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Safety Clip: Early Warning Scores retten Leben – Systematische Erfassung und standardisierte Analyse von Vitalparametern führt zur prospektiven Verbesserung der Patientensicherheit

SYSTEMATISCHE ERFASSUNG UND STANDARDISIERTE ANALYSE VON VITALPARAMETERN FÜHRT ZUR PROSPEKTIVEN VERBESSERUNG DER PATIENTENSICHERHEIT

Die zentrale Aufgabe aller in der Patientenversorgung Tätigen besteht darin, Krankheiten zu heilen und Leiden zu lindern. Genauso wesentlich ist das Anliegen, akute, vital bedrohende Verschlechterungen des Patientenzustandes frühzeitig wahrzunehmen und ihnen effektiv und so rechtzeitig entgegenzuwirken, dass eine unmittelbare Lebensbedrohung vermieden und das eigentliche Therapieziel erreicht wird.

Dies hat mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum dazu geführt, dass entsprechend der Empfehlungen des European Reanimation Council (ERC) aus dem Jahr 2015 in Krankenhäusern die klassischen „Reanimationsteams“ durch „Medical Emergency Teams“ ersetzt werden, die bereits bei einer akuten Verschlechterung des Patientenzustandes alarmiert werden. Durch diese frühzeitige Intervention kann eine Verlegung in den Intensivbereich oder gar eine Reanimation in vielen Fällen vermieden werden.

In der Übersetzung des Deutschen Wiederbelebungsrates der 2015er ERC-Richtlinien zur Reanimation finden sich in der Empfehlung zu Medizinischen Notfallteams deutliche Verweise auf das Thema „Frühwarnsysteme“. Dort heißt es:

„Medizinische Notfallteams (MET) für Erwachsene. Wenn man die Überlebenskette des Kreislaufstillstands betrachtet, steht am Anfang die Früherkennung des zunehmend kritisch kranken Patienten und das Verhindern des Kreislaufstillstands. Wir empfehlen die Einführung eines MET, da damit niedrigere Zahlen von Atem-Kreislauf-Stillstand sowie höhere Überlebensraten verbunden sind. Das MET ist Teil eines Rapid-Response-Systems (RRS), das Mitarbeiterschulungen über die Symptome der Patientenverschlechterung, angemessenes und regelmäßiges Erheben der Vitalfunktionen der Patienten, klare Handlungsanweisungen (beispielsweise durch Alarmierungskriterien oder ein Frühwarnsystem) zur Unterstützung des Personals in der Früherkennung von sich verschlechternden Patienten, klare einheitliche Alarmierungswege für weitere Unterstützung und eine klinische Antwort auf solche ­Alarmierungen beinhaltet.“

Trotz der mittlerweile zunehmenden Umstellung der innerklinischen Notfallteams von primären „Reanimationsteams“ zu „medizinischen Notfallteams“ im Sinne eines MET besteht immer noch das Problem der Definition einer frühzeitigen „Alarmierungsschwelle“, der vorausschauenden Detektion einer unter Umständen nicht sofort wahrgenommenen oder „schleichenden“ Verschlechterung des Patientenzustandes. Die hierzu erforderliche konsequente und systematische Umsetzung einer Kriterien orientierten Krankenbeobachtung scheitert in vielen Krankenhäusern in den peripher-stationären Bereichen einerseits an der hierfür notwendigen angemessenen und qualifizierten personellen Ausstattung (insbesondere des Pflegedienstes) und andererseits an der konsequenten und systematischen Nutzung geeigneter Frühwarnsysteme.

Zwar werden beispielsweise in vielen operativen stationären Bereichen zur Überwachung von frisch operierten Patienten zeitweise sogenannte „Überwachungsblätter“ eingesetzt, auf denen Vitalparameter wie Puls, Blutdruck, Temperatur, gegebenenfalls Sauerstoffsättigung und Flüssigkeitsbilanz/Ausscheidung erfasst werden. Eine definierten Werten folgende Einschätzung des Patientenzustandes mit festgelegten Handlungsvorgaben für das hieraus resultierende Vorgehen gibt es häufig aber nicht. Die routinemäßige Nutzung von Early Warning Scores (EWS), die beispielsweise in den USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Großbritannien schon eine lange Tradition haben, steckt in deutschen Kliniken häufig noch in den Kinderschuhen.

Schulung des Personals besonders wichtig

In wissenschaftlichen Untersuchungen konnte die protektive Wirkung solcher Kriterien orientierter Frühwarnsysteme nachgewiesen werden, so dass beispielsweise bereits seit 2011 im National Health Service in Großbritannien der „Modified Early Warning Score“ (MEWS) beziehungsweise der National Early Warning Score (NEWS) verpflichtend eingesetzt werden.

Die Stiftung Patientensicherheit aus der Schweiz kommt in Ihren „Empfehlungen zur Einführung und zum Betreiben eines Frühwarnsystems zur Detektion sich unbemerkt verschlechternder erwachsener Patienten“ aus dem Jahr 2018 zu der Forderung, dass die Einführung eines Frühwarnsystems, wie zum Beispiel des „MEWS“, mit der Analyse und Adaptation der innerklinischen Strukturen und Prozesse verbunden sein muss. Dabei muss besonderer Wert auf die Schulung und Begleitung des Personals bei der Einführung gelegt werden. Zwar gehen die Empfehlung von einer Nutzung eines Early Warning Systems bei allen erwachsenen Patienten aus, doch bietet es sich in der Praxis möglicherweise eher an, ein Frühwarnsystem in einem ersten Schritt in besonderen Überwachungsbereichen (IMC- und Wachstationen) oder in spezifischen Hochrisikodisziplinen einzuführen.

