Alle Artikel von Katrin Kammerer

BDC-Praxistest: SEDIWORK, eine cloudbasierte Software für die ärztliche Rotationsplanung

Vorwort – Rotierende Ärztinnen und Ärzte

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Rotationen waren schon immer fester Part der chirurgischen Karriere. Aber mit der ärztlichen Weiterbildung hatte das oft weniger zu tun. Man rotierte als Belohnung, aus Strafe auch mal länger, angeblich geplant, doch manchmal auch spontan, früher oder später, wenn es passte und wenn nicht, dann eben nicht. Wer sich beschwerte oder gar forderte, der lebte gefährlich. Es gab einfach genug andere.

Doch diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Eine verlässliche und transparente Weiterbildungszeit ist auf dem medizinischen Bewerbermarkt zu einem sehr wichtigen Jobkriterium geworden, an dem selbst Ordinariate nicht mehr vorbeisegeln können. Doch die angemessene Verteilung der Mitarbeiter ist anspruchsvoll. Neben tradierten Fragen der Zugehörigkeit spielen z. B. Lernkurven, individuelle Pläne, Teambildungen, Partnerfragen, institutionelle Möglichkeiten und auch Belohnungsmuster eine durchaus relevante Rolle. Die angestrebte Neuverteilung von medizinischen Leistungen durch die niemals endende Reform der Reform der Reform … im Gesundheitssystem wird eine weitere hohe Hürde bauen. Rotationen in der Weiterbildung bekommen dadurch noch mehr inhaltlichen Druck.

Da erscheint eine cloudbasierte Rotationsplanung für den standortübergreifenden Einsatz gerade richtig. Die Autorin verrät nicht zu viele Details, aber das Programm macht neugierig, denn die Anforderungen und Ansprüche sind hoch. Warum gerade ein Klinikkonzern, der bis dato nicht unbedingt für Altruismus stand, das Roll-Out unterstützt? Honi soit qui mal y pense. Spielt aber auch keine Rolle, denn „wer heilt, hat recht“. Um das zu beurteilen, müsste man aber auch in 12 bis 24 Monaten bilanzieren. Wir sind also gespannt auf die Ergebnisse der Hamburger Rotation. Und bis dahin hoffen wir, dass das Programm im Einsatz immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel hat.

Anregende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Die moderne Gesundheitsbranche befindet sich derzeit in einem tiefgreifenden Wandel, der nicht nur medizinische Fortschritte, sondern auch innovative digitale Technologien umfasst. Ein Bereich, der bisher oft manuell und zeitaufwändig organisiert wurde, betrifft die Rotationsplanung für Ärzte in Kliniken. Die Einführung einer cloudbasierten, intelligenten Rotationsplanung am Beispiel der Asklepios-Kliniken in Hamburg verspricht nicht nur eine Steigerung der Effizienz, sondern auch eine engere Zusammenarbeit zwischen den Kliniken und eine erhebliche Verbesserung der Arbeitszufriedenheit der Ärzte.

Schauen wir uns die Arbeitswelt des Arztes an, beobachten wir, dass in den letzten Jahren die Bürokratie in der Medizin zugenommen hat, was das Leistungspotential von Ärzten erheblich hemmt. Um den medizinischen Fortschritt voranzutreiben und die bestmögliche Versorgung für Patienten sicherzustellen, sind die Entbürokratisierung des Arztberufs sowie die Digitalisierung unumgänglich.

Warum ist das so wichtig? Weil Ärzte sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren sollten: Die Medizin, die Behandlung und die Versorgung von Patienten. Wenn sie ihre Zeit und Energie mit organisatorischen und bürokratischen Angelegenheiten verbringen müssen, geht wertvolle Zeit verloren, die stattdessen der Patientenversorgung gewidmet werden könnte. Dies führt nicht nur bei den Ärzten zu großer Frustration, sondern hat auch erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen auf viele Kliniken.

Eine wichtige Aufgabe der Ärzte besteht darin, die nächste Generation von Medizinern effektiv auszubilden. Ein Bereich, der bisher manuell verwaltet wird, betrifft die Rotation der Ärzte. Ärzte wechseln zwischen den verschiedenen Abteilungen einer Klinik oder mehreren Kliniken, um die erforderlichen Fähigkeiten für ihre Facharztweiterbildung zu erlangen.

Aktuell erfolgt die Planung manuell und erfordert die Berücksichtigung einer Vielzahl komplexer Parameter. Dazu gehören nicht nur die verschiedenen Rotationsbereiche, sondern auch die präzise Koordinierung der Kapazitäten, die Berücksichtigung der Weiterbildungsordnung, die Anpassung an klinikinterne Curricula und die sorgfältige Organisation von externen Rotationsmöglichkeiten.

Die hohe Komplexität dieser Aufgabe erfordert einen erheblichen Zeitaufwand, der die Aufmerksamkeit der Ärzte von ihren klinischen Tätigkeiten ablenkt. Im Durchschnitt widmet ein Chefarzt gut 12 % seiner Arbeitszeit im Monat allein der Planung der Rotationen, die er oft an seine qualifizierten Oberärzte delegiert, die dann in dieser Zeit nicht mehr für die direkte Patientenversorgung zur Verfügung stehen.

Die Lösung für diese komplexe Herausforderung liegt in einer intelligenten, cloudbasierten Rotationsplanung. Die innovative Software SEDIWORK ermöglicht es, sämtliche relevanten Parameter mithilfe von leistungsstarken Algorithmen zu berücksichtigen und Rotationsvorschläge für Ärzte und Kliniken zu generieren.

Sie unterstützt die standortübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Kliniken, passt sich bei Ausfällen an, sichert die Qualität der ärztlichen Weiterbildung und die der medizinischen Versorgung und steigert insgesamt die Arbeitszufriedenheit. Durch die Digitalisierung und Automatisierung administrativer Prozesse erhalten Ärzte mehr Freiheit, Selbstständigkeit und Teilhabe an ihrer beruflichen Entwicklung.

In den Hamburger Asklepios-Kliniken wird SEDIWORK derzeit ausgerollt. Maßgebliche vorangetrieben in Hamburg hat Professorin Carolin Tonus, Chefärztin der Viszeralchirurgie Asklepios Klinik St. Georg sowie Vorsitzende BDC Hamburg, die das Thema standortübergreifende Rotation und Weiterbildung bereits lange verfolgt.


Unser einzigartiges und europaweit größtes Klinik Cluster in Hamburg treibt mit der Bündelung fächerübergreifender Kompetenzen Spitzenmedizin durch qualitativ hochwertige Weiterbildung voran. Das machen wir mit SEDIWORK vollständig digital.“

Prof. Dr. med. Carolin Tonus, Chefärztin Allgemein- und Viszeralchirurgie und Ärztliche Direktorin Asklepios Klinik St. Georg

Mit der tatkräftigen Unterstützung der dortigen Chirurgen sind personalplanende Oberärzte nicht mehr durch bürokratische Tätigkeiten gebunden, sondern können sich darauf konzentrieren die eigenen und die individuellen Potenziale ihrer Mitarbeiter zu entfalten.

Die Neugestaltung der ärztlichen Rotationen in den Asklepios-Kliniken ist daher nicht nur ein technologischer Fortschritt, sondern ein bedeutender Schritt hin zu einer zeitgemäßen Personalentwicklung in einem modernen und effizienten Gesundheitswesen, die sowohl den Bedürfnissen der Ärzte als auch der Patienten gerecht wird.


Der Personaloberarzt spielt eine Schlüsselrolle in der Entwicklung junger Kollegen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten. Um sich darauf konzentrieren zu können, braucht er zeitgemäße Tools. Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitenden zeigt sich durch Unterstützung ihrer individuellen Fähigkeiten, konkret mit der Förderung ihrer Weiterbildung.“

Gründerin von SEDIWORK Dr. med. Dilan Sinem Sert

Möchten Sie noch mehr von uns erfahren? Dann nehmen Sie gerne Kontakt auf: dilan.sert@sedidoc.de

Dr. med. Dilan Sinem Sert

Geschäftsführerin

SEDIDOC GmbH

Karl-Liebknecht-Straße 14

04107 Leipzig

Gesundheitspolitik

Sert DS: BDC-Praxistest: SEDIWORK, eine cloudbasierte Software für die ärztliche Rotationsplanung. Passion Chirurgie. 2024 April; 14(03/QI): Artikel 05_01.

Weitere Praxistest-Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de).

Chirurgie in der DDR – In der Provinz (Teil 2)

Im mittleren Teil der „deutschöstlichen Region“ (Wulf Kirsten) fällt für einige Zeit die nabelschnurartige Verbindung zwischen der Hallenser und der Leipziger Chirurgie in den Blick, wobei es sich diese beiden Städte verbeten haben würden, als Provinz bezeichnet zu werden, insbesondere Leipzig, die „heimliche Hauptstadt der DDR“. Im Mittelpunkt stehen das ehemalige Bezirkskrankenhaus St. Georg in Leipzig und die Chirurgische Universitätsklinik in Halle an der Saale. So wurde der aus dem Sudetenland vertriebene Chirurg Franz Mörl (1899–1979) in der Leipziger Universitätsklinik unter Ernst Heller (1877–1964)1 groß und dann dessen Nachfolger im St. Georg. Von dort berief man ihn auf das Ordinariat in Halle, während der dortige Oberarzt und Schüler von Werner Budde (1886–1960), Gerhard Rothe (1911–1978), Professor und Chefarzt am Klinikum St. Georg in Leipzig-Wiederitzsch wurde. Rothe hatte bei Brunner in Zürich und bei Derra in Düsseldorf hospitiert und als erster Lungenoperationen im großen Stil in Mitteldeutschland durchgeführt. Aus der Heller-Mörl-Rothe-Schule stammte auch der langjährige Chefarzt und Ärztliche Direktor des Kreiskrankenhauses Borna, Dr. Gerhard Schreckenbach (1918–2016).

Abb. 1: Franz Mörl

Im Dunstkreis von Halle, aber von Becker aus Jena kommend, entfaltete der Arztsohn Prof. Baldur Schyra (1934–2009) am Klinikum in Bernburg an der Saale (heute zur AMEOS-Gruppe gehörend und Akademisches Lehrkrankenhaus der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) eine hohe Wirksamkeit. Schyra hatte noch ein zusätzliches Studium der Philosophie mit Promotion absolviert, in Budapest und Leningrad chirurgisch hospitiert und 1969 in Jena habilitiert. Die Chirurgische Klinik in der ehemaligen anhaltinischen Residenzstadt Bernburg leitet er 29 Jahre(!) Prof. Schyra, der auch in den Fach-und Standesvertretungen aktiv war, z. B. im Präsidium der DGCH, hinterließ mit dem Buch „Momentaufnahmen eines Chirurgen“ 2003 fesselnde Lebenserinnerungen, die Einblicke in das Spannungsfeld eines Chirurgen zwischen täglicher Arbeit im Operationssaal und der Verantwortung eines „staatlichen Leiters“ im „sozialistischen Gesundheitswesen“ erlauben. Als Kuriosum sei hier angefügt, dass Schyra seine medizinische Dissertation („Johann Wilhelm Baumer und seine Bedeutung für die medizinische Wissenschaft“) an jener Abteilung der Medizinischen Akademie Erfurt angefertigt hat, an welcher der Verfasser 25 Jahre später als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war.

Abb. 2: Gerhard Rothe

Über seinen Wirkungskreis am Stadtkrankhaus Dresden-Friedrichstadt hinaus galt Albert Fromme (1881–1966) als Papst der Chirurgie in Mitteldeutschland, hinter vorgehaltener Hand auch „Pius“ genannt. Die Durchführung der 66. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) 1945 in Dresden unter seiner Präsidentschaft blieb ihm infolge von Krieg und Zerstörung versagt. Als 1954 die Medizinische Akademie „Carl Gustav Carus“ in Dresden gegründet wurde2, wurde Fomme erster Ordinarius für Chirurgie und erster Rektor. Penibel im Diagnostizieren und Operieren, war Fromme, seit 1915 Professor, chirurgisch noch Allrounder und ist wissenschaftlich vor allem mit einer seinerzeit viel diskutierten Mesenchymtheorie des Karzinoms hervorgetreten. Frommes Nachfolger, die Professoren Hans-Dieter Schumann (1911–2001) und Karl-Heinz Herzog (1927–1993) waren bei aller Unterschiedlichkeit aus dem gleichen Holz geschnitzt. Man könnte sie fast als das „Dresdner Triumvirat“ bezeichnen, vermochten sie doch ihre Klinik vor den schlimmsten Auswüchsen des „sozialistischen Gesundheitswesens“ und des totalitären Systems zu bewahren.

