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„Der Patient mit Gips hat immer Recht“, lautet ein Merksatz in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie zum Thema „Fixierende Verbände“ (DGU, 1999).

Ein bemerkenswerter Satz, doch was genau bedeutet er?

Der Patient sagt das Rechte/Richtige, macht die richtigen Angaben bzgl. seiner Beschwerden oder Missempfindungen?

Der Patient hat ein Anrecht auf eine gute und genaue Diagnostik, Aufklärung, Therapie und Versorgung?

Der Patient hat ein Recht darauf, dass seine Interessen ausreichend geschützt werden?

Alle drei Interpretationen sind zutreffend, denn der Merksatz überschreibt in der DGU-Leitlinie das Kapitel „Komplikationsvermeidung“ bei der Verwendung so genannter „fixierender Verbände“, zu denen auch Hartverbände (Gipsverbände) gehören. Denn auch bei dieser Behandlungsform, die bei verschiedenen Indikationen zum Einsatz kommt, können Nebenwirkungen wie z.B. Druckschäden, Thrombosen oder das Einsteifen von Gelenken etc. auftreten.

Indikationen für „fixierende Verbände“ (DGU, 1999)

  • konservative Frakturbehandlung,
  • schwere Prellung und Gelenkdistorsion,
  • konservative und postoperative Behandlung von Luxationen, Band- und Sehnenverletzungen,
  • Muskelverletzungen,
  • prä- und postoperative, kurzfristige Ruhigstellung bei stabilen Frakturen zur Linderung des Wundschmerzes bzw. zur Verbesserung der Wundheilung,
  • Ruhigstellung von nicht belastungsstabilen Osteosynthesen,
  • adjuvante Ruhigstellung bei bakteriellen Infekten und aseptischen Reizzuständen der Extremitäten,
  • Paresen (Peronäus-, Radialisparese),
  • Dehnungstherapie von Gelenken (Quengelbehandlung),
  • fehlendes Therapieverständnis des Patienten (Compliance).

Risiken und Komplikationen

Lokale Risiken sind:

  • Hautveränderungen (Drucknekrose),
  • Nervenausfälle (z.B. N. peronaeus, N. ulnaris, Ram. superficialis des N. radialis),
  • Schwellung (Lymphumlaufstörung),
  • Fensterödem,
  • Durchblutungsstörung,
  • Kompartmentsyndrom,
  • Veränderung der Fragmentstellung,
  • Sekundäre Reluxation von Gelenken,
  • Gelenksteife und Muskelkontraktur,
  • Verbanddislokation,
  • Bruch des Stützverbandes,
  • Überlastungsreaktion durch Gehstützen,
  • Schmerzen an angrenzenden Gelenken durch Fehlhaltung.

Generelle Risiken sind:

  • Thrombose und Embolie,
  • Reflexdystrophiesyndrom,
  • Muskelatrophie,
  • Knochenentkalkung,
  • Rückenschmerzen durch relative Beinlängendifferenz,
  • Nacken-Arm-Schmerzsyndrom durch Muskeldysbalance.

Komplikationsvermeidung

Um die oben genannten Komplikationen zu vermeiden, rät die DGU in ihren Leitlinien den Behandlern, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Im Vorfeld der Behandlung ist zunächst eine umfassende Aufklärung des Patienten (evtl. mit Merkblatt) unumgänglich.

Beim Eingipsen der verletzten Gliedmaße sollten gefährdete Nervenverläufe (Druckpunkte) beachtet werden. Bei frischen Verletzungen und Schwellungszuständen sind alle Verbandsschichten vollständig zu spalten. Mit einer Röntgenuntersuchung im Gips lässt sich die Stellung von Fraktur und Luxation kontrollieren.

Die Ruhigstellung sollte möglichst nur kurzzeitig erfolgen, auf einen Gehverband sollte frühzeitig umgestellt werden. Ebenso sollten die Gelenke so früh wie möglich wieder freigegeben werden. Bewegungsübungen während und nach der Behandlung helfen, die betroffene Gliedmaße bald wieder funktionsfähig zu machen. Je nach Risikoeinschätzung ist eine Thromboseprophylaxe empfehlenswert.

Wird die in den DGU-Leitlinien empfohlene Vorgehensweise eingehalten, kann das Komplikationsrisiko drastisch gesenkt werden. Dennoch kommt es in der Praxis immer wieder auch zu Schadensfällen.