Die systematische Erfassung der zu überwachenden Vitalparameter erzeugt fraglos einen erhöhten Zeit- bzw. Arbeitsaufwand insbesondere beim Pflegepersonal, der bei der Einführung zu berücksichtigen ist. Dem steht aber der Gewinn an unmittelbarer Patientensicherheit und die Reduktion des Aufwandes bei zu spät erkannten Verschlechterungen des Patientenzustandes entgegen. Die Abwägung spricht für die strukturierte und zeitnahe Einführung eines solchen Frühwarnsystems.

Potenziale der Digitalisierung nutzen

Zur Reduzierung des personellen Aufwandes kann die Einführung geeigneter elektronischer Patientenakten und die Koppelung technischer Messsysteme mit der patientenbezogenen Dokumentation beitragen. Damit ergibt sich gegebenenfalls auch die Möglichkeit, elektronische Entscheidungsunterstützungssysteme zu nutzen, die aus den erhobenen Parametern automatisiert den patientenspezifischen Score ermitteln und eine gezielte Reaktion vorschlagen beziehungsweise selbst initiieren – zum Beispiel die Alarmierung des Medical Emergency Teams.

Auch wenn hier die Möglichkeiten der Digitalisierung noch einige Entwicklungen erwarten lassen und einzelne Hersteller von klinischen Patientenüberwachungssystemen Early Warning Scores bereits in ihre Software integrieren, so gehören in ein medizinisches Frühwarnsystem unbedingt auch ergänzend die Intuition und das „Bauchgefühl“ des erfahrenen Personals. Diese Faktoren müssen jederzeit Berücksichtigung finden, auch wenn die erhobenen Einzelparameter gegebenenfalls im ersten Moment unauffällig wirken.

Fazit

Studien zeigen, dass durch die systematische Nutzung von validierten Frühwarnsystemen bei allen Patienten und durch den Einsatz von medizinischen Notfallteams (MET) die Anzahl der Reanimationen und der Notfallverlegungen in die Intensivmedizin signifikant reduziert werden kann. Wir sollten deshalb unsere Bemühungen vorantreiben, die Voraussetzungen für den durchgängigen Einsatz solcher Frühwarnsysteme zu schaffen und unsere Versorgungsstrukturen in der innerklinischen Notfallversorgung entsprechend adaptieren.

Literatur

  • Deutscher Rat für Wiederbelebung. Reanimation 2015 – Leitlinien kompakt. Ulm. 2015; 303.
  • Scottish Intercollegiate Guidelines Network (SIGN). Care of deteriorating patients. Edinburgh: SIGN; 2014.
  • Gao H, McDonell A, Harrison DA et al. Systematic review and evaluation of physiological track and trigger warning systems for identifying at-risk patients on the ward. Intensive Care Med. 2007; 33: 667-79.
  • Mathukia C, Fan W, Vadyak K et al. Modified early warning system improves patient safety and clinical outcomes in an academic community hospital. Journal of Community Hospital Internal Medicine Perspectives. 2015; 5: 26716.
  • Hammond NE, Spooner AJ, Barnett AG et al. The effect of implementing a modified early warning scoring (MEWS) system on the adequacy of vital sign documentation. Australian Critical Care. 2013; 26: 18-22.
  • Royal College of Physicians: National Early Warning Score (NEWS). Standardizing the assessment of acute illness severity in the NHS. London, RCP. 2012.
  • Stiftung Patientensicherheit Schweiz. Empfehlungen zur Einführung und zum Betreiben eines Frühwarnsystems zur Detektion sich unbemerkt verschlechternder erwachsener Patienten. Zürich. 2018.

Meilwes M: Safety Clip: Early Warning Scores retten Leben – Systematische Erfassung und standardisierte Analyse von Vitalparametern führt zur prospektiven Verbesserung der Patientensicherheit. Passion Chirurgie. 2021 November; 11(11): Artikel 04_03.

Safety Clip: Qualifizierte Ersteinschätzung in der Notaufnahme

Die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind zu Spitzenzeiten oft so stark mit Patienten „überlaufen“, dass mehrstündige Wartezeiten in Kauf genommen werden müssen. Stehen die diensthabenden ärztlichen und pflegerischen Mitarbeiter sowie die vorgehaltenen Behandlungsräume und Diagnostikeinrichtungen in einem dramatischen Missverhältnis zur großen Zahl der wartenden Patienten, führt dies nicht nur vermehrt zu Unzufriedenheiten, sondern birgt auch die Gefahr, dass unmittelbar vital gefährdete oder einer dringlichen Behandlung bedürfende Patienten zu spät versorgt werden. Unnötig manifestierte Körperschäden können die Folge sein oder vermeidbare Verlängerungen von Krankenhausbehandlungen. Im Einzelfall kann eine zu spät erfolgte Versorgung gar zum Tod des Patienten führen.

