Alle Artikel von Katrin Kammerer

Das Schädel-Hirn-Trauma in Deutschland – ein Krankheitsbild im Wandel

Aktuelle Zahlen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes zeigen, dass das Schädel-Hirn-Trauma (SHT) in Deutschland weiterhin ein relevantes Krankheitsbild ist. So wurden im Jahr 2019 deutschlandweit 421.060 Patienten mit einer Verletzung des Kopfes (ICD-10: S00–S09) vollstationär behandelt, was einer Steigerung von 21 % im Vergleich zum Jahr 2000 entspricht [7]. Die Inzidenz des SHT wird zudem in Europa auf 47,3-849/100.000 Einwohner pro Jahr [3] geschätzt; weltweit sogar auf 801-1299/100.000 Einwohner pro Jahr [5].

Allerdings lassen sich über die Epidemiologie des SHTs aufgrund unterschiedlicher Datenquellen, Dokumentationsweisen sowie nicht einheitlicher Definitionen nur sehr eingeschränkt allgemeingültige Aussagen ableiten. Darüber hinaus sind krankheitsspezifische Daten zum SHT häufig nur auf Basis einzelner Studien verfügbar. Dies ist insofern problematisch, da detaillierte, robuste und gleichzeitig flächendeckende Daten zur Überprüfung der klinischen Behandlung von SHT-Patienten, zur Entwicklung und Durchführung von Präventionsmaßnahmen und zur Beurteilung und Quantifizierung der sozioökonomischen Belastung durch das SHT durchaus relevant wären [8].

Deshalb wurde seit dem Jahr 2016 im Rahmen einer engen Kooperation zwischen der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) und der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC) eine neue Datenerfassungsstruktur für das SHT im deutschsprachigen Raum entwickelt.

Diese SHT-Datenbank DGNC/DGU führt das bereits seit 1993 bestehende TraumaRegister DGU (TR-DGU), in dem an bundesweit ungefähr 600 zertifizierten Kliniken schwer verletzte Patient:innen erfasst werden, mit einem für das SHT spezifischen, standardisierten Datensatz in einem neuen Modul zusammen. Die mehr als 300 Variablen der SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU aus den Bereichen Demografie, Klinik, Bildgebung, Behandlung im Schockraum und auf der Intensivstation, Labordiagnostik, Komplikationen und Behandlungsergebnis beinhalten auch eine Nachuntersuchung nach sechs und 12 Monaten. Zudem sind sie mit anderen, internationalen SHT-Datenerfassungsstrukturen harmonisiert.

Nach einer Testphase im Jahr 2018 und einer Pilotphase in den Jahren 2019 und 2020 werden in der SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU nun bereits seit November 2021 prospektiv Patient:innen eingeschlossen, die über den Schockraum auf eine Überwachungsstation aufgenommen werden und bei denen eine Verletzung des Kopfes, definiert durch einen Abbreviated Injury Scale (AIS) Head Code ≥ 1 vorliegt [16].

Ergebnisse der ersten 318 Patient:innen aus der SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU, rekrutiert in sieben Neurochirurgischen und zwei Unfallchirurgischen Kliniken in Deutschland, wurden nun veröffentlicht [17]. Hier zeigt sich für die intensivmedizinisch versorgten SHT-Patienten:innen ein fortschreitender, demografischer und epidemiologischer Wandel hin zu älteren Bevölkerungsgruppen (medianes Alter 58 Jahre, wobei mit 71 % immer noch mehrheitlich Männer betroffen sind), mit relevanten Begleiterkrankungen (vorhanden bei 46,5 %), antithrombotischer Medikation (eingenommen von 28 %) und Stürzen (bei 55 %) im häuslichen Umfeld (bei 37 %) als Traumaursache. Interessant ist, dass diese Zahlen aus Deutschland im Vergleich zu der zwischen den Jahren 2014 und 2017 in Europa durchgeführten, prospektiven und multizentrischen „Collaborative European NeuroTrauma Effectiveness Research in TBI“ (CENTER-TBI) Beobachtungsstudie mit ihren 2.138 intensivmedizinisch behandelten SHT-Patient:innen bereits eine deutliche Steigerung darstellen (mittleres Alter hier 48 Jahre, antithrombotische Medikation in 15 %, und Stürze in 41 %) [12]. Dass ein direkter Vergleich der in Deutschland prospektiv erhobenen Daten mit einer großen europäischen SHT-Studie überhaupt möglich ist, stellt eine große Errungenschaft der neuen SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU dar.

Zwar ist die Verletzungsschwere gemessen an der Glasgow Coma Scale (GCS) bei 45 % der im Kollektiv der SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU erfassten Patient:innen hoch (GCS 3-8, schweres SHT), allerdings werden ebenso viele Patient:innen mit einem leichten SHT (GCS 13-15) auf den Intensivstationen behandelt oder überwacht (45 %). Etwas niedrigere, aber vom Trend her ähnliche Zahlen konnten bereits in prospektiven Beobachtungsstudien für Europa (35 %) und die USA (20 %) nachgewiesen werden [12, 13]. Diese zunehmende Praxis wird zum Teil auf das höhere Patientenalter und die Zunahme von relevanten Begleiterkrankungen und antithrombotischer Vormedikation zurückgeführt. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass sich bei insgesamt 95 % der Patient:innen in der SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU in der kraniellen Computertomographie (CT) eine traumatische Pathologie nachweisen ließ (wobei die traumatische Subarachnoidalblutung mit 76 % hier am häufigsten war).

Im Vergleich zur europäischen CENTER-TBI-Studie bleiben die SHT-Patient:innen aus dem deutschen Kollektiv bzgl. ihrer intrakraniellen Verletzungsschwere aber dennoch zurück (z. B. schwerste Verletzung des Schädels nach der Abbreviated Injury Scale (AIS Grad 5) in 30 % vs. 48 % oder Mittellinienverlagerung > 4 mm im kraniellen CT in 15,5 % vs. 29 %) [12]. Allerdings legen die Daten der SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU zur globalen Verletzungsschwere (medianer Injury Severity Score 24, wobei ein Score ≥ 16 ein Polytrauma definiert [1]) und zur Rate der extrakraniellen Notfalleingriffe (durchgeführt bei 11 %), auch nahe, dass teilweise extrakranielle Verletzungen mit ein Grund für die intensivstationäre Aufnahme sein können. Da bislang nicht belegt ist, dass die intensivmedizinische Überwachung von Patient:innen mit leichtem SHT das Behandlungsergebnis verbessert, sollte dies trotzdem kritisch betrachtet und weiter untersucht werden, da sich für Deutschland Kosteneinsparungen bei der Akutversorgung des SHTs ergeben könnten [13]. Zudem werden trotz der im Verhältnis geringeren intrakraniellen Verletzungsschwere in Deutschland im Vergleich zu Europa offensichtlich mehr Kraniotomien (27 % vs. 9 %) oder sogar dekompressive Hemikraniektomien (15 % vs. 10 %) durchgeführt, was als Trend zur Übertherapie interpretiert werden könnte [10, 12].

Dazu passt, dass sich im Vergleich zu einer Analyse der in den Jahren 2013 bis 2017 im TR-DGU erfassten Patient:innen mit einem SHT (mindestens AIS Grad 3, also schwer) in der SHT-Datenbank DGNC/DGU nun die Rate an intrakraniellen chirurgischen Eingriffen insgesamt verdoppelt hat (18 % vs. 42 % [9]). Allerdings sollte hierbei berücksichtigt werden, dass im Vergleich zum TR-DGU für das SHT-Modul nun neu und bislang auch mehrheitlich Neurochirurgische Kliniken Patienten eingeschlossen haben. Dies könnte auch erklären, dass bei einem Drittel der Fälle in der SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU eine invasive intrakranielle Drucküberwachung durchgeführt wurde, was einem großen Anteil aller intubierten und beatmeten Patient:innen entsprechen muss. Eine medikamentöse oder chirurgische Therapie des erhöhten intrakraniellen Drucks war dann auch bei 34 %, also wahrscheinlich bei all jenen Patient:innen, notwendig, was wiederum den aktuellen Stellenwert dieses Behandlungskonzepts des SHTs auf deutschen Intensivstationen bestätigt.

Weitere, durchaus auch sozioökonomische Aspekte der Behandlung des SHTs bestehen in der Dauer der maschinellen Beatmung und des Aufenthalts auf der Intensivstation. Hier zeigt sich in der SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU nun, dass Erstere im Median nur 1,2 Tage beträgt. Allerdings ist überraschend, dass trotzdem eine Rate von Lungenentzündungen, einer möglichen Komplikation der maschinellen Beatmung, für die gesamte Kohorte von 28 % berichtet wird, was vor allem im Vergleich zur CENTER-TBI Studie (hier 13 %) hoch erscheint [12]. Dies könnte ebenfalls Ausdruck des in der SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU offensichtlich älteren und auch stärker vorerkranken Patientenkollektivs sein [6]. Zweitere, also die Dauer der intensivmedizinischen Behandlung oder Überwachung, lag im Median bei fünf Tagen, die Dauer des gesamten stationären Aufenthalts im Akutkrankenhaus in der Summe dann bei elf Tagen. Die europäischen Daten aus der CENTER-TBI Studie zeigen hier deutlich längere Verläufe (Behandlungsdauer im Akutkrankenhaus im Mittel 21,4 Tage) [12].

Auch heutzutage bleibt die Mortalität von Patient:innen mit SHT in Deutschland aber relativ hoch, die SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU gibt hier eine Rate von 21 % an. Im Vergleich zur in der CENTER-TBI Studie berichteten Mortalität nach SHT mit intensivmedizinischer Behandlung von 17 % ist diese Zahl relativ überraschend, könnte aber erneut die Relevanz von höherem Alter und vermehrten Vorerkrankungen als prognostisch ungünstige Faktoren nach SHT unterstreichen [12; 11]. Dies zeigt auch eine vor kurzem erhobene Statistik zu Sterbefällen aller in Deutschland aufgrund einer Verletzung des Kopfes (ICD 10: S00-S09) vollstationär behandelten Patienten, die sich von 3.468 im Jahr 2000 auf 7.042 im Jahr 2019 nahezu verdoppelt haben [7]. Dank ihres breiten Datensatzes stellt die SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU nun aber auch Gründe für das Versterben von SHT-Patient:innen in deutschen Krankenhäusern dar: Bei 80 % wurde eine Form der Therapielimitierung durchgeführt (davon mehrheitlich aufgrund von Angehörigengesprächen und Patientenverfügungen), was im Kontext der sich wandelnden Epidemiologie des SHTs nicht überrascht und einem Trend in Europa folgt [14].

