Alle Artikel von Katrin Kammerer

Traumatologie im Kindesalter: OP-Indikation bei häufigen Frakturen

Distale Radiusfraktur

70 bis 80 % aller Frakturen bei Kindern und Jugendlichen betreffen die obere Extremität, allein 45 bis 50 % die verschiedenen Lokalisationen des Unterarms [1]. Distale Radiusfrakturen sind in allen Altersgruppen des Menschen bekanntlich die häufigste Frakturlokalisation, bei Kindern mit einer Häufigkeit von 35 bis 40 % [2].

Die konservative und ambulante Therapie ist von den Kindern fast ausnahmslos erwünscht und meist auch von deren Eltern erhofft. Trotz der Häufigkeit und des damit vermeintlich verbundenen großen Erfahrungsschatzes gibt es gelegentlich Unsicherheiten bei konsultierten Ärzt:innen, die nicht täglich verunfallte Kinder behandeln, über die Grenzen der konservativen Therapiemöglichkeiten und die Indikation zur operativen Versorgung bei dislozierten Frakturen. Durch die Nähe zur distalen Radiusepiphysenfuge, die 80 % des Längenwachstums des Unterarms ausmacht, besteht bei Fehlstellungen ein sehr hohes Spontankorrekturpotenzial, das zuverlässig in die Therapieentscheidung einbezogen werden kann. Das Potenzial der Spontankorrektur ist dabei abhängig vom Reifezustand der Epiphysenfuge. Die Verknöcherung der Fuge erfolgt bei Mädchen im 13. bis 15. Lebensjahr und bei Jungen im 15. bis 17. Lebensjahr. In einigen deutschen Lehrbüchern finden sich sehr restriktive altersabhängige Grenzen der Spontankorrektur und der damit implizierten konservativen Therapie. In der neueren nordamerikanischen Literatur werden differenzierte Toleranzgrenzen beschrieben: So werden 1,7° Spontankorrektur pro Monat bei noch offenen Fugen im Alter von 12 Jahren und älter beschrieben [3]. Bei einer Wachstumsprognose von einem Jahr oder mehr kommt es auch bei einer Fehlstellung von 15° und auch bei einer geringen Verkürzungsfehlstellung unter 1 cm zur folgenlosen Ausheilung im Verlauf [4, 5]. Durch fachgerechte Redression einer Extensionsfehlstellung und Retention in einer Oberarmschiene mit Schede-Stellung im Handgelenk kann eine operative Therapie bei Kindern häufig vermieden werden. Hierzu werden gerade neue prospektive Studien aufgelegt. Um eine operative Übertherapie zu vermeiden, müssen die Eltern verständlich und in Ruhe aufgeklärt werden. Bei nicht tolerabler Fehlstellung (Abb. 1) und schmerzhafter Instabilität besteht die Indikation zur Reposition in Analgosedierung oder Anästhesie und Ruhigstellung altersabhängig für 3 bis 4 Wochen.

Abb. 1a, b: Distale Radiusfraktur, AO 23r-M/3.1 bei 14-jährigem Jugendlichen

Sollte das Repositionsergebnis durch eine adäquate Ruhigstellung nicht ausreichend stabil zu halten sein, ist die Kirschner-Draht-Osteosynthese nach meist geschlossen möglicher Reposition (Abb. 2) indiziert.

Abb. 2a, b: Intraoperative Dokumentation nach Reposition und K-Draht-Osteosynthese bei 14-jährigem Jugendlichen

Die K-Drähte können dabei epikutan belassen oder subkutan versenkt werden. Relevante Unterschiede hinsichtlich Schmerzhaftigkeit, Komplikationsrate und Zufriedenheit der Eltern konnten in einer prospektiven multizentrischen Studie nicht ermittelt werden [6]. Die K-Draht-Osteosynthese ist anfänglich meist nicht ausreichend übungs- und belastungsstabil. Daher ist postoperativ eine Ruhigstellung des Handgelenks für 3 bis 4 Wochen notwendig.

Suprakondyläre Humerusfraktur

Die suprakondyläre Humerusfraktur ist eine typische Fraktur des Wachstumsalters mit einer Inzidenz von 5 bis 18 % aller Frakturen. Sie ist die häufigste Ellenbogenverletzung [7]. Betroffen sind Kinder und Jugendliche im Alter von 2 bis 14 Jahren, das Durchschnittsalter beträgt 6 Jahre [8]. Dislozierte suprakondyläre Humerusfrakturen (Abb. 3) sind mit bis zu 36 % Komplikationen wie neurovaskulären Begleitschäden und iatrogenen Nervenläsionen behaftet [9]. In 3 % treten Gefäßschäden [10] und in 0,5 % Kompartmentsyndrome [11] auf. Die große Zahl von Schlichtungsfällen nach ellenbogennahen Frakturen im Kindesalter basiert neben Fehlstellungen auf nicht erkannten Nerven- und Gefäßschäden und Volkmann-Kontrakturen [12].

Abb. 3: Dislozierte suprakondyläre Humerusfraktur, AO 13-M/3.III (IV) und operative Versorgung mit gekreuzten K-Drähten

Während undislozierte suprakondyläre Humerusfrakturen unter 3- bis 4-wöchiger Ruhigstellung in einer Blount-Schlinge oder einer Oberarmschiene ausheilen, müssen dislozierte Frakturen, insbesondere bei Rotationsfehlstellung, reponiert und bei Instabilität stabilisiert werden. Das häufigste Verfahren („Goldstandard“) ist die perkutane Kirschner-Draht-Osteosynthese mit zwei gekreuzten Drähten. Zur Verbesserung der Stabilität kann ein zweiter radialer Draht eingebracht werden. Weitere Verfahren sind die elastisch stabile intramedulläre Nagelung und der radiale Fixateur externe bei radialer Trümmerzone. Das Risiko einer iatrogenen Nervenläsion des N. ulnaris bei der K-Draht-Osteosynthese lässt sich durch intraoperative Darstellung des Nervs deutlich vermindern.

Bei nach Reposition nicht tastbarem Puls, kalter und blasser Hand und negativer intraoperativer Doppler-Sonographie muss die Arteria brachialis umgehend revidiert werden (Abb. 4).

Abb. 4: Die Begleitvenen der Arteria brachialis sind im Frakturspalt eingeklemmt, die Arterie ist verzogen und abgeknickt. Infolge der Einklemmung sind die Begleitvenen distal gestaut. Die Pinzette zeigt auf die Einklemmung. A. br.: Arteria brachialis, Vv. com: Venae comitantes, N. med.: Nervus medianus

Ein Kompartmentsyndrom kann durch Arterienverschluss, durch eine Einblutung oder durch eine Kombination beider Ursachen entstehen. Bei ersten Warnzeichen (Abb. 5) muss eine vollständige Kompartmentspaltung erfolgen, um die zwar seltene, doch schwerwiegende Volkmann-Kontraktur zu vermeiden [13]. Die Differenz zwischen diastolischem Blutdruck und Kompartment-Druck sollte mindestens 30 mm Hg betragen. Es gibt aber für Kinder keine EBM-Studien über die Grenzen des tolerablen Kompartment-Drucks. Die klinische Symptomatik entscheidet über das operative Vorgehen zur Druckentlastung.

Abb. 5: Schwellung, Ekchymose und verhärtete Beugemuskulatur sind Zeichen für ein Kompartmentsyndrom

Bei bestehender Operationsindikation bei den häufigen Frakturen gilt es zudem zu entscheiden, wann der optimale Versorgungszeitpunkt ist. Hier besteht im täglichen Alltag das Spannungsfeld aus Wunschdenken, Erwartungshaltung (der Eltern) und Versorgungsrealität durch Transportzeiten vom Unfallort, Wartezeiten unter Triagierung bis zur exakten Diagnosestellung und Versorgungskapazitäten im Hinblick auf freie OP-Kapazitäten und operative Expertise.

Allgemein gilt zur OP-Indikation bei häufigen Frakturen

Absolute und dringliche Indikationen sind:

Vitale Bedrohung

Durchblutungsstörung

Kompartment-Syndrom oder drohendes Kompartment-Syndrom

Offene Frakturen

Luxationsfrakturen der großen Gelenke

Literatur

[1]  Lyons RA, Delehunty AM, Kraus D, et al. Children’s fractures: a population based study. Inj. Prev 1999;5:129-132

[2]   Barrett IR, Bellemore Khosla S, Melton LJ et al. Incidence of childhood distal forearm fractures over 30 years: a population-based study. JAMA 2003: 290:1479-1485

[3]   Jeroense KT; America T; Witbreak MM et al. Malunion of distal radius fraktures in children. Acta Orthop. 2015; 86:233-237

[4]   Greig, D; Silva, M. Management of distal radius fractures in adolescent patients. J Pediatr Orthop. 2021; 41:1-5

[5]   Crawford SN; Lee, Lorrin S.K.; Izuka, Byron H. Closed treatment of overriding distal Radial fractures without reduction in children. JBJS.2012; 3:246-252

[6]   Schneidmueller D, Eijkenboom A, Brand A, Langenhan R, Kertai M, Voth M, Adrian M, Loose O, Bohn B, Wagner F, von Rüden C: To bury or not to bury- Kirschner wire fixation in children and adolescents, Dtsch Arztebl Int 2022; 119:818-819

[7]   Landin LA, Danielsson LG Elbow fractures of the humerus in children: an epidemiological analysis of 589 cases. Acta Orthop Scand 1986; 57:309-312

[8]   Weinberg A et al. Die suprakondyläre Oberarmfraktur im Kindesalter- eine Effizienzstudie.Unfallchirurg 2002; 105:208-216

[9]   Louahem DM, Nebanescu A, CanaveseF, Dimeglio A Neurovascular complications and severe displacement in supracondylar humerus fractures in children: defensive or offensive strategy? J Pediatr Orthop 2006; 15:51-57

[10] Cheng JCY, LamP, Maffuli N Epidemiological features of supracondylar fractures of the humerus in Chinese children. J Pediatr Orthop 2001; 10:63-67

[11] Blakemore LC, Cooperman DR, Thompson GH et al. Compartement syndrome in ipsilateral humerus and forearm fracture in children. Clin Orthop Relat Res 2000; 376:32-38

[12] Vinz H, Neu J Arzthaftplichtverfahren nach Frakturbehandlung bei Kindern: Erfahrungen der Schlichtungsstelle der norddeutschen Ärztekammer. Dtsch Arztebl Int 2009; 106:491-498

[13] Hülsemann W, Habenicht R, Mann M Management von Nervenschädigungen und Durchblutungsstörungen bei suprakondylären Humerusfrakturen im Kindesalter. Obere Extremität 2010:151-157

BDC|Akademie

Kindertraumatologie für D-Ärzte/Ärztinnen

Auch wenn die Versorgung unfallverletzter Kinder im Rahmen der durchgangsärztlichen Tätigkeit nur einen speziellen Teilaspekt darstellt, so bestimmt sie doch einen nicht unerheblichen Anteil der Tätigkeit in Praxis und Klinik. Nicht zuletzt wegen der großen Lebenserwartung, die unsere kleinen Patient:innen haben, sind wir verpflichtet, die medizinische Versorgung im Rahmen des Durchgangsarztverfahrens auf höchstem Niveau sicher zu stellen. Daher ist es unser Anliegen, die Besonderheiten in der Diagnostik und Behandlung von unfallverletzten Kindern für die Behandelnden immer wieder in den Focus zu setzen und zu aktualisieren.

In dem zweitägigen Seminar werden spezifische Verletzungen im Kindesalter aller Regionen des Körpers hinsichtlich Diagnostik, Therapie und Prognose in einführenden Referaten dargestellt. Im Anschluss daran soll dann anhand von vielen Fallbeispielen die Problematik illustriert und interaktiv bearbeitet werden.

Mit dem kleinen Kreis an Referenten möchten wir Ihnen ein einheitliches Format des Seminars bieten und gleichzeitig eine hohe Wissenschaftlichkeit garantieren. Alle Referenten befassen sich seit vielen Jahren speziell mit der Traumatologie im Kindesalter und haben diese zu ihrer beruflichen Leidenschaft erklärt. Diese Veranstaltung ist als Fortbildung „Kindertraumatologie“ im Sinne der Ziffer 5.12 der Anforderungen der gesetzlichen Unfallversicherungsträger nach § 34 SGB VII zur Beteiligung am Durchgangsarztverfahren anerkannt.