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Zudem ist es – wie auch vom Gesetzgeber gefordert – die Aufgabe eines Krankenhauses, die klinische Notfallversorgung so zu organisieren, dass Notfallpatienten bedarfsgerecht behandelt werden können. So fordert beispielsweise das Krankenhausgestaltungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen, alle Menschen, die eine medizinische Behandlung benötigen, adäquat zu versorgen (KHGG NRW 2015). Und gerade bei Notfällen bedeutet „adäquat“ nicht nur fachlich richtig, sondern auch zeitgerecht.

Um diese Anforderungen für Neuaufnahmen bzw. für von außen zugeführte Notfallpatienten bestmöglich umzusetzen, betreiben Krankenhäuser ihre Notaufnahmebereiche zunehmend interdisziplinär als Zentrale Notaufnahmen. Das „Gesetz zur Neuregelung des Krankenhausrechts“ des Landes Berlin vom 18.09.2011 fordert sogar ausdrücklich, dass die Ersteinschätzung der Patienten in der Notaufnahme zu erfolgen hat.

§ 27 Abs. 3 des geänderten Landeskrankenhausgesetzes besagt (Auszug): Krankenhäuser, die nach dem Krankenhausplan an der Notfallversorgung teilnehmen, müssen die im Krankenhausplan festgelegten Voraussetzungen erfüllen. Sie sind insbesondere verpflichtet, … 3. bei Notfallpatientinnen und -patienten eine Ersteinschätzung und -versorgung durchzuführen …“[12].

Bereits beim Erstkontakt mit einem Patienten in der Notaufnahme ist es daher dringend notwendig, dass die dort tätigen Mitarbeiter eine kriteriengestützte Triagierung der Patienten nach nachvollziehbaren Dringlichkeitsstufen vornehmen. Weil die ärztliche Triage in der Praxis wegen der mangelnden Verfügbarkeit ärztlicher Mitarbeiter in der Regel nicht durchgängig umsetzbar ist [11], haben sich – in der Regel symptomorientierte – Ersteinschätzungssysteme bewährt, die von besonders geschulten nicht-ärztlichen Mitarbeitern durchgeführt werden.

Die heutigen Ersteinschätzungssysteme arbeiten typischerweise mit drei bis fünf Stufen. Das American College of Emergency Physicians (ACEP) und die Emergency Nurses Association (ENA) empfehlen die Verwendung valider fünfstufiger Triage-/Ersteinschätzungssysteme [11]. Diese Empfehlung hat allgemein Akzeptanz gefunden.

Die international gängigsten fünfstufigen Systeme [2] sind die Australasian Triage Scale (ATS), die Canadian Triage and Acuity Scale (CTAS), der Cape Triage Score (CTS), das Manchester Triage System (MTS) und der Emergency Severity Index (ESI).

Die Australasian Triage Scale (ATS)

Im Jahr 2001 vom Australasian Collage of Emergency Medicine (ACEM) entwickelt, ist die ATS das erste fünfstufige Ersteinschätzungssystem, das maximale Zeitvorgaben bis zur Erstbehandlung des Patienten vorgibt. Es basiert auf der 1994 entwickelten und in Australien und Neuseeland im Gesundheitswesen verpflichtend eingesetzten National Triage Scale [14].

Wegen der starken „Individualisierung“ des Systems auf das jeweilige Krankenhaus ist die ATS sehr umfangreich und Vergleichbarkeiten sind deutlich eingeschränkt [5] In der Anwendung ist die Festlegung auf Verdachts- /Arbeitsdiagnosen erforderlich (man beachte den ärztlichen Diagnosevorbehalt). Die Australasian Triage Scale findet im deutschsprachigen Raum keine nennenswerte Anwendung.

Die Canadian Triage and Acuity Scale (CTAS)

Das auf der vorgenannten Australasian Triage Scale beruhende CTAS-System bietet dem ersteinschätzenden Mitarbeiter einen umfänglichen Katalog an Beschwerdebildern, die bestimmten Risikokategorien zuzuordnen sind [2]. In den Risikokategorien ist die zeitliche Dringlichkeit der Behandlung vorgegeben. Für die Einschätzung der Risikokategorie können zusätzlich Faktoren wie der Unfallmechanismus und die Vitalparameter (Blutdruck, Puls, Temperatur und Atmung) berücksichtigt werden [1].

Zugleich führt diese Ersteinschätzung zu einer Verdachtsdiagnose. Unter Berücksichtigung des in Deutschland gültigen ärztlichen Diagnosevorbehalts ist dieses System eher für eine ärztliche Triagierung geeignet [14] Für pädiatrische Erkrankungsbilder liegt ein eigener Katalog vor, die paedCTAS. Insgesamt spielt dieses System im deutschsprachigen Raum aber ebenfalls keine Rolle.

Der Cape Triage Score (CTS)

Die fünfstufige Ersteinschätzung erfolgt beim CTS auf Basis der Vitalparameter (Blutdruck, Puls, Temperatur, Bewusstseinsstadium, Atemfrequenz und Mobilität) sowie auf Vorgaben wie Symptomen, Schmerz, Unfallmechanismus und dem persönlichen Eindruck des Ersteinschätzenden, entsprechend geschulten Mitarbeiters [1]. Dieses Ersteinschätzungssystem ist in Afrika weit verbreitet. Im deutschsprachigen Raum findet es jedoch keine Anwendung.