Trotzdem ist erfreulich, dass 39 % der überlebenden Patient:innen in der SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU aus dem Akutkrankenhaus direkt in die Häuslichkeit entlassen werden konnten. Auch waren Verlegungen in eine stationäre Anschlussheilbehandlung mit 45 % häufig, was im Vergleich zu den entsprechenden Patient:innen aus der CENTER-TBI-Studie durchaus einer Steigerung entspricht (hier nur bei 26 % berichtet) und mit dem kürzeren Aufenthalt im Akutkrankenhaus auf eine diesbezüglich möglicherweise besondere Versorgungsstruktur in Deutschland hinweist [12, 2]. Ebenso erfreulich ist, dass zum Zeitpunkt der Entlassung oder Verlegung 69 % der SHT-Überlebenden im deutschen Kollektiv ein nach internationalen Kriterien „günstiges Behandlungsergebnis“ aufwiesen, also mindestens unabhängig zu Hause und in der freien Umgebung mit mentalen und/oder körperlichen Beeinträchtigungen waren (für die Einteilung verwendet wurde hierbei die achtstufige „Glasgow Outcome Scale extended“ [15]). Darüber hinaus gewährt die SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU nun als Neuheit auch Einblicke in das längerfristige Behandlungsergebnis nach einem auf der Intensivstation behandelten SHT: Hierbei fielen in der aktuellen Publikation nach sechs Monaten 70 % und nach 12 Monaten 90 % der an den Nachuntersuchungen teilnehmenden Patient:innen in die Kategorie „günstig“. Allerdings fällt dabei direkt eine typische Schwäche der neuen, registerbasierten Datenerfassungsstruktur auf: An den Nachuntersuchungen nahmen nur 28 % bzw. 12 % der zumindest kurzfristig überlebenden SHT-Patient:innen teil, was die Aussagekraft natürlich reduziert. Trotzdem scheint sich das Behandlungsergebnis von SHT-Patient:innen in Deutschland im längerfristigen Verlauf weiter zu verbessern, was im Vergleich zu den Ergebnissen der CENTER-TBI Studie (in Europa nach sechs Monaten nur 57 % SHT-Patient:innen mit einem „günstigen“ Behandlungsergebnis) in Anbetracht der hohen Rate an Direktverlegungen in die stationäre Anschlussheilbehandlung für den Stellenwert einer solchen Rehabilitation sprechen könnte [12, 4].

Zusammenfassend bietet die sich nun seit ca. zwei Jahren im Regelbetrieb befindliche SHT-Datenbank DGNC/DGU im TR-DGU mit einer zunehmenden Zahl an teilnehmenden und rekrutierenden Kliniken in Zukunft die Möglichkeit, die Versorgungsrealität von Patient:innen mit SHT auf Intensivstationen in Deutschland detailliert und auch im Vergleich zu z. B. unseren europäischen Nachbarn darzustellen und gängige Behandlungskonzepte und Leitlinien zu überprüfen. Dies wird hoffentlich vor allem den SHT-Patient:innen in Deutschland zugutekommen.

Literatur

[1]   Baker SP, O’Neill B, Haddon W, Long WB: The injury severity score: a method for describing patients with multiple injuries and evaluating emergency care. J Trauma 1974; 14: 187–96.
[2]   Bertram M, Brandt T: [Early neurological-neurosurgical rehabilitation. Current state]. Nervenarzt 2007; 78: 1160–74.
[3]   Brazinova A, Rehorcikova V, Taylor MS, u. a.: Epidemiology of Traumatic Brain Injury in Europe: A Living Systematic Review. Journal of Neurotrauma 2021; 38: 1411–40
[4]   Choi JH, Jakob M, Stapf C, Marshall RS, Hartmann A, Mast H: Multimodal Early Rehabilitation and Predictors of Outcome in Survivors of Severe Traumatic Brain Injury. Journal of Trauma: Injury, Infection & Critical Care 2008; 65: 1028–35.
[5]   Dewan MC, Rattani A, Gupta S, u. a.: Estimating the global incidence of traumatic brain injury. Journal of Neurosurgery 2018: 1–18.
[6]   Esme M, Topeli A, Yavuz BB, Akova M: Infections in the Elderly Critically-Ill Patients. Front Med (Lausanne) 2019; 6: 118.
[7]   GBE-Bund: ICD 10 S00–S09 Verletzungen des Kopfes; Standardbevölkerung „Deutschland 2011“. Diagnosedaten der Krankenhäuser ab 2000/Eckdaten der vollstationären Patienten und Patientinnen in Deutschland für das Jahr 2019. 2019. www.gbe-bund.de
[8]   Maas AIR, Menon DK, Adelson PD, u. a.: Traumatic brain injury: integrated approaches to improve prevention, clinical care, and research. The Lancet Neurology 2017; 16: 987–1048.
[9]   Maegele M, Lefering R, Sakowitz O, u. a.: The Incidence and Management of Moderate to Severe Head Injury. Deutsches Arzteblatt international 2019; 116: 167–73.
[10] Michalsen A, Neitzke G, Dutzmann J, u. a.: Überversorgung in der Intensivmedizin: erkennen, benennen, vermeiden: Positionspapier der Sektion Ethik der DIVI und der Sektion Ethik der DGIIN. Med Klin Intensivmed Notfmed 2021; 116: 281–94.
[11] Murray GD, Butcher I, McHugh GS, u. a.: Multivariable Prognostic Analysis in Traumatic Brain Injury: Results from The IMPACT Study. Journal of Neurotrauma 2007; 24: 329–37
[12] Steyerberg EW, Wiegers E, Sewalt C, u. a.: Case-mix, care pathways, and outcomes in patients with traumatic brain injury in CENTER-TBI: a European prospective, multicentre, longitudinal, cohort study. The Lancet Neurology 2019; 18: 923–34.
[13] Ratcliff JJ, Adeoye O, Lindsell CJ, u. a.: ED disposition of the Glasgow Coma Scale 13 to 15 traumatic brain injury patient: analysis of the Transforming Research and Clinical Knowledge in TBI study. Am J Emerg Med 2014; 32: 844–50.
[14] van Veen E, van der Jagt M, Citerio G, u. a.: Occurrence and timing of withdrawal of life-sustaining measures in traumatic brain injury patients: a CENTER-TBI study. Intensive Care Med 2021; 47: 1115–29.
[15] Wilson JT, Pettigrew LE, Teasdale GM: Structured interviews for the Glasgow Outcome Scale and the extended Glasgow Outcome Scale: guidelines for their use. J Neurotrauma 1998; 15: 573–85.
[16] Younsi A, Unterberg A, Marzi I, Steudel WI, Uhl E, Lemcke J, Berg F, Woschek M, Friedrich M, Clusmann H, Hamou AH, Mauer UM, Scheer M, Meixensberger J, Lindner D, Schmieder K, Gierthmuehlen M, Hoefer C, Nienaber U, Maegele M, on behalf of the SHT database expert group: Traumatic brain injury—results from the pilot phase of a database for the German-speaking countries. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 599–600. DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0152
[17] Younsi A, Unterberg A, Marzi I, et al. Development and first results of a national databank on care and treatment outcome after traumatic brain injury. Eur J Trauma Emerg Surg 2023; 49(3): 1171–1181; doi: 10.1007/s00068-023-02260-6.

PD Dr. med. Alexander Younsi

Neurochirurgische Klinik

Universitätsklinikum Heidelberg

INF 400

69120 Heidelberg

alexander.younsi@med.uni-heidelberg.de

SHT-Datenbank

www.dgnc.de/gesellschaft/fuer-patienten/sht-datenbank/

Chirurgie

Younsi A: Das Schädel-Hirn-Trauma in Deutschland – ein Krankheitsbild im Wandel. Passion Chirurgie. 2023 November; 13(11): Artikel 03_03.

Weitere Artikel zur Neurochirurgie finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Neurochirurgie.

Sehnsucht nach Meer

Wie in einer Notaufnahme, nur schneller

Um 02:15 Uhr in der Nacht werde ich als Senior Doctor durch die diensthabende Senior Nurse angerufen. Sie kündigt einen Patienten mit einer Schnittverletzung am Finger an. Der Weg zum Bordhospital ist in zwei Minuten zurückgelegt und im Eingriffsraum findet sich ein Mitarbeiter der Bar, der mit einer Kompresse auf eine Schnittverletzung am dritten Finger der rechten Hand drückt.

Nachdem der Patient auf dem OP-Tisch gelagert ist, erfolgt die Überprüfung der Leitungsbahnen. Es gibt keinen Hinweis auf Verletzung von Nerven, Sehnen oder größeren Gefäßen. Im Dorsalbereich des dritten Fingers findet sich eine circa dreieinhalb Zentimeter lange klaffende und scharfkantige Schnittwunde, die sich der Patient beim Schneiden von Obst, das zur Dekoration von Drinks benötigt wird, zugezogen hat. Nach entsprechender Aufklärung des Patienten erfolgt das Setzen einer Oberstschen Anästhesie, laut Patienten ist ein Tetanus-Impfschutz gegeben. In der Wartezeit bis zum Eintreten der Anästhesie erfolgt die Dokumentation des Befundes im bordeigenen Patientenverwaltungsprogramm.

Anschließend steriles Abdecken der Situation nach vorheriger Hautdesinfektion und Einzelknopf-Nahtverschluss der Schnittwunde, Pflasterverband, am ersten Tag zusätzlich mit einem Fingerling. Dem Patienten wird Ibuprofen mit der Empfehlung von 3×600 mg täglich über den ersten Tag mitgegeben. Eine Wiedervorstellung wird nach 48 Stunden verabredet.

Nach ca. 20 Minuten ist diese nächtliche Einsatzsituation beendet, der Patient ist versorgt und ich liege wieder im Bett. Dies ist ein typischer Einsatz für einen Schiffsarzt auf einem Kreuzfahrtschiff mit circa 3.000 Passagieren und 1.000 Crewmitgliedern, das sich zu diesem Zeitpunkt auf einer Rundreise durch das westliche Mittelmeer befindet.

Die Sprechstunde

Der morgige Hafen heißt Ajaccio (Korsika) und das Anlegen wird gegen 7:00 Uhr morgens erfolgen. Um 8:00 Uhr beginnt die Sprechstunde für die Crew-Mitglieder, wobei die Palette der dabei zu behandelnden Erkrankungen ausgesprochen variabel, interessant und manchmal auch herausfordernd ist. An diesem Morgen kommen im Verlauf von 60 Minuten Sprechstunde insgesamt 14 Crew-Mitglieder mit sehr unterschiedlichen Anliegen in das Bordhospital. Sechs von ihnen leiden unter fieberhaften oder nicht fieberhaften Infekten der oberen Atemwege mit Halsschmerzen, Schnupfen und oder Muskel- und Gliederschmerzen.

Die Behandlung erfolgt symptomatisch mit der Gabe von Halslutschtabletten, Paracetamol, Sekretolytika, Inhalationstherapie und Krankschreibung für 24 oder 48 Stunden. Zum einen, um die Erholung des Crew-Mitglieds zu gewährleisten, aber auch, um die Ansteckungsgefahr an Bord zu reduzieren.

Das Team

Das Bordhospital der Mein Schiff 2 ist mit zwei Ärzten besetzt, in der Regel ein Allgemeinmediziner oder Internist und ein/e chirurgisch tätige/r Kollegin oder Kollege. Drei Nurses, alle mit dem Hintergrund einer entweder langjährigen intensivmedizinischen Tätigkeit, der Ausbildung als Rettungssanitäter oder mit langjähriger Erfahrung in einer Notfallambulanz. Dieses Team gewährleistet rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr die medizinische Versorgung der Crew-Mitglieder und der Gäste an Bord des großen Kreuzfahrtschiffs. Die Ausstattung des Bordhospitals auf dem TUI-Cruises-Schiff ist ausgezeichnet.

Abb. 1: OP im Bordhospital

Abb. 2: Team von Dr. Machens

Die Ausstattung

Neben den Untersuchungs- und Behandlungsräumen, in denen der Erstkontakt mit unseren Patienten und die körperliche Untersuchung erfolgen, verfügt das Bordhospital über eine digitale Röntgenanlage und ein Sonografie-Gerät, mit dem auch dopplersonografische Untersuchungen durchgeführt werden können. Die Laborausstattung umfasst Blutbild, Nieren- und Leberfunktionsparameter, Entzündungswerte (CRP) sowie das in der Notfalldiagnostik wichtige Troponin und die D-Dimere. In Schnelltestverfahren können sowohl Norovirus wie Malaria und Corona-Infektionen nachgewiesen werden. Ein PCR-Gerät mit Testkartuschen für Atemwegserkrankungen beinhaltet die Diagnostik der Influenza und von Covid-19 sowie auf dem Gastro-Panel den Norovirus-Nachweis.