Abb. 3: Baldur Schyra

Abb. 4: Das alte Krankenhaus in Bernburg

Abb. 5: Gerhard Schreckenbach

Abb. 6: Albert Fromme

Die Tendenz, auch kleine und mittlere Häuser mit Professoren zu besetzen, ist nicht neu. Als Beispiel sei hier das Stadtkrankenhaus Arnstadt in Thüringen angeführt, das immer wieder Professoren an die Spitze der Chirurgie berief. Prof. Gerhard Jorns (1900–1995) dürfte der prominenteste gewesen sein. Er kam von Guleke in Jena – wie breit dessen Schule ihre Abkömmlinge in die Periphere entsandte, wird sich noch an anderer Stelle zeigen – und übernahm 1935 das Arnstädter Haus, weiterhin in Jena lesend. Jorns’ große Vielseitigkeit und seine enorme Leistungsfähigkeit zeigten sich vor allem im und nach dem Zweiten Weltkrieg, wo er nicht nur Chefchirurg und Leiter des gesamten Krankenhauses, sondern auch verantwortlich für zahlreiche Lazarette der Umgebung war. In der Nachkriegszeit rief er Polikliniken, Landambulatorien und Dispensaires ins Leben, die es zuvor noch nicht gegeben hatte. Ungeachtet dieser Arbeitsbelastung veröffentlichte Prof. Jorns chirurgische Lehr- und Handbücher, die großen Anklang unter den Fachkollegen fanden und noch weit über seine Zeit hinaus wirkten, wie z. B. das zweibändige „Lehrbuch der speziellen Chirurgie“ (zusammen mit W. E. Goldhahn,1955 ff).

Abb. 7: Hans-Dieter Schumann

Abb. 8: Gerhard Jorns

In Arnstadt gab es noch einen weiteren prominenten Professor der Chirurgie, der allerdings nicht mit Jorns konkurrierte, weil er sich gänzlich auf die orthopädische Chirurgie spezialisiert hatte: Prof. Dr. Leopold Frosch (1890–1959), von 1925 bis 1959 Chefarzt der Orthopädischen Klinik „Marienstift“. Die chirurgischen Lehrer des gebürtigen Berliners waren Moritz Katzenstein (1872–1932), Otto Hildebrand (1858–1927) und August Bier (1861–1949), alle in Berlin. Vor allem Kinder mit Rachitis, Knochentuberkulose und Haltungsschäden, natürlich auch Erwachsene, kamen scharenweise aus ganz Thüringen und darüber hinaus zu Frosch. Wie Jorns ist auch er Namensgeber einer Straße in Arnstadt.

Dass Provinzkrankenhäuser auch als Sprungbrett für höhere Aufgaben dienen können, zeigt sich am Beispiel von Heinrich Kuntzen (1893–1977), der als Payr-Schüler zunächst an das Stadtkrankenhaus nach Chemnitz ging und von dort 1951 auf das chirurgische Ordinariat in Jena berufen wurde. Zu Chemnitz (von 1953 bis 1990 „Karl-Marx-Stadt“) wäre noch anzufügen, dass die späteren Chefärzte Kurt Unger (1916–1996), Wilfried Wehner (1932–2022), Rainer Morgenstern (1940–2016) und Joachim Boese-Landgraf (*1950) als Professoren aus dem universitären Bereich kamen.

Wiederum aus der Jenaer Chirurgenschule stammte Prof. Fred Nöller, langjähriger Chefarzt am Bezirkskrankenhaus Gera-Milbitz. Der Guleke-Schüler hatte dort 1950 den nicht minder namhaften Prof. Otto Hilgenfeld (1900–1983) abgelöst. Nöller, der noch das Gesamtgebiet der Chirurgie beherrschte und auch Facharzt für Urologie war, hielt weiter Vorlesungen in Jena. Er brachte die Geraer Klinik auf den neuesten Stand und hat zahlreiche Fachärzte und Oberärzte in die Umgebung entlassen. Ihm eignete zudem eine zeichnerische Begabung, die sich u.  a. in einem Porträt seines Meisters Guleke ausdrückte.

Hier schließt sich nahtlos Prof. Gerhard Hartmann (1923–2011) an, der ebenfalls aus der chirurgischen „Kaderschmiede“ von Guleke in Jena kam. Auch Kuntzen und Becker hat er noch erlebt, bevor er 1968 als Chefarzt an das Kreiskrankenhaus in Greiz „entwich“, zu groß waren die Meinungsverschiedenheiten mit seinem Chef in der Jenaer Bachstraße. Hartmann hat diesen Wechsel nie als Abstieg, sondern als Glücksmoment empfunden, konnte er sich doch in der Greizer Selbständigkeit als Chirurg und Urologe fachlich voll entfalten und seine Vorstellungen von einer reibungslos funktionierenden chirurgischen Abteilung verwirklichen. Zudem war es ihm in der Provinz mehr als im „Dschungel“ der Hochschule möglich, seinen humanistischen und psychologischen Neigungen zu frönen.

Einer der im wahrsten Sinne des Wortes berühmtesten sogenannten Provinzchirurgen war Heinrich Braun (1862–1934) in Zwickau. Hier schuf er ein Großkrankenhaus im damals modernen Pavillonstil mit über 600 Betten, die Hälfte davon chirurgische. Aus Nah und Fern kamen nicht nur Patienten, sondern auch am Krankhausbau interessierte Besucher nach Zwickau. Kurz nach Brauns Tod erhielt die Einrichtung den noch heute bestehenden Namen „Heinrich-Braun-Krankenhaus“. Die Chirurgie erlernte Braun bei Richard von Volkmann (1830–1889) in Halle, autodidaktisch als Privatkliniker in Leipzig sowie als Habilitand bei Karl Thiersch (1822–1895) in Leipzig. Als Chefarzt des neuen Diakonissenkrankenhauses (1899–1905) in Leipzig stand Braun bereits auf eigenen Füßen und widmete sich dem Gebiet der Lokalanästhesie, das ihm später Weltruhm verschaffen sollte. In Zwickau bewies Braun, dass die wissenschaftliche Arbeit längst nicht mehr auf die Universitätskliniken beschränkt war. Eine anschauliche Beschreibung seines Werdeganges gibt Heinrich Braun in seiner Autoergobiographie: „Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen“. Hrsg. v. L. Grote. Bd. 5. Leipzig 1925, S. 1–34.

Braun, seit 1905 Extraordinarius an der Universität Leipzig, hat sich besonders um die Lokalanästhesie verdient gemacht, hierbei oft als Widerpart von Carl Ludwig Schleich (1859–1922). Wir kennen noch heute seine Leitungs- und Infiltrationsanästhesie, seine Bein-Lagerungsschiene und (vielleicht) seinen Transfusionsapparat. Für immer verbunden bleibt sein Name auch als Mitherausgeber der ersten großen chirurgischen Operationslehre in Deutschland, dem „Bier-Braun-Kümmell“, zusammen mit August Bier (1861–1949) und Hermann Kümmell (1852–1937). 22 Jahre hat Braun in Zwickau gearbeitet, ist 1924 Präsident der DGCH gewesen und 1929 zu ihrem Ehrenmitglied ernannt worden.

Gelegentlich kam es auch zu Rückberufungen von in die Provinz gegangenen Chirurgen an ihre Alma Mater. Ein solcher Fall begegnet uns in der Person von Hans Schröder (1929–1997), ein Schüler Kuntzens, der dann bei Theo Becker (1916–1997) habilitierte, Professor wurde und von 1972 bis 1981 Chefarzt der Chirurgie am Bezirkskrankenhaus in Gera wurde. Er folgte Becker auf dem Jenaer Lehrstuhl (1981–1995).

Der Franke Dr. Wilhelm Heufelder (1896–1976) hatte bei seinem Dienstantritt 1930 in Waltershausen am Fuße des Thüringer Waldes München als akademischen Hintergrund. Er verließ die Ludwig-Maximilians-Universität, wo er studiert und promoviert hatte, als Facharzt noch zu Zeiten Erich Lexers (1867–1937). Waltershausen wurde zu Heufelders Wahlheimat. Hier setzte er den Krankenhausneubau am Geizenberg durch und hier erwarb er sich den Ruf eines Struma-Spezialisten, zu dem nicht nur Patienten aus dem Thüringer Endemiegebiet kamen, sondern aus der gesamten DDR. Über seine Pensionierung hinaus hat Chefarzt Dr. Heufelder Sprechstunden abgehalten und ist beratend tätig gewesen. In Waltershausen ist er dann auch gestorben.

Die seit 1954 im Rahmen der neu gegründeten „Medizinischen Akademie Erfurt“ als Hochschulklinik fungierende Chirurgische Klinik mit ihren Direktoren Prof. Egbert Schwarz (1890–1966) und Prof. Werner Usbeck (1920–2007) war ebenfalls daran interessiert, möglichst viele aus ihrem „Stall“ hervorgegangene Chirurgen auf Chefpositionen in der Region unterzubringen. Auf diese Weise wurden u.  a. die Kreiskrankenhäuser in Arnstadt, Gotha, Bad Langensalza, Sömmerda, Ilmenau und Nordhausen besetzt. Und so war zumindest in diesen Kliniken dann ein einheitliches chirurgisches Vorgehen („Erfurter Schule“) gewährleistet. Im Umland anderer großer Ausbildungseinrichtungen war es ähnlich.

Abb. 9: Wilhelm Heufelder

Ohne an dieser Stelle auf weitere Städte, in denen Professoren chirurgische Chefärzte waren, wie z. B. Frankfurt an der Oder, Saalfeld an der Saale oder Plauen im Vogtland näher eingehen zu können (was vielleicht an anderer Stelle einmal möglich ist), bleibt zu resümieren, dass in Ost und West, in Nord und Süd des ehemaligen zweiten deutschen Staates sich die Chirurgen gleichermaßen mit PASSION ihrem Metier gewidmet haben, egal ob dies in den Kathedralen der Universitäten oder „auf dem platten Land“ geschah.

1  Inaugurator der nach ihm benannten Kardiomyotomie bei Pylorospasmus und der Thorakoplastik bei Empyemresthöhe

2  Zur Beseitigung des Ärztemangels wurden zeitgleich die Medizinischen Akademien in Erfurt und Magdeburg gegründet.

Dr. med. habil. Volker Klimpel

Grazer Straße 3

01279 Dresden

Panorama

Klimpel V: In der Provinz –
Chirurgen in der DDR (Teil 2).
Passion Chirurgie. 2024 April;
14(04): Artikel 09.

Den ersten Teil „Chirurgie in der DDR“ lesen Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Panorama.

PASSION CHIRURGIE im März 2024

Zur Ausgabe 03/QI/2024: Künstliche Intelligenz in der Chirurgie

KI ist in aller Munde – wie weit sind wir denn damit in der Chirurgie? Was ist überhaupt möglich? In der Märzausgabe der PASSION beleuchten wir beispielhaft drei Themen aus diesem Bereich: Computer Vision und Bildgebung in der Unfallchirurgie, KI-basierte Arztbrieferstellung und KI-Umsetzungen in der Viszeralchirurgie.

Wir haben ein neues Projekt für Nachwuchsmediziner gestartet: „M3-Prüfungsvideos: Watch and Learn“. So etwas gab es bisher in dieser Form noch nicht! 11 Prüfungssimulationen mit echten Prüfern sollen Studierende bestens auf ihre M3-Examen vorbereiten. Das wäre eine gute Empfehlung für Ihre PJler!

Zwei Highlights aus dem Seminarangebot der BDC|Akademie finden in Kürze statt: Das zweitägige Webinar „Hernie komplex“ (10. bis 11. April) beinhaltet sowohl Videobeiträge, Falldarstellungen als auch theoretische Vorträge zu komplexen Hernien.

Zur Vorbereitung auf die Facharztprüfung für Orthopädie/Unfallchirurgie sowie als Update für Fachärztinnen und Fachärzte findet vom 22. bis 26. April das nächste „Facharztseminar Orthopädie/Unfallchirurgie“ statt. Referent:innen aus ganz Deutschland machen Sie in fünf Tagen fit für Ihre Prüfung und bringen Sie auf den neuesten Stand der Behandlungsstrategien und Techniken in O&U. Es sind noch Plätze frei, melden Sie sich noch heute an!