Abb. 1: Übersicht der Dringlichkeitsstufen des MTS; OEBPS/images/ICON_link_3.pngQuelle

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Das Manchester Triage System (MTS)

Das MTS ist im deutschsprachigen Raum das derzeit am häufigsten genutzte Ersteinschätzungssystem in Notaufnahmen von Krankenhäusern. Es beruht auf der symptomorientierten Einschätzung des Patientenzustandes nach einheitlich vorgegebenen Algorithmen (Abb. 1).

Das 1995 in Manchester entwickelte System wurde vom National Health Service für ganz Großbritannien als einheitliches Ersteinschätzungssystem übernommen [13]. Heute wird das MTS nicht nur in Belgien, Deutschland, Irland, Spanien, Schweden und Spanien genutzt, sondern es ist auch in den Niederlanden und Portugal inzwischen landesweiter Standard [7].

Das MTS unterscheidet fünf Stufen, die eindeutig sprachlich definiert und je nach Dringlichkeit farbig kodiert sind. Für jede Dringlichkeitsstufe sind unterschiedliche Zeitvorgaben für den ärztlichen Erstkontakt festgelegt [10]. Das System ist wegen seiner klaren Vorgaben und eindeutigen Zuordnungen gut für eine Einbindung in die patientenbezogene Dokumentation und zur visualisierbaren Prozesssteuerung geeignet.

Die Algorithmen sind symptomorientiert in detaillierten Diagrammen aufgeführt [14], sodass eine gezielte „Abarbeitung“ möglich ist. Entsprechend geschulte nicht-ärztliche Mitarbeiter können so den vorliegenden Fall eindeutig der entsprechenden Dringlichkeitsstufe zuteilen. Die Mitarbeiter können zudem auf schriftliche Erklärungen zu den verschiedenen Indikatoren zurückgreifen. Aufgrund der nachvollziehbaren Vorgaben können Bewertungsdifferenzen gering gehalten werden (Abb. 2).

Abb. 2: Beispieldiagramm „Abdominelle Schmerzen beim Erwachsenen“; OEBPS/images/ICON_link_3.pngQuelle

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Mittlerweile liegen auch Erfahrungswerte über den erfolgreichen Einsatz des MTS im Bereich pädiatrischer Notaufnahmen vor [3].

Der Emergency Severity Index (ESI)

Das fünfstufige Ersteinschätzungssystem ESI wurde in den 1990er Jahren in den USA entwickelt. Einzigartig an diesem System ist, dass damit nicht nur die Behandlungsdringlichkeit, sondern auch der zu erwartende Ressourcenbedarf für die Behandlung eingeschätzt wird [4]. Nach dem MTS nimmt der ESI im deutschsprachigen Raum den zweiten Platz in der Nutzungshäufigkeit ein.

Da es bei diesem System keine vorgegebenen Symptom- oder Kriterienkataloge gibt, ist es unumgänglich, dass die ersteinschätzende Pflegekraft über Fachwissen und Erfahrung verfügt [9].

Für die dringlichsten Fälle vorgesehen sind, ähnlich wie beim MTS, die ersten beiden Entscheidungspunkte A und B (A = unmittelbare vitale Bedrohung: ärztliche Behandlung unmittelbar erforderlich; B = Hochrisikosituation: ärztliche Behandlung innerhalb von 10 Minuten erforderlich). So wird die zeitgerechte Versorgung unmittelbar vital bedrohter oder zeitkritisch betroffener Notfallpatienten sichergestellt. Ist der Patient kein dringender Fall – also weder Punkt A noch Punkt B zuzuordnen –, erfolgt, je nach Dringlichkeitsstufe C, D oder E, die Beurteilung der diagnostischen und therapeutischen Ressourcen, die der Patient für seine Versorgung benötigt [14].

Der ESI kann in die patientenbezogene Dokumentation integriert werden und ist besonders für die ressourcenorientierte Ablaufsteuerung geeignet. Dies sehen einige Kritiker auch als Schwachpunkt des Systems an, da hier auch Kriterien die Behandlungsdringlichkeit beeinflussen, die nicht primär medizinisch orientiert sind (Abb. 3).

Abb. 3: Entscheidungspunkte Emergency Severity Index; Quelle: Jörg Krey, Klinische Ersteinschätzung – Welche Systematik hilft? Auszug aus Folie 27 Vortrag DIVI-Kongress 2014

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Zusammenfassung aus Sicht des Risikomanagements

Eine systematische Ersteinschätzung, die qualifizierte Mitarbeiter beim Erstkontakt in der Notaufnahme auf Basis einheitlicher, wissenschaftlich anerkannter Vorgaben standardisiert vornehmen, ermöglicht eine sofortige Festlegung der Behandlungsdringlichkeit und eine patientenorientierte Steuerung der Ablauforganisation sowie des Ressourceneinsatzes.

Durch die Einbindung der Ersteinschätzung in die patientenbezogene Dokumentation kann der Nachweis einer angemessenen, den medizinischen Bedürfnissen des Patienten gerecht werdenden Versorgung auch retrospektiv geführt werden.

In verschiedenen Studien und empirischen Untersuchungen konnte sowohl für das Manchester Triage System als auch für den Emergency Severity Index eine gute bis sehr gute Reliabilität und Validität nachgewiesen werden. In Fällen, bei denen sich retrospektiv herausstellte, dass ein Patient falsch eingeschätzt wurde, zeigte sich in beiden der genannten Ersteinschätzungssysteme, dass die „Fehleinschätzung“ eher zu einer höheren Dringlichkeitseinstufung als erforderlich geführt hatte.