Schadensfälle

Eine Auswertung von Schadensfällen im Zusammenhang mit Gipsverbänden führt zu einem interessanten Ergebnis: Die „therapeutische Beratung“ der Patienten erfolgt zwar regelhaft und systematisch, ist aber häufig nicht ausreichend und nachvollziehbar dokumentiert. Unter „therapeutische Beratung“ ist die Aufklärung des Patienten darüber zu verstehen, wie er selbst durch seine eigenen Verhaltensweisen den Therapieerfolg sichern kann.

In der Praxis kommen im Zusammenhang mit Gipsverbänden in vielen Krankenhäusern und Arztpraxen so genannte „Gipsmerkblätter“ zum Einsatz, die dem Patienten ergänzend zur mündlichen Aufklärung ausgehändigt werden. Die Merkblätter weisen den Patienten, häufig unterstützt durch bildliche Darstellungen, darauf hin, welche Vorsichtsmaßnahmen er berücksichtigen muss und bei welchen Veränderungen er unmittelbar den behandelnden Arzt/das Krankenhaus aufzusuchen hat. Somit sind Schäden, die der Patient selber vermeiden kann (sofern er über die körperlichen und geistigen Fähigkeiten verfügt), eher selten.

In der Schadenauswertung zu finden sind hingegen Schäden, die entstehen durch

  • fachliche Fehler, wie Fehlstellung oder Nichteinhaltung der lokalen Grenzen des Verbandes,
  • Unfälle während der Mobilisation der Patienten,
  • Übersehen multipler Frakturen,
  • zu kurz oder zu lang bemessene Behandlungsdauer.

Diese Erkenntnisse ergeben sich vor allen Dingen aus der Analyse der von uns bearbeiteten Schadenfälle.

Beispiel 1: Nach der operativen Versorgung einer Strecksehnendurchtrennung des rechten Zeigefingers kam es beim Patienten zu einem postoperativen Nahtriss, welcher u. a. auf einen Mangel an Sorgfalt beim Anlegen der dorsalen Gipsschiene zurückzuführen war. Das Risiko eines Risses der Sehnennaht wurde durch das fehlerhafte Anlegen deutlich erhöht. Ein Revisionseingriff wurde notwendig.

Beispiel 2: Die multiple Unterarmfraktur eines Patienten wurde mittels Gipsschiene ambulant behandelt. Nach der Entfernung des Gipsverbandes kam es zum Sturz des Patienten, der zu einer erneuten multiplen Unterarmfraktur führte. Laut Gutachter war zwar die Entscheidung der Ärzte, die erste Fraktur konservativ zu behandeln, vertretbar. Allerdings sei die nur 13-tägige Anlage der Gipsschiene zu kurz bemessen gewesen. Die Schiene hätte vier Wochen getragen werden müssen.

Beispiel 3: Im Zuge der ambulanten Erstbehandlung wurde bei einer Patientin eine Luxation der linken Großzehe übersehen. Daher wurde die Zehe auch nicht wieder eingerichtet. Die diagnostizierte Mittelfußfraktur wurde mit einer Gipsschiene fixiert. Diese verursachte erhebliche Schmerzen an der betroffenen Zehe, was in der Folgezeit zu einer Versteifung des Zehengelenks führte. Nach zwei externen Operationen – zuletzt einer Arthrodese im Tarsometatarsalgelenk MT I mit einer kleinen Fragmentplatte – leidet die Patientin unter erheblichen Schmerzen und einer massiven Bewegungseinschränkung des linken Fußes beim Laufen und Stehen.

Beispiel 4: Eine nicht erkannte Ellenbogenfraktur führte zu einem eingeklemmten N. radialis. Dadurch erlitt der Patient, ein Kind, eine „Fallhand“. Die Untersuchung und Diagnosestellung war durch eine ADHS des Kindes erschwert. Es wurde ein oberarmlanger Gipsverband angelegt. Mit einem kurzen Armgips wäre die Fraktur aus Gutachtersicht nicht übersehen worden.

Beispiel 5: Der Patient war wegen einer Ellenbogenprellung mehrfach ambulant im Krankenhaus vorstellig. Der Arm des Patienten wurde zur Schmerztherapie mit einer Oberarmgipsschiene über einen längeren Zeitraum ruhiggestellt. Diese längerfristige Ruhigstellung machte anschließend eine schmerzhafte krankengymnastische Behandlung erforderlich.

Risikomanagement

Mit einer Inzidenz von deutlich unter einem Prozent zu insgesamt über 21.500 Anspruchsstellungen in der Unfallchirurgie und 11.500 Anspruchsstellungen in der Orthopädie erscheint die Anzahl der schweren Schadenfälle (Schadenaufwendungen über 5.000 €), die im unmittelbaren Zusammenhang mit Gipsverbänden auftreten, sehr gering. Gleichwohl müssen alle Bestrebungen unternommen werden, Schäden, die im Kontext der Versorgung von Patienten mit Gipsverbänden stehen, möglichst vollständig zu vermeiden.