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen,
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

Safety Clip: Die EU-Medizinprodukte-Verordnung für mehr Patientensicherheit

Der Markt für Medizinprodukte und die damit einhergehenden Anforderungen haben seit 2010 durch einen aufgedeckten Skandal viel Aufmerksamkeit erhalten. Der französische Hersteller Poly Implant Prothèse (PIP) entschied sich unter anderem aus Kostengründen dafür, ein unzulässiges Industriesilikon für seine Brustimplantate zu verwenden. Über Jahre wurden diese auf dem Markt vertrieben und eingesetzt. Die Folge: Hunderttausende Patientinnen haben mit den Risiken der minderwertigen Implantate zu kämpfen, denn diese können reißen, zu Irritationen und Entzündungen führen und letztendlich weitere Operationen bedingen. Daraufhin reagierte die Europäische Kommission mit einer Überarbeitung der bestehenden Regelungen.

Die Qualität von Medizinprodukten stärken

Durch den Implantate-Skandal wurden die Auflagen für Medizinprodukte deutlich verschärft. Am 25. Mai 2017 trat die neue EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR) gemeinsam mit der ebenfalls neuen Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR) in Kraft. Geltungsbeginn der MDR war nach einer Übergangsfrist von vier Jahren der 26.05.2021. Für die Hersteller von Medizinprodukten bedeutet das, dass unter anderem höhere Anforderungen an die technische Dokumentation der Herstellungsprozesse, an das Qualitätsmanagement und an die klinische Bewertung über den gesamten Produktlebenszyklus gestellt werden.

Das Ziel ist: Die Patientensicherheit durch eine höhere Qualität der Medizinprodukte zu stärken, ohne Innovationen einzuschränken.

Die Regelungen der MDR betreffen allerdings nicht nur neue Marktzugänge, sondern auch höherklassige Medizinprodukte, die bereits auf dem Markt vertrieben werden. Auch diese müssen einer Neuzertifizierung nach MDR unterzogen werden. Dafür braucht es ausreichend viele Zertifizierungsstellen, sogenannte „Benannte Stellen“, also staatlich autorisierte Stellen, die Prüfungen und Bewertungen durchführen. Ebenso gibt es Produkte, die aufgrund der MDR erstmalig eine Zertifizierung von der „Benannten Stelle“ benötigen, wie zum Beispiel wiederverwendbare chirurgische Instrumente oder höherklassige medizinische Software. Die Übergangsfrist für die Re-Zertifizierung von Bestandsprodukten soll 2024 auslaufen.

Auswirkungen der MDR auf die Versorgung

Zwar ist das MDR bereits vor über sechs Jahren in Kraft getreten, dennoch ist das System nach wie vor im Aufbau. Das führt auch zu langen Wartezeiten für die Ausstellung der MDR-Zertifikate. Die Kapazitäten der „Benannten Stellen“ sind, trotz steigender Zahlen, noch immer zu gering, um den gestiegenen Prüf- und Zertifizierungsaufwand abzudecken. Aus diesem Grund wurde die Übergangsfrist von Mai 2024 auf Ende 2027 für Produkte mit höherem Risiko (wie zum Beispiel Herzschrittmacher) beziehungsweise 2028 für Produkte mit mittlerem und geringerem Risiko (wie zum Beispiel Spritzen oder wiederverwendbare chirurgische Instrumente) verlängert.

Die Hersteller haben bereits mit den Bedingungen zu kämpfen. Sie müssen mit gestiegenen Anforderungen, Wartezeiten und vor allem höheren Kosten rechnen. Das führt dazu, dass sie die Produkte oder ganze Produktlinien vom Markt nehmen müssen. Hierbei handelt es sich sowohl um Bestandsprodukte als auch um Nischenprodukte. Gleiches gilt auch für Innovationsprodukte, sodass einige Hersteller zum Teil von den EU-Märkten abwandern.

Diese geschilderten Folgen, die die MDR mit sich bringt, wirken sich auch auf Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäuser aus. Denn wenn Hersteller ihre Produkte vom Markt nehmen, dann führt das in den Kliniken zwangsläufig zu Herstellerwechseln. Durch hinzukommende Lieferengpässe muss häufiger auf Ersatzprodukte ausgewichen werden. Seltene Nischenprodukte sind noch schwieriger zu beschaffen und Innovationsprodukte lassen lange auf sich warten. Das stellt vor allem das Personal in der Patientenversorgung zusätzlich vor steigende Herausforderungen.

Medizinprodukte sicher anwenden

Wer ein Medizinprodukt am Patienten anwendet, muss die erforderliche Ausbildung oder Kenntnis und Erfahrung besitzen sowie in die sichere Handhabung eingewiesen sein. Aus der Praxis ist bekannt, dass sich diese Anforderungen aus der Medizinprodukte-Betreiberverordnung oft schwer umsetzen lassen. Ein geringer Standardisierungsgrad beziehungsweise ein häufiger Wechsel von Medizinprodukten, wie es aktuell häufig der Fall ist, erhöhen den Aufwand für eine sichere Anwendung zusätzlich und fordern eine erhöhte Aufmerksamkeit des Personals.

Die folgenden Faktoren können die sichere Anwendung von Medizinprodukten in Krankenhäusern unterstützen:

Kommunikation:
Kommt es zu Herstellerwechseln oder Lieferengpässen und somit zur Verwendung neuer Medizinprodukte, dann sollten diese Informationen frühzeitig über interne Kommunikationswege zur Verfügung gestellt werden. Eine regelhafte Einbindung in bestehende Besprechungen und ein Austausch über Besonderheiten in der Anwendung der Produkte können einen sicheren Umgang fördern.

Einweisung:
Auch bei selten oder nur kurzzeitig genutzten Medizinprodukten muss die anwendende Person sicherstellen, dass sie das notwendige Grundlagenwissen zur Funktion des Medizinprodukts und zum Verständnis der Risiken besitzt. Die Anwenderin oder der Anwender müssen eine Übersicht über die aktuell eingesetzten Medizinprodukte in ihrem oder seinem Arbeitsbereich haben. Notwendige Einweisungen sollte sie oder er im Rahmen der Holschuld einfordern. Der Betreiber muss für die organisatorischen Rahmenbedingungen sorgen und sicherstellen, dass alle Anwender die erforderlichen Einweisungen erhalten.

Sicherheitskultur:
Das Stärken einer Sicherheitskultur stützt die sichere Anwendung von Medizinprodukten. Eine Sicherheitskultur bietet unter anderem einen Rahmen, in dem es möglich ist, Unsicherheiten zu äußern, Sicherheitslücken zu identifizieren, zu analysieren und die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen. Das betrifft sowohl Schulungsmaßnahmen, die Ausstattung von Medizinprodukten als auch den offenen Informationsaustausch.

Fazit

Medizinprodukte spielen eine tragende Rolle in der täglichen Patientenversorgung. Die MDR trägt mit ihren strikten Anforderungen an Medizinprodukte einen wichtigen Teil zur Patientensicherheit bei, sodass Fälle wie der eingangs erwähnte Implantate-Skandal hoffentlich der Vergangenheit angehören. In der Praxis zeigen sich aber auch die Defizite der Verordnung. Lange Wartezeiten und steigende Kosten stellen Hersteller und Kliniken vor neue Herausforderungen. Die daraus resultierende Forderung von Verbänden, wie dem Bundesverband Medizintechnologie e.V. (BVMed), die Umsetzung der MDR praktikabler zu gestalten, ist nach wie vor laut und lässt weitere Anpassungen vermuten.

In dem ohnehin hoch belasteten System der Krankenversorgung bedeutet dies vor allem für das Personal eine zusätzliche Herausforderung. Ein wechselndes oder unvollständiges Sortiment an Medizinprodukten erfordert nicht nur einen gestiegenen Einweisungsbedarf, sondern auch eine erhöhte Aufmerksamkeit, um Fehler in der Patientenbehandlung zu vermeiden. Umso wichtiger ist die Stärkung einer offenen Kommunikation und Sicherheitskultur zur Förderung der Patientensicherheit.

Literatur

[1]   https://www.bvmed.de/de/recht/eu-medizinprodukte-verordnung-mdr
[2]   https://www.aps-ev.de/wp-content/uploads/2017/04/HE-Einweisung-von-MP.pdf
[3]   Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über Medizinprodukte, zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 und zur Aufhebung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG des Rates (Text von Bedeutung für den EWR.)
[4]   Medizinprodukte-Betreiberverordnung – MPBetreibV

Larissa Gerke

Risikoberaterin

GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH

Ecclesiastraße 1-4

32758 Detmold

larissa.gerke@grb.de

www.grb.de

Chirurgie+

Gerke L: Safety Clip: Die EU-Medizinprodukte-Verordnung für mehr Patientensicherheit. Passion Chirurgie. 2024 März; 14(03/I): Artikel 04_02.

Weitere Artikel zur Patientensicherheit finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de), Rubrik Wissen | Qualität & Patientensicherheit | Safety Clip.

BDC-Journalistenpreis 2023: Organtransport – Wettlauf gegen die Zeit

Johannes Lenz vom Bayerischen Rundfunk hat 2023 den BDC-Journalistenpreis für seine Reportage „Organtransport – Wettlauf gegen die Zeit“ erhalten. Im Rahmen der Sendung kontrovers im BR-Fernsehen wurde sie Ende April 2023 ausgestrahlt und ist zudem in der ARD-Mediathek abrufbar. In seinem Beitrag setzt sich der Redakteur mit der Bereitschaft zur Organspende in Deutschland auseinander und untermauert dies mit Zahlen. Er lässt Betroffene, die auf ein Organ warten, zu Wort kommen und portraitiert ein Team, das zu einer Organtransplantation ausgesandt wird.

Der Journalist konnte sich mit seinem Beitrag gegen 24 Konkurrentinnen und Konkurrenten durchsetzen. Die Jury begründet ihre Entscheidung so: „Der Redakteur geht an das Thema sowohl mit Fakten als auch emotional heran. Er findet Protagonisten, deren Situation die Zuschauer von der Dringlichkeit einer Organspende überzeugt und für sie mitfiebern lässt. Das ausgesandte Ärzteteam begleitet er während der gesamten Zeit – von der Reise bis zu Entnahme und Befund, was für Spannung sorgt.“

Der Preisträger Johannes Lenz im Interview mit Olivia Päßler vom BDC.

Welche Funktion hatten Sie bei dem ausgezeichneten Film?
Johannes Lenz: Menschen bei ihren Herausforderungen begleiten, in ihre Lebenswelt eintauchen und über die Schulter schauen, das ist ein großes Privileg. Bei meiner Recherche und den Dreharbeiten für die ausgezeichnete Reportage durfte ich das fragile Organspende-Transportnetz von engagierten Profis und die anspruchsvolle Arbeitswelt von Chirurginnen und Chirurgen kennenlernen und gleichzeitig die Perspektive derjenigen einnehmen, die seit Jahren auf ein Organ warten. Neben der journalistischen Recherche liebe ich die Arbeit hinter der Kamera. Und so habe ich für die Reportage „Letzte Rettung Organtransplantation – zwischen OP und Transport“, die in der ARD-Mediathek und im Politikmagazin „Kontrovers“ im BR-Fernsehen ausgestrahlt wurde, recherchiert, das Konzept geschrieben und gefilmt. Den Film geschnitten hat mein Kollege und Editor Eugen Langolf und Nadine Posmik hat die Reportage inhaltlich als Redakteurin begleitet. Am Ende bleiben die Teamarbeit und das Vieraugenprinzip in unserem Job immer wichtig.

Welche weiteren Formate haben Sie gewählt und wie ist der Beitrag insgesamt aufgenommen worden?
JL Die Geschichte von Carina, die seit vielen Jahren auf eine Lunge wartet, habe ich auch für die ARD-Audiothek als Hörfunkfeature und für den Radiosender Bayern 2 produziert. Darüber hinaus habe ich einen ausführlicheren Artikel für das Nachrichtenportal im Web und in der App des Bayerischen Rundfunks BR24 geschrieben und mich darauf noch mehr auf die politische Debatte konzentriert. Mithilfe der verschiedenen Ausspielwege konnten wir weitere Aspekte beleuchten. Welche politischen Ansätze stehen zur Debatte, um mehr Organspenden zu ermöglichen? Warum ist die sogenannte Widerspruchslösung umstritten? Die Resonanz auf die Ausstrahlung vonseiten der Betroffenen, die auf ein Spenderorgan warten, war sehr positiv, und auch von Klinikseite und von der Deutschen Stiftung Organtransplantation kam positives Feedback.