Der nächste Termin:

Kindertraumatologie für D-Ärzte/Ärztinnen

Dresden

Prof. Dr. Guido Fitze

01. – 02.12.2023

Informationen und Anmeldung über https://www.bdc.de/events/kindertraumatologie-fuer-d-aerzte-aerztinnen-01-02-dezember-2023-dresden oder via akademie@bdc.de.

Dr. Boy Bohn

Abteilung für Unfallchirurgie, Orthopädie und Sporttraumatologie,

BG Klinikum Hamburg in Kooperation mit dem Kathol. Kinderkrankenhaus Wilhelmstift

Bergedorfer Straße 10

21033 Hamburg

b.bohn@kkh-wilhelmstift.de

Chirurgie

Bohn B: Traumatologie im Kindesalter: OP-Indikation bei häufigen Frakturen. Passion Chirurgie. 2023 September; 13(09): Artikel 03_01.

Mehr zum D-Arzt auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Fachübergreifend.

Passion Chirurgie im Juni: Kongressnachlese 2023

Es ist offiziell Sommer – und damit Zeit für unsere Nachlese zum Bundeskongress Chirurgie und DCK 2023. Wir haben Ihnen die Highlights und Impressionen der Kongresse in der neuesten Ausgabe zusammengefasst.

Für alle chirurgischen Kolleginnen und Kollegen, die den Deutschen Chirurgie Kongress 2023 nicht live miterleben konnten, haben wir noch einen Hinweis: In diesem Jahr hat das Surgeon Talk-Team den Kongress begleitet und in Form von Kurz-Interviews einen Überblick über relevante Themen als Podcast erstellt. Hören Sie rein! DCK Kompakt 2023

Eine Empfehlung haben wir noch für unsere Assistenzärztinnen und –ärzte: Für das BDC|Seminar „Curriculum Basischirurgie“ in Kaiserslautern vom 27. bis 29. September 2023 sind noch Plätze frei. Gerne Weitersagen. Hier geht´s zur  Information & Anmeldung

Viel Spaß beim Lesen,
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

60 Jahre Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendchirurgie

Vor fast 180 Jahren erkannte man bereits, dass eine kindgerechte Betreuung durch spezialisierte Ärzte und Pflegepersonal notwendig ist, um den Besonderheiten des sich entwickelnden Organismus Rechnung zu tragen. Es entstanden die ersten Abteilungen und Krankenhäuser nur für Kinder, meist durch Spendengelder finanziert.

Die Wiege der Kinderchirurgie in Deutschland ist das 1846 gegründete Dr. von Haunersche Kinderspital, in dem von Beginn an operative Eingriffe durchgeführt wurden. Am 21. September 1957 wurde dort die Arbeitsgemeinschaft westdeutscher Kinderchirurgen innerhalb der deutschen Gesellschaft für Chirurgie gegründet, um die wissenschaftlichen, fachlichen und beruflichen Belange der Kinderchirurgen und -chirurginnen zu verwirklichen. Professor Anton Oberniedermayr, damaliger Ordinarius im Dr. von Haunerschen Kinderspital, lud dazu eine Gruppe von 14 Kinderchirurgen aus der gesamten Bundesrepublik ein. In der Folge wurden er und Professor Fritz Rehbein zur Gründung einer eigenen Fachgesellschaft durch enge Kontakte mit Kollegen der 1953 gegründeten British Association of Pediatric Surgeons (BAPS) inspiriert.

Auf dem Chirurgenkongress am 17. April 1963 deklarierte Professor Oberniedermayr die AG zur Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie. Damit hatte die deutsche Kinderchirurgie als eigenständige Fachgesellschaft deutlich mehr Gewicht in der Interessenvertretung für die speziellen Belange der Kinderchirurgie und eine gleichwertige Zusammenarbeit mit anderen nationalen und internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften wurde gewährleistet.

Professor Oberniedermayr war der Gründungspräsident von 1963-1964 und Professor Fritz Rehbein folgte ihm von 1964-1970. Er führte die deutsche Kinderchirurgie zur Weltgeltung durch seine innovativen Operationen, beispielsweise beim M. Hirschsprung. Aufgrund seiner außerordentlichen Verdienste heißt die Ehrenmedaille der DGKCH als höchste Auszeichnung der Fachgesellschaft seit 1992 „Fritz-Rehbein-Ehrenmedaille“.

In der DDR erfolgte parallel eine ähnliche Entwicklung wie in Westdeutschland. Der Facharzt für Kinderchirurgie wurde 1955 etabliert. Ilse Krause, Chefärztin der kinderchirurgischen Klinik in Berlin Buch, und Fritz Meißner, ärztlicher Direktor der Klinik für Kinderchirurgie in Leipzig, waren die ersten Fachärzte für Kinderchirurgie in Deutschland.

Fritz Meißner gründete 1964 die Sektion Kinderchirurgie der Gesellschaft für Chirurgie der DDR und am 19. Oktober 1985 die Medizinisch-Wissenschaftliche Gesellschaft für Kinderchirurgie der DDR.

Am 17. November 1990 erfolgte, bedingt durch die wiederhergestellte Einheit Deutschlands am 3. Oktober, im Rahmen einer außerordentlichen Mitgliederversammlung mit Professor Daum als Präsidenten der DGKCH, die Aufnahme der ärztlichen Mitglieder der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaft für Kinderchirurgie in die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie. Damit waren erstmalig aus Ost- und Westdeutschland die deutschen Kinderchirurgen und -chirurginnen in einer Fachgesellschaft vereint.

In der Präambel der Satzung der DGKCH steht: „Die DGKCH wurde gegründet, um auf die Verwirklichung der bestmöglichen kinderchirurgischen Versorgung, auch in Zusammenarbeit mit anderen nationalen und internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften, hinzuwirken.“

Dies gelingt durch die Organisation und Durchführung wissenschaftlicher Tagungen im Rahmen des Deutschen Kongresses für Chirurgie, der Chirurgischen Forschungstage und des Kongresses für Kinder- und Jugendmedizin. International ist die Vernetzung durch unsere Mitglieder in den Vorständen der EUPSA – European Paediatric Surgical Association und WOFAPS – World Federation of Associations of Pediatric Surgeons sowie der ESPU – European Society of Paediatric Urology als Kongressausrichterin in Deutschland gewährleistet.

Für die Zukunft der Kinder- und Jugendchirurgie ist eine konsequente Förderung des Nachwuchses im Einklang mit Krankenversorgung, Forschung, Lehre und Weiterbildung gefragt. Die Akademie für Kinderchirurgie unterstützt die fachärztliche Weiterbildung. Der Arbeitskreis der Assistent:innen hat unter Pandemiebedingungen „KIWI“, Kinderchirugische Weiterbildung im Internet, ins Leben gerufen und hat damit moderne Kommunikationsformen in unserer Fachgesellschaft implementiert. Die DGKCH ist in Social-Media-Plattformen seit diesem Jahr aktiv.

Die Excellenzakademie, die am 29. April 2023 ihre Gründungsveranstaltung in München hatte, stärkt die akademische Kinderchirurgie in Deutschland. Dies dient dem Ziel, den Fortbestand unseres Fachgebiets mit hochqualifizierten kinderchirurgischen Chefärzt:innen in der Zukunft sicherzustellen.

Registerarbeit ist wesentlich in der Versorgungsforschung. Die Etablierung des Kinderregisters für angeborene Fehlbildungen und kommende Auswertung der Daten führt zu einer Qualitätssteigerung der Versorgung betroffener Kinder.

Kernkompetenzen der operativen Kinder- und Jugendmedizin sind neben der allgemeinen Kinderchirurgie die Neugeboren- und Fehlbildungschirurgie, Kinderonkochirurgie, Kinder- und Jugendurologie, Kindertraumatologie und plastische Kinderchirurgie.

Diese Kernkompetenzen werden wir gemeinsam in den folgenden Jahren weiterentwickeln und durch Zentralisierung für bestimmte Krankheitsbilder in der Zukunft garantieren. Technische Verbesserungen mit schonenden, modernen Operationsverfahren und einer innovativen Bildgebung werden nachhaltig einen positiven Einfluss auf das Behandlungsergebnisunserer Patienten haben.

Wir haben in diesem Jubiläumsjahr unsere Fachgesellschaft in Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendchirurgie umbenannt, um unseren Versorgungsauftrag auch für die Jugendlichen auszudrücken.

Wir stellen uns den kommenden sozialen Herausforderungen wie klimaneutrale Medizin, Fachkräftemangel oder Vereinbarkeit von Familie und Beruf. In der Zukunft müssen wir den Spagat zwischen hochspezialisierter Versorgung seltener Krankheitsbilder und der Versorgung in der Fläche meistern.

Diese Ziele erreichen wir gemeinsam durch die weitere enge und produktive Kooperation mit den angrenzenden Fächern, insbesondere den Pädiatern und den chirurgischen Kolleginnen und Kollegen der DGCH.

PD Dr. med. Barbara Ludwikowski, FEAPU

Chefärztin

Klinik für Kinderchirurgie und Kinderurologie

Präsidentin Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH)

AUF DER BULT

Kinder- und Jugendkrankenhaus

Janusz-Korczak Allee 12

30173 Hannover

ludwikowski@hka.de

Chirurgie

Ludwikowski B: 60 Jahre Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendchirurgie. Passion Chirurgie. 2023 Juni; 13(06): Artikel 03_05.

Artikel zur Kinderchirurgie finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Kinderchirurgie.

BDC-Praxistest: Geteilter Erfolg ist doppelt gut –Mentoringprogramm „Die Chirurginnen e.V.“

Vorwort – Frauen in der Chirurgie – here they are

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Geschlechtergerechtigkeit ist wahrlich kein neues Thema. Die Gleichstellung von Frauen brodelt bereits seit Jahrhunderten, und vereinzelte Berichte lassen sich sogar bis in die Antike verfolgen. Echte Fahrt nahm das Thema in der Französischen Revolution auf, die Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit versprach – allerdings nicht für Frauen. Die folgende Romantik thematisierte mit den großen Verführungsromanen wie „Madame Bovary“, „Effi Briest“ und „Anna Karenina“ gesellschaftliche Emanzipationsansätze, wenn auch jeweils mit tragischem Ausgang. Doch die Saat war gesät und fand ihren prominenten Fortgang z. B. im Kampf um das Wahlrecht, die großen Lohnfragen der Industrialisierung oder das „Women‘s liberation movement“ der 60er- und 70er-Jahre.

Die aktuelle Genderdiskussion wirkt dagegen vordergründig vielleicht kleinteiliger, steht aber ohne Zweifel in der Tradition dringend notwendiger Veränderungen, unermüdlicher Anstrengungen und großer Leistungen. Und sie zeigt auch, dass Großes erreicht, aber das Thema längst noch nicht abgeschlossen ist.

Ein wichtiger Aspekt heutiger Emanzipation betrifft die Gleichstellung in Beruf und Karriere. Sie betrifft neben dem einfach nur beschämenden Gender Pay Gap mit Zugang, Akzeptanz, Förderung, Netzwerk und Aufstieg viele weitere Aspekte des Berufslebens. Die Probleme variieren je nach Sparte in Inhalt und Ausprägung deutlich, und die Medizin ist für Frauen sicher nicht „the worst place to be“. Doch die traditionalistisch geprägte Chirurgie stellt vielfach noch eine echte Männerdomäne. Einen konstruktiven Weg, Verkrustungen aufzubrechen, bietet die Befähigung durch Lernen am Modell. Mentoring für Frauen in der Chirurgie ist deshalb das Leitthema des folgenden Artikels, für dessen Erstellung wir sehr dankbar sind. Der Spirit von Emmeline Pankhurst durchweht die Chirurgie. In einer idealen Welt wäre das für uns peinlich, in der realen ist es ein großes Glück.

Anregende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und      

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Wir treffen heute Dr. med. Julia Osthoff, Dr. med. Franziska Renger und Dr. med. Franziska Hettenbach, die das Mentoringprogramms des Vereins „Die Chirurginnen e.V.“ leiten. Sie sind Vereinsmitglieder der ersten Stunde und stehen für dieses Interview zur Verfügung.

Im Januar 2021 wurde der Verein „Die Chirurginnen e.V.“ von einer Gruppe um Frau Prof. Dr. Katja Schlosser gegründet. Aus einer kleinen Gruppe von Chirurginnen ist eine schnell wachsende Community entstanden. Mittlerweile zählt der Verein über 1.600 Mitglieder. Die pandemiebedingte Verbreitung und Akzeptanz von Video-Kommunikation und Chatplattformen hat einen gleichzeitig einfachen und intensiven Aufbau von Beziehungen im gesamten deutschsprachigen Raum möglich gemacht.

