistungserbringung erforderlich ist (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V) und die Leistungen insgesamt wirtschaftlich (§ 12 Abs. 1 SGB V) erbracht werden. Für nicht anerkannte innovative Behandlungsmethoden hat das BSG nunmehr mit aktuellem Urteil vom 13.12.2022 die Anforderungen konkretisiert (vgl. hierzu und im Nachfolgenden: BSG, Urteil vom 13.12.2022 – B 1 KR 33/21 R, unter: https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2022/2022_12_13_B_01_KR_33_21_R.html):

Eine Behandlungsmethode entspricht immer dann dem Qualitätsgebot, wenn sie im Zeitpunkt der Behandlung entweder durch einen Beschluss des GBA vom GKV-Leistungskatalog umfasst ist oder der Versicherte einen Anspruch auf die Versorgung aufgrund einer Richtlinie (RL) des GBA hat.

Ist beides nicht gegeben, genügt eine innovative Behandlungsmethode den allgemeinen Qualitätsanforderungen des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V, wenn Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen. Dies erfordert für die Untersuchungs- und Behandlungsmethoden den vollen Nutzennachweis im Sinne eines evidenzgestützten Konsenses der großen Mehrheit der einschlägigen Fachleute (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 16).

Ist auch diese Anspruchsgrundlage nicht einschlägig, kann sich ein Anspruch auf eine dem Qualitätsgebot nicht entsprechende Leistung zu Lasten der GKV ergeben, wenn die Behandlung die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V erfüllt. Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine vom Qualitätsgebot abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 18).

Greift diese Rechtsnorm ebenfalls nicht, kommt letztendlich noch ein Anspruch nach Maßgabe des § 137c Abs. 3 SGB V in Betracht, der das allgemeine Qualitätsgebot teilweise beschränkt und den Anspruch Versicherter auf Krankenhausbehandlung erweitert.

Danach dürfen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, zu denen der GBA bisher keine Entscheidung, ob sie für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erforderlich sind, getroffen hat, im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden, wenn sie das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, die Behandlungsalternative also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist. An die Stelle des allgemeinen Qualitätsgebots tritt in diesen Fällen somit der Potenzialmaßstab. Dies hat der 1. Senat des BSG bereits mit Urteil vom 25.03.2021 unter Aufgabe seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung entschieden (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 20).

Der Potenzialmaßstab des § 137c Abs. 3 SGB V geht unter den nachfolgend dargestellten Einschränkungen als lex specialis dem allgemeinen Qualitätsgebot aus Sicht des BSG vor. Versicherte haben außerhalb eines auf einer Erprobungs-RL beruhenden Erprobungsverfahrens vor dessen inhaltlicher Konkretisierung Anspruch auf neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nur im Rahmen eines individuellen Heilversuchs, wenn es

1.um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung geht,

2.keine andere Standardbehandlung verfügbar ist und

3.die Leistung das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 21).

Voraussetzung für einen Anspruch Versicherter auf Potenzialleistungen nach § 137c Abs. 3 SGB V ist, dass es sich bei der neuen Methode um eine „erforderliche“ Behandlungsalternative handelt.

Solange eine Standardtherapie zur Verfügung steht und Risiken existieren, die sich aus dem Einsatz innovativer Methoden (nur) mit dem Pozential, nicht aber mit der Gewissheit einer erforderlichen Behandlungsalternative für die Patienten ergeben können, fehlt es an der „Erforderlichkeit“ einer Behandlungsalternative. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie nicht hinreichend durch eine vorläufige Einschätzung des GBA sowie durch besondere Anforderungen an die Struktur- und Prozessqualität abgesichert sind. Eine andere Standardtherapie ist dann nicht verfügbar, wenn alle in Betracht kommenden Standardbehandlungen kontraindiziert sind oder sich als unwirksam erwiesen haben. § 137c Abs. 3 Satz 1 SGB V verlangt, dass die Potenzialleistungen medizinisch indiziert und notwendig sein müssen. Das damit insgesamt angesprochene Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V erfordert bei mehreren zur Verfügung stehenden Behandlungsalternativen, den Weg des gesicherten Nutzens zu wählen (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 24). Die Verfügbarkeit einer anderen Standardbehandlung kann einem Versicherten jedoch dann nicht entgegengehalten werden, wenn sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 26). Sie darf jedenfalls nicht nur abstrakt „ins Blaue hinein“ genannt werden, sondern muss auch konkret für die Behandlung gerade dieses Versicherten infrage kommen (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 27).