Eine komplett ausgestattete Intensivstation mit zwei Betten, einem Zwölf-Kanal-EKG-Gerät mit inkludiertem Lungenfunktionstest ist ebenso vorhanden wie ein Dräger-Beatmungsgerät, ein Corpuls-Überwachung und Interventionsmonitor mit Defibrillator.

Die medikamentöse Ausstattung der Apotheke ist sowohl parenteral wie enteral umfassend und ausreichend für alle Notfalleinsätze auf See, inklusive einer eventuellen Lysetherapie bei nicht möglicher Ausschiffung eines Herzinfarkt- oder Emboliepatienten.

Starcode: Immer in Bereitschaft

Im Verlauf der Sprechstunde gibt es nach telefonischer Voranmeldung 12 Patientinnen und Patienten, die sich mit sehr unterschiedlichen gesundheitlichen Problemen in der Sprechstunde vorstellen. Viele klagen über Erkältungskrankheiten bei hohen Außentemperaturen und durch die Klimaanlage heruntergeregelten Bereichen in den Ausflugsbussen, Taxis und Restaurants. Immer wieder gibt es die Erklärung, dass man auch bei hohen Temperaturen bei Ausflügen einen warmen Schal oder Pullover zum Schutz der Hals- und Nackenbereiche parat halten sollte. Inmitten der Sprechstunde gibt es nach einem Gongsignal durch den Lautsprecher die Durchsage: Starcode, Starcode, Starcode.

Das ist für uns das Signal für einen akuten medizinischen Notfall. Wir begeben uns sofort zum Ort des Geschehens. Dort finden wir eine Patientin, die aufgrund von Schmerzen in ihrem Kniegelenk kollabiert ist und kurzzeitig bewusstlos war. Schon bald ist sie wieder wach und ansprechbar, wird aber zu einer kurzfristigen Überwachung und weiteren Kontrolle der Vitalfunktionen mit unserem Team in das Bordhospital transportiert. Das Kniegelenk ist bei der klinischen Untersuchung stabil und ohne Hinweis auf einen Erguss, eine Meniskus- oder Bandverletzung. Nach Anlage eines stabilisierenden Verbands, der Gabe von Schmerzmitteln und erneuter Kontrolle der Vitalfunktionen, die alle im Normbereich liegen, wird die Patientin wieder entlassen.

Abb. 3: ICU-Einheit im Bordhospital

Der Hautklassiker

Immer wieder werden wir mit einem Krankheitsbild konfrontiert, das eine punktförmige zum Teil flächig konfluierende Rötung im Bereich der Unterschenkel zeigt. Sie tritt häufig nach intensiven Spaziergängen, meist in Großstädten, und ausgedehnter Sonneneinstrahlung auf. Bei der Krankheit handelt es sich um die sogenannte Pilger- oder Wandererkrätze, französisch freundlicher formuliert: Purpura d’effort.

Außer Kühlung und Schonung ist eine weitere Therapie nicht erforderlich, dann werden die Symptome auch wieder von allein verschwinden. Die Patienten erhalten von uns ein Merkblatt zur Aufklärung über diese Hauterscheinung.

Abb. 4: Pilger- oder Wandererkrätze

Luxationsfraktur der Schulter

Zwei weitere medizinische Notfälle füllen den Vormittag aus. Ein Gast ist auf der Treppe gestürzt, sie hat den letzten Absatz verfehlt und ist dann mit der rechten Schulter gegen eine Wand gestoßen. Als wir am Unfallort eintreffen, liegt die Patientin auf dem Rücken mit dem 90 Grad abgewinkelten Oberarm und klagt über heftigste Schmerzen in der Schulter. Die klinische Untersuchung erbringt keinen Anhalt für eine Verletzung der Leitungsbahnen, palpatorisch ist die Schultergelenkspfanne leer. Die Patientin kann sich gut relaxieren und es erfolgt die sofortige bimanuelle Reposition des Schultergelenks, die ohne jede Anästhesie umgehend gelingt. Danach ist die Patientin sofort weitgehend beschwerdefrei.

Die anschließende Röntgenaufnahme zeigt eine operationswürdige subcapitale Humerusfrakur. Wir stellen die Schulter in einem Gil-Christ-Verband ruhig und verordnen ausreichend Schmerzmittel. Wir stellen der Patientin frei, umgehend die Heimreise anzutreten oder die noch verbleibenden sechs Tage an Bord zu bleiben. Sie entscheidet sich fürs Bleiben und wird durch uns bei Bedarf weiterbetreut. Die Röntgenbilder übermitteln wir mit Befund dem Heimatkrankenhaus und verabreden bereits einen OP-Termin zur Abstimmung mit der Patientin.

Der nächste Patient hat sich beim Einsteigen in einen Ausflugsbus das linke Knie verdreht und klagt über heftigste Schmerzen. Er wird von den Ausflugsbetreuern in einem Rollstuhl in das Bordhospital transportiert. Nach der Entkleidung des Beins ist die Ursache klar: Die Patella ist luxiert. In Streckstellung des Beins erfolgt nach einer kurzen Aufklärung des Patienten die sofortige Reposition.

Danach herrscht wieder weitgehende Beschwerdefreiheit. Es handelt sich um ein Erstereignis. Der Patient wird umfassend über die notwendigen diagnostischen Maßnahmen aufgeklärt. Zur Sofortversorgung erhält er eine Kniegelenksbandage sowie eine Thromboembolieprophylaxe. Mit zwei Unterarmgehstützen wird er nach Anleitung mobilisiert. Auf Röntgenaufnahmen wird, da hier keine Konsequenzen daraus gezogen werden können, bewusst verzichtet. Daheim soll die MRT-Diagnostik erfolgen.

Abb. 5: Mein Schiff 2

Der akute Bauch

Ein weiteres chirurgisches Krankheitsbild beschäftigt uns während dieses Einsatzes mehrfach. Es handelt sich um die sogenannte Links-Appendizitis oder genauer: die Sigmadivertikulitis. Mehrere Patienten, bei denen zum Teil schon eine Episode einer akuten Entzündung abgelaufen ist, stellen sich mit anhaltenden linksseitigen Unterbauchschmerzen und Defäkationsbeschwerden in unserer Sprechstunde vor.

Das klinische Bild zeigt bei einer tiefen Palpation im linken Unterbauch eine tastbare Resistenz mit lokalisierter Abwehrspannung. Häufig besteht auch ein kontralateraler Loslassschmerz. Die sonografische Untersuchung ergibt in allen Fällen keinen weiterführenden Befund. Laborchemisch besteht häufig eine Leukozytose sowie eine deutliche CRP-Erhöhung. Eine subfebrile Temperatursituation komplettiert das klinische Bild. Wir haben uns jeweils zur Kombinationstherapie mit Metronidazol und Cefuroxim entschieden. Begleitend wurde eine Nahrungskarenz und die Ernährung mit Suppen und ballaststoffarmer Nahrung verordnet. Die engmaschigen klinischen Kontrollen des Befundes ergaben jeweils nach circa 48 Stunden einen Rückgang der Beschwerdesymptomatik, zeitlich verzögert trat auch nach circa sieben Tagen eine CRP-Normalisierung ein.

Alle Patienten erhielten eine entsprechende Aufklärung für daheim, um die weitere Diagnostik in einem freien Intervall zu betreiben und dafür entsprechende Fachkolleginnen aufzusuchen. Dieses Krankheitsbild schildere ich, weil es in besonderer Weise deutlich macht, in welcher Art und Weise bei der Behandlung der Patientinnen an Bord eine besondere Abwägung stattfinden muss. Da wir an Bord über keine sofortige notfallchirurgische Interventionsmöglichkeit verfügen, ist das klinische Krankheitsbild in besonderer Weise zu gewichten und mit dem Patienten zu besprechen und abzuwägen. Dabei findet auch die Fahrtroute des Schiffs, wie zum Beispiel bevorstehende Seetage, entsprechende Berücksichtigung.

Kammertachykardie

Während des Aufenthalts in einem norwegischen Fjord meldet sich bei uns ein junger Patient, der über eine hohe Pulsfrequenz und Herzjagen klagt. Im EKG zeigt sich eine Kammertachykardie mit 220 Schlägen pro Minute. Der Patient ist Träger eines Defibrillators, der offensichtlich nicht funktioniert hat. Klinisch ist der Patient kompensiert und zeigt in Ruhe keinerlei Dyspnoe oder anderweitige Beschwerden. Nach Rücksprache mit dem Kardiologen verabreichen wir Amiodaron, leider ohne therapeutischen Effekt. Die nächste kardiologische Klinik ist sechs Autofahrstunden entfernt, und daher transportieren wir den Patienten mithilfe eines Rettungshubschraubers in das landseitige Fachkrankenhaus. Dort erfolgt mit dem entsprechenden technischen Gerät, das an Bord zur Einstellung des Defibrillators nicht vorhanden ist, eine Neuprogrammierung und ein Restart des Defis, und der Patient kann bereits am nächsten Tag in einem anderen Hafen die Reise mit uns fortsetzen.

Behandeln und Abwägen

Sie sehen, im Bordhospital eines Kreuzfahrtschiffs finden sich zahlreiche medizinische Herausforderungen und Fragestellungen, die Sie in besonderer Weise, adaptiert an die Situation den Patienten und den Fahrplan des Schiffs, abwägen müssen. Dazu kommt bei der Behandlung der Crew stets der Gedanke, ob eine Erkrankung oder Verletzung an Bord fachgerecht und zügig ausheilen kann oder ob an Land oder zu Hause bessere Heilungs- und Therapiechancen bestehen.

Die Tätigkeit als Schiffsarzt ist eine spannende ärztliche Aufgabe, die neben einer breiten medizinischen Kenntnis insbesondere eine gute Teamfähigkeit und eine gute Kooperationsfähigkeit mit allen anderen Abteilungen des Schiffs und mit dem Kapitän voraussetzt.

Wer Freude an einer sehr individuellen, breit gefächerten medizinischen Tätigkeit hat, gerne reist und neugierig auf fremde Länder mit ihren kulturellen Highlights und der unglaublichen Vielfalt der Menschheit ist, kann als Schiffsarzt einen reichen Schatz an Erfahrungen sammeln.

Wie werde ich Schiffsarzt/-ärztin?

Wer als Schiffsarzt arbeiten möchte, sollte Allgemeinmediziner, Internist, Chirurg oder Anästhesist sein.

Da es den Facharzt „Schiffsarzt“ nicht gibt und der Wirkungskreis an Bord ganz anders als an Land ist, sind zur Vorbereitung Schiffsarztlehrgänge mit dem Erwerb erforderlicher Zertifikate und Qualifikationen sehr zu empfehlen.

Die Deutsche Gesellschaft für Kreuzfahrtmedizin, die von aktiven Schiffsärzten gegründet wurde, bietet diese umfangreichen Schiffsarztlehrgänge an, die an Bord eines Kreuzfahrtschiffs stattfinden.

KLICKEN Sie hier für einen kurzen Film zum Thema „Das Boardhospital der Mein Schiff 2“.

Nähe Informationen unter: www.dgkmed.de/fortbildungen/

Kurt Machens

Chirurg & Unfallchirurg

Notfallmedizin

Total Quality Management

Geschäftsführer DGKmed

Humboldtstraße 15

31134 Hildesheim

kurt.machens@dgkmed.de

Panorama

Machens K: Sehnsucht nach Meer. Passion Chirurgie. 2023 November; 13(11): Artikel 09.