Neben dem direkten Austausch in zahlreichen Arbeits- und Interessengruppen, lokalen Netzwerken sowie einer gut strukturierten Kommunikationsplattform ermöglicht der Verein auch die gegenseitige Unterstützung und Förderung der Mitglieder auf allen Karrierestufen. Eine breite Präsenz in den sozialen Medien, aber auch auf Kongressen trägt zur größeren Sichtbarkeit der chirurgisch tätigen Frauen in der Männerdomäne Chirurgie bei. Eine Kernaufgabe des Vereins ist der Aufbau eines Netzwerks der Chirurginnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Um in diesem Netzwerk zielgerichtete Unterstützung und strukturierte Weiterentwicklung anzubieten, wurde ein Mentoringprogramm ins Leben gerufen. Dieses läuft derzeit im dritten Jahr mit einer steigenden Anzahl an Teilnehmerinnen.

Mentorin: „Ich will Mut machen. Frauen brauchen mehr Mut.“

Mit welcher Intention bietet Ihr Verein ein Mentoringprogramm an?

Die Förderung und Vernetzung von operativ tätigen Frauen gehören zu den wichtigsten Zielen unseres Vereins. Im Rahmen unseres Mentoringprogramms können diese umgesetzt werden.

Frauen in den Kliniken fehlen oft Vorbilder, die zeigen, dass eine Karriere in der Chirurgie für alle Geschlechter möglich ist – und sie ermutigen, diesen Weg auch in Unterzahl zu gehen.

In unserem Verein haben wir diese Role Models, auch wenn sie in der eigenen Klinik vor Ort nicht verfügbar sein mögen. Unsere Aufgabe ist, die Vorreiterinnen und die ‚Nachfolgerinnen‘ zusammenzubringen.

Zusätzlich zur Vernetzung wird in Seminaren und Supervisionen, geleitet von Frau Dr. Osthoff, u. a. an Durchsetzungsvermögen, Führungskompetenzen und Kommunikationsfähigkeiten gearbeitet.

Fakten zum Mentoringprogramm

  • Für approbierte Ärztinnen
  • Voraussetzung ist die Mitgliedschaft
    im Verein „Die Chirurginnen e.V.“
  • Teilnahmegebühr für die Mentees
  • Laufzeit 1 Jahr

Worin heben Sie sich von anderen Mentoringprogrammen ab?

Naturgemäß ist ein Verein von Chirurginnen unter dem Blickwinkel der Profession ein sehr homogenes, aber auch sehr spezialisiertes Konstrukt. Aus der hohen Spezialisierung ergeben sich sehr spezifische Fragestellungen und Herausforderungen, die in einem Mentoringprogramm mit Mentorinnen aus unterschiedlichen Berufsgruppen, wie es sonst üblich ist, wohl weniger gut abzubilden wären.

Neben dem Ermöglichen der Mentoring-Beziehung ist die Weiterentwicklung sowohl der Mentees als auch der Mentorinnen eine Besonderheit unseres Angebots. Unsere Mentees und Mentorinnen sind auf Siilo jeweils als Gesamtheit vernetzt, sodass sie sich auch untereinander im Sinne einer Peer-Supervision austauschen können. Zusätzlich bietet Frau Dr. Osthoff regelmäßige Supervisionsrunden für unsere Mentorinnen an. Dort können gemeinsam Fragestellungen und auch Herausforderungen mit der Mentee oder Mentoring-Beziehung besprochen und gemeinsam nach Lösungsansätzen gesucht werden. Wie auch in unserem klinischen Alltag gilt hier die Schweigepflicht. Unsere Mitglieder eint die enge Verbundenheit mit dem Verein – diese gemeinsame Identität ermöglicht eine sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit.


Ich hätte mir damals schon ein solches Netzwerk wie ‚Die Chirurginnen‘ gewünscht. Ich wurde zum ersten Mal als ‚role model‘ gesehen und möchte jetzt meine Erfahrungen weitergeben.“

Wie rekrutieren Sie Mentorinnen und Mentees? Wie läuft das Programm ab?

Das Mentoringprogramm wird jährlich organisiert und geht mit der Saison 2023/2024 in das dritte Jahr. Bereits im ersten Jahr beteiligten sich ein Viertel der Mitglieder des Vereins als Mentorin, als Mentee oder in einer Doppelrolle. Dieses Jahr starten 95 neue Tandems. Insgesamt betreuen wir 130 aktive Tandems.

Im Februar gibt es eine Online-Informationsveranstaltung, die auch für Nichtmitglieder nach Anmeldung offen ist. Im März läuft die Bewerbungsphase anhand ausführlicher und strukturierter Bewerbungsbögen, die online ausgefüllt werden. Anschließend matchen wir im April händisch die Tandems.

Das eigentliche Mentoring-Jahr startet am 1. Mai für die Dauer eines Jahres bis Ende April. Über das Jahr bieten wir Supervisionen für Mentorinnen und eine Seminarreihe zur persönlichen Weiterentwicklung für Mentees an. Gegen Ende des Mentoring-Jahrs im Januar erfolgt die Evaluation, die uns hilft, das Programm ständig weiterzuentwickeln.

Wie führen Sie das Matching der Tandems durch?

Ab etwa 25 Tandems wird ein Algorithmus-basiertes Matching möglich und empfohlen. Allerdings ist die Voraussetzung, dass inhaltliche Fragen quantitativ beantwortet werden müssen, denn letztlich wird eine Passung anhand von Zahlenwerten errechnet. In unserer homogenen Gruppe aus einer Profession können aber kleine Details den Unterschied machen.

Deswegen haben wir uns bewusst für ein händisches Matching entschieden, auch wenn das viel zeitaufwändiger ist. Unser Ziel ist, ein möglichst ganzheitliches und präzises Matching zu erreichen.

Wir fragen jede Bewerberin nach ihrer Priorität zur Auswahl der Tandempartnerin. Diese kann zum Beispiel Fachrichtung, wissenschaftliche Erfahrung, Mutterschaft, regionale Nähe für persönliche Treffen, Erfahrung mit Fachrichtungswechsel und Stellenwechsel sein. Wir versuchen, diese Priorität im Matchingprozess zu berücksichtigen. Dabei wollen wir alle Teilnehmerinnen bestmöglich unterbringen.


Ich konnte mein berufliches Netzwerk deutlich erweitern.“

Was ist wichtig, damit die Beziehung im Tandem funktioniert?

An erster Stelle steht die Kommunikation. Es müssen klare Ziele vereinbart werden und gegenseitige Erwartungen, aber auch Grenzen, geklärt sein. Eine Mentee-Mentorin-Beziehung kann nur bei beiderseitigem Vertrauen und Offenheit funktionieren. Der Zeitrahmen für die Treffen und deren Frequenz muss abgestimmt sein. Das sind Voraussetzungen für ein erfolgreiches Tandem.

Wir haben zudem einen Leitfaden erarbeitet, an dem sich die Teilnehmerinnen orientieren können. Die regelmäßigen Supervisionen unterstützen die Mentorinnen durch gegenseitigen Erfahrungsaustausch.

Abb. 1: Evaluation des Programms durch die Mentorinnen 2022/2023

Was macht Ihrer Meinung nach eine gute Mentorin aus?

Idealerweise ist eine gute Mentorin ihrer Mentee einen Schritt voraus – um als Vorbild zu fungieren und Erfahrungen an die Mentee weitergeben zu können. Sie ist bereit, über ihren Weg und ihre Erkenntnisse offen zu sprechen. Unterschiedliche Erfahrungen und Blickwinkel können sehr wertvoll sein – nicht immer ist Seniorität ausschlaggebend. So ist die Mentorin zugleich Förderin, Kritikerin, Coach, Ratgeberin und Vorbild.


So habe ich jetzt schon Dinge erreicht, die ich mir vor einem Jahr nicht mal hätte erträumen können!“

Mentorinnen profitieren erheblich vom gegenseitigen Austausch. Wir haben in der Evaluation gefragt, wie sehr sie das Programm weitergebracht hat. Die Skala reichte von 1 (gar nicht) bis 10 (ja, sehr). Dabei zeigte sich eine hohe Zufriedenheit (siehe Abbildung 1). Mentorin sein erhöht die Selbstreflexion und macht sichtbar, was man alles schon geleistet hat.

Was sind Inhalte des Mentorings?

Primäre Inhalte sind die Umsetzung beruflicher Ziele und Karriereplanung. Wie gelingt der Berufseinstieg? Wie komme ich an die Rotationen in der Weiterbildungszeit? Wann sollte ich über einen Fachrichtungs- oder Stellenwechsel nachdenken? Welche Aspekte sind für die Entscheidung für eine Niederlassung oder ambulantes Operieren wichtig? Welche Erfahrungen oder Kompetenzen benötige ich dafür? Wie plane ich den nächsten Karriereschritt zur Oberärztin oder Chefärztin?

Weitere Themen sind, wie komme ich erfolgreich durch die Facharztprüfung oder überwinde mich zur Anmeldung? Wie kann ich mich im universitären Umfeld orientieren? Wie fange ich wissenschaftliches Arbeiten an? Wie beginne ich oder vollende ich eine Dissertation oder Habilitation?


Durch gezieltes gemeinsames Setzen von Deadlines habe ich es endlich geschafft, mich zur Facharztprüfung anzumelden und diese bestanden.“

Einen großen Schwerpunkt nimmt natürlich die Frage nach der Vereinbarkeit von Mutterschaft und chirurgischer Karriere ein. Viele unserer Mentorinnen haben damit Erfahrung und helfen zusätzlich bei Erziehungszeiten sowie dem Wiedereinstieg ins Berufsleben nach längerer Pause.

Weibliche Vorbilder fehlen auch im Hinblick auf die persönliche Entwicklung. Welche vielfältigen Möglichkeiten gibt es, als Chirurgin aufzutreten? Hier kommen klassische Coaching-Themen wie das Setzen von Schwerpunkten, Reflexion, externe Sicht einer unabhängigen Kollegin zum Tragen.

Auch bei den Mentees zeigte sich in der Evaluation eine hohe Zufriedenheit mit der Unterstützung durch die Mentorin (siehe Abbildung 2).

Abb. 2: Evaluation des Programms durch die Mentees 2022/2023

Warum ist Ihr Programm auf ein Jahr begrenzt?

Aus unserer Sicht erleichtert die zeitliche Begrenzung eine realistische Zielsetzung. Ein Ziel zu definieren unterstützt dabei, es zu erreichen. Zudem sind alle unsere Mentorinnen ehrenamtlich tätig. Dafür ist, neben Berufs- und Privatleben, ein überschaubarer Zeitrahmen für die Teilnahmebereitschaft maßgeblich. Daher haben wir als ‚Grundeinstellung‘ die Beendigung des Tandems nach einem Jahr gewählt. Der Bedarf an Mentoring ändert sich gegebenenfalls und gesetzte Ziele können abgeschlossen sein. Trotzdem gibt es die Möglichkeit, das Tandem in beiderseitigem Einverständnis zu verlängern. Wir haben viele Tandems, die bereits das zweite oder dritte Jahr gemeinsam bestreiten. Nicht wenige Mentees werden im Anschluss selbst Mentorin, um jüngere Chirurginnen zu unterstützen und um selbst etwas zurückzugeben.

Abb. 3: Gruppenbild mit allen Mentorinnen bei der Jahresversammlung

Ein besonderes Angebot ist die integrierte Seminarreihe. Worum geht es da genau?

Die Seminarreihe wird von Dr. Osthoff geleitet, die neben ihrer klinischen Tätigkeit als Coach für Ärztinnen und Ärzte arbeitet.

Die Treffen finden in regelmäßigen Abständen online und in Gruppen von 15-20 Mentees statt. Schwerpunkt ist jeweils ein karriererelevantes Thema. In der Regel gibt Dr. Osthoff einen Impuls und eine Einführung in die Thematik und dann erarbeiten die Mentees in Kleingruppen einzelne Fragestellungen. Themen sind z. B. die eigenen Ziele der Karriere oder auch des eigenen Lebens sowie eigene Stärken. Ein sehr beliebtes Thema war im vergangenen Jahr das Thema „Netzwerken“. Für die Zukunft sind Zeitmanagement, Achtsamkeit, Stationsorganisation, Gespräche mit Vorgesetzten etc. geplant. Das Hauptziel dieser Seminare ist die eigene Reflexion, der Austausch und das Netzwerken mit den anderen Mentees und nicht zuletzt, das eigene Karriereziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Was ist Ihre persönliche Motivation, sich mit diesem Programm für die Kolleginnen zu engagieren?