Wie sind Sie zum Thema gekommen?
JL Die Redaktion des BR-Politikmagazins „Kontrovers“ hatte das Thema Organspende und die hitzige Diskussion um die Widerspruchslösung schon lange auf der Agenda. Uns war es wichtig, nicht nur eine Geschichte über die Betroffenen und die wichtige Arbeit der Chirurginnen und Chirurgen zu erzählen, sondern auch die politische Debatte dahinter abzubilden.

Wie haben Sie rund um das Thema Organspende recherchiert?
JL Zuerst habe ich mir in einen Überblick über die Akteurinnen und Akteure verschafft, die an einer Organtransplantation mitwirken. Ich war beeindruckt, dass manchmal etwa einhundert Menschen an einer Transplantation beteiligt sind. Von der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) über Eurotransplant, wo die Empfängerinnen und Empfänger nach Dringlichkeit gelistet sind, über die Logistikfirmen bis zu den ausführenden Chirurginnen und dem Team im OP-Saal. Letztendlich habe ich mich dann mit dem Transplantationszentrum des Klinikums Großhadern in Verbindung gesetzt. So konnte ich mir einen ersten Überblick über die vielen wichtigen Zahnrädchen im System machen, die alle ineinandergreifen müssen. Dazu habe ich Hintergrundgrundgespräche mit Chirurgen, Logistikern von Boden- und Lufttransportunternehmen, Mitarbeiterinnen der DSO und Mitgliedern des deutschen Ethikrats geführt.

Wie haben Sie Ihre Protagonistin gefunden?
JL Das Transplantationszentrum am Klinikum Großhadern hat mir die Protagonistin Carina dankenswerterweise vermittelt.

Welches Ziel verfolgen Sie mit Ihrem Beitrag?
JL Über 8.700 Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für ein Organ – viele bangen und hoffen auf den lang ersehnten Anruf. Die Recherche soll mit dem Schicksal von Carina, die seit Jahren auf eine neue Lunge wartet, das abstrakte Thema greifbar machen. Aufgrund einer schweren genetischen Krankheit benötigt sie eine neue Lunge. Seit 2019 steht sie auf der Warteliste. Ihre beiden Töchter und ihr Ehemann hoffen. Doch die Entwicklung der Transplantationszahlen gibt ihnen wenig Anlass: Tausende Patienten in Deutschland warten, doch zuletzt spendeten immer weniger Menschen nach dem Tod ihre Organe. Mein Ziel ist es, den täglichen Überlebenskampf der Betroffenen und das fragile Transportnetz von engagierten Profis, die im Hintergrund alles unternehmen, um die Menschen zu retten, aufzuzeigen. Außerdem geht es mir darum, einen Beitrag zur politischen Debatte zu liefern. Ist die sogenannte Widerspruchslösung die Lösung aller Probleme? Woran hakt es beim seit Jahren geplanten digitalen Spendenregister? Mein Ziel war es auch, diese Fragen anzustoßen.

Welche Erkenntnisse haben Sie zum Thema gewonnen, die Sie vorher nicht hatten?
JL Nach meiner Recherche hatte ich die Erkenntnis: Die Debatte über die Widerspruchslösung greift zu kurz. Sie kann das Problem von zu wenig Organspenden aller Voraussicht nach allein nicht lösen. Stattdessen dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass das fehlende digitale Spendenregister schon viel zu lange auf sich warten lässt. Das dafür zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte muss auf Anfrage eine große Verzögerung einräumen und verweist auf das erste Quartal 2024 als Starttermin. Wir werden das genau beobachten. Außerdem sollte über die Widerspruchslösung hinaus auch über eine Reform der Vergütungen für Kliniken gesprochen werden, die die Entnahme eines Organs möglich machen und über eine Stärkung der Rolle der Transplantationsbeauftragten.

Was ist Ihr nächstes Projekt?
JL In einem meiner nächsten Projekte beschäftige ich mich mit dem Abzug der Bundeswehr aus Mali. Unser Team geht unter anderem der Frage nach, welche Situation die Bundeswehr im Rahmen der beendeten Friedensmission der Vereinten Nationen MINUSMA in Westafrika hinterlässt.

Der Textbeitrag zur Reportage, ergänzt um umfangreiche Informationen und Daten

Tausende Patienten in Deutschland warten auf eine Transplantation, doch die Zahl der Organspenden nimmt ab. Kontrovers – Die Story begleitet den Transport von Spenderorganen und den langen Weg bis zur rettenden Transplantation.

Im frühen Morgengrauen bricht die Thoraxchirurgin Dr. Gökçe Yavuz auf. Vom Münchener Klinikum Großhadern geht es mit ihrem Team in einem roten Transporter zum Flughafen – das Blaulicht liegt unter dem Sitz griffbereit. Gleich wird sie eine Lunge explantieren. Ihre Aufgabe: Die Lunge des Spenders, der vor wenigen Stunden einen Gehirntod erlitten hat, entnehmen und zur Implantation nach München bringen.

Noch ist nicht sicher, ob die Lunge wirklich zum Empfänger passt. „Da muss man richtig entscheiden. Von dem her ist das schon eine große Verantwortung.“, sagt Gökçe Yavuz. Doch der Versuch ist es dem Chirurgen-Team wert – implantierbare Lungen sind selten. Nur wenige Stunden zuvor hat Yavuz die Nachricht erhalten, dass es einen potentiellen Spender gibt, und jetzt muss alles schnell gehen. Die Operation soll in Kürze starten. Mit einem Charter-Flugzeug sind die Chirurgen europaweit unterwegs. Wo es genau hingeht, dürfen wir nicht sagen. Aus Datenschutzgründen darf niemand wissen, welches Spenderorgan zu welchem Empfänger geht. Ein fragiles Transportnetz aus Fahrern, Pilotinnen und Ärzten muss in den folgenden Stunden fein abgestimmt zusammenarbeiten, damit die Explantation gelingt. Gleich wird sich das entscheiden.

Abb. 1: Weniger Organspender in Deutschland, Quelle: Deutsche Stiftung Organtransplantation

Immer weniger Organspender in Deutschland

Über 8.700 Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für ein Organ – in Bayern sind es etwa 1.200. Viele hoffen auf den lang ersehnten Anruf, dass die Operation starten kann. Eine davon ist Carina Mommaal aus München. Die Mutter von zwei Töchtern ist an Lymphangioleiomyomatose erkrankt, kurz LAM. Eine sehr seltene, chronische Lungenerkrankung. Sie führt dazu, dass sich Muskelzellen auf den Lungenbläschen bilden. Dadurch bekommt sie immer schlechter Luft. „Eine Transplantation ist in meiner Situation das Prinzip Hoffnung und natürlich erhoffe ich mir davon Lebensqualität zurück. Die Transplantation nicht zu machen, ist keine Option“, erzählt Carina im Interview mit Kontrovers – Die Story. Seit 2019 wartet sie bereits. Das Smartphone immer griffbereit. Der Anruf könnte zu jeder Tages- und Nachtzeit kommen. Doch die Entwicklung der Transplantationszahlen ist für sie ernüchternd. Denn in den vergangenen Jahren ist die Anzahl der Personen, die ein Organ gespendet haben, stark zurückgegangen. Das zeigt eine Auswertung der Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation.

Bayern plant Initiative zur Widerspruchslösung

Um etwas gegen den Organmangel zu tun, bringt die Politik derzeit die Widerspruchslösung ins Gespräch. Diese würde bedeuten: Jede Person in Deutschland wäre potenziell Organspender, außer sie lehnt dies explizit ab. 2020 hatte sich der Bundestag noch gegen eine solche Regelung entschieden. Nun sind sich sowohl der Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach von der SPD als auch der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek von der CSU einig: Die derzeitige Gesetzeslage ist gescheitert und die Widerspruchslösung soll her. Sie biete die Chance, dass mehr Menschen ein lebensrettendes Spenderorgan bekommen könnten. Die Organspende wäre dann der Normalfall und nicht mehr der von einer ausdrücklichen Zustimmung abhängende Sonderfall, so Holetschek. Dafür sei mit anderen Ländern eine gemeinsame Bundesratsinitiative geplant, um diese Widerspruchslösung bundespolitisch zu thematisieren und so eine erneute Abstimmung im Bundestag zu ermöglichen. Doch das reiche bei Weitem nicht aus, meinen Kritiker wie der Sozialethiker Professor Andreas Lob-Lüdepohl.

Widerspruchslösung „ein Ablenken vom Versagen der Politik“?

„Die Debatte um die Widerspruchslösung ist ein Ablenken vom eigentlichen Versagen der Politik und des öffentlichen Gesundheitsdienstes“, so Lob-Hüdepohl im Interview mit Kontrovers – Die Story. Der Theologe und Sozialethiker ist Mitglied im Deutschen Ethikrat. Er sieht andere Gründe für den Mangel an Spendern: Die Transplantationsbeauftragten in den Kliniken müssten besser unterstützt werden. Unter anderem mit einem bundesweiten Register potentieller Spenderinnen und Spender, das auf der einen Seite die Bereitschaft dokumentiert und auf der anderen Seite den Bedarf in den Krankenhäusern. Die Einführung eines solchen Registers sei schon vor Jahren beschlossen worden, doch bisher sei nichts passiert.

Organspende-Register verzögert sich

Recherchen des BR-Politikmagazins Kontrovers zeigen: Tatsächlich sieht das Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende seit März 2022 ein Online-Register für potentielle Spender vor, das sogenannte Register für Erklärungen zur Organ- und Gewebespende (OGR). Doch das existiert immer noch nicht. Kontrovers fragt beim zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nach. Von dort heißt es:

Abb. 2: Benötigte Organe in Deutschland, Quelle: Deutsche Stiftung Organtransplantation

„Die erheblichen Projektverzögerungen wurden im Frühjahr 2022 von dem mit der Entwicklung des OGR beauftragten externen Dienstleister, der Bundesdruckerei GmbH, u.a. mit der Komplexität des Projekts begründet. (…) Die Aufnahme des Wirkbetriebs des OGR (kann) voraussichtlich im ersten Quartal 2024 erfolgen (…).“

Netzwerk der Transplantationsbeauftragen ausbaufähig

Lob-Lüdepohl macht das fassungslos. Die Debatte um die Widerspruchslösung führe weg vom eigentlichen Problem des fehlenden Registers. Außerdem fordert er höhere Vergütungen für Kliniken, die die Entnahme eines Organs möglich machen und eine Stärkung der Rolle der Transplantationsbeauftragten. Diese sollen sich in den Kliniken um den Organspendeprozess kümmern und zu mehr Achtsamkeit beim Erkennen potentieller Organspender beitragen. Sie werden per Gesetz für diesen Job freigestellt. Lob-Lüdepohl betont, wie wichtig ein bundesweites Transplantationsbeauftragten-Netzwerk sei. Auf die Förderung dieses Netzwerkes müsse sich die Politik verstärkt konzentrieren.

Deutsche Stiftung für Organtransplantation alarmiert

Die Deutsche Stiftung Organtransplantation bemängelt darüber hinaus die fehlende Aufklärungskultur beim Thema Organspende. Die Angehörigen Betroffener, die nicht mehr selbst entscheiden können, würden einer Organspende oft ablehnend gegenüberstehen. Deshalb sei es so wichtig, sich zu Lebzeiten mit dem Thema zu befassen. Die Entscheidung steht bisher noch jedem frei. Wer sich dafür entscheidet, Spender zu sein, sollte sich einen Organspendeausweis zulegen. Der lässt sich ganz einfach online ausfüllen und ausdrucken. Aber auch eine bessere Identifizierung potenzieller Spender spiele eine wichtige Rolle – hierbei würde das noch fehlende Register helfen.

Besonders gefragt sind in Deutschland Nieren. Danach folgen Leber, Herzen, Lungen und Bauchspeicheldrüsen. Insgesamt werden in Deutschland derzeit etwa 8.700 Organe benötigt.

Bis zu einhundert Personen von Transport bis OP beteiligt

Zurück bei der Thoraxchirurgin Dr. Yavuz. Gleich soll sie die Lungenexplantation durchführen. Ein Krankenhaus hat den Spender der Lunge gemeldet – bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Sie hat die Daten an die europaweite Plattform Eurotransplant weitergegeben. Hier sind Empfänger nach Dringlichkeit gelistet. Dann wurde das Transplantationszentrum am Münchner Klinikum Großhadern informiert, wer infrage kommt. Das hat Gökçe Yavuz losgeschickt. Mittlerweile ist sie mit ihrem Team am Klinikum angekommen, in dem die Explantation stattfinden soll. Insgesamt können beim Transport und im OP an die einhundert Menschen beteiligt sein.