Eine Methode bietet nach Beurteilung des BSG ein hinreichendes Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative, wenn

1.ihr Nutzen mangels aussagekräftiger wissenschaftlicher Unterlagen weder eindeutig belegt noch ihre Schädlichkeit oder Unwirksamkeit festgestellt werden kann,

2.die Methode aufgrund ihres Wirkprinzips und der bisher vorliegenden Erkenntnisse aber mit der Erwartung verbunden ist, dass sie im Vergleich zu anderen Methoden eine effektivere Behandlung ermöglichen kann,

3.die nach den internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin bestehende Evidenzlücke durch eine einzige Studie in einem begrenzten Zeitraum geschlossen werden kann (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 28) und

4.eine Gesamtabwägung der zu erwartenden Vor- und Nachteile von innovativer Behandlungsmethode zur Standardmethode zu Gunsten der innovativen Methode ausfällt (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 36, 37).

Bei Erlass einer Erprobungs-RL durch den GBA ist aus Sicht des BSG regelmäßig von einem Potenzial i.S.d. §§ 137c, 137e SGB V auszugehen (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 30).

Hat der GBA noch keine Entscheidung über das Vorliegen des Potenzials einer Behandlungsmethode getroffen, so obliegt nach Meinung des BSG die Entscheidung hierüber dem Krankenhaus sowie der jeweiligen KK als Kostenträger. Die Gerichte können diese Entscheidung umfassend überprüfen. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen wird hierbei nach Ansicht des BSG in der Regel notwendig sein (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 31).

Antwort von Dr. jur. Jörg Heberer:

Justitiar BDC

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht

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Chirurgie+

Heberer J: F+A: Anwendung innovativer Behandlungsmethoden im Krankenhaus. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 04_10.

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F+A: Streitverkündung im Rahmen eines Arzthaftpflichtprozesses

Frage:

Ein Oberarzt fragt an, ob er einen eigenen Anwalt benötigt, nachdem er nunmehr eine Streitverkündungsschrift in einem Arzthaftpflichtprozess wegen eines Behandlungsfehlers erhalten hat, in dem bereits sein Arbeitgeber als Klinikträger und der Chefarzt als Operateur verklagt wurden. Zudem möchte er wissen, welche Haftpflichtversicherung in diesem Fall greift.

Antwort:

Grundsätzlich sind alle Tätigkeiten, die ein Oberarzt als Mitarbeiter im Rahmen seines Dienstvertrages als Dienstaufgabe übernimmt, in den Haftpflichtversicherungsschutz des Krankenhausträgers einbezogen. Dies gilt auch für Streitverkündungen.

Solange zwischen dem Oberarzt und der Krankenhausleitung beziehungsweise dem beklagten Chefarzt kein Interessenkonflikt besteht, mithin das gemeinsame Interesse in der Abwehr unberechtigter Ansprüche liegt, wird für dieses Verfahren kein eigener Anwalt benötigt. Allerdings sollte über den Arbeitgeber die Haftpflichtversicherung von der Streitverkündung informiert werden und dieser obliegt dann die Entscheidung, ob der Oberarzt dem Streit beitreten oder den Verfahrensausgang abwarten soll.

Sollte einmal eine Interessenkollision zu befürchten sein, beispielsweise, weil greifbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich der Streitverkünder und der Chefarzt gegen den Oberarzt „verbünden“, um eine etwaige Verantwortung rechtlich bei ihm anzusiedeln bzw. dass sich der Chefarzt „zu Lasten“ des Oberarztes verteidigt, sollte aus Sicht des Verfassers der Weg über einen eigenen Anwalt gegangen werden. Im Normalfall dürften jedoch alle beteiligten Ärzte der Klinik ein gleichgerichtetes Interesse dahingehend haben, unberechtigte Ansprüche abzuwehren.

Antwort von Dr. jur. Jörg Heberer:

Justitiar BDC

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht

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Heberer J: F+A: Streitverkündung im Rahmen eines Arzthaftpflichtprozesses. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 04_11.

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Krankenhausreform 2023: Wirklich eine Revolution oder nur dringend notwendige Strukturveränderungen?

Es ist geschafft: Nach monatelangen Diskussionen in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Krankenhausreform 2023 haben sich am 10. Juli 2023 die Gesundheitsminister der Länder, der Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach sowie die Fraktionen der Ampel-Koalition in Berlin mehrheitlich auf die Eckpunkte für diese Reform verständigt. Trotz einiger Kompromisse in dem 15-seitigen Eckpunktepapier, so der prinzipiellen Absage an eine zukünftige Level-Einteilung der Krankenhäuser, sprach Lauterbach erneut wie auch beim Krankenhausgipfel „Spezial“ der deutschen Krankenhausgesellschaft am folgenden Tag von einer „Revolution“ beziehungsweise einem „sehr großartigen Ergebnis“. Die entscheidenden Punkte der Reform, nämlich Entökonomisierung bei Gewährleistung der Versorgungssicherheit, Steigerung der Behandlungsqualität und Entbürokratisierung, könnten nun konkret in einen Gesetzentwurf durch die gemeinsame Bund-Länder-Gruppe unter Mitarbeit von vier Bundesländern über die Sommermonate eingearbeitet werden.