Der überwältigende Zulauf zu unserem Verein zeigt, dass es Zeit für eine solche Unternehmung war. Chirurginnen wollen sich vernetzen und weiterentwickeln. Wir sehen unglaublich viel Erfahrung, Expertise und so viele so unterschiedliche Lebens- und Berufswege. Das verstehen wir als eine immense Ressource. Diese für uns alle nutzbar und verfügbar zu machen treibt uns an.

Vor allem aber wollen wir, dass chirurgisch tätige Frauen dorthin kommen können, wo sie hinwollen. Dafür braucht es Arbeit am System und an einem selbst. Wir wollen ermutigen, den eigenen Weg zu finden und zu gehen. Wie das aussehen kann, lesen Sie in den Zitaten unserer Teilnehmerinnen.

Wir danken für die Möglichkeit, unsere Arbeit hier vorzustellen.

Dr. med. Julia Osthoff

Oberärztin, Fachärztin für Orthopädie u. Unfallchirurgie

Notaufnahme des Klinikums Kempten

MA Supervision, Organisationsberatung und Coaching, Selbstständigkeit als Coach und Beraterin für Ärztinnen und Ärzte

Dr. med. Franziska Renger

Oberärztin, Fachärztin für Allgemein- u. Viszeralchirurgie

Helios Klinikum Berlin-Buch

Weiterbildung in Systemischer Beratung, Coaching und Organisationsentwicklung

Dr. med. Franziska Hettenbach

Oberärztin, Fachärztin für Gefäßchirurgie

Katholisches Krankenhaus „St. Johann Nepomuk“ in Erfurt

Gesundheitspolitik

Osthoff J, Renger F, Hettenbach F: BDC-Praxistest: Geteilter Erfolg ist doppelt gut –Mentoringprogramm „Die Chirurginnen e.V.“ Passion Chirurgie. 2023 Juni; 13(06): Artikel 05_01.

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Hand auf’s Herz

Im Panorama – der Rubrik, in der wir gerne einmal “über den Tellerrand schauen” – stellen wir in dieser Ausgabe einen Artikel in Zweitverwertung vor und hinterfragen gleichsam die Präsentation medizinischer Themen in populären Medien. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Sie implantierte als erste Frau in Europa ein Kunstherz, heute ist Dilek Gürsoy eine der bekanntesten Herzchirurginnen in Deutschland. Nun wagt die Ärztin den Sprung ins Unternehmertum: Mit ihrer eigenen Herzklinik will Gürsoy zeigen, dass exzellente Medizin mit Innovation und Menschlichkeit vereinbar ist. Dafür geht Gürsoy finanziell ins Risiko – doch sie sagt: „Ich würde das nicht machen, wenn ich keinen Plan hätte.“

Im Sommer dieses Jahres war Dilek Gürsoy mit einem potenziellen Investor in der Düsseldorfer Innenstadt verabredet. Gürsoy ist eine der führenden Spezialistinnen für Kunstherzsysteme in Europa und hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren den klassischen Klinikbetrieb verlassen. Ein Posten als Chefärztin in einer großen Klinik war ihr trotz intensiver Suche verwehrt geblieben. Also entschloss sie sich, ihr Glück auf eigene Faust zu suchen. Sie arbeitete erst selbstständig, wechselte dann in eine Privatklinik in Düsseldorf, doch ihr großer Traum war die Gründung einer eigenen Herzklinik. Also suchte Gürsoy nach Geldgebern.

Der mögliche Investor erschien mit seiner Ehefrau zum Essen. Doch bevor es ums Geschäftliche ging, wollte er – wie so viele Menschen, die sich mit Gürsoy treffen – ihre medizinische Meinung hören. Die Chirurgin warf einen kurzen Blick auf den Befund des Unternehmers, der selbst an Herzproblemen litt – und riet ihm, bald einen Arzt aufzusuchen und sich einen Herzkatheter legen zu lassen.

Der Mann war offenbar von seinem eigentlichen Kardiologen falsch beraten worden, denn schon am Tag nach dem Treffen rief seine Ehefrau bei Gürsoy an: Ihr Mann habe einen Herzinfarkt. Wo sei die beste Klinik? Gürsoy sagte: Ihr Mann müsse nicht in die beste, sondern in eine nahe gelegene Klinik – und das schnell.

Es stellte sich heraus, dass der Patient eine Bypass-Operation brauchte. Doch der Eingriff verzögerte sich – unter anderem, weil die Klinik 19 Tage lang nicht bemerkte, dass der privat versicherte Patient aus dem Ausland eine Chefarztbehandlung hätte bekommen sollen. „Er hat am eigenen Leib erfahren, was ich mit meiner Klinik bezwecke: Ich will meinen Patienten menschlich und medizinisch das beste Umfeld bieten“, sagt Gürsoy.

2012 wurde Dilek Gürsoy zu einem Star der Herzchirurgie: Als erste Frau in Europa implantierte sie ein komplettes Kunstherz. Das sorgte weltweit für Schlagzeilen, und die Tochter türkischer Gastarbeiter wurde 2019 bei den German Medical Awards zur Medizinerin des Jahres gewählt. Gürsoy ist Vollblutärztin, doch sie blickt auch kritisch auf ihre Branche – etwa auf die Kunstherzforschung und den Klinikalltag.

So klagt sie etwa über zu geringe Fortschritte bei der Entwicklung von Kunstherzen. Die Systeme seien zu groß, die Entwicklungs­zeit zu lang und die Vermarktung in Europa zu zurückhaltend. Auch mangle es an Innovation in großen Kliniken, die Hierarchien seien starr und der Leistungs- und Arbeitsdruck zu hoch. „Herzchirurgie muss ja kein Job sein, neben dem kein Familien- und Privatleben möglich ist“, sagt Gürsoy. Und: Das Feld sei eine absolute Männerdomäne, Frauen seien meist außen vor – besonders auf höchster Ebene.

Gürsoy will es besser machen, und zwar mit einer eigenen Privatklinik. Das Investiti­onsvolumen beträgt 3,5 bis 4 Mio. €; Gürsoy selbst finanziert dies per Bankkredit. Sie hält weiter Kontakt mit Investoren, den Start stemmt sie jedoch aus der eigenen Tasche. Trotz des auch finanziellen Risikos ist sie aber zuversichtlich: „Ich weiß: Wenn der Laden erst mal steht, kommen die Leute – und potenzielle Investoren – schon.“

Die Ursprünge von Kunstherzen reichen weit in die Vergangenheit. Künstliche Herzen, die auch Herz- oder Kreislaufunterstützungssysteme genannt werden (im Englischen Ventricular Assist Device, VAD), werden Patienten eingesetzt, die an einer ausgeprägten Herzschwäche leiden. Es gibt zwei Systeme von Kunstherzen: eines, das nur die linke Herzhälfte unterstützt, und ein weiteres, das linke und rechte Herzhälfte entlastet.

Erste Ideen zu einem „Kreislaufunterstützungssystem“ wurden vom Franzosen César Julien Jean LeGallois bereits 1812 formuliert, doch erst 1969 wurde ein Total Artificial Heart (TAH) bei einem Menschen implantiert. Die Systeme wurden über die Jahrzehnte stetig weiterentwickelt; heute dienen sie vorrangig zur Überbrückung der Wartezeit bei Menschen, die auf eine Herztransplantation warten. Erst seit Kurzem wird eine neue Generation von Kunstherzen auch als dauerhafter Ersatz für mensch­liche Herzen erprobt.


Ich weiß: Wenn der Laden erst mal steht, kommen die Leute – und potenzielle Investoren – schon.“

Doch für viele Probleme der Kunstherzen hat die Forschung noch keine Lösung gefunden. „Komplette Systeme“ müssen über ein Kabel, das aus dem Körper führt, mit einer Batterie verbunden werden. Die Akkus sind nach etwa 17 Stunden leer. Das Gerät ist rund sieben Kilogramm schwer und im Betrieb rund 70 Dezibel laut – wie ein Wäschetrockner im Hochbetrieb. Die Systeme werden zwar kleiner und effizienter, doch das Leben mit den Geräten bleibt für die Patienten beschwerlich. Und: Die meisten Systeme sind zu groß. Das menschliche Herz ist ein Wunderwerk der Natur – und alle mechanischen Nachbauten sind größer als das Original. Das ist vor allem für Menschen mit kleinerem Brustkorb problematisch – etwa für Frauen. Gürsoy sagt: „Kunstherzen wurden von Männern für Männer entwickelt. Man dachte damals, dass mehr Männer betroffen sind.“ Tatsächlich sind Frauen genauso häufig von Herzinfarkten betroffen wie Männer.

Hinzu kommen Schwierigkeiten bei der Entwicklung und Zulassung. In Europa gibt es nur ein einziges Linksherzunterstützungssystem. Über mehrere Monate war in diesem Jahr kein System für beide Hälften zugelassen; erst Ende Oktober gaben die Regulatoren grünes Licht für die Wiedereinführung. Beim führenden US-amerikanischen System ist die CE-Zulassung ausgelaufen, das französische System war aufgrund von Schwierigkeiten für mehrere Monate nicht verfügbar.

Geplant sind weitere Systeme, Informationen über den Entwicklungsstand sind jedoch rar. Zu den Unternehmen, die im Rennen um vollständige Herzunterstützungssysteme mitmischen, zählen der französische Hersteller Carmat, das US-Unternehmen Syn Cardia sowie das schwedische Unternehmen Realheart TAH.

Am deutschen Projekt Rein Heart TAH, das mit der RWTH Aachen kooperiert, wirkte auch Gürsoy mehrere Jahre mit. Weil Mittel fehlten, wurde es aber eingestellt. Das zeigt auch, warum die Forschung nur langsam vorankommt: Es mangelt an Geld.

Rund 465.000 Menschen kommen pro Jahr mit einer Herzschwäche in deutsche Krankenhäuser. Die große Mehrheit kann behandelt werden, nur bei einer kleinen Gruppe ist das Herz zu schwach, um eigenständig zu funktionieren. Laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) warten in Deutschland etwa 1.100 Menschen auf ein neues Herz, jedoch stehen nur für rund ein Drittel Spenderherzen zur Verfügung – die übrigen Patienten müssen auf ein Kunstherz zur Überbrückung hoffen. 2021 fanden 329 Herztransplantationen statt.

Die Preise von Kunstherzen liegen im Schnitt bei rund 150.000 €, manchmal sogar über 200.000 €. Von der Idee bis zur Implantierung kann die Entwicklung eines Systems die Hersteller bis zu 200 Mio. € kosten, sagt Gürsoy. Die Entwicklungskosten sind hoch, die Zielgruppe ist klein – das macht den Markt nicht allzu interessant für Investoren. Hinzu kommt, dass einige Systeme nach den klinischen Tests – etwa jenes des US-Konzerns Abiomed – eingestellt werden müssen. Und: Während die Kosten für Kunstherzen in Deutschland von der Krankenkasse übernommen werden, ist die Situation in anderen Staaten Europas und der Welt unklar.

Abb. 1: Dilek Gürsoy ist das Cover der Forbes-Ausgabe 8–22 zum Thema „Women“

„Da sagen sich viele: Wenn ich so viel Geld investiere, dann lieber in ein Unternehmen, das Covid-Impfungen produziert – da habe ich das Geld in einem Jahr wieder verdient“, erklärt Gürsoy. Auch das vielversprechende System von Realheart war daher auf staatliche Zuschüsse angewiesen.

Gürsoy glaubt, dass ein Investor im Bereich Kunstherzforschung nicht nur rein finanzielle Motive verfolgen darf: „Man muss jemanden finden, der auch aus altruistischen Motiven handelt; jemanden, der womöglich einen nahen Angehörigen wegen einer Herzkrankheit verloren hat und daher weiß, wie wichtig das Thema Kunstherzforschung und Kunstherztherapie ist.“

Dilek Gürsoy wurde als Tochter von türkischen Gastarbeitern in Neuss in Nordrhein-Westfalen geboren. Mit Krankenhäusern und Medizin musste sie sich bereits als junge Frau auseinandersetzen: Sie wurde als jüngstes von fünf Kindern geboren, ihre zwei ältesten Brüder starben im Kindesalter. Sie verlor auch ihren Vater, als sie zehn Jahre alt war – er starb wegen eines Herzklappenfehlers.

Gürsoys Mutter, eine Analphabetin, zog Gürsoy und zwei weitere Brüder alleine auf; auch sie verbrachte natürlich viel Zeit im Krankenhaus. Gürsoy war, wie ihre Mutter, stets von den Ärzten beeindruckt – Gürsoy fasste früh den Entschluss, selbst Medizinerin zu werden.