Im Sinne des Risikomanagements erweisen sich die Systeme daher gewissermaßen als „Sicherheitspuffer“, denn eine höhere Bewertung der Behandlungsdringlichkeit ist logischerweise weniger problematisch für den Patienten als eine zu niedrige Einstufung.

Erfahrungsberichte zeigen darüber hinaus, dass das systematische, medizinisch begründete – und auch Laien gegenüber darstellbare – Vorgehen das Verständnis für Wartezeigen bei Patienten, die als nicht so dringlich eingestuft werden, erhöhen kann. Zudem helfen die Systeme, Vorwürfen hinsichtlich einer Bevorzugung bestimmter Patienten aus nicht medizinischen Gründen argumentativ zu begegnen.

Durch die Einbeziehung der Ersteinschätzung und der Ablaufzeiten in die patientenbezogene Dokumentation steht zudem ein nachvollziehbarer und datengestützter Nachweis der tatsächlichen Abläufe zur Verfügung.

Entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung der genannten Ersteinschätzungssysteme ist es, dass nicht nur die ersteinschätzenden nicht-ärztlichen Mitarbeiter entsprechend qualifiziert und geschult werden, sondern alle in dem Bereich Tätigen (inkl. „Schnittstellenpartner“ wie z. B. Mitarbeiter in der Radiologie, der Labormedizin oder der weiterversorgenden Bereiche).

Zur kontinuierlichen Verbesserung des MTS- oder ESI-Systems sollte der Umsetzungsgrad kontinuierlich datengestützt evaluiert werden. Um die Qualität der Behandlungen retrospektiv nachvollziehen – und bei Bedarf nachbessern – zu können, ist u. a. zu prüfen, inwieweit die im jeweiligen System vorgegebenen Prozesszeiten bis zum ersten qualifizierten Arztkontakt eingehalten werden und in welchem Umfang die Dringlichkeitseinschätzungen im Evaluationszeitraum korrekt waren. Des Weiteren sollte die Dokumentation regelmäßig auf Vollständigkeit hin überprüft werden.

In der Praxis zeigt sich, dass Patienten der ersten beiden Dringlichkeitsstufen im MTS und ESI in der Regel gut und zeitgerecht versorgt werden. Für Patienten jedoch, deren Behandlung als weniger dringlich eingestuft wird, verlängern sich die Wartezeiten zum Teil erheblich – vor allem, wenn in „Spitzenzeiten“ besonders viele dringende Fälle behandelt werden müssen.

Um dem Problem zu begegnen, sind in den Ersteinschätzungssystemen Kontroll- und Folgeeinschätzungen vorgesehen. Aufgrund der gerade bei Spitzenbelastung angespannten Personalsituation unterbleiben diese jedoch häufig.

Doch der Zustand eines Patienten ist – auch bei weniger dringenden Fällen – niemals statisch. Trotz qualifizierter und umfassender Ersteinschätzung kann eine Verschlechterung nicht ausgeschlossen werden. Auch Fehleinschätzungen sind in Einzelfällen möglich. Aus Sicht des Risikomanagements ist es daher ausdrücklich zu empfehlen, die Vorgabe der Kontroll- und Folgeeinschätzungen tatsächlich einzuhalten und dies entsprechend zu dokumentieren.

Die Implementierung von Ersteinschätzungsystemen muss mit dem vorliegenden bzw. geplanten Gesamtkonzept der Notaufnahme kompatibel sein. Zu berücksichtigen sind Parameter wie Räumlichkeiten, personelle und apparative Ausstattung, das Vorhandensein oder Fehlen disziplinübergreifender Kapazitäten, das Bestehen einer eigenen Leitungsstruktur oder die Zuordnung zu den „klassischen“ Fachdisziplinen, das Vorhandensein oder Fehlen einer Aufnahmestation, das Bestehen oder Nicht-Bestehen einer Anbindung an die weiterversorgenden Bereiche usw.

Insgesamt sind Ersteinschätzungssysteme als risikoadjustierte Steuerungsinstrumente der Behandlung in einem immer selbstständiger werdenden wichtigen Versorgungsbereich eines Krankenhauses zu verstehen – und ausdrücklich zu empfehlen.

Literatur

[1] Bonk A., Siebert H., Seekamp A., Hoffmann R. (2009). „Triage-Systeme in der Zentralen Notfallaufnahme“; Der Unfallchirurg 2009. Heft 112, 445-454. Berlin: Springer Medizin.

[2] Christ M., Grossmann F.F., Winter D., Bingisser R., Platz E. (2010). „Triage in der Notaufnahme-Moderne, evidenzbasierte Ersteinschätzung der Behandlungsdringlichkeit“. Deutsches Ärzteblatt, Jg.107, Heft 50, 8-11, 281-283.

[3] Greber-Platzer S., Fischmeister G., Eibler W. (2012). „Ersteinschätzung in der Kindernotfallambulanz nach dem Manchester Triage System“. Kinder- und Jugendmedizin 2012 Heft 5, 300-306, Verlag Schattauer, Stuttgart.

[4] Grossmann F.F., Delport K., Keller D.I. (2009). „Emergency Severity Index Deutsche Übersetzung eines validen Triageinstruments“. Notfall+Rettungsmedizin 2009 Heft 12, 290-292. Berlin: Springer.

[5] Hilt H. (2013). „Triage in der Notaufnahme Qual oder Qualität“. Trauma und Berufskrankheit 2013. Heft 15, 164-169. Berlin: Springer.