Mehr Panorama-Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der
Rubrik Wissen | Panorama.

Passion Chirurgie im Oktober

Unsere Oktoberausgabe widmet sich dem Thema „Digitalisierung und technische Innovationen“ und versucht mit den Fokusthemen „Extended Reality“, „Chirurgie im virtuellen OP-Saal“ oder „Künstlicher Intelligenz“ einen Blick in die Zukunft zu werfen. Der künstlichen Intelligenz werden wir im nächsten Jahr ein ganzes Heft widmen – seien Sie gespannt.

Melden Sie sich jetzt für das kostenlose Life-Webinar „Hernien kontakt“ am 18. Oktober von 17:00 bis 19:00 Uhr an! Themen sind u. a. die „Ausbildung in Zeiten von Ambulantisierung und Personalknappheit“ und „Prehabilitation und Optimierung“. Hier finden Sie mehr Informationen und können sich anmelden…

Hier geht´s zur neuen Ausgabe…

Wir wünschen eine spannende Lektüre!
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

Ärzte haben gute Freunde

Eine Umfrage unter rund 1.100 Medizinerinnen und Medizinern liefert erstmals Einblicke in ihr Sozialleben und ihre Freundschaften

Ärzte und Ärztinnen sind im Job den ganzen Tag in Kontakt mit Patienten und Kollegen. Aber haben sie auch noch Zeit und den Nerv für Freundschaften? Wie managen sie ihr Sozialleben, damit sie einen guten Ausgleich zum stressigen Job bekommen? Die Medscape-Umfrage, an der rund 1.100 Personen online teilnahmen, bietet zum ersten Mal einen Einblick in diese „private“ Welt von Medizinerinnen und Medizinern.

„Es bleibt neben der Arbeit kaum Zeit, um Freundschaften zu pflegen“, schreibt ein Intensivmediziner zum Beispiel. „Meine Freunde akzeptieren jedoch, dass ich oft keine Zeit habe.“ Und eine Kollegin aus dem Bereich Rehabilitation ergänzt: „Durch Bereitschaftsdienste fehlt die Möglichkeit, sich zu speziellen Events zu treffen.“ Teilweise müsse sie kurzfristig Dienste für Kollegen übernehmen und eigene Interessen hintenanstellen. Trotz der Hürden, die der Job mit sich bringt, schaffen es doch sehr viele, Freundschaften zu schließen und diese auch zu pflegen.

Die folgenden Grafiken stellen die Antworten der Befragten übersichtlich dar.

Ergebnis: Ärzte pflegen viele Freundschaften trotz der knappen Zeit

Die Umfrage hat ergeben, dass Ärzte zahlreiche Freundschaften im realen Leben pflegen; Social-Media-Freunde zählen hier nicht dazu. Die Mehrzahl hat bis zu 5 Freunde (34 %) oder 6 bis 10 Freunde (37 %). Seltener sind 11 bis 15 Freunde (14 %) und 16 oder mehr Freunde (14 %). Die Befragten rechnen meist 1 bis 5 Personen, seltener 6 bis 10 Freunde, zum engeren Freundeskreis. Eine beste Freundin bzw. einen besten Freund hat rund jede/r 3. Medscape-Leserin oder -Leser (Daten nicht grafisch dargestellt).

Abb. 1: Wie viele Freundinnen und Freunde haben Sie?

Doch was sagen die Zahlen wirklich aus? Dazu ein Benchmarking, das auf repräsentativen Befragungen aller Einwohner und Berufsgruppen Deutschlands beruht – allerdings mit anderem Studiendesign. Demnach hatten 9 % der Deutschen keine Freunde, 17 % einen Freund, 26 % 2 Freunde, 21 % 3 Freunde und 27 % 4 oder mehr Freunde. Einer anderen Umfrage zufolge liegt die Zahl an engen Freunden bei 3,7 Menschen – plus 11 Personen als erweiterter Freundeskreis.

Abb. 2: In welche Kategorie würden Sie die meisten engen Freunde einordnen?

Zwar lassen sich die Befragungen aufgrund ihres unterschiedlichen Designs nicht 1:1 vergleichen. Sie liefern aber Hinweise, dass Ärzte tendenziell sogar mehr Freunde haben als die Durchschnittsbevölkerung.

So lernen Ärzte neue Freunde kennen

Wenig überraschend kommt ein Großteil aller engen Freundinnen und Freunde aus der Hochschulzeit (25 %) oder aus dem Kollegenkreis (18 %), seltener aus der Schulzeit (17 %) oder aus der Kindheit (6 %). Auch Hobbys, speziell über den Sport, Kontakte über die Familie, Kinder oder über Nachbarschaften spielen eine Rolle. Die Leser wählten hier eine Kategorie aus, die ihnen am wichtigsten war fürs Kennenlernen von Freunden.

Zum Vergleich wieder ein Blick auf die Allgemeinbevölkerung: Am häufigsten kennengelernt haben Deutsche ihre aktuellen Freunde im Job (45 %), auf weiterführenden Schulen oder während der Ausbildung (jeweils 22 %) und bei Hobbys (21 %).

Nicht drauf angelegt: Gerne Mediziner als Freunde

Überraschend ist, dass Ärztinnen und Ärzte häufig auch im Privatbereich unter sich bleiben: Die meisten Freunde von Medizinern und Medizinerinnen sind selbst Ärzte (76 %), seltener Pflegefachkräfte (8 %). Bei genauerem Nachfragen stellt sich heraus, dass dies nicht Absicht ist: 47 % legen es nicht darauf an, dass Freundschaften im beruflichen Umfeld entstehen – und nur 9 % geben an, dies auch zu mögen. 36 % trennen lieber Beruf und Privatleben. Nur 9 % schätzen es, Freunde am Arbeitsplatz kennenzulernen (Daten der Umfrage nicht grafisch dargestellt).

Abb. 3: Die meisten Ihrer Freundinnen und Freunde sind von Beruf …

Wie häufig Kollegen auch Freunde werden

Immerhin geben 71 % der Umfrageteilnehmenden an, einige Kollegen aus dem Joballtag seien auch Freunde; 27 % der Ärzte gehen aber eher auf Distanz und pflegen unter Kollegen keine Freundschaften. Wer Freunde im Kollegenkreis hat, interagiert ständig bzw. häufig (25 %), gelegentlich (40 %) oder nie (35 %) mit ihnen.

Oft haben Freunde der befragten Medscape-Leser:innen ähnliche Abschlüsse und einen ähnlichen sozialen beziehungsweise finanziellen Status (74 % Zustimmung). Sie sind meist auch im gleichen Alter (73 % Zustimmung; Daten hier nicht grafisch dargestellt). Das Ergebnis erstaunt nicht wirklich, denn viele Freundschaften entstehen während des Studiums oder im Beruf.

Wirkt Vitamin B?

54 % der Befragten werde zwar im Joballtag von Freunden unterstützt (Daten nicht dargestellt). Doch nur 6 % schreiben, dass ihre Karrierechancen sich durch Freundschaften ständig bzw. häufig verbessern. Bei 21 % ist das immerhin ab und zu der Fall. Berufliche Vorteile bei Jobangeboten oder Nebenjobs durch befreundete Kollegen sehen die meisten nicht (73 %).

Abb. 4: Mit Freunden arbeiten

Woran scheitern Ärzte, wenn sie Freundschaften knüpfen?

74 % schreiben, dies liege sehr häufig bzw. häufig am Job – 24 % sehen hier wenige bis keine Probleme. An der Frage, ob auch familiäre Verpflichtungen eine Rolle spielen, scheiden sich die Geister. 43 % sehen hier sehr häufig bzw. häufig Schwierigkeiten durch die fehlende Zeit, während 55 % das dementieren.

Abb. 5: Verbessern sich durch Freunde Ihre Karrierechancen?

Eine Psychiaterin erzählt in den Kommentaren: „Der Tag hat nur 24 Stunden – und wenn ein Großteil die Arbeit einnimmt, dann geht noch ein Teil der übrigen Zeit für familiäre Verpflichtungen drauf und damit bleibt einfach weniger Zeit für die Freundschaftspflege.“ Ihre Strategie: „Ich prüfe, bevor ich neue Freundschaften eingehe, ob ich denen zeitlich gerecht werden kann.“

Abb.6: Beruf und Familie – die wichtigsten „Freundschaftskiller“

Die Herausforderungen: Wenig Zeit, weite Entfernungen, wenig Energie

Woran scheitern Freundschaften mitunter? Die befragten Ärzte nennen (Mehrfachantworten waren möglich) vor allem zwei Gründe: fehlende Zeit (73 %) und große Entfernungen (47 %). Beides mag berufliche oder familiäre Gründe haben.

Und am Abend oder am Wochenende schätzen Kollegen die arbeitsfreie Zeit; 27 % der Medscape-Leser:innen der Studie fehlt einfach Energie, um soziale Bindungen aufrechtzuerhalten.

Abb. 7: Warum fällt es Ihnen schwer, mit Freunden in Verbindung zu bleiben?

Abb. 8: Wie oft streiten Sie mit engen Freunden?

Abb. 9: Freundschaften mit Patienten

Lieber Harmonie

Bei anderen Themen herrscht mehr Einigkeit. Viele der Befragten harmonieren nicht nur bei medizinischen, sondern auch bei politischen Themen mit ihrem Freundeskreis mehr oder minder stark (60 %). Nur 10 % scheinen andere Ansichten zu haben als ihre Freunde. 79 % streiten sich selten oder nie im Freundeskreis; nur bei 19 % kommt es manchmal zum Disput. Harmonie wird groß geschrieben in Freundschaften.

Freunde behandeln – geht das gut?

Dass sich Ärztinnen und Ärzte sich mit ihren Patienten anfreunden, ist anscheinend keine Seltenheit. Fast jeder dritte Teilnehmer und jede Teilnehmerin kennt dies. Aber entsteht daraus ein Gewissenskonflikt, wenn Freunde in die Sprechstunde kommen und behandelt werden möchten? Zumindest die Teilnehmer:innen der Medscape-Umfrage haben damit kaum Probleme (siehe Grafik). Nur 17 % vertraten die Meinung, dies sei generell abzulehnen. 46 % haben nur Bedenken, falls die Objektivität des Behandelnden gefährdet wird. 37 % sind jedoch strikt dagegen.

Abb. 10: Ich hätte mal eine Frage…das nervt so manchen Arzt

Abb. 11: Methodik der Studie

Eine Ärztin oder Arzt im Freundeskreis ist doch praktisch, oder?

Macht man sich als Freund oder Freundin unbeliebt, wenn man einen Arzt oder eine Ärztin zum Beispiel am Stammtisch nach einem medizinischen Rat fragt und sich vielleicht den Gang in die Praxis sparen will? Die Gefahr ist nicht so groß: Fast alle Mediziner:innen halten es für eine gute Sache, Freunden ärztliche Ratschläge zu erteilen (Abb. 10). Und nur 14 % empfinden medizinische Fragen aus dem Freundeskreis als störend (Abb. 11).

Korrespondierende Autorin:

Claudia Gottschling

Chefredakteurin

Medscape

cgottschling@webmd.net

Michael van den Heuvel

Fachjournalist Medizin & Pharmazie & Chemie

Gekürzte Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Medscape.

Erstveröffentlichung in Medscape im April 2023: Klicken Sie HIER für die Originalpublikation.

Panorama

Gottschling C, van den Heuvel M: Ärzte haben gute Freunde. Passion Chirurgie. 2023 Oktober; 13(10): Artikel 09.

Mehr Panorama-Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Panorama.