Doch ihre Noten reichten nicht, weshalb ihre Mutter in der Fabrik Extraschichten arbeitete, um ihrer Tochter den Vorbereitungskurs für den „Mediziner-Test“ zu finanzieren. Gürsoy schnitt gut ab und wurde die Erste in ihrer Familie, die studierte. Während ihres Studiums riet ihr eine OP-Schwester, dass sie nach Bad Oeynhausen gehen solle, wenn sie sich für Herzchirurgie interessiere – zum damals größten Herzzentrum Europas. „Ich wusste, dass das eine große Klinik ist und mein Weg hart werden würde“, so Gürsoy.

Doch Gürsoy fand in Reiner Körfer, einer der Koryphäen der Herzchirurgie, einen Mentor und Förderer. Sie war bei ihm in verschiedenen Kliniken als Assistenz-, Fach- und letztlich Oberärztin tätig, zwischen 2016 und 2019 in verschiedenen Positionen. 2019 wurde sie Medizinerin des Jahres, 2020 publizierte sie ein Buch mit dem Titel „Ich stehe hier, weil ich gut bin“. In der Heimatstadt ihrer Eltern, in Aybasti in der Provinz Ordu am Schwarzen Meer, wurde sogar eine Straße nach ihr benannt. Dabei sieht Gürsoy ihre Tätigkeit gar nicht als außergewöhnlich an: „Ich sehe mich nicht als etwas Besonderes, ich mache nur meinen Job. Wenn ich das, was ich mache, jeden Tag so geil finden würde, würde ich auch gar nicht vorankommen und nicht ernst genommen werden“, so die Medizinerin.

Als türkischstämmige Frau, deren Eltern Gastarbeiter waren und die noch dazu in einer Männerdomäne reüssiert, bekam Gürsoy in den letzten Jahren viel mediale Aufmerksamkeit. Sie nutzte diese für „die Sache“, wie sie sagt, und meint die Kunstherzforschung. Dennoch (oder gerade deshalb) blieb ihr der gewünschte Chefarztposten in einer großen öffentlichen Klinik mit Tausenden Mitarbeitern verwehrt. Am Migrationshintergrund lag das jedoch nicht, so Gürsoy. „Die Medizin ist voll von Menschen mit Migrationshintergrund. Das war nie ein Problem für meine Karriere.“ Die Tatsache, dass sie eine Frau war, war da schon eher hinderlich, meint sie.

Also verließ sie die Klinik und verdiente ihr Geld unter anderem damit, dass sie in Entwicklung befindliche Kunstherzsysteme implantierte und den Herstellern Feedback gab. Dabei nahm Gürsoy kein Blatt vor den Mund: „Ich habe ein System in die Hand bekommen und sofort mitgeteilt, dass es zu groß ist. Bei der Operation habe ich dann alles gesagt, was schlecht ist; nicht, was man verbessern kann, sondern was schlecht ist. Das muss man knallhart sagen, da darf man auch nicht rumeiern.“ Seit Februar 2021 ist sie nun Chefärztin an der Clinic Bel Etage Medical Center Pradus in Düsseldorf, wo sie auch gemeinsam mit Wilhelm Sandmann, einem führenden deutschen Gefäßchirurgen, operiert, um mehr über sein Spezialgebiet zu lernen.

Gürsoys Plan ist es nun, eine eigene Klinik zu eröffnen. Geplant ist eine Praxis auf einer Fläche von 1.500 Quadratmetern mit einem OP- und einem Herzkatheterraum, vier Intensiv- und rund zehn Normalbetten. Neben Herzchirurgie sollen auch die Bereiche Kardiologie sowie Gefäß- und Thoraxchirurgie angeboten werden. „Von der Prävention bis zur Herz-OP bieten wir alles an“, so Gürsoy – sie plant, mit 20 bis 25 festen Mitarbeitern zu starten.

Ihre Idee: Im Gegensatz zu anderen Privatkliniken will sie sich nicht auf deutsche Patienten fokussieren, sondern auf ausländische „Selbstzahler“. Gürsoy: „Man muss das letztendlich auch unternehmerisch sehen – ich habe schon Kliniken scheitern sehen.“ Besagte Patienten sind für Herzchirurgen lukrativ: Für eine Herzklappen-OP können Summen im mittleren fünfstelligen Bereich berechnet werden.

Dennoch ist das Risiko kein geringes, denn Gürsoy muss erst mal Patienten finden, die die Möglichkeit haben, überhaupt so viel Geld zu bezahlen. Doch sie setzt nicht nur auf ihre Fähigkeiten, sondern auch auf ihre Bekanntheit. Dass sie keine Kassenpatienten willkommen heißen darf, ärgert Gürsoy: Herzchirurgische Kliniken, die Kassenpatienten aufnehmen, müssen in größere Krankenhäuser integriert sein – so will es das deutsche Recht.

Doch für die Zukunft will sie eine solche Erweiterung nicht gänzlich ausschließen. Als Standort der Klinik war Düsseldorf angedacht, doch nun hat Gürsoy eine Immobilie in Mönchengladbach entdeckt, die zu ihren Vorstellungen passt. Im Frühjahr 2023 will sie die Klinik eröffnen. „Ich will in diesem Haus nicht nur gut operieren, sondern auch zeigen, wie das Heranziehen einer neuen Generation (von Herzchirurgen, Anm.) funktionieren kann“, so die Medizinerin.

Einen angenehmen Nebeneffekt hätte der Standort auch: Gürsoy wäre ihrem Herzens-Fußballklub Borussia Mönchengladbach, bei dem sie bis heute Mitglied ist, nahe. Ihr Mentor Reiner Körfer war bis Sommer 2022 zehn Jahre lang Aufsichtsratsvorsitzender des Vereins. Vielleicht ist dieses Gremium ja die nächste Männerdomäne, die Gürsoy ins Auge fasst

Zur Person

Dr. Dilek Gürsoy wuchs in Neuss in Nordrhein-Westfalen als Tochter türkischer Gastarbeiter auf. Sie studierte Medizin und arbeitete später in verschiedenen Positionen und Kliniken im Team von Professor Reiner Körfer. 2021 startete sie als Chefärztin in der Privatklinik Bel Etage in Düsseldorf.

 

Dr. med. Dilek Gürsoy
Medical Center Pradus
Reichsstraße 59
40217 Düsseldorf
info@dr-guersoy.com

Klaus Fiala

Chefredakteur

Forbes Österreich

Liniengasse 2b/14

1060 Wien

klaus.fiala@forbes.at

Erstveröffentlichung am 01. November 2023 in der deutschsprachigen Ausgabe von FORBES, Österreich.

Panorama

Fiala K: Hand aufs Herz. Passion Chirurgie. 2023 Juni; 13(06): Artikel 09_01.

Panorama-Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Panorama.

Passion Chirurgie im Mai: Rückenschmerzen

In der Maiausgabe können Sie sich durch einen CME-Artikel auf den aktuellen Stand der interventionellen Therapie bei Rückenschmerzen bringen und gleichzeitig Fortbildungspunkte sammeln.
Wie der aktuelle Stand der Entwicklungen zum Thema Hybrid-DRG aussieht, berichtet BDC- Vizepräsident Dr. Jörg Rüggeberg in Berufspolitik Aktuell.

Hier noch ein Extratipp der BDC|Akademie für angehende Thoraxchirurg:innen: Vom 14. bis 16. Juni 2023 findet das BDC-Facharztseminar „Thoraxchirurgie“ als Online-Veranstaltung statt. Die optimale Vorbereitung für die Facharztprüfung. HIER finden Sie mehr Informationen und die Anmeldemöglichkeit.

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

CME-Artikel: Rückenschmerzen – Interventionelle Schmerztherapie

Der scheinbar aus dem Nichts entstehende Rückenschmerz, unterhalb des Rippenbogens und oberhalb der Gesäßfalten, mit oder ohne Ausstrahlung, umfasst in der Regel gleichzeitig unterschiedlich ausgeprägte, somatische, psychische und soziale Komponenten.

Über 80 Prozent der Menschen leiden mindestens einmal in ihrem Leben an Schmerzen im Kreuz, Frauen häufiger – jede vierte Frau und jeder sechste Mann. 90 Prozent aller akuten Rückenschmerzen sind nach sechs Wochen verschwunden, trotzdem ist die Belastung für den Einzelnen direkt oder indirekt im Ereigniszeitraum enorm. Für unsere Sozialsysteme ist dieser Umstand personell und finanziell sehr anspruchsvoll.

Wir unterscheiden akute (weniger als sechs Wochen), subakute (sechs bis 12 Wochen) und chronische (länger als 12 Wochen) sowie rezidivierende Kreuzschmerzen – diese treten nach einer Beschwerdefreiheit von sechs Monaten wieder auf.

Erweitern Sie Ihre CME-Punkte, indem Sie nach dem Lesen des Artikels die Fragen dazu auf der eAkademie des BDC beantworten! Der Artikel „Rückenschmerzen – interventionelle Schmerztherapie“ ist für BDC-Mitglieder drei Monate kostenlos in ihr Konto gebucht! Loggen Sie sich auf www.bdc-eakademie.de ein: Einfach starten!

Die Komplexität dieser Erkrankung verlangt, obwohl oft nur ein temporäres Ereignis, eine ganzheitliche Betrachtung, besonders unter dem Aspekt des Erkennens von „Red Flags“, bewusst der Tatsache, dass diese extrem selten sind. Eine primäre singuläre Ausrichtung auf ein Organsystem ist demzufolge nicht zielführend und führt sehr häufig in eine total andere, falsche Richtung.

An die „Red Flags“, Bandscheibenvorfälle, Spinalkanalstenosen, entzündliche Kreuzschmerzen, Osteoporose, Frakturen, Infektionen, Tumore, Spondylolisthesen, unklare Fieberschübe etc. muss gedacht werden und sie können sich hinter einer banal vorgetragenen Anamnese verbergen.

Auch begleitende Nacken-Kopfschmerzen einschließlich der Migräne, Erschöpfung, Schlafstörungen, Depressionen, Angst- sowie Belastungsstörungen werden vom Patienten gelegentlich benannt und haben individuell, in der Art und Weise des Anamnesegesprächs, unter Umständen oberste Priorität. Bei einer schweren Depression oder schweren Angststörung muss sich die Behandlungsstrategie diesem scheinbar fernen Symptomenkomplex anpassen.

Eine körperliche Untersuchung (möglichst neuro-orthopädisch) und entsprechend der Zuordnung des Beschwerdebilds gegebenenfalls eine adäquate Bildgebung – im Einzelfall auch kombiniert mit einer elektroneurophysiologischen Untersuchung – ist Standard.

Psychosoziale Faktoren, Depressionen, Somatisationstendenzen, Stress, kognitive Auffälligkeiten, Angststörungen, posttraumatische Verarbeitungsstörungen etc. die „Yellow Flags“, zeigen oft, wie auch arbeitsbedingte psychische und körperliche Belastungen, „Blue Flags“, den vollzogenen oder den Weg in eine Chronifizierung.

Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist eine Zusammenarbeit zwischen Hausarzt, Orthopäden, Neurochirurgen und Neurologen bei komplizierten Vorgängen wünschenswert. Als Ziel der ärztlichen Tätigkeit, und hier dürfen die assistierenden Fachgebiete wie Psychologie, Physiotherapie, Ergotherapie etc. nicht vernachlässigt werden, steht die Identifikation des Schmerzgenerators an erster Stelle.

Risikoreiche Interventionen stehen immer an letzter Stelle der Kette von Behandlungsmöglichkeiten, die sich von Jahr zu Jahr mehren und in neuen bunten Gewändern, oft aber auch mit einer neuen Idee zum Vorteil des Patienten uns in die Hand gegeben werden.

Entscheidend ist die Zuordnung des Krankheitsbilds und dem folgend die Auswahl einer adäquaten Behandlungsstrategie, die zu 70 Prozent mindestens das Problem des Patienten lösen sollte und eine Risikobelastung, die weitestgehend gegen null geht.

Untersuchung

Grundsätzlich gilt: Finden sich beim Erstkontakt keine Hinweise auf eine ernstzunehmende Pathologie, ist eine erweiterte Diagnostik nicht nötig und von einer Heilung auszugehen.

Die unteren Abschnitte der Hals und Lendenwirbelsäule sind besonders betroffen. Körperliche auch psychosoziale Belastungen, natürlich in Abhängigkeit vom Alter, angeborene Handicaps, berufliche oder auch sportliche Expositionen, werden als Ursache am häufigsten benannt.

