Zurück zur Übersicht

Frage:

Ein Chefarzt fragt an, unter welchen Voraussetzungen eine noch nicht anerkannte innovative Behandlungsmethode in einem Krankenhaus zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) angewendet werden kann.

Antwort:

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann eine Behandlungsmethode im Krankenhaus dann zu Lasten der GKV angewandt werden, wenn die Krankenhausbehandlung dem maßgeblichen Qualitätsgebot (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) entspricht, die vollstationäre Leistungserbringung erforderlich ist (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V) und die Leistungen insgesamt wirtschaftlich (§ 12 Abs. 1 SGB V) erbracht werden. Für nicht anerkannte innovative Behandlungsmethoden hat das BSG nunmehr mit aktuellem Urteil vom 13.12.2022 die Anforderungen konkretisiert (vgl. hierzu und im Nachfolgenden: BSG, Urteil vom 13.12.2022 – B 1 KR 33/21 R, unter: https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2022/2022_12_13_B_01_KR_33_21_R.html):

Eine Behandlungsmethode entspricht immer dann dem Qualitätsgebot, wenn sie im Zeitpunkt der Behandlung entweder durch einen Beschluss des GBA vom GKV-Leistungskatalog umfasst ist oder der Versicherte einen Anspruch auf die Versorgung aufgrund einer Richtlinie (RL) des GBA hat.

Ist beides nicht gegeben, genügt eine innovative Behandlungsmethode den allgemeinen Qualitätsanforderungen des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V, wenn Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen. Dies erfordert für die Untersuchungs- und Behandlungsmethoden den vollen Nutzennachweis im Sinne eines evidenzgestützten Konsenses der großen Mehrheit der einschlägigen Fachleute (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 16).

Ist auch diese Anspruchsgrundlage nicht einschlägig, kann sich ein Anspruch auf eine dem Qualitätsgebot nicht entsprechende Leistung zu Lasten der GKV ergeben, wenn die Behandlung die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V erfüllt. Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine vom Qualitätsgebot abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 18).

Greift diese Rechtsnorm ebenfalls nicht, kommt letztendlich noch ein Anspruch nach Maßgabe des § 137c Abs. 3 SGB V in Betracht, der das allgemeine Qualitätsgebot teilweise beschränkt und den Anspruch Versicherter auf Krankenhausbehandlung erweitert.

Danach dürfen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, zu denen der GBA bisher keine Entscheidung, ob sie für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erforderlich sind, getroffen hat, im Rahmen einer Krankenhausbehandlung angewandt werden, wenn sie das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, die Behandlungsalternative also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist. An die Stelle des allgemeinen Qualitätsgebots tritt in diesen Fällen somit der Potenzialmaßstab. Dies hat der 1. Senat des BSG bereits mit Urteil vom 25.03.2021 unter Aufgabe seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung entschieden (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 20).

Der Potenzialmaßstab des § 137c Abs. 3 SGB V geht unter den nachfolgend dargestellten Einschränkungen als lex specialis dem allgemeinen Qualitätsgebot aus Sicht des BSG vor. Versicherte haben außerhalb eines auf einer Erprobungs-RL beruhenden Erprobungsverfahrens vor dessen inhaltlicher Konkretisierung Anspruch auf neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nur im Rahmen eines individuellen Heilversuchs, wenn es

1.um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung geht,

2.keine andere Standardbehandlung verfügbar ist und

3.die Leistung das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 21).

Voraussetzung für einen Anspruch Versicherter auf Potenzialleistungen nach § 137c Abs. 3 SGB V ist, dass es sich bei der neuen Methode um eine „erforderliche“ Behandlungsalternative handelt.

Solange eine Standardtherapie zur Verfügung steht und Risiken existieren, die sich aus dem Einsatz innovativer Methoden (nur) mit dem Pozential, nicht aber mit der Gewissheit einer erforderlichen Behandlungsalternative für die Patienten ergeben können, fehlt es an der „Erforderlichkeit“ einer Behandlungsalternative. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie nicht hinreichend durch eine vorläufige Einschätzung des GBA sowie durch besondere Anforderungen an die Struktur- und Prozessqualität abgesichert sind. Eine andere Standardtherapie ist dann nicht verfügbar, wenn alle in Betracht kommenden Standardbehandlungen kontraindiziert sind oder sich als unwirksam erwiesen haben. § 137c Abs. 3 Satz 1 SGB V verlangt, dass die Potenzialleistungen medizinisch indiziert und notwendig sein müssen. Das damit insgesamt angesprochene Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V erfordert bei mehreren zur Verfügung stehenden Behandlungsalternativen, den Weg des gesicherten Nutzens zu wählen (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 24). Die Verfügbarkeit einer anderen Standardbehandlung kann einem Versicherten jedoch dann nicht entgegengehalten werden, wenn sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 26). Sie darf jedenfalls nicht nur abstrakt „ins Blaue hinein“ genannt werden, sondern muss auch konkret für die Behandlung gerade dieses Versicherten infrage kommen (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 27).

Eine Methode bietet nach Beurteilung des BSG ein hinreichendes Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative, wenn

1.ihr Nutzen mangels aussagekräftiger wissenschaftlicher Unterlagen weder eindeutig belegt noch ihre Schädlichkeit oder Unwirksamkeit festgestellt werden kann,

2.die Methode aufgrund ihres Wirkprinzips und der bisher vorliegenden Erkenntnisse aber mit der Erwartung verbunden ist, dass sie im Vergleich zu anderen Methoden eine effektivere Behandlung ermöglichen kann,

3.die nach den internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin bestehende Evidenzlücke durch eine einzige Studie in einem begrenzten Zeitraum geschlossen werden kann (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 28) und

4.eine Gesamtabwägung der zu erwartenden Vor- und Nachteile von innovativer Behandlungsmethode zur Standardmethode zu Gunsten der innovativen Methode ausfällt (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 36, 37).

Bei Erlass einer Erprobungs-RL durch den GBA ist aus Sicht des BSG regelmäßig von einem Potenzial i.S.d. §§ 137c, 137e SGB V auszugehen (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 30).

Hat der GBA noch keine Entscheidung über das Vorliegen des Potenzials einer Behandlungsmethode getroffen, so obliegt nach Meinung des BSG die Entscheidung hierüber dem Krankenhaus sowie der jeweiligen KK als Kostenträger. Die Gerichte können diese Entscheidung umfassend überprüfen. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen wird hierbei nach Ansicht des BSG in der Regel notwendig sein (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 31).

Antwort von Dr. jur. Jörg Heberer:

Justitiar BDC

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht

[email protected]

Chirurgie+

Heberer J: F+A: Anwendung innovativer Behandlungsmethoden im Krankenhaus. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 04_10.

Weitere Fragen & Antworten finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de, Rubrik Wissen | Recht & Versicherung).

Weitere Artikel zum Thema

PASSION CHIRURGIE

Passion Chirurgie: Nachhaltigkeit in Krankenhäusern – Möglichkeiten und Nutzen

Die Urlaubszeit hält für die meisten noch eine Weile an

Passion Chirurgie

Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!

Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.