Die bisherigen Fallpauschalen sollen zu 60 % durch Vorhaltevergütungen für bestimmte Leistungen, die vom Krankenhaus angeboten werden, ersetzt werden. Ob sich dadurch wirklich eine Reduktion des ökonomischen Drucks und damit eine Entbürokratisierung erreichen lässt, muss fraglich erscheinen. Generell soll das Erlösvolumen der somatischen Krankenhäuser nicht grundsätzlich erhöht werden, wobei auch für Pädiatrie, Geburtshilfe, Stroke Unit, spezielle Traumatologie, Intensivmedizin und Notfallversorgung zusätzliche Zuschläge vorgesehen sind. Grundlage zur Finanzierung durch die Krankenkassen sollen die im mehrstufigen Ablauf noch genau zu definierenden Leistungsgruppen sein. Orientieren will man sich dabei am NRW-Modell, ergänzt um fünf Gruppen: Infektiologie, Notfallmedizin, spezielle Traumatologie und spezielle Kinder- und Jugendmedizin bzw. -chirurgie. Die Leistungsgruppen, relevant für das Finanzierungssystem, bilden medizinische Leistungen mit bundeseinheitlichen Qualitätskriterien bei Zuordnung von OPS- und ICD-Codes ab.

Auch wenn Bund und Länder bei den Zuordnungen der Versorgungsstufen der Krankenhäuser als Level-Einordnungen keine Einigkeit erzielt haben, wird das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) die geplante Transparenzoffensive zur Darstellung der Qualität in den Krankenhäusern mit eigenem Gesetz angehen, wobei sehr wohl eine Level-Zuordnung vorgesehen ist. Bemerkenswert ist, dass die bisher als Level Ii bezeichneten Krankenhäuser jetzt sektorenübergreifende Versorger genannt werden. Eine pflegerische Leitung ist hier möglich, fachliche medizinische Entscheidungen werden nach wie vor ausschließlich ärztlich verantwortet. Diesen Häusern soll eine entscheidende Rolle in der sektorenübergreifenden Gesundheitsversorgung zukommen. Neben allgemeiner stationärer Behandlung sollen unter anderem ambulante-, belegärztliche oder Leistungen des AOP-Katalogs beziehungsweise der Pflege möglich sein. Verwirrend ist der derzeitige Finanzierungsmix, so durch individuelle Tagessätze oder Hybrid-DRGs, die erst zum 1. Januar 2024 durch das BMG eingeführt werden sollen. Entscheidend abzulehnen ist der Plan, das Level-Ii-Krankenhäuser einen wesentlichen Bestandteil der ärztlichen und pflegerischen Aus- und Weiterbildung darstellen sollen. Hier ist sicherlich der Einbezug von Krankenhäusern aller Versorgungsstufen dringend zu fordern, um auch die Vermittlung von Kenntnissen in der Notfall- und Intensivmedizin sowie in vielen anderen Leistungsbereichen mit hoher Komplexität zu gewährleisten.

Viele Fragen, gerade auch hinsichtlich der Ambulantisierung, sind insgesamt trotz Zustimmung zum Eckpunktepapier noch offen, wobei sich alle Beteiligten einig sind, dass ein Scheitern der Reformpläne keine Option sein kann.

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Hans-Joachim Meyer

Präsident des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgie e.V. (BDC)

Luisenstr. 58/59

10117 Berlin

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Gesundheitspolitik

Meyer HJ: Krankenhausreform 2023: Wirklich eine Revolution oder nur dringend notwendige Strukturveränderungen? Passion Chirurgie. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 05_02.

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Nachhaltigkeit in der operativen Medizin

Das mit dem Paris-Abkommen konforme Restbudget Deutschlands für die Emission von Kohlendioxid-Äquivalenten (CO2e) ist im bisher weitgehend praktizierten Business-as-usual-Szenario in etwa sieben Jahren aufgebraucht [52]. Aufgrund dieser Brisanz hat auch das Autorenteam dieses Artikels unlängst bereits andernorts einige Übersichtsartikel zum Thema publiziert [19, 28, 53], wobei sich die Faktenlage und der Stand der Erkenntnisse zuletzt nur unwesentlich verändert haben. Allerdings zeigen die Durchdringung der Ärzteschaft mit dem Wissen um die klima- und somit auch gesundheitsschädlichen Effekte moderner Spitzenmedizin sowie die Umsetzung von wirksamen Maßnahmen zur Reduktion von Emissionen im Gesundheitssystem mitunter noch Optimierungsbedarf.

Die Folgen des anthropogenen Klimawandels beeinflussen auch in Deutschland längst die Gesundheit und das Leben der Einzelnen [1, 2]. Auf die Akutmedizin – insbesondere die Intensiv- und Notfallmedizin – werden in diesem Zusammenhang zahlreiche Herausforderungen wie die hitzebedingte Zunahme von Myokardinfarkten und Schlaganfällen, Dehydratationen und Nierenschädigung sowie neue oder ungewöhnliche respiratorische und intestinale Infektionserkrankungen und wetterbedingte Großschadensereignisse mit potenziellen MANV-Lagen zukommen [3, 4].