Ausstrahlende Beschwerden in den Kopf, aber auch besonders in die Nacken-Schulter-Arm-Region, beziehungsweise lumbal in Richtung des sakralen Übergangs, unter Einbeziehung des Iliosakralgelenks (ISG), der Hüfte, des Unterbauchs, komplizieren in einem hohen Maße dieses Krankheitsbild.

Da diese Beschwerden vom Patienten in einer unregelmäßig starken Ausprägung der Symptome, in unterschiedlichen Situationen und Lebensumständen wahrgenommen werden, ist die Frage „Wie würden Sie Ihre Beschwerden charakterisieren, was führt Sie zu uns?“ richtig, aber für den Patienten ausgesprochen schwierig stringent zu beantworten. Aus diesem Grund ist ein Anamnesefragebogen, der auf der Wartefläche beantwortet werden sollte, vorteilhaft.

Ob der Patient diesen Fragebogen ausfüllt oder nicht, ist zweitrangig, führt aber in jedem Fall dazu, dass er sich, während der Vorbereitung auf den Arztkontakt, mit seinen Problemen zeitnah noch einmal vertraut macht und diese intern zu den verschiedensten Ebenen seines Lebens (Grunderkrankungen, extreme Arbeitsbelastung, Unfälle, psychische Belastungsfaktoren…) zuordnet. Dass sich anschließende Arzt-Patienten-Gespräch, gestaltet sich deutlich einfacher.

In der Kommunikation ist zu beachten, dass bei der Darstellung der „Volkskrankheit“ Rückenschmerz, bestimmte populärwissenschaftliche Begriffe seitens des Patienten einfließen, die verwirren können und nicht korrekt sind. Erwähnt sei hier nur der Hexenschuss, die Lumbalgie, der Ischias oder der Lendenschmerz etc. Auch regionale sprachliche Unterschiede müssen hier unbedingt beachtet werden.

Schädigungen am peripheren beziehungsweise auch am zentralen Nervensystem führen zu einer entsprechenden neurologischen Symptomatik, die oft eine topografische Zuordnung gestatten.

Eine andere Dimension kommt einem chronifizierten Rückenschmerz zu, der durch sämtliche Facetten einer psychischen Begleitsymptomatik auffällt.

Die klinische Untersuchung erfolgt am Patienten, der bis auf die Unterwäsche entkleidet ist. Das Muskelrelief, die Muskelspannung und ihre Funktion sowie die Haltung beim Gehen, Stehen und Sitzen müssen Beachtung finden. Die Tatsache, dass der Mensch ab dem 30. Lebensjahr jeweils über zehn Jahre zehn Kilo Muskelmasse ohne sportliche Aktivität verliert, führt zu einem altersspezifischen Aussehen und Dynamik/Passivität. Ein ausbalanciertes Gehen und Stehen ist dann oft nicht mehr möglich. Die prävertebrale Muskulatur im Trio der Wirbelsäulen-ausbalancierenden Muskelgruppen (Bauchdecke, prävertebrale Muskulatur und die gerade Rückenmuskulatur) dominiert funktionell, sodass der Mensch nach vorn gebeugt seinem Schwerpunkt hinterherläuft.

Die Statik der Wirbelsäule in Ruhe und in der aktiven und bewusst geführten Bewegung gibt uns Informationen zur Balance bzw. Dysbalance unseres aufrechten, zweibeinigen Ganges. Zwingend ist unmittelbar beim Erstkontakt die Beurteilung der muskulär-nervalen Funktion. Sofern es hier Ausfälle gibt, ist eine umgehende Abklärung ohne Zeitverlust unausweichlich.

Therapieoptionen

Beim unkomplizierten Rückenschmerz steht die Einflussnahme des Arztes über die Erklärung der Beschwerdeursachen, der Therapieoptionen und über die Prognose für den Patienten im Vordergrund. Von einem positiven Ergebnis ist auszugehen.

Ist dies nicht der Fall, sollte interdisziplinär, bildgestützt der Symptomenkomplex beurteilt werden. Hier gilt es eine Besonderheit zu beachten: nämlich dass die Kollegen der bildgebenden Seite, oft ohne die klinische Symptomatik weiterzugeben, die gesamten Befunde, die sich digital auf dem Bildschirm darstellen, interpretieren, d. h. auch die normale Anatomie wird beschrieben. Dies kann dazu führen, dass Normvarianten, z. B. altersbedingte Veränderungen etc. in der Hand des Patienten und von ihm gelesen, einen Krankheitswert zugeschrieben bekommen, der an sich nicht besteht.

Abb. 1: Orientierende Darstellung einer Facetteninjektion und PRT

Es ist für den Behandler zwingend nötig, dass er die bildgebende Seite (MRT, CT, Röntgen) unter dem Aspekt der Klinik/Anatomie, so es möglich ist, auch schon unter Beachtung einer allumfassenden therapeutischen Möglichkeit, beurteilt. Die Beschreibung des Bildes muss deckungsgleich zu der des Radiologen sein, jedoch mit einer entsprechenden klinischen/therapeutischen kritischen Wertung.

Was passiert mit der Wirbelsäule im Verlauf des Lebens im Sinne einer vom Menschen verspürten Befindlichkeitsstörung, beziehungsweise Erkrankung? Von dem Verlust an Muskelmasse, zehn Prozent über zehn Jahre ab dem 30. Lebensjahr, haben wir schon erfahren. Weiterhin ist es so, dass die Reduktion an Elastizität des Faserrings der Bandscheibe mit weitestgehend selbstheilenden radiären und zirkulären Rissen sowie Wasserverlust des Gallertkerns zu einer „Sinterung“ des gesamten Segments nach Junghanns führt. Der Mensch wird kleiner – vier Millimeter pro Segment sind möglich. Sind die anatomischen Räume für diesen physiologischen Prozess ausreichend, ist die Folge eine funktionell zu korrigierende Bewegungseinschränkung.

Anders verhält es sich bei Einengungen der Neuroforamen und des Spinalkanals, auch durch knöcherne Anbauten der Wirbelkörper/-gelenke oder Discosen sowie durch Einschränkungen der Wirbelgelenkfunktion. Lumbalgie, Ischialgien oder Lumboischialgien mit oder ohne neurologische Symptome sind die Folge.

Die somatische Seite

Die beschriebenen Veränderungen müssen sich anamnestisch, klinisch und auf der bildgebenden Seite zuordnen lassen. Ist dann der Schmerzgenerator – oder auch mehrere – mit relativer Sicherheit dargestellt und ist die Therapiepalette umfänglich bekannt und wird beherrscht, kann die Indikation zur einer mindestens 70-prozentigen erfolgversprechenden Behandlung indiziert werden.

Abb. 2: Beispiel einer Facetteninjektion am Modell

Die begleitenden ambulanten oder stationären, funktionellen Behandlungen, wie auch die Psyche stabilisierende Therapieformen, sollen hier als bedeutsam benannt, aber nicht weiter beschrieben werden.

Perkutane Therapieverfahren wären (nur die Wichtigsten) die Injektionen von schmerz- und entzündungshemmenden Substanzen an den Schmerzausgangspunkt, an das Wirbelgelenk, in die Bandscheibe, an die Wirbelsäule-stabilisierenden Bänder, das Iliosakralgelenk, in den Spinalkanal und an den Spinalnerven.

Perkutane ergänzende denervierende Verfahren wären die Radiofrequenztechnik bzw. kryothermische Verfahren.

Die offenen operativen Eingriffe wären (nur die Wichtigsten) Nukleotomie, Dekom­pressionsverfahren, Spondylodese, Bandschei­benprothetik.

Perkutane Verfahren, besser als interventionelle Therapien bezeichnet, sind zu favorisieren, da die Ergebnisse ausgesprochen positiv, bei einer überschaubaren Risikobelastung und auch relativ geringen Kosten, sind. Als routinemäßiges Verfahren ist es seit 30 bis 40 Jahren in der Anwendung.

Die Komplexität der anatomischen Schädigungsmöglichkeit stellt sehr hohe Ansprüche während der klinischen Untersuchung an den Therapeuten. Oft ist der Schmerzgenerator nur verschwommen zu erkennen – gibt es vielleicht mehrere Schmerzgeneratoren? Haben wir hier eine Somatisierungsstörung?

Die interventionelle Schmerztherapie bietet hier neben der therapeutischen Seite auch eine diagnostische. Es werden Medikamente an den vermeintlichen Generator (Ort der Schmerzentstehung) injiziert oder später dieser – so nötig – mittels einer hohen elektrischen Frequenz oder Kälte dauerhaft ausgeschaltet. Geht es dem Patienten nach der Injektion gut, wird dieses Therapiekonzept weitergeführt, oder wir müssen in Richtung OP denken.

Bei der zu favorisierenden interventionellen Therapie ist die Kanülenplatzierung an den Ort der Schmerzentstehung unter Sicht zwingend.

Zum Einsatz kommen meist Röntgenstrahlen in der Verwendung eines Durchleuchtungsgeräts oder auch eine Computertomografie (CT).

Abb. 3: Wirbelgelenkinnervation (a. N. spinalis, b. Ramus anterior, c. Ramus posterior, d. Ramus lateralis, e. Ramus medialis)

Ziel ist es, mit einer geringen Menge eines Anästhetikums, oft in Kombination mit einem Kortisonpräparat, die alterierte anatomische Struktur seitens der Schmerzgenerierung auszuschalten und antientzündlich positiv zu beeinflussen.

Die Strukturen, die den Rücken-/Beinschmerz dominierend auslösen, sind die Wirbelgelenke. Dort sind neuroforaminale, spinale Engen unterschiedlichster Causa zu betrachten. Die Behandlung erfolgt in der Regel ambulant. Das Ziel einer mindestens 70-prozentigen Besserung der Symptomatik wird bei über 95 Prozent der Patienten erreicht. Eine Operation wird damit verhindert.

Unter Beachtung der Erfolgsaussicht und der Häufigkeit stehen die transforaminale (periradilkuläre) Injektion, die direkte Fazetteninjektion sowie die Injektion an die Äste des Ramus dorsalis (medialer, lateraler Ast) im Zentrum der interventionellen Therapie bei Lumboischialgien.

Die transforaminale, periradikuläre Technik ist bei radikulären Beschwerden zu favorisieren. Der pathophysiologische Hintergrund ist die Einflussnahme der Medikamente auf die durch Kompression ödematisierte Radix, besonders im anterioren Bereich.

Die zu erwartende Abschwellung der Wurzel über die Zeit und unter Umständen gefolgt von einer „biologischen“ Dehydration eines Bandscheibenvorfalls, so dieser durch den Nukleus pulposus definiert wird, lässt ein positives Ergebnis erwarten. Ein gallertig strukturierter Bandscheibensequester kann bei einer MRT-Kontrolle dann durchaus verschwunden sein.

Die Folge von Discosen oder Instabilitäten der Wirbelsäule führt zur enormen Belastung der Wirbelgelenke und ihrer Gelenkflächen, die als „Schiebegelenke“ entzündungsähnlich reagieren. Die Injektion in das einzelne Gelenk oder an mehrere ist erfolgversprechend.

Ein wichtiger Aspekt ist hier der Umstand, dass die lumbalgieformen Beschwerden in ihrer Dramatik oft der Bildgebung nicht folgen. Beginnend mit sechs Injektionen in die unteren drei Segmentgelenke beidseits der Lendenwirbelsäule, im Sinne der diagnostischen Zuordnung der Rückenschmerzen, ist oft als Einstieg in dieses Prozedere nötig. Bei Erfolg ist eine Höhen- und Seitenlokalisation möglich.

Abb. 4: Injektionsziele bei der Schmerztherapie; Zielpunkte: a. Wirbelgelenk, b. Scotty Doc/Ramus Dorsalis, c. Nervus spinalis

Eine Injektion an die dorsalen Äste führt zur Anästhesie der betroffenen Wirbelgelenke und ist vom Handling ähnlich der Facetteninjektion. Sie bietet jedoch durch die Selektion des entsprechenden Nervenpaars die Möglichkeit, durch eine Läsion derselben, durch eine mikrochirurgisch geführte OP, durch eine Radiofrequenzläsion oder mittels einer Kryodenervation einen schmerzlindernden Effekt über eine längere Zeit zu erreichen. Oft ist eine Kombination der Verfahren empfehlenswert.

 

Dr. med. Roland Minda

BAG für Chirurgie/Unfallchirurgie/Orthopädie

Durchgangsarztpraxis
Lübecker Straße 32

39124 Magdeburg

info@orthospine-md.de

www.Orthospine-MD.de

Chirurgie

Minda R: CME-Artikel: Rückenschmerzen – interventionelle Schmerztherapie. Passion Chirurgie. 2023 Mai; 13(05): Artikel 03_01.