„Ready Surgeon One?” – Chirurgie im virtuellen OP-Saal

Wer von uns würde angesichts der aktuellen Probleme in der chirurgischen Versorgung, wie Personalmangel, Versorgungslücken und finanzielle Einschränkungen, nicht gerne in eine andere Welt entfliehen und in einem virtuellen OP-Saal unter optimalen Bedingungen Patienten behandeln? So in etwa empfinden die Menschen im Roman „Ready Player One“ von E. Cline, wenn sie aus der dystopen Realität in die OASIS fliehen, eine virtuelle Illusion, die nicht nur Spiel und Unterhaltung bietet, sondern auch Bildung, soziale Interaktion und Handel. Die OASIS ist nicht mehr nur Fiktion, sondern wird als eine der Referenzen gesehen, nach deren Vorbild aktuell das Metaverse erschaffen wird, eine neue Form der Internet-Kommunikation, für die bis 2030 ein Marktwert von 5 Billiarden Euro prognostiziert wird [1]. Ein Element dieser VR-Vision stellt das Taktile Internet dar, welches neueste mobile Datenkommunikationstechnik nutzt (u. a. 5G), die hohe Bandbreite mit minimalen Zeitverlusten und hoher Sicherheit verbindet und haptische Interaktionen mit hohem Immersionsgrad realisieren soll [2].

Wird unsere Zukunft somit eine virtuelle Welt sein, so wie die OASIS? Nun, zumindest der Autor Ray Kurzweil vermutet tatsächlich, dass wir im Jahr 2030 bereits den größten Teil unserer Zeit in virtuellen Welten verbringen werden [3]. Das Gesundheitswesen und seine Teilbereiche stellen hierbei bereits jetzt einen wesentlichen Anwendungsbereich dar: Virtuelle Kliniken und Behandlungsräume sowie Telediagnostik und -therapie sind angestrebte Innovationen. Angesichts der in Krankenhäusern anzutreffenden Realität, die häufig von fast rückschrittlichen, analogen Prozessen und persönlicher Leistungserbringung geprägt ist, dürften diese Ansätze zumindest aktuell noch als technische Spielerei einer fernen Zukunft abgetan werden. Derartige Visionen sind jedoch nicht allzu futuristisch. Simulation und Virtual Reality (VR) werden bereits seit Jahren in der Ausbildung unterschiedlicher Berufe eingesetzt und sind auch in der medizinischen Forschung längst fester Bestandteil – das mit gutem Grund.

Virtuelle Simulationen besitzen den großen Vorteil, dass sie Training unter unkritischen und standardisierten Bedingungen als Vorbereitung auf die Patientenversorgung gewährleisten, beliebig oft wiederholt werden können und die Erfassung von Metriken zur Bewertung der Leistung erlauben. Ein Musterbeispiel und der häufigste Vergleich für die Weiterbildung von Chirurg:innen ist hierfür das Training von Pilot:innen der zivilen und militärischen Luftfahrt, die regelhaft mithilfe von Simulatoren und in virtuellen Welten trainieren [4]. Das Simulatortraining hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass Fliegen heute die sicherste Form des Reisens darstellt und weltweit jährlich weniger als 200 Menschen bei Flugzeugunglücken sterben. Betrachtet man im Vergleich dazu die Anzahl an Komplikationen infolge medizinischer Maßnahmen, wird man zumindest nachdenklich. So schätzt eine Studie aus dem Jahr 2016 medizinische Behandlungsfehler und Fehleinschätzungen als dritthäufigste Todesursache ein, mit alleine in den USA jährlich mehr als 200.000 Todesfällen [5]. Die Schlussfolgerung liegt somit nahe, erfolgreiche Konzepte aus anderen Bereichen, wie eben der Luftfahrt, in die Medizin und insbesondere in die Chirurgie zu translatieren.

VR-Simulation der Chirurgie – eine besondere Herausforderung

Die Anforderungen an virtuelle Simulationen in der Chirurgie sind besonders hoch. So hängt der Erfolg einer Operation nicht nur von definierten chirurgischen Fähigkeiten, wie dem Instrumentenhandling, Nähen, Präparieren und dem spezifischen Fachwissen über die Erkrankung und die zu behandelnden Organe ab, sondern auch von der Einschätzung der prä- und intraoperativen Situation, von Teamführung, Entscheidungsfindung und Kommunikation [6]. Alleine 20 Prozent aller Komplikationen aus medizinischen Behandlungen könnten durch eine bessere Kommunikation und Teaminteraktion verhindert werden [7].

Teamplay wirkt sich aber nicht nur auf die Komplikationsrate, sondern auch unmittelbar auf die OP-Dauer aus [8]. Für die beteiligten Fachdisziplinen, aber insbesondere für Chirurg:Innen im Training stellt dabei ein sogenanntes Education Team Time Out am Anfang der Operation eine Möglichkeit dar, die intraoperative Kommunikation zu verbessern [9]. Darüber hinaus bedingen die zunehmende Integration neuer Technologien, wie der Robotik, steigende Anforderungen an die Mitarbeiter und die Teamkommunikation und verlangen, wie in der Luftfahrt, nach besonderen Formen des Trainings [10]. Der zunehmende Einsatz von Technologie beeinflusst darüber hinaus die etablierte Rollenverteilung im komplexen Gefüge des Operationssaals, wirkt sich signifikant auf den Arbeitsablauf aus und führt zu einer Erhöhung des mentalen Workloads und zu Stress [11]. Das Training von Abläufen und von sogenanntem Trouble-Shooting erhält somit einen neuen Stellenwert.

Chirurgisches Training mit VR

Virtuelle Simulatoren werden bereits seit Jahren in der chirurgischen Ausbildung genutzt, wobei der Fokus klar auf laparoskopischen bzw. robotischen Techniken liegt (Abb. 1). Eine sehr schöne Übersicht über die verfügbaren Simulatoren und die verschiedenen Lösungsansätze findet sich hierzu in der Arbeit von Li, die zudem auf zahlreiche Systeme für andere chirurgischen Disziplinen verweist. [12]. So führt der Übersichtsartikel neben den bekannten laparoskopischen Simulatoren LapSim, LapMentor und MIST VR auch VR-Trainer für die Arthroskopie und die Versorgung von Schenkelhalsfrakturen auf (Procedicus, TraumaVision). Wie in dem Artikel dargestellt, beruht der Vorteil dieser VR-Trainer in der Möglichkeit zur Erhebung objektiver Metriken, die eine sukzessive Verbesserung der operativen Fähigkeiten erlauben, und dem einfachen Zugriff auf immer realistischere operative Übungen. Dem gegenüber stehen die hohen Kosten der Anschaffung und Uniformität der Trainingsszenarien, die zudem gerade hinsichtlich der Haptik noch Verbesserungspotenzial aufweisen.

Der positive Nutzen des VR-Trainings ist unwidersprochen und wurde durch mehrere sehr gute Arbeiten belegt [13]. Eine exemplarisch aufgeführte Arbeit von Grantcharow untersucht etwa den Beitrag der VR für ein präoperatives „Warm-up“ vor einer laparoskopischen Cholezystektomie. Hierzu wurden alle Probanden hinsichtlich ihrer operativen Fähigkeiten anhand einer Baseline-Operation bewertet, bevor sie in die „Warm-up“-Gruppe mit VR-Training oder in eine Gruppe ohne Training randomisiert wurden [14]. Obwohl die Mehrzahl der inkludierten Probanden bereits eine gewisse operative Expertise besaß, zeigte die Auswertung signifikant bessere Ergebnisse in der Bewertung der Warm-up Gruppe. Es profitieren jedoch nicht bereits trainierte Chirurg:Innen, sondern vor allem die Berufsanfänger vom virtuellen Training, wie eine unlängst publizierte Metaanalyse zeigen konnte [15].

Abb. 1: Der Laparoskopie-Simulator Laparoscopy VR (CAE, Montreal, Kanada) simuliert realistisch definierte Skills, aber auch komplexe Operationen, wie hier eine Cholezystektomie. (© CTAC Trainingskurs, AG MITI, TU München)

Fallspezifische Simulation und Teamtraining

Die oben aufgeführten Simulatoren beschränken sich auf den Eingriff selbst bzw. auf Teilaspekte einer Operation oder definierte operative Fähigkeiten. Sie sparen bewusst den OP-Saal und andere Personen aus, was im Hinblick auf operative Fähigkeiten wohl insofern sinnvoll ist, als eine zu umfassende und immersive Simulation auch negative Effekte auf das Training haben kann. Die Entwicklung der hochimmersiven virtuellen Realität durch die Universitätsmedizin Mainz und die Universität Magdeburg (Abb. 2), die einen konventionellen VR-Laparoskopie-Trainer mit einer fotorealistischen VR-basierten OP-Simulation kombiniert, ermöglicht es, das Skills-Training in eine realistische Umgebung zu transferieren. Erste Untersuchungen ergaben, dass diese komplexe Simulation als realistischer angesehen und von den Probanden als anregender eingestuft wurde, das Skills-bezogene Training jedoch hierunter leidet [16]. Dies bestätigt auch eine vergleichbare skandinavische Studie, die zeigte, dass zu viele Details vom eigentlichen Training ablenken können [17]. Somit sollte die realistischere Simulation erst als weitere Stufe und nach dem Training am einfachen VR-Trainer angesehen werden, um Chirurg:Innen auf den Einsatz im Operationssaal vorzubereiten.

Umfängliche OP-Simulationen dienen somit weniger der Verbesserung der manuellen Fähigkeiten, sondern vor allem dem Teamtraining und der Optimierung der interdisziplinären Kooperation. Dies zeigt etwa die Arbeit von Szerbo, der ebenfalls verfügbare Skills-Trainer in eine VR-Umgebung integriert, hierbei aber vor allem auf die Teamkommunikation und Entscheidungsfindung fokussiert. Wie die Studie klar belegt, profitieren diese tatsächlich von dem hoch immersiven VR-Training [18]. Im Gegensatz dazu steht eine Studie zum Trouble-Shooting in der Laparoskopie, die nur auf die Verbesserung der Fähigkeiten einer Person abzielt und eben nicht auf die Interaktion im Team [19]. Auch wenn die Studie erfahrene Chirurg:innen und Trainees unterscheiden mag, so ist der Trainingseffekt der OP-Simulation doch gering. Die Autoren vermuten, dass dies an der wenig anspruchsvollen Aufgabe liegen könnte, aber eben gerade auch an der fehlenden Teaminteraktion. Entsprechend verwundert es nicht, dass die Probanden den hoch immersiven Ansatz als wenig geeignet für ein Training ansehen [19]. Die Studie zeigt hierbei, wie wichtig es ist, dass die angewandte Technologie bzw. VR-Umgebung zur zu trainierenden Fähigkeit passt und der Immersionsgrad und der Anspruch der Übung adäquat ist.