Doch leider ist die Operation nicht erfolgreich. Grund dafür: Der Spender war starker Raucher. Die Lunge war stark mit Rußablagerungen belastet. Das macht eine Implantation unmöglich. Etwa jede fünfte Lungenexplantation führt nicht zur Implantation. „Leider kein erfolgreicher Tag. Die Qualität war nicht ausreichend“, kommentiert die Thoraxchirurgin enttäuscht. „Das ist natürlich frustrierend, wenn man jetzt weiß, dass ein Patient den Anruf bekommen hat, ins Krankenhaus gefahren ist und wahrscheinlich schon ins Nachthemd gepackt wurde, im Bett gewartet hat und schon allen erzählt hat, dass er ein Organ bekommt. Und dann wird das gecancelt und abgesagt.“

Hoffnung auf das lebensrettende Organ nicht aufgeben

Der Einsatz zeigt: Der Organmangel in Deutschland ist so groß, dass mit viel Aufwand jedes Organ, das infrage kommt, vor Ort genau untersucht wird – auch wenn die Transplantierfähigkeit des Organs unsicher ist. Dieses Mal geht es leider ohne Lunge zurück nach München. Dort wartet Carina Mommaal weiter auf das rettende Organ. Sie versucht, die Hoffnung nicht zu verlieren: „Ich lebe mein Leben weiter – ich versuche es zumindest, soweit es geht.“ Ihr bleibt nur warten. Bis ihr eine neue Lunge hoffentlich Lebensqualität zurückbringt.

Zum Video

Zur Reportage „Organtransport – Wettlauf gegen die Zeit“…

(www.bit.ly/BDCJournalistenpreis2023)

Johannes Lenz

Redakteur

Bayerischer Rundfunk

Chirurgie+

Lenz J: BDC-Journalistenpreis 2023: Organtransport – Wettlauf gegen die Zeit. Passion Chirurgie. 2024 März; 14(03/I): Artikel 09_01.

Mehr zum Journalistenpreis lesen Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Presse | Journalistenpreis.

PASSION CHIRURGIE im Januar/Februar 2024

Zur Ausgabe 01/02/2024: Perioperative Patientenbetreuung

In der ersten Doppel-Ausgabe des Jahres steht die perioperative Patientenbetreuung im Fokus. Lesen Sie spannende Beiträge über Prähabilitation, Entlassmanagement und den Pflegenotstand. In dieser Ausgabe haben wir zudem einige Interviews zu relevanten Themen aus der Chirurgie geführt. Mit unserer wieder einmal gut gefüllten Zeitschrift kommen Sie gut durch die grauen Wintertage!

Heißer Tipp: Treffen Sie uns und Kolleg:innen am 23. und 24. Februar auf dem Bundeskongress Chirurgie in Nürnberg! Wir sind mit unserem BDC-Stand vor Ort und freuen uns auf Ihren Besuch!

Viel Spaß beim Lesen, Ihre PASSION Chirurgie-Redaktion

Vor dem Eingriff ist nach dem Eingriff

Dieser Artikel erschien am 28. Mai 2023 im Wissensteil der Welt am Sonntag. Er galt unter den Einsendungen für den BDC-Journalistenpreis 2023 als einer der Favoriten.

„Der bestrahlte Patient“, „Plastische Chirurgie“, „Robotik an der Wirbelsäule“ – die Programmpunkte des Deutschen Chirurgie-Kongresses, der 2023 in München tagte, klangen interessant, aber weitgehend erwartbar. Ein Thema jedoch stach sofort ins Auge: „Prähabilitation – sinnhaft oder Lifestyle?“. Fast hätte man dahinter einen Druckfehler vermuten können; die „Rehabilitation“, kurz Reha, gehört schließlich zum Standardrepertoire bei operativen Eingriffen. Aber „Prähabilitation“?

Tatsächlich handelt es sich dabei um ein eigenes Therapiekonzept, das in der Chirurgie derzeit ziemlich im Trend liegt – ohne deswegen nur Lifestyle zu sein. Das Kofferwort setzt sich aus „Präoperativ“ und „Rehabilitation“ zusammen, womit auch schon klar wird, worum es im Wesentlichen geht. Nämlich darum, „das Komplikationsrisiko zu verringern und dafür zu sorgen, dass sich Patienten nach der Operation möglichst schnell wieder erholen“, erklärt Natascha Nüssler, Chefärztin an der München-Klinik Neuperlach und Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie. Ihr Chirurgenkollege Tim Vilz vom Universitätsklinikum Bonn verwendet gern ein Beispiel aus dem Sport, um das Konzept zu veranschaulichen: „Niemand würde einen Marathon ohne Ernährungsumstellung und Training und auch nicht ohne eine entsprechende psychische Vorbereitung angehen“, sagt er. „Das sollte man auch bei einer schweren OP so handhaben – denn die verlangt uns ebenfalls viel ab.“ Vilz arbeitet als Bauchchirurg mit dem Schwerpunkt „chirurgische Onkologie“, er ist außerdem Koordinator für die kommende Leitlinie, wie man Patienten mit Krebserkrankungen im Magen-Darm-Trakt perioperativ behandelt – also vor, während und nach dem operativen Eingriff. Dabei spielt die Prähabilitation eine zentrale Rolle.

Geht es nach Vilz, kann man deren Maßnahmen jedoch nicht nur in der Bauchchirurgie anwenden, sondern – mit entsprechenden Anpassungen – auch auf andere chirurgische Fachdisziplinen übertragen, zum Beispiel auf die Lungen-, Gefäß- oder Kinderchirurgie. Auch die Herzchirurgie zählt dazu. Das zeigte unlängst eine Studie, die von einem Forscherteam um die Kardiologin Claudia Walther vom Uniklinikum Frankfurt am Main an 170 Bypass-Patienten durchgeführt wurde. Die eine Hälfte von ihnen absolvierte vor dem Eingriff ein zweiwöchiges Ergometer- und Gymnastik-Training, die andere nicht. Nach der OP durchliefen beide Gruppen ein dreiwöchiges Reha-Programm – ohne Unterschiede. Es zeigte sich jedoch, dass die Prähabilitations-Patienten später bei typischen Alltagsbelastungen deutlich besser abschnitten. So legten sie in einem sechsminütigen Gehtest 30 bis 40 Meter mehr zurück. Und als es darum ging, von einem Stuhl aufzustehen, einmal um ihn herumzulaufen und sich wieder hinzusetzen, stellten sie sich ebenfalls geschickter an. Insgesamt deuteten alle Ergebnisse darauf hin, dass ihre Lebensqualität wesentlich höher war als in der Kontrollgruppe.

Kürzer im Krankenhaus

Wirkt sich eine Prähabilitation auch positiv auf die Komplikationsrate und Verweildauer im Krankenhaus aus? Walther und ihr Team haben das wissenschaftliche Datenmaterial zu diesem Thema ausgewertet. Ergebnis: Mit einer Prähabilitation lässt sich nach einer Herz-OP ungefähr ein Tag Klinikaufenthalt einsparen. Und das Risiko für Vorhofflimmern nimmt bei den jüngeren, nicht aber bei den älteren Patienten ab – die ja besonders oft am Herzen operiert werden. Hier erscheint der Nutzen einer Prähabilitation also sehr überschaubar. Der Bonner Mediziner Vilz verweist diesbezüglich auf die „bislang dürftige Datenlage“, auch bei den Operationen im Bauchraum. Als gesichert gelte, dass die Patienten nach dem Eingriff belastbarer seien, wenn sie vorher eine Prähabilitation durchlaufen haben. „Doch ob die Komplikationsrate dadurch heruntergeht, können wir bislang nicht definitiv sagen“, sagt Vilz.

Allerdings könnte sich das schon bald ändern, denn die wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich hat gewaltig an Fahrt aufgenommen. Zumindest lässt sich bereits heute die Zielgruppe einkreisen. Anders, als es die Frankfurter Studie vermuten ließe, dürften jüngere und gesunde Patienten in der Regel weniger von einer Prähabilitation profitieren – einfach deshalb, weil sie noch relativ fit sind. Den größten Effekt erzielt die vorbeugende Therapie bei Menschen, auf die eines oder mehrere der folgenden Kriterien zutreffen: Über 65 Jahre alt, fehlernährt, körperlich inaktiv, Raucher und durch die Diagnose psychisch belastet. Das sind keine Randgruppen: In den deutschen OP-Sälen dürften jährlich Tausende liegen, denen eine Prähabilitation Gutes täte.

Wie diese Vorbereitung konkret aussehen kann, erläutert Vilz am Beispiel eines Patienten mit Mastdarmkrebs: „Idealerweise sollte er mit dem Stellen der Diagnose ein Sportprogramm ausgearbeitet bekommen, und er braucht eine Ernährungsberatung, weil er sich künftig betont proteinreich ernähren sollte.“ Von großer Bedeutung sei aber auch die psychologische Betreuung des Patienten. „Denn nach einer Tumordiagnose“, sagt Vilz, „reagieren viele Menschen verständlicherweise mit einer reaktiven Depression“.

Am Uniklinikum in Leipzig laufen derzeit Studien, in denen Krebspatienten zu Hause an einem Online-Sportprogramm teilnehmen, um an ihrer Leistungsfähigkeit für die bevorstehende Operation zu arbeiten. Sie nutzen dabei „Weareables“, also tragbare Geräte wie Brustgurte und Smartwatches, die ihre Vitalwerte messen – Puls, Blutdruck, Atemfrequenz. Auf diese Weise kann dann ein Sportmediziner kontrollieren, ob die Belastung in Ordnung ist oder nachjustiert werden muss; etwa, wenn der Patient gerade eine Chemotherapie macht. Zudem werden in Leipzig die Blutwerte untersucht, um beispielsweise einen Eisenmangel aufzudecken. Es gibt allerdings auch Kritik an der Prähabilitation. Ein oft vorgebrachtes Gegenargument lautet: Man habe nicht die Zeit dafür. Denn die anstehenden Eingriffe seien in der Regel zu dringend, als dass man sie verschieben dürfte, um den Patienten in den Wochen davor noch prähabilitativ aufzubauen. Diesen Einwand hört man gerade in der Onkologie recht häufig. „Hier glauben die Patienten oftmals selbst: „Oh Gott, ich hab Krebs und muss jetzt so schnell wie möglich operiert werden“‘, berichtet die Münchner Chefärztin Natascha Nüssler.

Zeit für die Prähabilitation nehmen

Doch diese Eile ist allenfalls bei Notfalloperationen angezeigt. Ansonsten zeigen gerade Studien an Krebspatienten, dass der Zeitfaktor – wenn es um Wochen geht – nicht so relevant ist, wie oft behauptet wird. Im Gegenteil: Das Risiko für einen geschwächten, unterernährten Krebspatienten ist bei einer OP viel größer, wenn man ihn nicht zuvor aufpäppelt. Und die Perspektiven eines Rauchers, dem ein Bypass gelegt werden soll, sind ebenfalls besser, wenn man ihn auf einen Nikotinentzug vorbereitet. „Es sollte nicht das Ziel sein, möglichst schnell zu operieren“, betont Nüssler. „Vielmehr geht es darum, den Patienten möglichst zum optimalen Zeitpunkt zu operieren, sodass er sich schnell erholt und seine Krankheit erfolgreich behandelt wird.“ Vor diesem Hintergrund könne es durchaus sinnvoller sein, die OP ein paar Wochen nach hinten zu verschieben.

Ein weitaus größeres Problem hat die Prähabilitation damit, dass sie bisher – mit Ausnahme der orthopädischen Eingriffe – in der medizinischen Versorgung nicht etabliert ist. Was nicht zuletzt daran liegt, dass sie aufwendig und entsprechend kostspielig ist. Die Krankenkassen wären zur Kostenübernahme bereit, wenn wirklich klar ist, dass ein bestimmter Patient mit seiner spezifischen Krankengeschichte von einer Prähabilitation profitieren würde. „Doch so weit sind wir noch nicht“, sagt Vilz. Es gebe daher noch nahezu keine ausgewiesenen Prähabilitation-Ambulanzen oder -Kliniken. Immerhin bieten die München-Klinik sowie einige Unikliniken – oft im Rahmen von Studien – entsprechende Konzepte an, etwa in Bonn, Leipzig, Frankfurt am Main oder Mannheim. Wer dort nicht in Behandlung ist, sollte mit seinen behandelnden Ärzten besprechen, was er im Vorfeld des Eingriffs tun kann. Einfach nur darauf zu warten, dürfte in vielen Fällen die schlechteste Option sein, weil es häufig bedeutet, dass die Patienten zu Hause sitzen, über ihre Krankheit und Perspektiven grübeln. Eine Prähabilitation gibt ihnen dagegen die Möglichkeit, sich aktiv auf die OP vorzubereiten. „Die meisten Patienten wissen in Anbetracht dieser Alternativen ziemlich schnell, was sie zu tun haben“, sagt Vilz. „Die Prähabilitation besitzt in der Regel eine große Akzeptanz.“ Und ansonsten gibt es ja noch den Marathon-Vergleich, um sie zu überzeugen.