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Chirurginnen: Wann ist man Chirurgin?

Über falsche Mentoren, das Selbstwertgefühl und die unterstützende Gemeinschaft der Chirurginnen e.V.

Vor Jahren – ich war bereits Fachärztin für Urologie, hatte schon zwei, drei Jahre in der Viszeral-, Thorax- und Gefäß-Chirurgie gearbeitet, war bei Organentnahmen und Transplantationen aktiv beteiligt und hatte in der unfallchirurgischen Rotation schon gebrochene Knochen zusammengeschraubt – sagte ich in einem Gespräch mit einem sehr konservativen, weißen, älteren Chirurgen, den ich bis dato als Mentor betrachtete, den Satz „… ich bin Chirurgin.“ Seine Reaktion hätte vernichtender nicht sein können: „Nein, du bist keine Chirurgin. Du bist Assistenzärztin.“

Dieser Satz und das damit verbundene Gefühl brannte sich ein. In meine Seele, in meine Hände, in meinen Körper. Es nahm mir – auch aus Mangel an mich unterstützenden Weggefährt:innen – das Selbstbewusstsein und das Selbstbild, mich als Chirurgin zu sehen und mich so zu fühlen. Immer war ich das fleißige Bienchen auf Station, das alles wuppte, die internistische, die psychosomatische, die geriatrische und onkologische Begleitung der Patient:innen gleich mit. Auch ein Wechsel an eine andere Klinik half nicht. Ich operierte wenig und schrieb umso mehr Arztbriefe. Ich bastelte mir ein Kittelschild „Fachärztin für Visitenmedizin“ – aus Trotz. Doch letztlich hatte ich mich selbst dazu degradiert und war kurz davor alles hinzuschmeißen. Ich war keine Chirurgin. Ich fühlte es nicht.

Ich stand nicht oft auf dem OP-Plan. Ich bettelte und bat förmlich um OPs. Und wurde noch seltsam vorwurfsvoll angeschaut, wenn ich nach durchgearbeiteten Nächten im Rufdienst nicht noch blieb, um zu operieren. Du bist halt keine richtige Chirurgin, hallte es in meinem Kopf.

Ich trat den Chirurginnen e.V. bei und hatte ein schlechtes Gewissen. Ich gehöre doch gar nicht richtig dazu. Ich spiele doch mit dem Gedanken alles hinzuwerfen … Auf dem BDC-Facharztseminar scheute ich jeden Smalltalk mit den Seminarleitern, denn: Was hatte ich schon zu erzählen? Weder fühlte ich, dass ich Chirurgin bin, noch wusste ich, ob ich überhaupt Gefäßchirurgin sein wollte. Beim gemeinsamen Abendessen wechselte ich den ganzen Abend kein Wort mit dem Chefarzt neben mir.

Zwei erfahrene Chirurginnen, die ich über Die Chirurginnen e.V. kennengelernt hatte, waren mir geduldige Zuhörerinnen, stellten provokante Fragen und gaben ehrliche Antworten, die mir Mut machten.

Dann aktivierte ich unser Netzwerk für eine Patientin und durfte einen aus dem Netzwerk vermittelten Patienten in unserer damaligen Sprechstunde einplanen. Ich hatte das Gefühl dazuzugehören. Auch wenn ich doch eigentlich keine Chirurgin bin.

Das Gefühl konnte mir keiner geben. Ich musste es selbst fühlen. Aber es kann Initialzündungen geben. Und diese Zündung, die ich als Rehabilitation der Brandmarkung von damals empfand, kam unerwartet: Als ich eine „komplexe Notfallreko klug und technisch brilliant“ löste und mein damaliger Chef noch anfügte: „Sie sind Gefäßchirurgin.“ Noch bevor ich wenige Monate später zur Prüfung antrat. In der gleichen Nacht erkannte ich den rupturierten Carotispatch klinisch und sonografisch und stellte die Indikation zur sofortigen OP. Ich war mir meiner Diagnose sicher. In dieser Nacht fühlte ich endlich, dass ich Chirurgin bin. Und dazu noch Gefäßchirurgin. Auch wenn ich die Carotis nicht selbst revidierte. Ich habe all die Jahre durchgehalten, weil tief in mir drin die Chirurgin verborgen lag. Und nicht aufgab.

Also: Wann ist man Chirurgin?

Wenn Herz, Geist und Seele es fühlen. Wenn die Hände nach Skalpell und Pinzette verlangen und man sich plötzlich nichts anderes mehr vorstellen kann. Wenn man sich begeistert mit Kolleg:innen über mögliche OP-Verfahren austauscht. Wenn man aus dem Saal geht und sich innerlich über jeden Schnitt und jede Naht freut.

Dann ist man Chirurgin.

Dr. med. Astrid Stula

Fachärztin für Gefäßchirurgie und Urologie

Oberärztin Gefäßchirurgie in der Schön Klink Vogtareuth

astula@schoen-klinik.de

Chirurgie+

Stula A: Wann ist man Chirurgin? Passion Chirurgie. 2023 Mai; 13(05): Artikel 04_03.

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Abrechnung: Honorarberichte der KBV – Quartal 1–4/2021

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat nun auch das letzte Quartal 2021 des Berichts zur Honorarentwicklung im Vergleich zu den entsprechenden Vorjahreszeiträumen veröffentlicht.

Hier geht es zum Download:

Erstes Quartal 2021

Zweites Quartal 2021

Drittes Quartal 2021

Viertes Quartal 2021

Alle Honorarberichte der KBV – auch für die Vorjahre –, Kennzahlen der Abrechnungsgruppen, Fragen und Antworten zum Honorarbericht sowie grafische Darstellungen dazu finden Sie hier.

(Quelle: http://www.kbv.de/html/honorarbericht.php).

Der Honorarbericht und die Kennzahlen erscheinen quartalsweise. Das Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (VStG) überträgt der KBV die Aufgabe, einen Bericht über die Ergebnisse der Honorarverteilung, über die Gesamtvergütungen, über die Bereinigungssummen und über den Honorarumsatz je Arzt und je Arztgruppe zu veröffentlichen.

Kassenärztliche Bundesvereinigung KdöR (KBV)

Herbert-Lewin-Platz 2

10623 Berlin

Chirurgie+

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Kopfarbeit – Ein Gehirnchirurg über den schmalen Grat zwischen Leben und Tod

In seinem Buch „Kopfarbeit“ will Peter Vajkoczy seine Faszination für das Gehirn weitergeben und die Leidenschaft für die Neurochirurgie wecken, ein Fach, in dem noch so viele Fragen offen, so viele Zusammenhänge ungeklärt sind, das sich zugleich aber mit einer schier unglaublichen Rasanz weiterentwickelt.

Im Folgenden lesen Sie das Vorwort des Buches, das vielleicht Lust auf mehr macht.

Sie hatte schwere Symptome, Schwierigkeiten, sich zu bewegen; immer wieder traten Schwindelgefühle auf und zeitweise konnte sie nicht einmal mehr sprechen. Ein MRT ergab, dass die 35-jährige Singer-Songwriterin Pam Reynolds ein großes Aneurysma im Gehirn hatte. Ein Aneurysma ist eine krankhafte Aussackung einer Arterie, in diesem Fall einer besonders wichtigen, tief im Gehirn, nahe dem Hirnstamm. Es drückte auf andere sensible Bereiche, daher die Ausfallerscheinungen, und es drohte jederzeit zu platzen: Das wäre ihr sicherer Tod. Die Chance, eine Operation in dieser Region zu überleben, war gleich null.

Es gab eine winzig kleine Hoffnung, an die zu klammern in etwa so viel bedeutete, als würde man sich an einem Blatt, das an der Wasseroberfläche treibt, festhalten wollen, um sich vor dem Ertrinken zu retten, zumindest klang es nicht weniger abstrus: Hypothermic cardiac standstill, so die Fachbezeichnung. Eine extrem selten durchgeführte Operationstechnik. Man würde die Patientin in einen Zustand versetzen, in dem sie klinisch tot war, Herzstillstand durch Unterkühlung. Keine Atmung mehr, keine Hirnaktivität während des Eingriffs, kein Blut mehr im Gehirn – absoluter Stillstand. Nur unter diesen extremen Bedingungen könnte eine Operation gelingen. Pam Reynolds sollte sich also in den klinischen Tod versetzen lassen, um zu überleben – sofern man es denn schaffen würde, sie auch wieder ins Leben zurückzuholen. Falls ja, und falls die Operation gelingen sollte, gab es Hoffnung, wieder ein normales Leben führen zu können.

Das war 1991. Pam Reynolds hat sich an diesem Blatt festgehalten, und sie ging nicht unter. Ihr Fall machte noch aus einem anderen Grund weltweit Schlagzeilen. Nach der Operation berichtete sie von einer Nahtoderfahrung. Sie konnte zahlreiche Details von der Operation, von den Gesprächen im OP-Saal wahrheitsgetreu wiedergeben; sie konnte einzelne Instrumente beschreiben, die zum Einsatz gekommen waren. Doch all das hatte sich ereignet, als sie, permanent überwacht, ohne jegliche Hirnaktivität auf dem OP-Tisch lag – die Ohren verschlossen, die Augen abgedeckt. Eine spektakuläre, schier unglaubliche Geschichte, die die Frage, ob es so etwas wie eine Seele gibt, weiter befeuert hat. Eine schlüssige Erklärung für Reynolds’ Berichte gibt es bis heute nicht. Reynolds hat diesen Eingriff 20 Jahre ohne große Beeinträchtigungen überlebt.

Robert F. Spetzler hieß der Neurochirurg, der sich an diese Operation gewagt hatte. Es war nicht seine erste dieser Art. Als junger Neurochirurg las ich ein Buch über seine Arbeit am Barrow Neurological Institute in Phoenix, The Healing Blade hieß es, die heilende Klinge, und ich war absolut fasziniert. Das liegt nun deutlich mehr als 20 Jahre zurück. Damals gab es weltweit kaum eine Handvoll Ärzte, die diesen Eingriff wagten, und Spetzler war einer der Pioniere. Er hat die meisten Operationen dieser Art durchgeführt – mit den geringsten Todesraten. Spetzler wurde in einem Dorf bei Würzburg geboren und ist im Alter von elf Jahren Anfang der 1950er-Jahre mit seiner Familie in die USA ausgewandert. Er war ein guter Freund meines inzwischen verstorbenen früheren Chefs am Universitätsklinikum Mannheim. Über diesen Kontakt habe auch ich ihn später kennengelernt und einige Male in Phoenix besucht. Dort leitete er lange Zeit die Neurochirurgie am Barrow Neurological Institute, das als eine der weltweit größten Einrichtungen zur Erforschung und Behandlung neurologischer Krankheiten gilt. Mit den Jahren ist er auch für mich ein Freund und Mentor geworden, und wir halten noch immer Kontakt.

Heute werden keine Standstill-Operationen mehr durchgeführt. So hilfreich der Zustand bei der Operation sein mag, so schwierig ist er danach zu beherrschen. Die Aufwärm- und Aufwachphase war jedes Mal ein hochriskantes Vabanquespiel, das oft irreparable Schäden bei den Betroffenen hinterließ.

Wir verfügen in unseren modernen Operationssälen inzwischen über so ausgefeilte bildgebende Verfahren, computergesteuerte Techniken und neue, minimalinvasive Operationstechniken, dass wir ganz andere Möglichkeiten haben und auch ohne völligen Stillstand in Regionen operieren können, die lange als inoperabel galten. Die Suche nach neuen Methoden und das Bangen nach jeder Operation, ob auch keine Folgeschäden bleiben, hat sich freilich nicht geändert. Auch heute noch warten wir Neurochirurgen nach jeder Operation beim Patienten und zählen die zähen Minuten bis zum Erwachen, bis wir prüfen können, ob sie sich noch bewegen und ob sie sprechen können.

Doch was mich vor allem an der Lektüre des Buchs von Robert Spetzler in Aufruhr versetzte, war seine Haltung – sein Mut, nichts unversucht zu lassen, solange für seine Patienten noch der Hauch einer Chance bestand. Und sein Wille, die Grenzen unseres Wissens ständig zu erweitern, aus jedem Rückschlag zu lernen. Auch wenn ich damals noch nicht im gleichen Umfang nachempfinden konnte wie heute, wie sehr einen jeder Fall mitnimmt, der nicht glücklich ausgeht, der mit schweren Schäden oder gar dem Tod endet, so war mir doch bewusst, dass hier jemand war, der das in Kauf nahm, um vielleicht anderen zu helfen. Diese Haltung wollte ich mir zum Vorbild nehmen, sie prägt mich bis heute.