Ein weiterer Grund für die schlechte Bewertung in dieser Studie könnte aber auch die fehlende Benchmark gewesen sein, die der Bewertung der Leistung dient und als Trainingsmotivation fungiert. Dies ist insofern verwunderlich, da dies gerade die Stärke der VR-Simulation darstellt, die aufgrund der digitalen Umsetzung in idealer Weise Metriken ableiten kann. Wie es besser geht, zeigt die Arbeitsgruppe um D. Jones, die einen KI-basierten Algorithmus nutzt, um die Performance in einer VR-OP-Simulation zu erfassen. Auch wenn die gewählte Situation eines Feuers im OP ein seltenes Ereignis darstellen mag, konnten mehrere Studien des Teams die Eignung dieser Simulation belegen. Zudem zeigen die Arbeiten sehr schön, dass sich die VR insbesondere für nicht alltägliche und möglichweise gefährliche Simulationen eignet [20]. Somit stellt die Kombination der herkömmlichen Simulatoren für den Beginn der Lernkurve mit der immersiven VR-Simulation in der Chirurgie eine Möglichkeit dar, auch erfahrene Chirurg:Innen in Extremsituationen und/oder Teamtraining zu trainieren. Die Möglichkeiten der VR sind hierbei nahezu unbegrenzt, wie eine aktuelle Arbeit eindrucksvoll belegt. Sie nutzt nicht nur herkömmliche VR-Trainer und eine virtuelle OP-Simulation, sondern integriert diese in eine umfassende Trainingsumgebung, die u.a. über eine Bibliothek und DICOM-Bilddatenbank verfügt. Das dargestellte Lehrkrankenhaus kommt der Idee eines „Surgical Metaverse“ somit bereits schon sehr nahe [21]. Der virtuelle OP dient nicht nur dem Training von Chirurg:Innen, sondern hilft auch Patient:Innen die Angst vor operativen Eingriffen zu nehmen [20] bzw. Student:innen, die keinen freien Zugang zum OP haben [22].

Telemedizin und intraoperative Guidance

Virtuelle OP-Szenarien dienen aber nicht nur dem patientenunabhängigen Training, sondern können auch fallbegleitend eingesetzt werden. Der Hintergedanke hierbei ist die Unterstützung eines weniger erfahrenen Teams durch externe Expertise im Sinne der Telemedizin. Anstatt einer reinen audiovisuellen Verbindung erlaubt eine derartige Simulation die freie Bewegung im Raum und den Zugriff auf relevante Kontext-Informationen. Dies kann in Verbindung mit einer Videokommunikation erfolgen (Mixed-Reality/Augmented Reality) oder als alleinige VR-Reproduktion. Auch wenn derartige Ansätze noch unter der verfügbaren Datenbandbreite leiden, können durch die Verwendung von Avataren und Punktewolken, bereits akzeptable Simulationen erreicht werden [23]. So nutzte ein Team an der TU München modernste Kompressionstechniken und Algorithmen, um teleassistierte Notfallversorgungen zu ermöglichen, wie etwa bei einer Kraniotomie [24] oder aber für Eingriffe an der Wirbelsäule. Zudem wurde das System in der Behandlung von Intensivszenarien im Rahmen der COVID Versorgung evaluiert, wobei auf alle Geräteparameter (u.a. Beatmung, Monitoring) und KIS-Dokumente zugegriffen werden konnte [25]. Im Gegensatz zur oben aufgeführten Simulation handelt es sich hierbei um ein virtuelles Abbild einer realen Szene, das in Echtzeit realisiert wird.

Abb. 2: „Ready Surgeon One“– Entwicklung der hoch immersiven virtuellen Realität in der laparoskopischen Simulation kombiniert virtuelle Operationsumgebungen mit chirurgischem Skills-Training. (© Universitätsmedizin Mainz, BMBF-Projekt 16SV8057 „AVATAR“, Foto: Dr. Laura Hanke)

Digitaler Zwilling und Model-basierte Ansätze

Jenseits der Simulation von interdisziplinärem Arbeiten und spezifischen Skills, gewinnt die VR-Simulation auch in der Prozessoptimierung und Entwicklung neuer Technologien an Bedeutung. So nutzt die Forschungsgruppe MITI der TU München aktuell OP-Simulationen für die Evaluation und Optimierung mobiler Robotersysteme [26] oder auch, um Workflowprozesse im OP und in der Klinik anzupassen [27] (Abb. 3). Auf Basis zuvor erfasster Daten (Aktivitäten im OP, Patientenworkflow, etc.) können, wie in der Industrie-Logistik, komplexe Prozesse simuliert werden und die Einflüsse von räumlichen Änderungen oder technischen Modifikationen untersucht werden. Neben den oben genannten Indikationen sehen wir aber auch ein hohes Potenzial für chirurgische Prozesse und Operationen. Hierbei können sowohl zuvor aufgenommene Daten als Grundlage dienen oder die Modellierung erfolgt anhand von Realtime-Daten, die in sogenannten Szenengrafen abgebildet werden, und es werden einzelne Objekte (Personen, Geräte) auf Basis von Attributen und Interaktionen in einem simulierten Netzwerk zueinander in Verbindung gebracht [28]. Durch eine nun mögliche multidimensionale Betrachtung der Objektinteraktion und Ableitung von definierten Metriken erwartet man hierdurch zukünftig Verbesserungen des Gesamtworkflows [29].

Abb. 3: Im BFS-Projekt AURORA (BFS AZ-1409-19) entwickeln wir derzeit ein mobiles Roboter-Assistenzsystem, das u. a. in einer virtuellen OP-Umgebung optimiert und validiert wird. Die Abbildung zeigt in diesem Zusammenhang die 2-D-OP-Simulation mit den einzelnen OP-Sälen und Arbeitspunkten und den Arbeitspfaden der als roten Kreis gezeichneten Roboter. (© Lukas Bernhard, AG MITI, TU München)

Zusammenfassung und Schlussfolgerung

Dieser kurze Übersichtsartikel zeigt bereits die Vielzahl an Anwendungsbereichen und den potentiellen Nutzen virtueller OP-Umgebungen, sowohl für Training und Ausbildung, aber auch für die Prozessoptimierung und Technologieentwicklung. Während höher immersive Simulationen bislang an der verfügbaren Rechenleistung und der Komplexität der Szenen scheiterten, dürften derartige Probleme aufgrund technischer Weiterentwicklungen zukünftig weniger bedeutsam sein. Zudem existieren kommerziell verfügbare Modelle für die OP-Simulation, welche die Umsetzung ebenfalls unterstützen. Eine umfassende Simulation chirurgischer Operationen hingegen stellt weiter eine Herausforderung dar, da diese nicht nur die (idealerweise patientenindividuelle) virtuelle Anatomie sowie Gewebe und Objektinteraktionen abbilden muss, sondern auch Komplikationen (wie z. B. Blutungen oder Minderperfusionen) und die biomechanischen Eigenschaften (Elastizität, Reißfestigkeit etc.) realistisch simulieren sollte. Nur so kann ein effektives, virtuelles, chirurgisches Training aller Weiterbildungsstufen in Zukunft möglich sein. Eine deutsche Initiative unter Einbindungen ausgewiesener Experten aus Klinik und Computerwissenschaften ist aktuell bemüht, diesen Ball aufzunehmen und eine neue Form des chirurgischen Trainings auf Basis von VR-Simulation zu realisieren [30].

Auch wenn medizinische Behandlung immer eine direkte Beziehung zwischen Patient:innen und Ärzt:innen sein sollte, ist davon auszugehen, dass die virtuelle Realität und damit der virtuelle OP-Saal zukünftig eine wesentliche Rolle spielen werden.

Literatur

[1]   https://www.mckinsey.com/capabilities/growth-marketing-and-sales/our-insights/value-creation-in-the-metaverse 2022. Zugriff am 29.07.2023.
[2]   BMBF. https://www.forschung-it-sicherheit-kommunikationssysteme.de/forschung/kommunikationssysteme/5g-taktiles-internet. Zugriff am 3.8.2023].
[3]   Kurzweil, R. https://www.thekurzweillibrary.com/foreword-to-virtual-humans Zugriff am 27.07.2023].
[4]   Dymora, P., B. Kowal, M. Mazurek, and S. Romana. The effects of Virtual Reality technology application in the aircraft pilot training process. in IOP conference series: materials science and engineering. 2021. IOP Publishing.
[5]   Makary, M.A. and M. Daniel, Medical error—the third leading cause of death in the US. Bmj, 2016. 353.
[6]   Darzi, A., S. Smith, and N. Taffinder, Assessing operative skill. Needs to become more objective. Bmj, 1999. 318(7188): p. 887-8.
[7]   Griffen, F.D., et al., Violations of Behavioral Practices Revealed in Closed Claims Reviews. Annals of Surgery, 2008. 248(3): p. 468-474.
[8]   Catchpole, K., A. Mishra, A. Handa, and P. McCulloch, Teamwork and error in the operating room: analysis of skills and roles. Annals of surgery, 2008. 247(4): p. 699-706.
[9]   Huber, T., et al., Education Team Time Out in Oncologic Visceral Surgery Optimizes Surgical Resident Training and Team Communication–Results of a Prospective Trial. Journal of Surgical Education, 2023.
[10] Schiff, L., et al., Quality of communication in robotic surgery and surgical outcomes. JSLS: Journal of the Society of Laparoendoscopic Surgeons, 2016. 20(3).
[11] Weber, J., et al., Effects of flow disruptions on mental workload and surgical performance in robotic-assisted surgery. World journal of surgery, 2018. 42: p. 3599-3607.
[12] Li, L., et al., Application of virtual reality technology in clinical medicine. American journal of translational research, 2017. 9(9): p. 3867.
[13] Lehmann, K.S., et al., A prospective randomized study to test the transfer of basic psychomotor skills from virtual reality to physical reality in a comparable training setting. Annals of surgery, 2005. 241(3): p. 442.
[14] Calatayud, D., et al., Warm-up in a virtual reality environment improves performance in the operating room. Annals of surgery, 2010. 251(6): p. 1181-1185.
[15] Humm, G., et al., The impact of virtual reality simulation training on operative performance in laparoscopic cholecystectomy: meta-analysis of randomized clinical trials. BJS open, 2022. 6(4): p. zrac086.
[16] Huber, T., et al., New dimensions in surgical training: immersive virtual reality laparoscopic simulation exhilarates surgical staff. Surgical endoscopy, 2017. 31: p. 4472-4477.
[17] Frederiksen, J.G., et al., Cognitive load and performance in immersive virtual reality versus conventional virtual reality simulation training of laparoscopic surgery: a randomized trial. Surgical endoscopy, 2020. 34: p. 1244-1252.
[18] Scerbo, M.W., et al. A virtual operating room for context-relevant training. in Proceedings of the Human Factors and Ergonomics Society Annual Meeting. 2007. Sage Publications Sage CA: Los Angeles, CA.
[19] Abelson, J.S., et al., Virtual operating room for team training in surgery. The American Journal of Surgery, 2015. 210(3): p. 585-590.
[20] De, S., C.D. Jackson, and D.B. Jones, Intelligent Virtual Operating Room for Enhancing Nontechnical Skills. JAMA surgery, 2023. 158(6): p. 662-663.
[21] Chheang, V., et al. Towards virtual teaching hospitals for advanced surgical training. in 2022 IEEE Conference on Virtual Reality and 3D User Interfaces Abstracts and Workshops (VRW). 2022. IEEE.
[22] Pérez-Escamirosa, F., et al., Immersive virtual operating room simulation for surgical resident education during COVID-19. Surgical Innovation, 2020. 27(5): p. 549-550.
[23] Yu, K., et al., Avatars for teleconsultation: Effects of avatar embodiment techniques on user perception in 3d asymmetric telepresence. IEEE Transactions on Visualization and Computer Graphics, 2021. 27(11): p. 4129-4139.
[24] Yu, K., et al. Magnoramas: Magnifying dioramas for precise annotations in asymmetric 3d teleconsultation. in 2021 IEEE Virtual Reality and 3D User Interfaces (VR). 2021. IEEE.
[25] Roth, D., et al. Real-time mixed reality teleconsultation for intensive care units in pandemic situations. in 2021 IEEE Conference on Virtual Reality and 3D User Interfaces Abstracts and Workshops (VRW). 2021. IEEE.
[26] Bernhard, L., et al., Mobile service robots for the operating room wing: balancing cost and performance by optimizing robotic fleet size and composition. International Journal of Computer Assisted Radiology and Surgery, 2023. 18(2): p. 195-204.
[27] Amato, C., et al., The hospital of the future: rethinking architectural design to enable new patient-centered treatment concepts. International Journal of Computer Assisted Radiology and Surgery, 2022. 17(6): p. 1177-1187.
[28] Hamoud, I., et al. ST (OR) $^ 2$: Spatio-Temporal Object Level Reasoning for Activity Recognition in the Operating Room. in Medical Imaging with Deep Learning. 2023.
[29] Özsoy, E., et al., Multimodal semantic scene graphs for holistic modeling of surgical procedures. arXiv preprint arXiv:2106.15309, 2021.
[30] Benz, S. https://www.surgical-simulation.net/ Zugriff am 4.8.2023].

Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. med. Dirk Wilhelm

Technische Universität München

School of Medicine

Klinikum rechts der Isar, Klinik

Poliklinik für Chirurgie

CTAC, Sektion für Computer- und Telematik assistierte Chirurgie der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH)

 

PD Dr. med. Tobias Huber

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie

Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität

Mainz

CTAC, Sektion für Computer- und Telematik assistierte Chirurgie der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH)

Chirurgie

Wilhelm D, Huber T: „Ready Surgeon One?” – Chirurgie im virtuellen OP-Saal. Passion Chirurgie. 2023 Oktober; 13(10): Artikel 03_02.

Weitere Artikel zum Thema „Digitalisierung“ finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete.

Leserbrief

Betrifft:  Rezension von Dr. med. Peter Kalbe aus Passion Chirurgie 06/QII/2023 zum Buch „Ultraschall des Bewegungsapparates“.

Sie finden den Artikel auf BDC|Online (www.bdc.de) im Bereich WISSEN | Aus-, Weiter- und Fortbildung | Rezensionen, oder klicken HIER.

Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Kalbe, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

die Rezension habe ich mit Interesse gelesen. An diesem Buch stört mich der Begriff „Bewegungsapparat“ im Titel. Der Begriff ist in dieser Verwendung seit ca. 2000 antiquiert, weil er für die absehbaren Irrwege der mechanistischen Betrachtung der Bewegungsorgane und des Bewegungssystems [1] im 20. Jahrhundert steht.

Unter einem Bewegungsapparat versteht man ein technisches Hilfsmittel der Fortbewegung. Vielleicht mit Sensorik (C-Leg etc.), aber ohne Sensibilität und Schmerzempfindung. Die Besprechung selbst macht diesen Fehler nicht.

Der Titel ist ein elementarer Mangel des Buchs.

Mit freundlichen und kollegialen Grüßen

Hans-Friedrich Bär

Antwort des Autors

Sehr geehrter Herr Kollege Bär!

Ihre Irritation zur Wortwahl „Bewegungsapparat“ teile ich. In der wissenschaftlich Fachgesellschaft DGU und DGOU haben wir stets versucht, stattdessen auf den Begriff „Bewegungsorgane“ abzuheben. Dies hat aber leider keinen Eingang in die orthopädische „Umgangssprache“ gefunden. Das werden Sie im Umgang mit den „O und U“-Kollegen auch feststellen.

Daher habe ich mich bei der Buchbesprechung auf den Inhalt konzentriert …

Freundliche kollegiale Grüße

Peter Kalbe

Literatur

[1]   Rudolf Virchow 1858. „Ueber die mechanische Auffassung des Lebens“. Nach einem frei gehaltenen Vortrage aus der dritten allgemeinen Sitzung der 34. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte. (Carlsruhe, am 22. Septbr. 1858) in „Vier Reden über Leben und Kranksein“. S.1–34. Berlin 1862: „Das Leben giebt sich nicht blos dadurch zu erkennen, daß es Körper hervorbringt, welche neben anderen ein Sonderdasein führen, sich als solche erhalten und durch gewisse, ihnen eingepflanzte Kräfte eine Thätigkeit entfalten… [S.6] …Die besondere und beständige Form des Lebens ist die Zelle. Welches lebendige Wesen wir auch untersuchen mögen, immer erweist es sich als hervorgegangen aus einer Zelle und als zusammengesezt oder aufgebaut aus Zellen.“ [S.7]

Dipl.-Ing. (FH) Hans-Friedrich Bär

Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie

Sepzielle Schmerztherapie – Sozialmedizin

Werl – Nürnberg

Chirurgie+

Bär HF: Leserbrief. Passion Chirurgie. 2023 Oktober; 13(10): Artikel 04_06.

Wie die Digitalisierung der Chirurgie den Weg für Künstliche Intelligenz ebnet

Die in Deutschland angestrebte Digitalisierung des Gesundheitswesens verspricht vereinfachte Arbeitsabläufe, effizientere Kommunikation sowie bessere Dokumentation und daraus folgende sicherere Handlungsabläufe [1]. Diverse digitale Gesundheitsanwendungen wie beispielsweise die elektronische Patientenakte (ePA), ermöglichen es, Patienten und medizinischem Personal einen gesammelten Überblick über die dem Patienten zugehörigen Dokumente zu verschaffen. Die Ansammlung von derartig großen Datenmengen birgt jedoch auch die nicht zu unterschätzende Herausforderung, diese zu verwalten und adäquat, sinngerecht und mit Fokus auf klinische Relevanz auszuwerten. Hier kann künstliche Intelligenz (KI) Abhilfe verschaffen [2]. KI ist in der Lage, enorme Datenmengen (Big Data) schnell, statistisch und probabilistisch auszuwerten und daraus Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen bzw. Empfehlungen zu treffen. In der Chirurgie beschäftigt sich ein ganzes wissenschaftliches Feld mit der Aufnahme und Dokumentation, Katalogisierung und digitalen Verwaltung sowie Analyse von multimodalen Daten [2]. Im Mittelpunkt der chirurgischen Datenwissenschaft (Surgical Data Science) stehen dabei Daten aus der präoperativen Diagnostik und Bildgebung sowie intraoperatives, endoskopisches Video- und Bildmaterial und postoperative klinische Daten und Verläufe.

Obwohl KI hinsichtlich repetitiver Datenauswertung, automatisierter Erkennung von wiederkehrenden Mustern innerhalb von Datensätzen und datenbasierten statistischen Analysen dem Menschen überlegen ist, mangelt es ihr an der menschlichen Fähigkeit des kreativen Verknüpfens von Zusammenhängen und kritischem Denken [3, 4]. Im chirurgischen Kontext sind diese Fähigkeiten, insbesondere im Hinblick auf die intraoperative Entscheidungsfindung, aber von großer Bedeutung. Daraus resultiert die Frage, wie KI im chirurgischen Umfeld am effektivsten und sichersten zum Einsatz kommen kann und sollte.

Chirurgische KI

Die praktische Anwendung von KI auf die Chirurgie konzentriert sich derzeit vorrangig auf die Analyse von intraoperativen Video-Daten hinsichtlich der automatisierten Erkennung von chirurgischen Phasen[5], Lokalisierung von Instrumenten und Klassifizierung [6] von Interaktionen zwischen Instrument und Gewebe [7] (siehe Abb. 1).

Aufgrund der hohen Fallzahlen und des standardisierten Ablaufs ist die laparoskopische Cholezystektomie eine der meistadressierten Operationen[8][10]. Kürzlich wurde das Repertoire durch Arbeiten zur KI-basierten Analyse der Chirurgie des oberen Gastrointestinaltrakts und der kolorektalen Chirurgie ergänzt [6], [11][14]. Jedoch ist die chirurgische KI von datenbasierten, sicheren und in Echtzeit abrufbaren autonomen Warn- und Navigationssystemen analog zur Automobilindustrie oder Luftfahrt noch weit entfernt. Grund hierfür sind die begrenzte Quantität, Qualität und Vielfalt der zur Verfügung stehenden Daten, an denen KI-Algorithmen trainiert werden [15], [16].

Abb. 1: Schematische Darstellung des derzeitigen Fokus von chirurgischer KI; insbesondere die zeitliche, räumliche und konzeptionelle Analyse des operativen Arbeitsablaufs anhand von minimalinvasiven Video-Daten steht im Mittelpunkt

Hier könnte die Digitalisierung der Chirurgie den Weg für KI ebnen und eine grundlegende Infrastruktur etablieren, die die translationale Weiterentwicklung von KI begünstigt. Die hochqualitative Aufnahme, adäquate Aufbereitung und effektive Nutzbarkeit von ganzheitlichen Daten aus dem Operationssaal (OP) sind essenzielle Voraussetzungen für die Entwicklung KI-basierter Sicherheitssysteme. Dies bedeutet beispielsweise die Verknüpfung von intraabdominellen Video-Daten mit präoperativer Bildgebung in Echtzeit und die daraus folgende Abbildung anatomischer Strukturen auf dem Operationsfeld durch 3-D-Rekonstruktion. Zudem ermöglicht eine mit dem Operationsvideo zeitlich synchronisierte Abbildung und Analyse von klinischen Patientenparametern, die Analyse von intraoperativen Ereignissen, die im Zusammenhang mit postoperativen Komplikationen stehen. Neue innovative Technologien, wie beispielsweise die Operation Room Black Box von Surgical Safe Technologies (Surgical Safe Technologies, Toronto, Kanada), ermöglichen die umfassende Aufnahme von multimodalen Informationen aus dem Operationssaal [17]. Bild- und Videomaterial von deckenmontierten Kameras sowie dem Laparoskop werden mit anästhesiologisch erhobenen Vitalparametern zeitlich synchronisiert und erlauben somit eine deutlich akkuratere postoperative Auswertung von Komplikationen. Zudem verschafft diese umfassende Datenerhebung entscheidende Einsicht in die Team-Dynamik im Operationssaal und Aspekte, die die Patientensicherheit nachhaltig beeinflussen [18], [19].

Die Symbiose zwischen Digitalisierung und KI ist somit für Wissenschaftler und Kliniker keine weit entfernte Zukunftsfantasie, sondern in vielen OPs in den USA bereits eine sich stetig weiterentwickelnde Realität.

Der digitale Operations Saal der Zukunft

Präoperative systematische Datenanalyse ermöglicht bereits heute genauere Risiko-Stratifizierung des chirurgischen Patienten, digital unterstützte Aufklärung und eine verbesserte chirurgische Ausbildung [8], [20]. Intraoperativ ermöglichen Augmented Reality und Computer Vision die Projektion von digitalen Informationen auf das Operationsfeld [21], anatomische 3-D-Simulationen basierend auf präoperativer Schnittbildgebung[22], intraoperative Markierung oder Annotation von Strukturen und das millimetergenaue Ausmaß von Entfernungen im Situs[23].

Abb. 2: Beispielhafte Übersicht über multimodale Daten, die im Rahmen des prä-, intra- und postoperativen Verlaufs eines chirurgischen Patienten erhoben werden können. Voraussetzungen für die Entwicklung klinisch relevanter KI sind adäquate Infrastrukturen zur Verarbeitung und Bereitstellung dieser Daten.

Postoperativ können Patientenverläufe mit den bis dahin gesammelten Daten integriert und mittels KI genauer ausgewertet werden, um sensitive Vorhersagen hinsichtlich potenzieller Komplikationen oder dem Überleben des Patienten zu treffen. Zudem versprechen Tele-Chirurgie und das taktile Internet eine Demokratisierung von chirurgischen Fähigkeiten und somit eine flächendeckende Verbesserung der chirurgischen Patientenversorgung und Ausbildung zukünftiger Chirurg:innen [24]. Die systematische Verarbeitung und mundgerechte Bereitstellung von multimodalen Daten und Integration in das operative Handlungsgeschehen wird Chirurg:innen verstärkte Übersicht über den Situs und operative Ereignisse sowie ein genaueres Verständnis über die Pathophysiologie chirurgischer Krankheitsbilder verschaffen. Somit werden neue, individualisierte chirurgische Therapieansätze geschaffen und chirurgische Komplikationen reduziert.