Auch die medizinische Infrastruktur kann hiervon betroffen sein [2]. Erforderliche Anpassungsmaßnahmen der Krankenhausgebäude betreffen vor allem den Hitzeschutz, aber auch die Resilienz gegenüber Überschwemmungen, Maßnahmen zur Reduktion des Energieverbrauchs inklusive Isolation der Gebäudehülle und Erzeugung sowie Nutzung erneuerbarer Energien [5]. Das globale Gesundheitssystem verursacht 4 bis 5 Prozent der Treibhausgas(THG)-Emissionen und übertrifft damit die Summe aus Flug- und Schiffsverkehr [5]. Dieser Einfluss ist in hoch technisierten Gesellschaften derzeit noch höher: In Deutschland addieren sich die Emissionen aus dem Gesundheitswesen auf 0,71 t CO2e pro Kopf und Jahr, was aktuell etwa 7 Prozent der Gesamtemission entspricht [6, 7, 8, 50]. Die energie- und ressourcenintensiven OP-Bereiche und die Intensivmedizin tragen dazu in wesentlichem Umfang bei.

Einige Life-Cycle-Assessments (LCA) wurden im Bereich der operativen Medizin bereits durchgeführt und bilden solide ökologische und ökonomische Entscheidungsgrundlagen [41, 54]. Je nach Wahl des Narkoseverfahrens sind direkte Emissionen durch Inhalationsanästhetika sehr relevant [9, 10]. Es liegt also nahe, zur Erfüllung nationaler Reduktionsziele insbesondere auch im operativen Bereich Einsparmaßnahmen umzusetzen. Der Vergleich verschiedener Gesundheitssysteme zeigt ein immenses Einsparpotenzial: So verursacht eine Katarakt-OP in Indien 6 kg an CO2e-Emissionen, in Großbritannien dagegen 180 kg – bei vergleichbaren Komplikationsraten und Ergebnissen [11]. Aber auch innerhalb eines Landes der „ersten Welt“ sind die unterschiedlichen Klima-Effekte verschiedener Therapien bemerkenswert: Durch dringliche Kaiserschnitte werden je emittierter Tonne CO2e rund 200 gesunde Lebensjahre (disability adjusted life years (DALYs)) gewonnen. Demgegenüber gewinnt man mit derselben CO2-Emission bei Roboter-unterstützten Prostatektomien im Schnitt deutlich weniger als ein gesundes Lebensjahr. Zwischen diesen beiden aus unterschiedlichen Datenquellen berechneten lebensphasenabhängigen und bewusst plakativ ausgewählten Extrembeispielen befindet sich ein Kontinuum, das je nach OP-Methode, Anästhesieverfahren und Standortfaktoren unterschiedlich hohe Emissionen zur Folge hat [11]. So verursacht eine laparoskopische Hysterektomie (HE) beispielsweise 30 Prozent weniger CO2e als eine HE bei Roboter-unterstütztem Vorgehen [54]. Ziel muss letztlich sein, neben einem patienten- und indikationsgerechten Vorgehen auch die Emissionen pro Fall zu reduzieren [9].

Das aktuelle Konsensuspapier des Weltverbands der Anästhesiegesellschaften fordert von Anästhesisten nicht nur den nachhaltigen Umbau von klinischer Versorgung, Forschung und Lehre, sondern auch, dass sie innerhalb ihres nationalen Gesundheitswesens dabei eine Führungsrolle übernehmen sollen [12]. Im deutschsprachigen Raum können Anästhesist:innen durch Umsetzung der Empfehlungen des Forums Nachhaltigkeit in der Anästhesiologie wesentlich dazu beitragen [10, 13] und ihren beruflich bedingten Klimaeinfluss um bis zu 70 Prozent vermindern [14].

Letztlich wird der Weg zur angestrebten Netto-Nullemission aber nur mithilfe von interdisziplinärer und interprofessioneller Zusammenarbeit in Teams gelingen, die durch die jeweilige Führungsebene mandatiert werden: Politische und institutionelle Rahmenbedingungen und Strukturen müssen geschaffen werden, um die Reduktionsziele der Bundesregierung erreichen zu können [35].