[6] KHGG NRW (2015). Krankenhausgestaltungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (Stand: 01.04.2015).

[7] Krey J. (2005). „Ersteinschätzung in der Notaufnahme, Triage im klinischen Bereich als Instrument zur Festlegung der Behandlungsreihenfolge“. Die Schwester Der Pfleger 2005. Heft 8, 590-595. Melsungen: Bibliomed-Medizinische Verlagsgesellschaft mbH.

[8] Krey J. (2007). „Triage durch Pflegekräfte in der ZNA Anregung zur Übertragung internationaler Erfahrungen“. Notfall+Rettungsmedizin 2007. Heft 10, 329-335. Berlin: Springer.

[9] Krey J. (2010). Emergency Severity Index, über: http://www.ersteinschaetzung.de/content/emergency-severity-index (Stand: 18.05.2015, 09:04 Uhr)

[10] Mackway-Jones K., Marsden J., Windle J. (2006). Ersteinschätzung in der Notaufnahme Das Machester-Triage-System. Bern: Verlag Hans Huber.

[11] Schellein O., Ludwig-Pistor F., Bremerich D.H. (2009). „Machester Triage System Prozessoptimierung in der interdisziplinären Notaufnahme“. Der Anaesthesist 2009. Heft 58, 163-170. Berlin: Springer Medizin.

[12] Senatsverwaltung für Justiz Berlin (2011). Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin, 67. Jahrgang Nr. 25 30. September 2011, über: http://www.berlin.de/imperia/md/content/senatsverwaltungen/justiz/gesetz-undverordnungsblatt2011/ausgabe_nr._25_v._30.9.2011_seite__481_ bis_496.pdf?start&ts=1423057975&file=ausgabe_nr._25_v._30.9.2011_seite__481_bis_496.pdf (Stand: 27.04.2015, 08:33 Uhr).

[13] van Veen M., Moll H.A. (2009). „Reliability and validity of triage systems in paediatric emergency care“. Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine 2009. Berlin: Springer.

[14] Weyrich P., Christ M., Celebi N., Riessen R. (2012). „Triage in der Notaufnahme“ Medizinische Klinik-Intensivmedizin und Notfallmedizin 2012. Heft 107, 67-79. Berlin: Springer.

Meilwes M. Safety Clip: Qualifizierte Ersteinschätzung in der Notaufnahme. Passion Chirurgie. 2015 September; 5(09): Artikel 03_03.

Safety Clip: Der Patient mit Gips hat immer Recht

„Der Patient mit Gips hat immer Recht“, lautet ein Merksatz in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie zum Thema „Fixierende Verbände“ (DGU, 1999).

Ein bemerkenswerter Satz, doch was genau bedeutet er?

Der Patient sagt das Rechte/Richtige, macht die richtigen Angaben bzgl. seiner Beschwerden oder Missempfindungen?

Der Patient hat ein Anrecht auf eine gute und genaue Diagnostik, Aufklärung, Therapie und Versorgung?

Der Patient hat ein Recht darauf, dass seine Interessen ausreichend geschützt werden?

Alle drei Interpretationen sind zutreffend, denn der Merksatz überschreibt in der DGU-Leitlinie das Kapitel „Komplikationsvermeidung“ bei der Verwendung so genannter „fixierender Verbände“, zu denen auch Hartverbände (Gipsverbände) gehören. Denn auch bei dieser Behandlungsform, die bei verschiedenen Indikationen zum Einsatz kommt, können Nebenwirkungen wie z.B. Druckschäden, Thrombosen oder das Einsteifen von Gelenken etc. auftreten.

Indikationen für „fixierende Verbände“ (DGU, 1999)

  • konservative Frakturbehandlung,
  • schwere Prellung und Gelenkdistorsion,
  • konservative und postoperative Behandlung von Luxationen, Band- und Sehnenverletzungen,
  • Muskelverletzungen,
  • prä- und postoperative, kurzfristige Ruhigstellung bei stabilen Frakturen zur Linderung des Wundschmerzes bzw. zur Verbesserung der Wundheilung,
  • Ruhigstellung von nicht belastungsstabilen Osteosynthesen,
  • adjuvante Ruhigstellung bei bakteriellen Infekten und aseptischen Reizzuständen der Extremitäten,
  • Paresen (Peronäus-, Radialisparese),
  • Dehnungstherapie von Gelenken (Quengelbehandlung),
  • fehlendes Therapieverständnis des Patienten (Compliance).

Risiken und Komplikationen

Lokale Risiken sind:

  • Hautveränderungen (Drucknekrose),
  • Nervenausfälle (z.B. N. peronaeus, N. ulnaris, Ram. superficialis des N. radialis),
  • Schwellung (Lymphumlaufstörung),
  • Fensterödem,
  • Durchblutungsstörung,
  • Kompartmentsyndrom,
  • Veränderung der Fragmentstellung,
  • Sekundäre Reluxation von Gelenken,
  • Gelenksteife und Muskelkontraktur,
  • Verbanddislokation,
  • Bruch des Stützverbandes,
  • Überlastungsreaktion durch Gehstützen,
  • Schmerzen an angrenzenden Gelenken durch Fehlhaltung.