Vorbereitung ist Alles

DIE FÜNF SÄULEN DER PRÄHABILITATION

Atemtraining

Bei älteren, körperlich unfitten Patienten kommen Atemtrainer zum Einsatz: Plastikgeräte mit einer Art Schnorchel, durch die Patienten möglichst tief ein- und ausatmen. Das Gerät zeigt an, wie tief man Luft geholt hat. Dosierung: vier bis fünf Einheiten à zehn bis zwölf Atemzüge. Alternativ kann man beim Physiotherapeuten üben.

Psychische Vorbereitung

Viele Patienten fallen nach ihrer Krebsdiagnose in ein psychisches Loch, aber auch eine anstehende Bypass-OP kann Betroffenen viel zumuten. Ihr Redebedarf sollte nicht nur von Angehörigen gedeckt werden, sondern auch von Therapeuten, die wissen, was auf die Patienten zukommt. So glauben viele, dass sie nach dem Eingriff wochenlang außer Gefecht gesetzt sind. Tatsächlich dauert es meist nur ein paar Tage.

31 Prozent der Patienten hatten in einer Studie nach ihrer Bauch-OP mit Prähabilitaion mindestens eine Komplikation. In der Kontrollgruppe ohne Prähabilitation waren es 62 Prozent.

Ernährung

Am OP-Tag nüchtern zu bleiben, gilt mittlerweile als überholt. Laut einem von internationalen Forschern entwickelten Konzept dürfen Patienten bis zu sechs Stunden vorher normal essen. Zudem erhalten sie bis zu zwei Stunden vorher eine glukosehaltige Nährlösung, etwa Apfelsaft oder Eistee, um die postoperative Stressantwort des Körpers zu reduzieren.

12 Wochen dauerte es in einer Studie zu Hüftgelenk-OPs, bis Patienten ohne Prähabilitation so viel Kraft und Funktionalität wiedererlangt hatten wie Prähabilitation-Patienten.

Tabak- und Alkoholentzug

Raucher haben nach größeren OPs ein doppelt so hohes Risiko für tiefe Wundinfektionen und häufiger Probleme mit der Narkose. Für regelmäßige Alkoholkonsumenten gilt Ähnliches.

Hier empfiehlt sich Enthaltsamkeit, am besten ab vier Wochen vor dem Eingriff.

Bewegung

Ältere Patienten haben oft nur noch wenig Muskelmasse. Ihnen wird vor bestimmten OPs dazu geraten, öfter Treppen zu steigen und zwei bis drei Mal pro Woche flott spazieren zu gehen. Physiotherapeuten können ihnen zudem zeigen, wie man die Muskeln im Alltag trainiert.

Dr. Jörg Zittlau

Wissenschaftsjournalist

Bremen

joerg.zittlau@gmail.com

www.joergzittlau.de

Chirurgie

Zittlau J: Vor dem Eingriff ist nach dem Eingriff. Passion Chirurgie. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 03_02.

Weitere Artikel zur Prähabilitation finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Fachübergreifend.

Aspekte des berufsorientierenden Praktikums

Im Rahmen des Humanmedizinstudiums müssen alle Medizinstudierenden ein dreimonatiges Praktikum in der Pflege absolvieren. Für mich stand Ende Juni des Jahres 2023 der erste Monat auf einer der drei Stationen der Klinik für Kardiologie (Direktor: Prof. Dr. med. habil. R. Braun-Dullaeus) des Universitätsklinikums Magdeburg A. ö. R. an und der darauffolgende auf der Station des Arbeitsbereiches Gefäßchirurgie; Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie (Direktor: Prof. Dr. med. Dr. h.c. R. S. Croner, MA, FACS) des hiesigen Universitätsklinikums.

Das Medizinstudium selbst war für mich nie unbedingt der große Traum von klein auf, sondern vielmehr war der Weg zu dieser Entscheidung ein Prozess aus anfänglich schlummerndem Interesse, das durch die ständige Konfrontation im medizinischen Kontext wuchs und mich schließlich überzeugte. Dieser Prozess ist mit Beginn des Studiums nicht abgeschlossen – ein so breit gefächertes Studium kann nicht in jedem Aspekt auf Zuspruch stoßen. Ganz im Gegenteil: Langeweile und Desinteresse gehören genauso dazu. Umso wichtiger ist es, sich diesem Lernprozess anzunehmen und herauskristallisieren zu können, was meine Interessen wirklich abdeckt. Was für mich jedoch seit jeher feststeht ist, dass ich zwischenmenschliche Interaktion nicht missen kann und will. Diese Interaktionen lassen für mich das Leben (auf- und er-)blühen – sowohl die positiven als auch die negativen Erfahrungen. Von dem Beruf als Ärztin erwarte und erhoffe ich mir, diese Lebendigkeit des Berufes täglich erfahren zu dürfen und an meinen Aufgaben wachsen zu können.

Anfangs hatte ich keine großartigen Vorstellungen von der kommenden Zeit im Pflegepraktikum, ich wusste nicht so recht, was mich erwartet – dennoch war ich neugierig. Dabei konnte ich weder meine anstehenden Aufgaben als (Vor-)Praktikantin zum Humanmedizinstudium, sozusagen formal in einem berufsorientierenden Praktikum (dennoch aber schon als obligatorische und abrechenbare Leistung zum anstehenden Studium und zugesprochenen Studienplatz gehörend), noch meine Verantwortung einschätzen. Doch bereits am ersten Arbeitstag stand fest, dass es alles andere als einfach wird: vom Frühaufstehen bis hin zur initialen Orientierungslosigkeit und dem (noch) bestehenden geringen Einblick in und Verständnis für das Stationsgeschehen und seine Abläufe.

Ich war als Hilfspflegerin eingesetzt und damit in zahlreiche Aktivitäten der Grundkrankenpflege einbezogen (Tab. 1).

Tab. 1: Verfolgte und ausgeführte Tätigkeiten im Pflegepraktikum (https://next.amboss.com/de/article/O70INh; abgerufen: 06. 12. 2023)

Bereich

Tätigkeiten

Grundpflege

– Unterstützung beim Waschen/Duschen

– Unterstützung beim Zähneputzen

– Hilfe beim Toilettengang

Ernährung

– Anreichen von Essen

– Versorgung mit Tee, Wasser, Kaffee

Mobilität

– Hilfe beim Aufstehen

– Patientenlagerung

– An- und Ausziehen von Kleidung

– Begleiten der Patient/-innen zu Untersuchungen

Beobachtung von Pflegeaufgaben

– Pflegerische Anamnese

– Krankenbeobachtung und -beurteilung

– Messen von Vitalparametern, Anlegen eines EKG

– Verbandswechsel, Vorbereiten von Infusionen, Injektionen verabreichen

Dokumentation

– Eintragen von Messdaten in Patientenkurven

– Notieren von Besonderheiten

Aufbereitung Krankenzimmer

– Betten frisch beziehen

– Leeren von Urinflaschen und Bettpfannen

Umgang mit isolierten Patient/-innen

– Einhalten von Infektionsschutzmaßnahmen

Stationsorganisation

– Dienstbeginn und -ende

– Dienstübergabe

– Teilnahme an der Visite

– Verhalten in Notfallsituationen auf der Station

Soft Skills

– Arbeiten im Team

– Kommunikation mit Patient/-innen und Angehörigen

Zunächst erst einmal ziemlich „überrumpelt“ mit den neuen Herausforderungen, die keinesfalls der „stumpfen“ Theorie aus der Schule glichen, nahm ich mir die Aufgabe meiner neuen Funktion und Tätigkeit der „puren Praxis“ zu Herzen. Eine morgendliche „Waschrunde“ für die hilfsbedürftigen Kranken, Vitalwerte erfassen, Mahlzeiten vorbereiten oder Betten beziehen waren die (Haupt-)Aufgaben, die meinen Tag vor allem im pflegerischen Bereich ausfüllten.

Doch genauso wurde mir zeitweise die Möglichkeit geboten, am OP-Tisch als 2. oder 3. Assistentin zu stehen (Abb. 1, 2), diversen Ultraschalluntersuchungen mehrerer Organ(system)e beizuwohnen und diese phasenweise intensiv zu verfolgen (oder) das Blut-Abnehmen zu erlernen; also Erfahrungen, die mir kein Buch so deutlich, kompetent, anschaulich und prägend nahebringen kann wie das menschliche hautnahe Erleben vor Ort/„bed side“, wie man es im Fachjargon ausdrückt.

Abb. 1: Situatives Foto der Erstautorin (links) aus dem Op-Saal mit einem Chirurgen

 

Abb. 2. Situatives Foto der Erstautorin vom Op-Tisch als Mitglied des Op-Teams (2. von links)

 

In diesen intensiven zwei Monaten verflog die anfänglich – ehrlich gesagt – mitschwingende recht geringe Lust, die dem Frühaufstehen geschuldet war, gänzlich, und der Tatendrang, Neues zu erleben, zu sehen und zu lernen, wuchs immens.

Neue Gesichter – ob bei medizinischen MitarbeiterInnen oder PatientInnen – und neue Geschichten gehörten zur Tagesordnung. Dabei bleibt es einem jedoch selbst überlassen, darin die Herausforderung zu erkennen oder eben die Chance zu sehen, sich dem täglichen Wechsel, den Anforderungen und Ansprüchen mit einem (hoch-)entwickelten Maß von klinischer Alltags- und Dienstkompetenz sowie adäquater pflegerischer Expertise auszusetzen gegenüber auch einer erkennbar manchmal drohenden Erreichung der Leistungsgrenze.

Determiniert sich erst einmal der Wille, diese herausfordernden Aspekte ernsthaft anzunehmen, lernt man, dass die Quintessenz der Arbeit in den Menschen selbst liegt – mit denen und für die man arbeitet. Sinn der Sache ist es, nicht stumpf geforderte Tätigkeiten zu übernehmen, sondern den Blick hinter die Fassade zu wagen, sich auf die/den Patient:in einzulassen. Zwischen „den Zugang finden“ und „einen Zugang legen“ liegt der Akt der Zwischenmenschlichkeit, der in einem solchen Beruf nicht zu kurz kommen darf. Alltag findet nur dann statt, wenn man zulässt, dass die Routine den Tag bestimmt. Doch wenn man dem Praktikum mit ständiger Neugierde entgegentritt, wird jedes Einzelne zur einzigartigen Erfahrung.

So war der primäre Teil in der Kardiologie vor allem durch pflegerische Einarbeitung gekennzeichnet. Dabei waren die pflegerischen Kolleg:innen großartig – sie „nahmen mich an die Hand“, zeigten mir manchen pflegerischen Kniff, aber auch einige tiefsinnige Hintergrundaspekte zu Patientenäußerungen und -verhalten.

In der Gefäßchirurgie war ich dann schon besser „gewappnet“ hinsichtlich der unzähligen auch kleinen Pflichten, die der (auch hilfs-)pflegerischen Ebene zukommen.