So beträgt beispielsweise der Anteil der Narkosegase am gesamten CO2-Fußabdruck der Universitätsklinika Heidelberg und Freiburg lediglich etwa 1 Prozent, wohingegen 75 Prozent auf die Lieferkette entfallen [31, 32]. Ein entscheidender Schritt in diese Richtung wird die Umsetzung der neuen EU-Richtlinie „Corporate Sustainability Reporting Directive“ (CSRD) sein, die von Unternehmen fordert, einen jährlichen Nachhaltigkeitsbericht zu erstellen [33, 34]. Neben anderen Aspekten muss hierfür zunächst eine CO2-Bilanz berechnet werden. Forschungsgruppen aus Heidelberg und Freiburg haben zu diesem Zweck Footprint-Rechner für Krankenhäuser entwickelt, die aktuell harmonisiert wurden und online zur Verfügung stehen [31, 32, 55]. Die Gesamtemissionen werden dabei in drei Bereiche eingeteilt: Direkte Emissionen (Scope 1) entstehen vor Ort durch Kraftstoffverbrennung oder flüchtige Substanzen (z. B. volatile Anästhetika). Indirekte Emissionen (Scope 2) resultieren aus dem Energiebezug von externen Anbietern (z. B. Strom und Wärme). Scope-3-Emissionen entstehen in der Lieferkette (inkl. Patienten- und Mitarbeitermobilität) und sind in Deutschland derzeit schwierig zu beziffern, da hier noch ein erheblicher Regulierungsbedarf besteht.

Professor Dr. Martin Schuster, Vorsitzender des gemeinsamen Forums Nachhaltigkeit von DGAI und BDA, formuliert es im Deutschen Ärzteblatt so: „England macht es vor: Im letzten Jahr hat der National Health Service 1,3 Megatonnen CO2 eingespart und seine Zulieferer auf die Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien verpflichtet“ [15]. Zwar bieten erste Dienstleister auch deutschen Krankenhäusern bereits Hilfestellung auf dem extrem komplexen Gebiet von Ver- und Entsorgung an [16], aber die Dekarbonisierung der Lieferkette erfordert politische Leitplanken, die den Produktherstellern Planungssicherheit bei der Erstellung kostenintensiver Life-Cycle-Assessments (LCA) bieten. Die vorgestellte Systematik der CO2-Emissionen wurde auch in der Studie von McNeill et al. verwendet, die drei universitäre Operationseinheiten international bezüglich ihres Carbon Footprints verglichen hat [9].

Bei den Scope-1-Emissionen sind vor allem Anästhesit:innen gefragt: So konnte die Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin des Universitätsklinikums Augsburg (UKA) durch den Verzicht auf das Narkosegas Desfluran mit Demontage aller Vaporen ab Mitte 2021 [19] eine Einsparung von 261 t CO2e/a (78  Prozent der Scope-1 Emissionen in der OP-Bilanz und 11  Prozent in der Gesamtbilanz) gegenüber dem Vorjahr erwirken und wurde damit als Use-Case in der Abschlusspressekonferenz des KliKGreen-Projekts [17] vorgestellt. Flankierend geht mit dieser Maßnahme eine relevante finanzielle Einsparung durch Minderkosten bei der Verwendung von Sevo­fluran einher. Da der Vapor das Desfluran im gekühlten OP-Saal ununterbrochen auf über 39 °C aufheizen muss, um im Notfall jederzeit einsatzbereit zu sein, kommt zur Ersparnis bei den direkten Emissionen pro Arbeitsplatz außerdem noch die Reduktion des elektrischen Energieverbrauchs in der Größenordnung eines Kühlschranks je Vapor hinzu [20]. Somit können die Scope-2-Emissionen bei fortgesetzter Vorhaltung und weitgehendem Verzicht auf Desfluran die direkten Emissionen sogar übersteigen. Vereinfachend gehen daher aktuelle Berechnungen vom bis zu 50-fachen Treibhauseffekt gegenüber dem Gebrauch von Sevofluran aus [21, 22, 23, 24, 25].

Relevante pharmakokinetische Nachteile konnten wir nach Verzicht auf Desfluran am UKA auch bei adipösen Patienten mit einem BMI über 40 nicht beobachten: Sowohl die Aufwachzeiten als auch die Aufenthaltsdauer im Aufwachraum haben sich seither bei diesen Patienten durch die Verwendung von Sevofluran nicht verlängert [18]. Angesichts der nahezu deckungsgleichen exspiratorischen Eliminationskurven von Sevofluran und Desfluran nach Beendigung der Gaszufuhr bei üblichen Eingriffsdauern ist das allerdings auch nicht zu erwarten [45, 46, 47].

Klimaschonende Alternativen zu Inhalationsanästhesien sind zum einen die total intravenöse Anästhesie (TIVA) und zum anderen die Regionalanästhesie als Monoverfahren [26]. Sherman et al haben Live Cycle Assesments (LCA) für die gängigsten Inhalationsanästhesien sowie für eine Propofolnarkose berechnet und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass der Klimaeffekt einer TIVA gegenüber Inhalationsanästhesien praktisch vernachlässigbar ist [27]. Um die Zeit von der Anästhesieeinleitung bis zur Einfahrt in den OP-Saal zu überbrücken, ist es daher sinnvoll, zumindest in dieser Phase Narkosegase durch Propofol zu ersetzen. Das Systemvolumen der Narkosegeräte muss auch für eine kurze Überbrückung komplett mit Gas gefüllt werden, das nach dem Verlassen des Einleitungsplatzes nutzlos in die Atmosphäre entweicht.