Generelle Risiken sind:

  • Thrombose und Embolie,
  • Reflexdystrophiesyndrom,
  • Muskelatrophie,
  • Knochenentkalkung,
  • Rückenschmerzen durch relative Beinlängendifferenz,
  • Nacken-Arm-Schmerzsyndrom durch Muskeldysbalance.

Komplikationsvermeidung

Um die oben genannten Komplikationen zu vermeiden, rät die DGU in ihren Leitlinien den Behandlern, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Im Vorfeld der Behandlung ist zunächst eine umfassende Aufklärung des Patienten (evtl. mit Merkblatt) unumgänglich.

Beim Eingipsen der verletzten Gliedmaße sollten gefährdete Nervenverläufe (Druckpunkte) beachtet werden. Bei frischen Verletzungen und Schwellungszuständen sind alle Verbandsschichten vollständig zu spalten. Mit einer Röntgenuntersuchung im Gips lässt sich die Stellung von Fraktur und Luxation kontrollieren.

Die Ruhigstellung sollte möglichst nur kurzzeitig erfolgen, auf einen Gehverband sollte frühzeitig umgestellt werden. Ebenso sollten die Gelenke so früh wie möglich wieder freigegeben werden. Bewegungsübungen während und nach der Behandlung helfen, die betroffene Gliedmaße bald wieder funktionsfähig zu machen. Je nach Risikoeinschätzung ist eine Thromboseprophylaxe empfehlenswert.

Wird die in den DGU-Leitlinien empfohlene Vorgehensweise eingehalten, kann das Komplikationsrisiko drastisch gesenkt werden. Dennoch kommt es in der Praxis immer wieder auch zu Schadensfällen.

Schadensfälle

Eine Auswertung von Schadensfällen im Zusammenhang mit Gipsverbänden führt zu einem interessanten Ergebnis: Die „therapeutische Beratung“ der Patienten erfolgt zwar regelhaft und systematisch, ist aber häufig nicht ausreichend und nachvollziehbar dokumentiert. Unter „therapeutische Beratung“ ist die Aufklärung des Patienten darüber zu verstehen, wie er selbst durch seine eigenen Verhaltensweisen den Therapieerfolg sichern kann.

In der Praxis kommen im Zusammenhang mit Gipsverbänden in vielen Krankenhäusern und Arztpraxen so genannte „Gipsmerkblätter“ zum Einsatz, die dem Patienten ergänzend zur mündlichen Aufklärung ausgehändigt werden. Die Merkblätter weisen den Patienten, häufig unterstützt durch bildliche Darstellungen, darauf hin, welche Vorsichtsmaßnahmen er berücksichtigen muss und bei welchen Veränderungen er unmittelbar den behandelnden Arzt/das Krankenhaus aufzusuchen hat. Somit sind Schäden, die der Patient selber vermeiden kann (sofern er über die körperlichen und geistigen Fähigkeiten verfügt), eher selten.

In der Schadenauswertung zu finden sind hingegen Schäden, die entstehen durch

  • fachliche Fehler, wie Fehlstellung oder Nichteinhaltung der lokalen Grenzen des Verbandes,
  • Unfälle während der Mobilisation der Patienten,
  • Übersehen multipler Frakturen,
  • zu kurz oder zu lang bemessene Behandlungsdauer.

Diese Erkenntnisse ergeben sich vor allen Dingen aus der Analyse der von uns bearbeiteten Schadenfälle.

Beispiel 1: Nach der operativen Versorgung einer Strecksehnendurchtrennung des rechten Zeigefingers kam es beim Patienten zu einem postoperativen Nahtriss, welcher u. a. auf einen Mangel an Sorgfalt beim Anlegen der dorsalen Gipsschiene zurückzuführen war. Das Risiko eines Risses der Sehnennaht wurde durch das fehlerhafte Anlegen deutlich erhöht. Ein Revisionseingriff wurde notwendig.

Beispiel 2: Die multiple Unterarmfraktur eines Patienten wurde mittels Gipsschiene ambulant behandelt. Nach der Entfernung des Gipsverbandes kam es zum Sturz des Patienten, der zu einer erneuten multiplen Unterarmfraktur führte. Laut Gutachter war zwar die Entscheidung der Ärzte, die erste Fraktur konservativ zu behandeln, vertretbar. Allerdings sei die nur 13-tägige Anlage der Gipsschiene zu kurz bemessen gewesen. Die Schiene hätte vier Wochen getragen werden müssen.

Beispiel 3: Im Zuge der ambulanten Erstbehandlung wurde bei einer Patientin eine Luxation der linken Großzehe übersehen. Daher wurde die Zehe auch nicht wieder eingerichtet. Die diagnostizierte Mittelfußfraktur wurde mit einer Gipsschiene fixiert. Diese verursachte erhebliche Schmerzen an der betroffenen Zehe, was in der Folgezeit zu einer Versteifung des Zehengelenks führte. Nach zwei externen Operationen – zuletzt einer Arthrodese im Tarsometatarsalgelenk MT I mit einer kleinen Fragmentplatte – leidet die Patientin unter erheblichen Schmerzen und einer massiven Bewegungseinschränkung des linken Fußes beim Laufen und Stehen.

Beispiel 4: Eine nicht erkannte Ellenbogenfraktur führte zu einem eingeklemmten N. radialis. Dadurch erlitt der Patient, ein Kind, eine „Fallhand“. Die Untersuchung und Diagnosestellung war durch eine ADHS des Kindes erschwert. Es wurde ein oberarmlanger Gipsverband angelegt. Mit einem kurzen Armgips wäre die Fraktur aus Gutachtersicht nicht übersehen worden.