Beide Fachbereiche stellten einen gelungenen Einstieg in die Medizin dar,

  • einmal eher klinisch-konservativ in der Kardiologie, stark auf diagnostischen Maßnahmen fußend, mit teilweisen Interventionen („Herzkatheteruntersuchung“, „Herzklappenimplantation“), die ich fachlich nunmehr schon etwas besser verstehe;
  • andererseits eher operativ in der Gefäßchirurgie ausgerichtet mit einem der Operation anhängigen Maßnahmepaket („perioperative Patientenbetreuung“), wo neben der komplexen Patient:inneneinschätzung hinsichtlich der Operationseignung vor dem gefäßchirurgischen Eingriff („präoperativ“) sich eine ebenso intensive Anstrengung dem „postoperativen“ Verlauf (also nach dem gefäßchirurgischen Eingriff – zumeist in Vollnarkose bei teils schwerkranken PatientInnen hinsichtlich gefäßmedizinischer Krankheitsausprägung, Nebenerkrankungen und diversen Medikamenten) zur Patientengenesung und Komplikationserkennung und -beherrschung ärztlich und pflegerisch (Abb. 3) widmete.
Abb. 3: Pflegerische Tätigkeiten im berufsorientierenden Praktikum

 

Ich hatte so viele interessante Begegnungen und (Kurz-)Gespräche mit tatkräftigen Beschäftigten, ob Schwestern oder Pfleger, im täglichen Kontakt oder der emsigen Ärzteschaft, die in ihrem konzentrierten Tagwerk sich einer kurzen Konversation stellten oder einfach „herüberwinkten“.

Es waren sehr lehrreiche Tage und Wochen mit zahlreichen Einzel- und Detailerlebnissen und -eindrücken, die es erst einmal zu verarbeiten gilt, aber von deren auch erfüllenden Aspekten ich bestimmt noch eine Weile zehren werde.

Neben dem obligatorischen Part im Humanmedizinstudium ist ein derartiges hilfspflegerisch ausgerichtetes berufsorientierendes Praktikum auch durchaus im Vorfeld anderer Fachrichtungen sehr geeignet wie Gesundheitsökonomie/-management, öffentliche(s) Gesundheitswesen/-wirtschaft, Psychologie und Soziologie, aber auch allgemein lebens- und zukunftsorientierend im individuellen Selbstfindungsprozess oder im Rahmen des „Freiwilligen Sozialen Jahrs“.

Auf alle Fälle wurde sehr klar, welchem Zweck ein ausgiebiges Pflegepraktikum im Rahmen des Humanmedizinstudiums dient, den komplexen und kompletten klinisch-medizinischen Alltag schon früh im Studienablauf tiefgründig und nachhaltig zu erfahren als auch den Grundstein für eine adäquate interprofessionelle Zusammenarbeit auf Basis gegenseitigen Verstehens zu legen.

Das berufsorientierende Praktikum hat mir bestätigt was für eine großartige Arbeit Pflegekräfte und Ärztinnen und Ärzte täglich leisten, die Vorfreude auf den dritten Monat im Pflegepraktikum geweckt und mich in meiner Entscheidung, ein Humanmedizinstudium in Angriff zu nehmen, bestärkt.

Korrespondierende Autorin:

Katrin Maria Halloul

Medizinische Fakultät

Universität Hamburg

Prof. Dr. med. Frank Meyer

Medizinische Fakultät Universität Hamburg

Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie

Universitätsklinikum Magdeburg A. ö. R., Magdeburg

Chirurgie+

Halloul KM, Meyer F: Aspekte des berufsorientierenden Praktikums. Passion Chirurgie. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 04_02.

Begeistern Sie den Nachwuchs für die Chirurgie, mehr dazu auf der Webseite unserer Nachwuchskampagne „Nur Mut! Kein Durchschnittsjob: ChirurgIn“.

WEITER+BILDUNG – Willkommen zum Bundeskongress Chirurgie 2024 in Nürnberg!

Die medizinische Versorgung versinkt aktuell im Chaos! Kliniken und Praxen wissen nicht mehr, wie sie in Zukunft die Patientenversorgung sicherstellen sollen. Überall herrscht ein Mangel an ärztlichem wie medizinischem Fachpersonal, und die Politik ist richtungslos.

Die Rahmenbedingungen für eine hochwertige medizinische Versorgung ändern sich permanent. Investorengeführte MVZ übernehmen zunehmend die ambulanten Strukturen.

In den Kliniken sollen integrierte Notfallzentren entstehen, die das ärztliche Personal binden, während parallel dazu eine Verlagerung von stationären Leistungen in den ambulanten Sektor seitens der aktuellen Gesundheitspolitik angestrebt wird.

Diese Ausgangslage hat weitreichende Folgen für das gesamte Gesundheitswesen. Sie sorgt für eine hohe Ressourcenverschwendung und stellt gerade uns Niedergelassene vor unglaubliche Herausforderungen. Als Fachärztinnen und Fachärzte kämpfen wir nicht nur mit einer unzureichenden Finanzierung in der ambulanten Medizin. Wir müssen uns auch den Fragen stellen: Wie decken wir zukünftig den – für diese Versorgung notwendigen – Bedarf an Haus- und Fachärztinnen/Fachärzten? Und gestalten wir die Weiterbildung familienfreundlicher, so dass niemanden benachteiligt wird? Und wie stellen wir sicher, dass diese Nachwuchskräfte tatsächlich die Probleme der Patienten in den Praxen lösen können?

Eins ist sicher: Die ärztliche Weiterbildung muss dort stattfinden, wo ärztliche Eingriffe besonders häufig und gut gemacht werden. Das bedeutet: sie kann nicht mehr ausschließlich im stationären Sektor erfolgen! Viele grundlegende Fertigkeiten werden dort nicht mehr gelehrt. Das für die professionelle Patientenversorgung nötige Wissen kann nur noch im ambulanten Bereich erworben werden. Wir sind bereit für diese Herausforderung!

Allerdings können die Praxen die Lücken in der Weiterbildung nicht allein schließen. Die aktuelle Situation erfordert dringend einen Dialog und eine gemeinsame Lösungsfindung zwischen Politik, Kliniken, ambulanten Praxen und Weiterbildungsverantwortlichen. Der Bundeskongress Chirurgie 2024 in Nürnberg bietet die ideale Plattform, um das Thema ärztliche WEITER+BILDUNG zu diskutieren und gemeinsam Lösungsansätze zu entwickeln.

Wir freuen uns darauf, renommierte Experten, Vertreter der Politik, Ärztinnen/Ärzte und medizinisches Fachpersonal aus Kliniken und Praxen zusammenzubringen, um die Zukunft der Chirurgie und der ärztlichen Weiterbildung aktiv mitzugestalten. Seien Sie dabei und tragen Sie aktiv zu diesem wichtigen Diskurs bei.

Wir laden Sie herzlich ein, den Bundeskongress Chirurgie vom 23. bis 24. Februar 2024 in Nürnberg zu besuchen und gemeinsam die Weichen für eine zukunftsorientierte medizinische Versorgung zu stellen: https://www.bundeskongress-chirurgie.de/

Jan Henniger

Kongressleitung Bundeskongress Chirurgie

Dr. med. Frank Sinning

Kongressleitung Bundeskongress Chirurgie

Chirurgie+

Henniger J, Sinning F: WEITER+BILDUNG – Willkommen zum Bundeskongress Chirurgie 2024 in Nürnberg! Passion Chirurgie. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 04_03.

Mehr Themen für Niedergelassene finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Niederlassung.

Pflegenotstand überwinden – aber wie? Strategien zur Personalbindung

Der Beruf der Krankenschwester und des Krankenpflegers hatte immer ein äußerst hohes Ansehen bei Patienten und der Bevölkerung. Die Arbeit wurde immer gerne mit Hingabe und Empathie durchgeführt. Die Patienten oder pflegebedürftigen Menschen, die diese Hilfe benötigen, sehen diese Bedeutung nach wie vor uneingeschränkt und sind sehr dankbar für jeden Handgriff, Zuspruch oder Teilhabe. Dennoch kommt es zunehmend zur Unzufriedenheit und Abwanderung des Pflegepersonals. Was ist geschehen mit dem schönen und erfüllenden Beruf? Warum wenden immer mehr Pflegekräfte ihrer Tätigkeit den Rücken zu? Hier soll versucht werden, die Ursachen und die aktuelle Situation zu verstehen, um daraus Verbesserungsmöglichkeiten abzuleiten, die zu einer Rückkehr des Pflegepersonals in den Beruf führen könnten. Denn wir alle benötigen Pflegekräfte, ohne die auch die ärztliche Versorgung nahezu unmöglich wird.

Der Mangel an Pflegekräften und der Pflegenotstand sind bereits seit Langem bekannt. Seit der Coronapandemie hat sich die Situation noch deutlich verschärft. Ein Ende ist nicht in Sicht. Parallel zur Reduktion der Behandlungen kam es zu einer signifikanten Abwanderung von Pflegepersonal, was von den Kliniken teilweise begrüßt wurde, da Unterbelegungen der Kliniken offenbar als weniger schädlich als „unnötige“ Personalkosten erachtet wurden. Zumal wurde während der Coronazeit jedes freie Bett vergütet. Offenbar wurde nicht ausreichend über die Zeit nach der Pandemie reflektiert. Insbesondere gab es keine offensichtlichen Konzepte zur Reaktivierung des abgewanderten Pflegepersonals. Nun ist die Situation nicht mehr nur unerfreulich und belastend für arbeitende Pflegende und Ärzte, sondern es führt zu Behandlungsengpässen, die das Wohl der Patienten bedrohen. Nach dem Ende der Pandemie stiegen die Patientenzahlen zwar erneut an, doch müssen bis heute Betten, ganze Stationen und OP-Säle wegen Pflegemangels gesperrt bleiben. Das Problem ist offenbar aktueller als je zuvor. So berichten z.B. die Tagesschau und namhafte Zeitungen über den Notstand in der Pflege.

Die Fragen, die es zu beantworten gilt, sind folgende:

  • Wie hat sich der Pflegenotstand entwickelt und was ist der Grund der kontinuierlichen Abwanderung?
  • Wo sind die vielen abgewanderten Pflegekräfte jetzt?
  • Wie ist die Situation des Pflegenotstandes aktuell in Deutschland?
  • Wie sind die Zukunftsaussichten für die Pflegesituation in Deutschland?
  • Was können die Gesellschaft und wir Ärzte aktiv tun, um den Beruf der Pflege wieder so attraktiv zu machen, wie er einmal war? Wie motivieren wir Pflegekräfte, in den Beruf zurückzukehren?

Ursachen des Pflegenotstandes und Grund der weiteren Abwanderung

Die wichtigsten Ursachen des Pflegenotstandes sind der demographische Wandel, schlechte Arbeitsbedingungen, zu geringe Gehälter, der Einfluss von Zeitarbeitsfirmen, der Trend zur stationären Pflege und die Tatsache, dass mehr und mehr Angehörige ihre Pflegetätigkeit einstellen. Bereits 2011 wurde im Deutschen Ärzteblatt über die Unzufriedenheit der Pflegekräfte berichtet [1]. Die wesentlichen Faktoren dafür zeigt Tabelle 1.

Tab. 1: Faktoren, die über Abwanderung oder Verbleib des Pflegepersonals entscheiden [1].

Verdienstmöglichkeiten

Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben

Persönlicher Kontakt zu Patienten/Zeit für den Menschen,

Schichtbesetzung/Personaldecke

Wertschätzung von Leistung/Anerkennung durch Vorgesetzte

Stellenwert und Wertschätzung des Pflegepersonals im Krankenhaus – respektive Positionierung der Berufsgruppe Pflege in Entscheidungsgremien des Hauses.

Die Unzufriedenheit der Pflegekräfte wurde auch messbar. Sie ist im Zeitraum von 1990 bis 2012 um 7,5 % angestiegen, bei den Teilzeitpflegekräften lag der Zuwachs der Unzufriedenheit sogar bei 12,9 % [2]. Ein Zusammenhang zwischen Arbeitsaufwand und Auftreten eines Burnouts konnte festgestellt werden, was sich allerdings durch gute Arbeitsbedingungen, ein gutes Team und Anerkennung durch die Vorgesetzten verringern ließ [3]. Die Abwanderung von der Intensivstation hat ähnliche Gründe [4]. Die Perspektiven für die nächsten 10 Jahre werden insgesamt bis auf das Gefühl der Sicherheit des Arbeitsplatzes negativ oder eher negativ gesehen. Es kommt zudem zu einer zunehmenden Arbeitsverdichtung bei einer Zunahme der Pflegebedürftigen, die alleine von 2017 bis 2019 um 21 % gestiegen ist [5]. Zusätzliches Personal wurde nicht eingestellt, um diese Mehrbelastung zu kompensieren. Drei Viertel der Pflegerinnen und Pfleger rechnen nicht damit, bis zur Rente im Job zu bleiben [6]. Auch das in den letzten 10 Jahren um ein Drittel gestiegene Bruttoeinkommen, welches sogar über dem Durchschnitt in der Gesamtwirtschaft liegt, kann das Problem nicht aufhalten [7].

Wo sind die vielen abgewanderten Pflegekräfte jetzt?