Anästhesist:innen der technischen Universität München entwickelten Aufkleber mit QR-Code-Links zu Informationen über das Treibhausgas-Potenzial bei verschiedenen Frischgasflussraten, die über das Forum Nachhaltigkeit von DGAI und BDA zu beziehen sind und an Sevofluran-Vaporen angebracht werden können (s. Abb. 1). Sie sollen bei fehlenden Kontraindikationen die ärztliche Compliance für die Bevorzugung der Minimalfluss-Narkose, der total intravenösen Anästhesie (TIVA) sowie der Regionalanästhesie erhöhen. Selbstverständlich sollten diese Inhalte zusätzlich in klinikinternen Fortbildungsveranstaltungen wiederholt vermittelt werden. Auch speziell für die inhalationsaffine Kinderanästhesie wurden vom Autor dieses Artikels zusammen mit Kolleg:innen aus dem Wissenschaftlichen Arbeitskreis Kinderanästhesie Empfehlungen entwickelt [28], die sich als Ergänzung zu den wertvollen Handlungsanweisungen aus dem Positionspapier des Forums Nachhaltigkeit von DGAI und BDA verstehen [10].

Abb. 1: Sevofluran-Vapor mit Hinweis zur Nachhaltigkeit im UKA; Entwicklung des Aufklebers in der TUM (Desfluran-Vapor deinstalliert)

Durch die Summe dieser Maßnahmen ist ein weiterer Rückgang des Verbrauchs an volatilen Anästhetika und zugehörigen THG-Emissionen am UKA zu erwarten. Der Effekt soll erneut zum Jahresende 2023 bilanziert werden. Bei der Verwendung von Desfluran mit Lachgas (wie in Nordamerika vielerorts noch üblich) anstelle von Sevofluran ohne Lachgas ergibt sich ein sehr hoher Unterschied bei den THG-Emissionen (Scope 1-3) aus dem OP [9]. In klinischen Dosierungen ist das in der Atmosphäre sehr langlebige Lachgas bezüglich seines Klimaeffekts dem Desfluran vergleichbar schädlich [29]. Anlagen für N2O wurden zuletzt in Deutschland bei der Modernisierung von Operationssälen aber meist nicht mehr verbaut – so auch am UKA. Allerdings wird ein Lachgas-Sauerstoff-Gemisch (z. B. Livopan®) in der Geburtshilfe, bei Kindern und von Zahnärzten noch relativ häufig verwendet, wenn kein Anästhesist zur Verfügung steht.

Problematisch ist bei der Verwendung in halboffenen Systemen der hohe Frischgasfluss bei gleichzeitig hoher erforderlicher Konzentration. In einem Kommentar zum Lachgas-Cracking in der Geburtshilfe [37] kommen die Autoren zum Schluss, dass trotz dieses neuen Verfahrens die Applikation von Lachgas die „klimaschädlichste Option ist, um Geburtsschmerzen zu behandeln“ [36]. Eine interdisziplinäre Stellungnahme in der deutschsprachigen Fachzeitschrift „Hebamme“ wird in Kürze folgen. In der Geburtshilfe am UKA wird N2O seit vielen Jahren auch wegen seiner begrenzten analgetischen Potenz nicht mehr verwendet [38]. Alternativ zu Lachgas-Gemischen ist für die Notfallmedizin (aber nicht für die Geburtshilfe) Methoxyfluran zugelassen [43, 44]. Auch hierfür gibt es zum einen besser wirksame Alternativen und zum anderen einen Absorber im Applikationssystem – allerdings ohne die Möglichkeit der (thermischen) Neutralisierung [48, 49].

Ein ähnlich hohes Global-Warming-Potenzial wie Desfluran haben die Fluorkohlenwasserstoffe Norfluran und Apafluran, die als Treibgase in Aerosol-Inhalatoren verwendet werden. Zwar sind die pro Sprühstoß freigesetzten Mengen gering, jedoch hat ein Wechsel auf Pulverinhalatoren bei täglicher Applikation von zwei Sprühstößen den gleichen Effekt wie eine Ernährungsumstellung auf vegetarische Kost [30] und sollte somit zumindest im stationären Setting erwogen werden.