Wichtiger Orientierungspunkt zur Schadenvermeidung ist die Leitlinie der Fachgesellschaft zu „Fixierende Verbände“ (derzeit in Überarbeitung).

Die Gewährleistung des Facharztstandards bei der Indikationsstellung, die richtige Auswahl und Anpassung des Gipsverbandes und die kompetente ärztliche Kontrolle des Gipsverbandes unmittelbar nach Anlage sind unter Berücksichtigung unserer Schadendatenauswertung die wesentlichen Ansatzpunkte zur Vermeidung relevanter Schäden.

Zudem zeigt sich in den ausgewerteten Schadenfällen die Bedeutung der Aufklärung und Dokumentation, nicht nur über Risiken und Komplikationen, sondern auch grundsätzlich über Diagnose und Therapie – zur notwendigen Nachvollziehbarkeit der Behandlungsabläufe. Denn häufig werden Komplikationen, auf die der Arzt zwar mündlich hingewiesen hat, die dann aber aufgrund mangelnder Mitarbeit des Patienten (Compliance) zum Schaden führen, nachträglich als Diagnostik- oder Behandlungsfehler der Behandlerseite deklariert, da keine ausreichende Dokumentation der Versorgung und Aufklärung des Patienten vorliegt.

Eine nachvollziehbare und strukturierte Dokumentation im Zusammenhang mit der Versorgung von Patienten mit „fixierenden Verbänden“ ist zum Schutz der Handelnden vor unberechtigten Anspruchsstellungen unbedingt zu empfehlen. Beispielsweise sollten Kontrollen oder Repositionen mit Hilfe von Bildwandlern immer durch Prints dokumentiert und ggf. von einem zweiten Arzt bestätigt werden.

Präventionsmaßnahmen

Zum Abschluss folgen einige geeignete Präventionsmaßnahmen, die Risikoberater im Zusammenhang mit dem Thema „Fixierende Verbände“ empfehlen:

  • Für häufig wiederkehrende Therapieformen (hier Versorgung mit „fixierenden Verbänden“) sind Behandlungsleitlinien formuliert und stehen allen an der Behandlung Beteiligten zur Verfügung (z. B. im Intranet).
  • Abteilungsintern definierte Therapieleitlinien und Behandlungspfade berücksichtigen die Leitlinien der jeweiligen medizinischen Fachgesellschaft.
  • Die radiologischen Befunde werden nach einem verlässlichen System zeitnah und im Vier-Augen-Prinzip beurteilt.
  • In der Frakturdiagnostik gibt es klare Hinzuziehungsregelungen, die bei unklaren Befunden eine sofortige fachärztliche Begutachtung sicherstellen.
  • Gipsverbände werden nach dem Anlegen durch eine Pflegeperson immer von einem kompetenten Arzt kontrolliert. Die Durchführung der Kontrolle wird mit Handzeichenvermerk in der patientenbezogenen Dokumentation notiert.
  • Bei Verletzungen (Prellung, Wunde, Bruch) wird die Sensibilität, die Durchblutung und die Beweglichkeit immer dokumentiert.
  • Über die erforderlichen Weiterbehandlungs- und Vorsichtsmaßnahmen wird der Patient mündlich (ggf. ergänzend auch schriftlich, z. B. via „Gipsmerkblatt“) informiert und nachvollziehbar (dokumentiert) aufgeklärt. Falls erforderlich, sind auch die Angehörigen des Patienten zu informieren.
  • Patienten, die mit fixierenden Verbänden versorgt wurden, erhalten vom Arzt eine entsprechende „therapeutische Beratung“ und ggf. zusätzlich ein Infoblatt mit Verhaltensregeln (z. B. „Gipsmerkblatt“).
  • Die Durchführung der „therapeutischen Beratung“ wird in der patientenbezogenen Dokumentation festgehalten.
  • Die Kenntnisse der Mitarbeiter werden durch Schulungen regelmäßig vertieft (z. B. Gipsen, Verbandstechniken).

Literatur:

DGU (1999): DGU, Fixierende Verbände, Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie, 1999 (derzeit in Überarbeitung)

Meilwes M. Safety Clip: Der Patient mit Gips hat immer Recht. Passion Chirurgie. 2011 August; 1(8): Artikel 03_04.

Autor des Artikels

Profilbild von Martin Meilwes

Martin Meilwes

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