Es gab eine messbare Abwanderung der Pflegekräfte, insbesondere aus den Krankenhäusern. Nach der Umfrage im Krankenhausbarometer des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) ist die Anzahl der fehlenden Pflegekräfte direkt proportional zur Klinikgröße und dies hat in den letzten 10 Jahren bis zur Verdopplung massiv zugenommen [8]. In den Pflegeheimen und der ambulanten Pflege kam es von 2019 bis 2021 zwar zu einem Zuwachs des Personals, jedoch arbeitet nur knapp ein Drittel in Vollzeit [7]. In diesen Bereichen ist der Anteil der Fachkräfte mit um die 50 % deutlich geringer als in den Krankenhäusern, in denen der Anteil bei 79 % liegt [9]. Insbesondere scheinen Fachkräfte den Beruf zu verlassen. Viele reduzieren die wöchentliche Arbeitszeit bei einer gleichzeitigen Zunahme des Bedarfs. Nach Informationen des Berufsverbandes der Präventologen bleiben in Deutschland Pflegekräfte nur 7,5 Jahre im Beruf. Bei einer Lebensarbeitszeit von mindestens 40 Jahren gibt es drei bis vier Mal so viele pflegekompetente Menschen in der Bevölkerung, als gegenwärtig tätig sind [10]. Zeitarbeit und die dadurch gewonnene Flexibilität bei besserer Vergütung scheint ein interessanter Trend zu sein, der verfolgt wird.

Weiterbildungen werden häufig in Anspruch genommen. Diese sind teilweise innerhalb der Pflege möglich – etwa zu einer Fachkraft für Anästhesie, Dialyse oder Endoskopie. Wer sich noch mehr weiterbilden möchte, kann im Sinne der Akademisierung der Pflege einen der differenzierten Studiengänge wie Pflegewissenschaften, Gesundheitswissenschaften und –management, psychiatrische Pflege und Palliativpflege, Pflegemanagement und Pflegepädagogik besuchen und absolvieren [11]. Die Akademisierung der Pflege scheint für viele Pflegekräfte eine interessante Alternative zu sein, jedoch führt dies auch zu Nachteilen bei den Führungsaufgaben. Es kommt es zur Distanzierung von den Pflegekräften, die dadurch häufig keine nachvollziehbare Führung, sondern eine Bevormundung verspüren. Maßnahmen werden von den Betroffenen nicht verstanden und die Konsequenz der Maßnahmen können durch die Distanz der Vorgesetzten nicht ausreichend eingeschätzt werden. Die Unzufriedenheit ist vorgezeichnet. Neben der Akademisierung werden weitere Möglichkeiten der Weiterbildung genutzt (s. Tab. 2) [12].

Tab. 2: Mögliche Alternativen zur regulären Pflege [12].

Führungspositionen in der Altenpflege

Fachkraft für Dialyse

Palliativbegleitung

Hilfe von der Agentur für Arbeit

Verwandte Berufsfelder

Verwaltung

Medizinische Fachangestellte (MFA)

Betriebliches Gesundheitsmanagement

Umschulungen

Physiotherapie

Notfallsanitäter

Ernährungsberatung/Diätassistenz

Selbstständigkeit

Wie ist die Situation des Pflegenotstandes aktuell in Deutschland?

Die Anzahl der Pflegekräfte ist im internationalen Vergleich deutlich zu gering. So betreut in Deutschland eine Pflegekraft 13 Patienten, hingegen werden in anderen europäischen Ländern deutlich weniger Patienten von einer Pflegekraft betreut. In den Niederlanden kommen auf eine Pflegekraft nur noch 6,9 Patienten, in USA sogar nur 5,3 [13].

Deutschland wird als Schlusslicht bezeichnet. Viele zusätzliche Pflegekräfte müssen in Deutschland eingestellt werden, um den Personalschlüssel anderer Länder zu erreichen. Um z. B. das Niveau von Norwegen zu erreichen, müssten in Deutschland 272.270 Pflegekräfte eingestellt werden [14].

Wie sind die Zukunftsaussichten für die Pflegesituation in Deutschland?

Der demografische Wandel führt zu einer starken Zunahme der über 65-Jährigen. Während es 2022 noch 22 % waren, wird der Anteil für das Jahr 2060 auf 31 % geschätzt. Von 2017 bis 2019 kam es zu einer Zunahme der Pflegebedürftigen von 21 % [15]. Bei einer Arbeitszeit bis zum 67. Lebensjahr geht der letzte Babyboomer im Jahr 2031 in Rente, sodass der Nachwuchs absehbar fehlen wird. Ohne eine drastische Veränderung wird es im Verlauf der nächsten zehn Jahre zu einem dramatischen Zustand kommen, der zu einer absoluten Minderversorgung auch schwer- und schwerstkranker sowie pflegebedürftiger Menschen führen wird.

Was können die Gesellschaft und wir Ärzte aktiv tun, um den Beruf der Pflege wieder so attraktiv zu machen, wie er einmal war? Wie motivieren wir Pflegekräfte, in den Beruf zurückzukehren?

Es bedarf mehrerer grundlegender Aufwertungen, um die Arbeitsbedingungen für die Pflegenden zu verbessern. Die wichtigsten Bedingungen für die Rückkehr der Pflegenden sind eine bedarfsgerechte Personalbemessung, wertschätzender und respektvoller Umgang, verbindliche Dienstpläne, vereinfachte Dokumentationsformen und angemessene Bezahlung, die insbesondere Fort- und Weiterbildungen anerkennt [16].

Nach einer bundesweiten Befragung bei 12.700 „Ausgestiegenen“ sowie teilzeitbeschäftigten Pflegekräften besteht ein hohes Potenzial für aufstockungswillige Teilzeitpflegekräfte sowie erstmals auch für Beschäftigte in der Pflege, die ihrem Beruf in den vergangenen Jahren den Rücken gekehrt haben und sich eine Rückkehr vorstellen können. Es besteht demnach ein Potenzial von 300.000 Pflegekräften in Vollzeit bei sehr vorsichtiger Kalkulation, in einem optimistischen Szenario sogar von bis zu 660.000 Vollzeitkräften. Dieses Potential sollte unbedingt genutzt werden.

Auch Ärzte können einen sehr großen Anteil dazu beitragen, die Attraktivität des Pflegeberufs zu erhöhen, denn die Pflegekräfte arbeiten in den meisten Einrichtungen ohnehin mit den Ärzten in einem Team zusammen. Im Operationssaal oder der Endoskopie wird gemeinsam auf engstem Raum über Stunden gearbeitet, sodass sich schließlich alle gut kennen und respektieren. Obwohl Ärzte Anordnungen treffen, die die Pflegenden ausführen, sind sie offiziell disziplinarisch der Pflege gegenüber nicht weisungsbefugt. Das sollte sie nicht vom Verantwortungsgefühl der Teambildung abhalten. In einem guten Team wird dann die Kritik in der Regel bilateral akzeptiert. Oftmals werden Ärzte als Teamleader mehr geschätzt als die eigenen Vorgesetzten, die nicht täglich vor Ort sind. Die allgemeinen Grundsätze der Personalführung stärken so die Motivation aller Beteiligten. Dazu gehören flache Hierarchien, gestärktes Teamgefühl, Mitarbeitergespräche, ein motivierendes Umfeld etc.

Von der politischen Seite sollte ein Umdenken erfolgen. Zum Beispiel führen die Strukturen in den skandinavischen Ländern dazu, dass die meisten Pflegekräfte bis zum Rentenalter im Beruf bleiben. Die Finanzierung in Schweden erfolgt über die Steuer und nicht über die Pflegeversicherung, wodurch mehr Geld für die Pflege vorhanden ist. Der Pflegeschlüssel in Schweden ist deutlich vorteilhafter als in Deutschland. Pflegekräfte müssen in Schweden studieren, die akademische Ausbildung zum Bachelor dauert mindestens drei Jahre, zusätzlich können ein Master und sogar eine Promotion absolviert werden. So wird eine hohe fachliche Qualität in der Pflege sichergestellt [17]. Hier scheint die Akademisierung einen positiven Effekt zu erreichen, denn sie betrifft alle und nicht nur einige Beschäftigte.

Konzepte, die Babyboomer Generation aktiv in die Pflege einzubeziehen, scheinen zumindest teilweise erfolgsversprechend. Der Berufsverband der Präventologen veröffentlichte Konzepte aus Norwegen, wo kommunale Einrichtungen über 40 Prozent der Heimeinweisungen durch Bewegung und neue Gemeinschaft verhindern. Hier bilden Nachbarschaftshilfe und menschliche Beziehungen eine wesentliche Stütze.

Die Opto Data Zukunftsstiftung schlägt Pflegekonzepte der Zukunft vor. Konzepte wie Pflegeappartement, Pflegeroboter, Pflege-WG, ECO-System (Expert Care Organization) und ein zweiter Beschäftigungsmarkt zielen darauf ab, die Älteren zur Selbsthilfe zu bewegen, aber auch Hilfe durch Erleichterungen zu erhalten [15].

Ausblick

Wir müssen sofort mit den Maßnahmen beginnen, die hier aufgeführt wurden. Ärzte, Pflegende und die Politik sind hier gleichermaßen gefordert, alles in ihrem jeweiligen Bereich zu tun, um die genannten motivierenden Faktoren auszuschöpfen, sodass die Pflegenden in den attraktiven Beruf zurückkehren. Als Ärzte können wir unmittelbar eingreifen und das Teamgefühl und damit die Motivation der Pflegenden stärken. Obwohl Ärzte nicht die disziplinarischen Vorgesetzten der Pflegekräfte sind, sollten sie eine Führungsrolle übernehmen. Auch eine engere Zusammenarbeit mit den Pflegedienstleitungen mit Mitspracherecht in Bezug auf die Personalplanung erscheint mir mehr als notwendig. Natürlich müssen die Politik und die Verwaltungen der Einrichtungen die genannten Bedingungen ebenfalls umsetzen. Bei deutlich positiven Veränderungen wird es uns gelingen, trotz zunehmenden Bedarfs den Pflegeberuf wieder zur verdienten Attraktivität zurückzuführen und den Mangel an Personal einzudämmen.

Literatur

[1]   Buxel H. Was Pflegekräfte unzufrieden macht. Dtsch Arztebl 2011; 108(17): A 946–8
[2]   Alameddine M, Bauer JM, Richter M et al. Trends in job satisfaction among German nurses from 1990 to 2012. J Health Serv Res Policy 2016, Apr;21(2):101-8.
[3]   Diehl E, Rieger S, Letzel S, et al. The relationship between workload and burnout among nurses: The buffering role of personal, social and organizational recources. PLoS One. 2021 Jan 22;16(1):
[4]   Khan N, Jackson D, Stayt L, Walthall H.Factors influencing nurses’ intentions to leave adult critical care settings. Nurs Crit Care. 2019 Jan;24(1):24-32
[5]   Opta data Zukunfts-Stiftung gGmbH 05.07.2022
[6]   Zeit online. Arbeitsbelastung in der Krankenpflege ist laut Umfrage gestiegen 2023
[7]   DeStatis, Statistisches Bundesamt. Pressemitteilung Nr. N026 vom 11. Mai 2022
[8]   DKI (= Deutsches Krankenhausinstitut), Krankenhausbarometer, Umfrage 2021
[9]   Bundesagentur für Arbeit 2021
[10] Berufsverband der Präventologen e.V. 2022
[11] Schöneck B. Welche alternativen Berufs-Perspektiven Pflegekräfte haben. Rechtsdepesche.de 3. Januar 2022
[12] Meier J. Raus aus der Pflege: Berufliche Alternativen. Medikarriere.de. 2021
[13] Hans Böckler Stiftung 2017
[14] Hans Böckler Stiftung 2019
[15] Druyen T et al. PflegeStudie. Opto Data Zukunftsstiftung 2022
[16] Auf einen Blick. Arbeitsbedingungen in der Pflege. Hans Böckler Stiftung 2022
[17] Hörner L. Gesundheitssystem in Schweden & Norwegen. Medirocket.de. 2022

Prof. Dr. med. Guido Schumacher

Chirurgische Klinik Brixen/Sterzing

Dantestraße 51

39042 Brixen (BZ)/Italien

guido_schumacher@gmx.de

Chirurgie

Schumacher G: Pflegenotstand überwinden – aber wie? Strategien zur Personalbindung. Passion Chirurgie. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 03_05.

Weitere Artikel zum Thema Pflegenotstand finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Politik | Sektorenübergreifend.