Indirekte positive Effekte auf die Scope-2-Emissionen durch den nachhaltigeren Umgang mit Inhalationsanästhetika betreffen den Verzicht auf Desfluran-Vaporen (s. o.) und das Abschalten der Atemgasfortleitungssysteme (AGFS). Zwar hat sich die Hoffnung auf hohe Recovery-Raten der gängigen Inhalationsnarkotika mittels Aktivkohlefiltern von ZeoSys® in ersten klinischen Studien nicht erfüllt [39], aber der Benefit könnte an anderer Stelle auftreten: im 24/7-Betrieb verursachen die AGFS bis zu 5 t CO2e/Arbeitsplatz im Jahr. Wo ein konsequentes Ausstecken der AGFS-Anschlüsse aufgrund zahlreicher Notfall-Arbeitsplätze nicht praktikabel erscheint, bieten die Narkosegasabsorber die Möglichkeit, auf die AGFS zukünftig ganz zu verzichten [42] und das desorbierte Narkosegas wieder der Verwendung am Patienten zuzuführen [40] – allerdings gibt es hier noch mehrere normative Hürden.

Zwei wirkungsvolle Projekte zur Energieeinsparung sind am UKA derzeit in der Umsetzungsphase: Der Wechsel von Leuchtstoffröhren auf LED-Beleuchtung in den fensterlosen Bereichen des Zentralgebäudes, der sich auch ökonomisch rasch amortisiert, und der Ruhebetrieb der Raumlufttechnik aller nicht benötigten OP-Säle außerhalb der Regelarbeitszeit. Eines der drei OP-Zentren in der CO2-Footprint-Studie von McNeill et al. [9] erreichte durch eine vergleichbare Maßnahme eine Reduktion der THG-Emissionen um 50  Prozent. Jeden einzelnen OP-Saal durchströmen pro Stunde bei aktuellen Lüftungsanlagen, die Keimarmut durch „Laminar Air Flow“ ermöglichen, bis zu 9000 m³ Luft, die gefiltert und klimatisiert (d. h. geheizt oder gekühlt und ggf. befeuchtet) werden muss. Dies ist ein extrem energieaufwendiger Prozess, und so verbrauchen OP-Bereiche pro m² Fläche 3- bis 6-mal so viel Energie wie der Rest eines Krankenhauses.

Für die Beheizung der untersuchten universitären OP-Einheiten war bauartabhängig mit ca. 2.000 bis über 6.000 MWh/a die größte Energiemenge erforderlich, für Lüftung und Kühlung je nach Energieeffizienz der jeweiligen Anlage etwa 500 bis 2.000 MWh/a. Der Energieverbrauch aller weiteren elektrischen Verbraucher im OP (PCs, Beleuchtung, Pumpen, Kauter, Monitoring, Narkosegeräte, Infusions- und Konvektionswärmegeräte etc.) zusammengenommen war demgegenüber praktisch vernachlässigbar [9]. Der Stromverbrauch der Raumlufttechnik der 24 OP-Säle im Zentralbereich des UKA beträgt mit 3.350 MWh/a etwa 10  Prozent des Gesamtverbrauchs des Hauptstandorts und könnte durch einen Ruhebetrieb der außerhalb der Regelarbeitszeit nicht benötigten OP-Säle um gut 1.000 MWh/a bzw. rund ein Drittel reduziert werden, wodurch die Maßnahme nicht nur ökologisch, sondern infolge steigender Energiepreise auch ökonomisch sinnvoll ist. Einspareffekte im Bereich der Fernwärme, die durch reduzierte Raumheizung aufgrund des technisch erforderlichen Temperaturgradienten zwischen OP-Saal und einströmender Luft zustande kommen, sind hierbei noch nicht eingerechnet.

Die Scope 3-Emissionen für Ver- und Entsorgung von Verbrauchsmaterialien lagen in den von McNeill et al. untersuchten Einrichtungen zwischen 536 und 650 t CO2e/a und entsprachen damit einem Anteil von 12 bis 20  Prozent des Gesamt-Footprints der OP-Einheiten [9]. Zweifellos gibt es auf diesem Gebiet ebenfalls ein erhebliches Optimierungspotenzial [13], wofür auch konkrete Handlungsempfehlungen im Positionspapier von DGAI und BDA ausgesprochen werden [10]. Allerdings erfordern wirkungsvolle Umstellungen im Gegensatz zu den vorgenannten Maßnahmen bei der Vielzahl von eingesetzten Produkten regelhaft zahlreiche kleinschrittige, detailtiefe und aufwendige Einzelentscheidungen, die außerdem interprofessionell und interdisziplinär abgestimmt werden müssen. Da LCA für die meisten Produkte nicht verfügbar sind, werden Kaufentscheidungen bisher im Wesentlichen wirtschaftlich begründet.