„Die Neurochirurgie ist ein Pakt zwischen dem Allerschönsten und dem Allerschrecklichsten“, so drückt es der Neurochirurg Aaron A. Cohen-Gadol von der Indiana University School of Medicine aus. Ich werde diesen Satz in diesem Buch noch einige Male zitieren müssen, denn ich werde bewusst auch von Operationen berichten, die nicht zum gewünschten Ergebnis geführt haben, von Patientinnen und Patienten, denen wir nicht helfen konnten, oder solchen, die nach dem Eingriff mit schwersten Beeinträchtigungen zurechtkommen müssen. Manchmal liegen nur ein paar Minuten oder Sekunden zwischen der Freude über eine gelungene Operation und dem Entsetzen, wenn es plötzlich zu einer Nachblutung kommt. Es wird schnellstmöglich nachoperiert, aber der Patient stirbt trotzdem, oder er ist am Ende behindert. Keine noch so große Routine führt je dazu, solche Vorfälle leicht wegzustecken. Sorgen, Ängste und Zweifel sind in unserem Beruf ständige Begleiter.

Doch zugleich ist die Neurochirurgie eben auch der Pakt mit dem Allerschönsten. Die zahlreichen Fälle, in denen es gelingt, Tumore oder gefährliche Gefäßveränderungen zu entfernen oder Betroffenen mit Erkrankungen, die noch vor Kurzem zu komplex erschienen, um operiert zu werden, doch noch ihre Lebensqualität zurückgeben zu können, sind ein Geschenk und zugleich Ansporn für das gesamte neurochirurgische Team. So oft werde ich nach meiner Arbeit gefragt, wie man als Neurochirurg solche Operationen erlebt, aber auch wie man als Mensch mit den Herausforderungen und Niederlagen zurechtkommt, wie sehr einen die Schicksale der Patientinnen und Patienten persönlich treffen. Anhand ausgewählter Fälle, die jeweils besondere Aspekte berühren, will ich Ihnen in diesem Buch eine Antwort geben.

Und dann ist da noch das menschliche Gehirn selbst, das uns Bewunderung abringt – seine Fragilität und Verletzbarkeit, aber auch seine verblüffende Fähigkeit zu regenerieren. Wer immer zum ersten Mal während einer Operation einen Blick auf das menschliche Gehirn werfen darf, reagiert bei seinem Anblick mit Bewunderung. Das weiß-rosa-grau schimmernde Organ mit seiner komplexen Anatomie bietet ein höchst ästhetisches, völlig unblutiges und friedliches Bild. Unser Gehirn ist das Ergebnis der Evolution von Millionen von Jahren. Hundert Milliarden winziger Zellen, die in ihrer Gesamtheit und in ihrem Zusammenwirken die Schaltzentrale eines Menschen ergeben, das Headquarter seiner Persönlichkeit. In gesundem Zustand sieht das Gehirn bei jedem ähnlich aus, und doch ist es wie ein Fingerabdruck stets einzigartig. Die Strukturen des Gewebes, die feinen und feinsten Gefäße, ihre Verzweigungen, und wie alles zusammenspielt, einen Sinn ergibt. Man empfindet unwillkürlich und jedes Mal neu Respekt vor diesem erhabensten Ergebnis der Schöpfung, das da vor einem pulsiert. Und in einem bin ich mir sicher: Im neurochirurgischen OP-Saal wird man nicht eine Person finden, die diese Begeisterung nicht teilt und es nicht als Privileg empfinden würde, hier arbeiten zu dürfen.

Diese faszinierende Struktur mit all ihren Funktionen, von denen so viele noch nicht ergründet sind, ist unser tägliches Arbeitsfeld, so spannend wie herausfordernd. Sie umfasst, was uns als Menschen ausmacht, das zentrale Nervensystem – das Gehirn und seine „Verlängerung“, das Rückenmark, das periphere Nervensystem, alle Nervenfasern, die sich außerhalb davon netzartig durch den gesamten Körper ziehen. Das eine könnte ohne das andere nicht existieren. Das Nervensystem bestimmt unser Sein und Dasein. Seine Intaktheit ist Voraussetzung dafür, dass wir Arme und Beine bewegen, sprechen und kommunizieren können, emotional, aber doch beherrscht sind, denken, fühlen, Informationen speichern oder vergessen, lieben und Glück empfinden, oder auch das Gegenteil.

Und damit ist das wichtigste Ziel, das ich mit diesem Buch verfolge, umrissen: die Faszination für all dies weiterzugeben, die Leidenschaft für ein Fach, in dem noch so viele Fragen offen, so viele Zusammenhänge ungeklärt sind, das sich zugleich aber mit einer schier unglaublichen Rasanz weiterentwickelt, mit immer noch eindrucksvolleren Möglichkeiten. Ich möchte von den innovativen technischen Mitteln berichten, die wir heute haben, und möglichst viele Menschen dafür begeistern. Sie werden miterleben, wie Wach-OPs ablaufen und welche Chancen sie bieten, Sie werden die Möglichkeiten der digitalen Neurochirurgie, Operationen in Multifunktions-OP-Sälen mit High-Performance-Teams und vielfältiger Bildunterstützung kennenlernen, Sie werden von seltenen Erkrankungen erfahren, die lange als unbeherrschbar galten, von Erfolgen und Komplikationen. Und vor welchen Aufgaben und Herausforderungen wir dabei als Forschende, Lehrende und Mentoren in diesem dynamischen Feld stehen. Aber auch, wie die Covid-19-Pandemie sich auf unsere Arbeit und die Operation einer jungen Patientin ausgewirkt hat.

Hirnoperationen sind hochkomplex; man erfährt dabei eine Menge darüber, wie das Gehirn funktioniert, welche Prozesse darin ablaufen. Zahlreiche Wissenschaftler nutzen bei uns im OP-Saal die Chance, ihre Erkenntnisse zu erweitern – in Zukunft wird der OP-Saal zu einem zentralen Ort neurowissenschaftlicher Forschung werden. Viele Menschen interessieren sich dafür, und ich finde, es ist ein Teil unserer Aufgabe, ihnen das verständlich zu erklären.

Und nicht zuletzt gehöre ich zu einer Generation von Neurochirurginnen und Neurochirurgen, die, im Gegensatz zu unseren Vorvätern, die Rolle des Chirurgen entmystifizieren wollen und zeigen, wie unendlich viel Teamarbeit hinter jeder Hirn-OP steht, wie viele hoch spezialisierte Menschen Hand in Hand arbeiten und wie viel ausgereifte Technik daran beteiligt ist. Manche sagen, die Neurochirurgie sei das Wunder der Medizin. Das stimmt genauso wenig, wie einzelne Neurochirurgen Zauberer sind. Oder um es mit den Worten des Neurochirurgen Karl Schaller von den Hôpitaux Universitaires de Genève zu sagen: „Auch wenn das neurochirurgische Zielorgan noch immer etwas Geheimnisvolles an sich haben mag: Die Arbeit daran und darum herum folgt den Gesetzen der Physik und nicht der Aura des Chirurgen. Dass Letztere einen Einfluss auf das Verhältnis zu den Patienten und den Heilungsverlauf haben mag, ist wiederum unbestritten und macht einen guten Teil des ärztlichen Erfolges und der Freude daran aus, diesen Beruf ausüben zu dürfen.“

Wir sind in einer Spezialdisziplin unterwegs, die von allen medizinischen Disziplinen wahrscheinlich am stärksten auf modernster Technologie basiert und durchweg von hoch qualifiziertem Personal betrieben wird, und ja, Mikrochirurgie bedarf absoluter Präzision. Aber das zeichnet nicht uns allein aus. Letztlich sind wir Handwerker. Vielleicht kann man die Arbeit der Neurochirurgie aber auch gut mit der von Tänzern vergleichen, denn auch da kommen mehrere Dinge zusammen: Tänzer müssen nicht nur körperlich fit sein und die komplette Choreografie im Kopf haben, sie müssen die einzelnen Sprünge und Figuren wieder und wieder und wieder üben, allein sowie im Zusammenspiel mit der Musik und den Partnern auf der Bühne. Tänzer müssen mit absoluter Präzision arbeiten, und sie müssen einander vertrauen können und dabei ständig auf die Musik und das Orchester achten. Auch Tänzer treibt der Wille zur Perfektion an, die unbedingte Liebe zu ihrer Kunst und das Gefühl einer Verantwortung, das persönliche Talent zu seiner vollen Entfaltung zu bringen, um Menschen damit zu beglücken. Aus alldem speist sich die nicht nachlassende Energie, täglich stundenlang zu üben und sich nicht zufriedenzugeben, solange es nicht perfekt ist – und das ist es nie.

Eine solche Liebe zu ihrem Fach, die Faszination des menschlichen Gehirns mit seinen grandiosen Fähigkeiten, treibt auch Neurochirurginnen und -chirurgen und neurochirurgische Teams an. Vor allem anderen aber wollen sie sich der Verantwortung nicht entziehen, mit ihren spezifischen Fähigkeiten Leben retten zu können.

Ich persönlich glaube, dass es einiger vielleicht altmodisch anmutender Tugenden bedarf, um ein guter Neurochirurg zu sein; Starallüren passen da sicher nicht dazu. Für mich sind Demut und Verantwortungsbewusstsein, Dankbarkeit und Vertrauen, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit, Disziplin, Durchhaltevermögen und wissenschaftliche Neugier das Fundament, auf dem unsere Arbeit aufbaut.

Die Behandlung all dieser Patienten mit ihren individuellen Krankheitsgeschichten und Lebensumständen ist aber auch mit einem hohen Maß an Emotionalität verbunden. Viele Menschen fragen sich, was in den Köpfen von Neurochirurginnen und Neurochirurgen vorgeht, wenn sie sich den Herausforderungen stellen oder Fehlschläge verarbeiten müssen. Hier in diesem Buch kann ich nur für mich sprechen. Ich bin mir aber sicher, dass sich viele, die sich diesen Aufgaben täglich stellen, wiedererkennen werden und ähnliche Emotionen kennen. Eine ganze Reihe von Kollegen aus aller Welt, die ich um ihr Statement gebeten habe, werden in diesem Buch zu Wort kommen, diese Aspekte untermauern und zeigen, wie eng wir über sämtliche Grenzen hinweg zusammenarbeiten, voneinander lernen und uns gegenseitig über die neuesten Entwicklungen informieren.

Aber auch die so schwierigen wie spannenden ethischen Fragen, die sich stellen, wenn man im Gehirn operiert, möchte ich in diesem Buch zumindest anklingen lassen. Ich will nicht pathetisch wirken, aber es sind nun einmal Fragen, die an unser Menschsein als solches rühren.

Sollte sich jemand erhoffen, ich würde die Frage beantworten, ob die Seele im Gehirn zu finden ist – und falls ja, wo dort –, dann muss ich ihn enttäuschen. Daran haben sich bereits etliche Wissenschaftler und Philosophen abgearbeitet, ohne den letzten Beweis zu erbringen. Ich glaube, dass jeder Mensch eine Seele hat. Und ich glaube, dass sie im Gehirn sitzt. Sie macht unsere Identität aus, auch wenn es schwierig ist, sie zu definieren. Wir wissen nicht, was mit ihr geschieht, wenn das Gehirn nicht mehr funktioniert. Für Operationen wäre es überaus interessant zu erfahren, wo man die Seele finden kann, ob sie sich überhaupt irgendwo lokalisieren lässt. Mein Gefühl sagt mir, dass Seele am ehesten mit Emotionalität zu tun hat. Dann wäre sie im limbischen System zu verorten, dem entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil des Gehirns, dort, wo unter anderem Lust, Antrieb und unsere Triebe ihren Ursprungsort haben. Wer weiß. Die Suche geht weiter …

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Zum Buch

Kopfarbeit – Ein Gehirnchirurg über den schmalen Grat zwischen Leben und Tod

Peter Vajkoczy (Autor), in Zusammenarbeit mit Gisela Fichtl
Hardcover, 272 Seiten, 2022
Droemer (Verlag)
ISBN: 978-3-426-27814-7

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Prof. Dr. Peter Vajkoczy

Direktor

Klinik für Neurochirurgie

Arbeitsbereich Pädiatrische Neurochirurgie (CVK)

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Charitéplatz 1

10117 Berlin

Panorama

Vajkoczy P: Kopfarbeit – Ein Gehirnchirurg über den schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Passion Chirurgie. 2023 Mai; 13(05): Artikel 09.

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