Beispiel 5: Der Patient war wegen einer Ellenbogenprellung mehrfach ambulant im Krankenhaus vorstellig. Der Arm des Patienten wurde zur Schmerztherapie mit einer Oberarmgipsschiene über einen längeren Zeitraum ruhiggestellt. Diese längerfristige Ruhigstellung machte anschließend eine schmerzhafte krankengymnastische Behandlung erforderlich.

Risikomanagement

Mit einer Inzidenz von deutlich unter einem Prozent zu insgesamt über 21.500 Anspruchsstellungen in der Unfallchirurgie und 11.500 Anspruchsstellungen in der Orthopädie erscheint die Anzahl der schweren Schadenfälle (Schadenaufwendungen über 5.000 €), die im unmittelbaren Zusammenhang mit Gipsverbänden auftreten, sehr gering. Gleichwohl müssen alle Bestrebungen unternommen werden, Schäden, die im Kontext der Versorgung von Patienten mit Gipsverbänden stehen, möglichst vollständig zu vermeiden.

Wichtiger Orientierungspunkt zur Schadenvermeidung ist die Leitlinie der Fachgesellschaft zu „Fixierende Verbände“ (derzeit in Überarbeitung).

Die Gewährleistung des Facharztstandards bei der Indikationsstellung, die richtige Auswahl und Anpassung des Gipsverbandes und die kompetente ärztliche Kontrolle des Gipsverbandes unmittelbar nach Anlage sind unter Berücksichtigung unserer Schadendatenauswertung die wesentlichen Ansatzpunkte zur Vermeidung relevanter Schäden.

Zudem zeigt sich in den ausgewerteten Schadenfällen die Bedeutung der Aufklärung und Dokumentation, nicht nur über Risiken und Komplikationen, sondern auch grundsätzlich über Diagnose und Therapie – zur notwendigen Nachvollziehbarkeit der Behandlungsabläufe. Denn häufig werden Komplikationen, auf die der Arzt zwar mündlich hingewiesen hat, die dann aber aufgrund mangelnder Mitarbeit des Patienten (Compliance) zum Schaden führen, nachträglich als Diagnostik- oder Behandlungsfehler der Behandlerseite deklariert, da keine ausreichende Dokumentation der Versorgung und Aufklärung des Patienten vorliegt.

Eine nachvollziehbare und strukturierte Dokumentation im Zusammenhang mit der Versorgung von Patienten mit „fixierenden Verbänden“ ist zum Schutz der Handelnden vor unberechtigten Anspruchsstellungen unbedingt zu empfehlen. Beispielsweise sollten Kontrollen oder Repositionen mit Hilfe von Bildwandlern immer durch Prints dokumentiert und ggf. von einem zweiten Arzt bestätigt werden.

Präventionsmaßnahmen

Zum Abschluss folgen einige geeignete Präventionsmaßnahmen, die Risikoberater im Zusammenhang mit dem Thema „Fixierende Verbände“ empfehlen:

  • Für häufig wiederkehrende Therapieformen (hier Versorgung mit „fixierenden Verbänden“) sind Behandlungsleitlinien formuliert und stehen allen an der Behandlung Beteiligten zur Verfügung (z. B. im Intranet).
  • Abteilungsintern definierte Therapieleitlinien und Behandlungspfade berücksichtigen die Leitlinien der jeweiligen medizinischen Fachgesellschaft.
  • Die radiologischen Befunde werden nach einem verlässlichen System zeitnah und im Vier-Augen-Prinzip beurteilt.
  • In der Frakturdiagnostik gibt es klare Hinzuziehungsregelungen, die bei unklaren Befunden eine sofortige fachärztliche Begutachtung sicherstellen.
  • Gipsverbände werden nach dem Anlegen durch eine Pflegeperson immer von einem kompetenten Arzt kontrolliert. Die Durchführung der Kontrolle wird mit Handzeichenvermerk in der patientenbezogenen Dokumentation notiert.
  • Bei Verletzungen (Prellung, Wunde, Bruch) wird die Sensibilität, die Durchblutung und die Beweglichkeit immer dokumentiert.
  • Über die erforderlichen Weiterbehandlungs- und Vorsichtsmaßnahmen wird der Patient mündlich (ggf. ergänzend auch schriftlich, z. B. via „Gipsmerkblatt“) informiert und nachvollziehbar (dokumentiert) aufgeklärt. Falls erforderlich, sind auch die Angehörigen des Patienten zu informieren.
  • Patienten, die mit fixierenden Verbänden versorgt wurden, erhalten vom Arzt eine entsprechende „therapeutische Beratung“ und ggf. zusätzlich ein Infoblatt mit Verhaltensregeln (z. B. „Gipsmerkblatt“).
  • Die Durchführung der „therapeutischen Beratung“ wird in der patientenbezogenen Dokumentation festgehalten.
  • Die Kenntnisse der Mitarbeiter werden durch Schulungen regelmäßig vertieft (z. B. Gipsen, Verbandstechniken).

Literatur:

DGU (1999): DGU, Fixierende Verbände, Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie, 1999 (derzeit in Überarbeitung)

Meilwes M. Safety Clip: Der Patient mit Gips hat immer Recht. Passion Chirurgie. 2011 August; 1(8): Artikel 03_04.