Das Universitätsklinikum Heidelberg hat mittels der Top-down-Methode (wobei von den Produktkosten auf die THG-Emissionen geschlossen wird) seine Scope-3-Emissionen überschlagen und kommt zu dem Ergebnis, dass sie mit 172.500 t CO2e/a 3-mal so hoch sind wie die Scope-1- und Scope-2-Emissionen zusammen [31]. In Europa und in den USA ist durch einen relativ hohen Anteil erneuerbarer Energien im Gegensatz zu Australien der Fußabdruck wiederverwertbarer Materialien gegenüber Einwegmaterialien günstiger. Dies gilt insbesondere für OP-Kittel und Abdecktücher sowie für Laryngoskope, Bronchoskope, Larynxmasken und Tabletts für Anästhesiemedikamente [41]. Durch die sinnvolle Packung von Abwaschsets für Katheter-Anlagen sowie die Nutzung von Fertigspritzen, die dem tatsächlichen Bedarf entsprechen, lassen sich die Scope-3-Emissionen im OP weiter verringern [10]. Aber auch hygienische Vorgaben müssen immer wieder bezüglich ihrer tatsächlichen Effekte auf die Patientensicherheit, die Mitarbeitergesundheit und ihren Umwelteinfluss untersucht und optimiert werden [51].

Projekte zur Dekarbonisierung relevanter Scope-3-Posten wie der Patienten- und Mitarbeitermobilität sowie der Speiseversorgung müssen interprofessionell angegangen werden und betreffen das gesamte Krankenhaus. Der Footprint pro Klinikbett oder pro Operation profitiert allerdings von solchen Bemühungen ebenfalls in sehr hohem Maße – wie beispielsweise in der CO2-Klimabilanz des UK Freiburg bereits vorbildlich berechnet (Abb. 2).

Fazit für die Praxis

Abb. 2: CO2-Klimabilanz des Universitätsklinikums Freiburg 2019, modifiziert nach [32]

Folgende Fragen sollten in jeder operativ tätigen Einheit zum Erreichen einer erhöhten ökologischen Nachhaltigkeit geklärt werden:

1.Welche Inhalationsanästhetika werden am Standort verwendet und sind Alternativen oder gar ein weitgehender Verzicht denkbar?

2.Wird das Atemgasfortleitungssystem am Ende des OP-Tages ausgesteckt und könnte evtl. ganz darauf verzichtet werden zugunsten von Narkosegasabsorbern mit nachgeschaltetem Recycling?

3.Wird die Raumlufttechnik am Ende des OP-Tags in den Ruhebetrieb versetzt oder abgeschaltet?

4.Ist der Bezug oder die Produktion von grüner Energie (Strom, Wärme) möglich?

5.Ist eine Reduktion von oder ein Verzicht auf Einweg-Materialien (Abdecktücher, OP-Kittel bzw. -Hauben etc) möglich? Gibt es bei den Verbrauchsmaterialien bereits CO2-neutrale Produkte?

6.Wie viel CO2 kann im Bereich der Mitarbeiter-Mobilität durch moderne Konzepte wie Jobrad, Jobticket, Ladeinfrastruktur für E-Mobilität, Mitfahrportale, bessere Anbindung und Taktung des ÖPNV, Home-Office und Verzicht auf (internationale) Kongressreisen eingespart werden?

7.Gibt es Möglichkeiten, Patienten prästationär bzw. präoperativ ohne körperliche Anwesenheit oder zumindest innerhalb eines Termins komplett aufzuklären (Digitalisierung, Telemedizin)?

8.Lassen sich durch die Optimierung von Abläufen vor allem bei ambulanten Kurzeingriffen Material und OP-Zeit einsparen?

9.Ist eine regionale, ökologische und fleischreduzierte Speiseversorgung („planetary health diet“) für Patienten und Mitarbeiter umsetzbar?

10.Wie ökologisch/gerecht ist die bestehende Ressourcenallokation individualmedizinisch und in Bezug auf die Gesundheit der Gesamtbevölkerung und wo wollen wir hin?

11.Verfügt die medizinische Einrichtung über einen Hitzeschutzplan mit medizinischem Schulungskonzept und technischen Schutzmaßnahmen? Wird dieser Aspekt bei der Planung von Neubauten sowie bei Umbau- und Renovierungsmaßnahmen berücksichtigt?

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via [email protected].

Korrespondierende Autorin:

Dr. med. Daniel Bolkenius

Stellvertretender Bereichsleiter Kinderanästhesie

Stellvertretender Sprecher UMAGG
(University Medicine Augsburg goes
green), Klimamanager (KlikGreen)

Klinik für Anästhesiologie und
Operative Intensivmedizin

Universitätsklinikum Augsburg

[email protected]

Prof. Dr. Axel R. Heller MBA DEAA

Direktor der Klinik für Anästhesiologie
und Operative Intensivmedizin

Universitätsklinikum Augsburg

Prodekan der Medizinischen Fakultät
an der Universität Augsburg

Universitätsklinikum Augsburg

[email protected]

Dr. Renate Linné

Stv. Kaufmännische Direktorin
Leitung Stst. Medizin und Gesellschaft
Sprecherin, UMAGG (University Medicine Augsburg goes green)
Universitätsklinikum Augsburg

[email protected]

Chirurgie

Bolkenius D, Heller AR, Linné R: Nachhaltigkeit in der operativen Medizin. Passion Chirurgie. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 03_01.

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