Dabei gilt es zu bedenken, dass der Zugang zu solchen Technologien aufgrund der enormen Kosten und der derzeit bestehenden ungleichen Ressourcenstärke unter deutschen Krankenhäusern einigen wenigen Zentren obliegt. Zudem besteht ein nicht unentschiedener Nachholbedarf in der Etablierung von regulatorischen Voraussetzungen, strukturellen und rechtliche Rahmenbedingungen, die die sinnvolle und sichere Nutzung und Kuration der beschriebenen Daten ermöglichen (siehe Abb. 2).

Digitalisierung ermöglicht KI

Chirurgische Datenwissenschaft zielt mittels KI darauf ab, bestehende chirurgische Expertise zu ergänzen und nicht, diese zu ersetzen. Die neue Bewegung hin zur digitalen Medizin und somit digitalen Chirurgie könnte somit einen potenten Katalysator für eine KI-gestützte sichere, effizientere und evidenzbasierte moderne Chirurgie darstellen. Voraussetzung hierfür ist jedoch nicht nur die Digitalisierung bestehender Dokumentationsprozesse anstatt der bislang etablierten Papierform, sondern auch die Einführung systematischer digitaler Datenerfassung im Operationssaal, sowie Interoperabilität zwischen verschiedenen digitalen Systemen[2]. Derzeit besteht keine einheitliche Infrastruktur, die eine ganzheitliche Datenaufnahme im OP sicherstellt. Denn im chirurgischen Alltag sind hauchdünne Abschriften von Narkoseprotokollen und auf USB gespeicherte intraoperative Videodaten und Standbilder noch immer tägliche Realität.

In Zukunft wird die digitale Datenerfassung in der Chirurgie wohl, neben entscheidender Anpassung von regulatorischen und ethischen Rahmenbedingungen, auch eine kulturelle Umstellung verlangen. Denn selbst die Initiierung der Aufnahme des Operationsvideos ist ein manueller, stark fehleranfälliger Prozess. Der unmittelbar bevorstehende Ersatz von Papierdokumenten durch die ePA, um wichtige Patienten-relevante Parameter zuverlässig zu erfassen und nachhaltig zu dokumentieren, zeigen in der Chirurgie ein enormes Potenzial sowie enormen Nachholbedarf auf. Um die nächste Evolutionsstufe des technologisch fortgeschrittenen KI-augmentierten OPs zu realisieren, werden untereinander verknüpfte anwenderfreundliche Aufnahmegeräte benötigt sowie enorme digitale Speicherkapazität, adäquate strukturelle Grundlagen zur Bereitstellung und zum Teilen von chirurgischen Daten und einen interdisziplinären Diskurs zwischen Computerwissenschaftlern und Klinikern [16].

Letztlich wird KI nur Einzug in den chirurgischen Alltag erhalten, wenn die Digitalisierungsbewegung der deutschen Medizin eine flächendeckende Datenerfassung und umfangreiche Nutzung der verfügbaren Technologien ermöglicht sowie die Übersetzung von theoretischen Ansätzen des maschinellen Lernens in klinische Studien unterstützt.

Literatur

[1]   “Digitalisierung im Gesundheitswesen,” Bundesministerium für Gesundheit, 30-Aug-2023. [Online]. Available: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/digitalisierung/digitalisierung-im-gesundheitswesen.html. [Accessed: 06-Sep-2023].
[2]   L. Maier-Hein et al., “Surgical data science – from concepts toward clinical translation,” Med. Image Anal., vol. 76, p. 102306, Feb. 2022.
[3]   J. Fjeld and A. Nagy, “Principled Artificial Intelligence,” Berkman Klein Center, Jan. 2020.
[4]   S. J. Russell, S. Russell, and P. Norvig, Artificial Intelligence: A Modern Approach. Pearson, 2020.
[5]   K. C. Demir, H. Schieber, D. Roth, A. Maier, and S. H. Yang, “Surgical Phase Recognition: A Review and Evaluation of Current Approaches,” TechRxiv, 02-May-2022.
[6]   P. De Backer et al., “Multicentric exploration of tool annotation in robotic surgery: lessons learned when starting a surgical artificial intelligence project,” Surg. Endosc., Aug. 2022.
[7]   C. I. Nwoye et al., “Recognition of Instrument-Tissue Interactions in Endoscopic Videos via Action Triplets,” in Medical Image Computing and Computer Assisted Intervention – MICCAI 2020, 2020, pp. 364–374.
[8]   T. M. Ward, D. A. Hashimoto, Y. Ban, G. Rosman, and O. R. Meireles, “Artificial intelligence prediction of cholecystectomy operative course from automated identification of gallbladder inflammation,” Surg. Endosc., vol. 36, no. 9, pp. 6832–6840, Sep. 2022.
[9]   J. J. Jung et al., “Development and Evaluation of a Novel Instrument to Measure Severity of Intraoperative Events Using Video Data,” Ann. Surg., vol. 272, no. 2, pp. 220–226, Aug. 2020.
[10] P. Mascagni et al., “Surgical data science for safe cholecystectomy: a protocol for segmentation of hepatocystic anatomy and assessment of the critical view of safety,” arXiv [eess.IV], 21-Jun-2021.
[11] S.-E. Kudo et al., “Artificial Intelligence System to Determine Risk of T1 Colorectal Cancer Metastasis to Lymph Node,” Gastroenterology, vol. 160, no. 4, pp. 1075-1084.e2, Mar. 2021.
[12] D. Kitaguchi et al., “Automated laparoscopic colorectal surgery workflow recognition using artificial intelligence: Experimental research,” Int. J. Surg., vol. 79, pp. 88–94, Jul. 2020.
[13] M. Takeuchi et al., “Automated Surgical-Phase Recognition for Robot-Assisted Minimally Invasive Esophagectomy Using Artificial Intelligence,” Ann. Surg. Oncol., vol. 29, no. 11, pp. 6847–6855, Oct. 2022.
[14] J. A. Eckhoff et al., “TEsoNet: knowledge transfer in surgical phase recognition from laparoscopic sleeve gastrectomy to the laparoscopic part of Ivor-Lewis esophagectomy,” Surg. Endosc., vol. 37, no. 5, pp. 4040–4053, May 2023.
[15] J. Balch, G. R. Upchurch Jr, A. Bihorac, and T. J. Loftus, “Bridging the artificial intelligence valley of death in surgical decision-making,” Surgery, vol. 169, no. 4, pp. 746–748, Apr. 2021.
[16] J. A. Eckhoff et al., “SAGES consensus recommendations on surgical video data use, structure, and exploration (for research in artificial intelligence, clinical quality improvement, and surgical education),” Surg. Endosc., Jul. 2023.
[17] A. I. Al Abbas et al., “The Operating Room Black Box: Understanding Adherence to Surgical Checklists,” Ann. Surg., vol. 276, no. 6, pp. 995–1001, Dec. 2022.
[18] J. J. Jung, P. Jüni, G. Lebovic, and T. Grantcharov, “First-year Analysis of the Operating Room Black Box Study,” Ann. Surg., vol. 271, no. 1, pp. 122–127, Jan. 2020.
[19] J.-N. Gallant, K. Brelsford, S. Sharma, T. Grantcharov, and A. Langerman, “Patient Perceptions of Audio and Video Recording in the Operating Room,” Ann. Surg., vol. 276, no. 6, pp. e1057–e1063, Dec. 2022.
[20] D. A. Hashimoto, G. Rosman, and O. R. Meireles, Artificial Intelligence in Surgery: Understanding the Role of AI in Surgical Practice. McGraw-Hill Education, 2021.
[21] C. Dennler et al., “Augmented reality in the operating room: a clinical feasibility study,” BMC Musculoskelet. Disord., vol. 22, no. 1, p. 451, May 2021.
[22] J. J. Rassweiler et al., “Future of robotic surgery in urology,” BJU Int., vol. 120, no. 6, pp. 822–841, Dec. 2017.
[23] F. Marchegiani et al., “New Robotic Platforms in General Surgery: What’s the Current Clinical Scenario?,” Medicina , vol. 59, no. 7, Jul. 2023.
[24] F. H. P. Fitzek, S.-C. Li, S. Speidel, T. Strufe, M. Simsek, and M. Reisslein, Tactile Internet: with Human-in-the-Loop. Academic Press, 2021.

Eckhoff JA: Wie die Digitalisierung der Chirurgie den Weg für Künstliche Intelligenz ebnet. Passion Chirurgie. 2023 Oktober; 13(10): Artikel 03_03.

BDC-Praxistest: Wo sind unsere Ärzte und Pflegekräfte hin?

Vorwort

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

im deutschen Gesundheitswesen spitzt sich der Fachkräftemangel Jahr für Jahr zu. So wird prognostiziert, dass 2035 ca. 1,8 Millionen Stellen nicht mehr besetzt werden können, was einem Engpass von 35 % entsprechen würde. Darüber hinaus können sich nur 30 % der Ärzt:innen und Pflegekräfte in unseren Krankenhäusern vorstellen, ihren Beruf bis zu Rente auszuüben. Diese besorgniserregenden Prognosen lassen zukünftig eine bundesweite Gefährdung unserer Gesundheitsversorgung vermuten.

Zwei Hauptursachen sollen für den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen verantwortlich sein: zum einen der demografischen Wandel und zum anderen die harten Arbeitsbedingungen in der Pflege bzw. Ärzteschaft.

Was sollen also Krankenhäuser tun, um diesen Problemen entgegenzuwirken? Sind sie überhaupt in der aktuellen Zeit von „Lauterbach und Laumann“ in der Lage dazu, wenn man bedenkt, dass im Jahr 2023 ca. 20 % der Krankenhäuser Insolvenzgefährdet sind? Oder wird doch die Rechnung von „Bundes-Karl“ aufgehen und durch den Wegfall von ca. ein Fünftel der Krankenhäuser so viel Personal verfügbar, sodass wir gar keinen Mangel mehr haben?

Der vorliegende Artikel soll Ihnen einen Überblick geben, wie die Stellenbesetzungsprobleme in der Pflege und im Ärztlichen Dienst aussehen und welche Handlungsoptionen sich anbieten.

Spannende Lektüre

Prof. Dr. med. C. J. Krones und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Stellenbesetzungsprobleme in Krankenhäusern

Der Fachkräftemangel bzw. Stellenbesetzungsprobleme bilden eine zentrale Herausforderung für die aktuelle und künftige Krankenhausversorgung in Deutschland. Der folgende Beitrag zeigt auf, dass sich die Stellenbesetzungsprobleme in den letzten Jahren berufsgruppenübergreifend massiv verschärft haben. Grundlage der Analysen bildet das Krankenhaus Barometer des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI).

Beim Krankenhaus Barometer handelt es sich um eine jährlich durchgeführte Repräsentativbefragung deutscher Krankenhäuser zu aktuellen gesundheits- und krankenhauspolitischen Themen. Die Ergebnisse des Barometers beruhen auf einer schriftlichen Befragung einer repräsentativen Stichprobe von zugelassenen Allgemeinkrankenhäusern ab 100 Betten in Deutschland.

Der Fachkräftemangel wird im Krankenhaus Barometer darüber gemessen, dass offene Stellen (wieder) besetzt werden sollen, aber mangels (geeigneter) Bewerber kurzfristig nicht besetzt werden können bzw. längere Zeit vakant bleiben. Aussagen dazu, inwieweit die aktuellen Stellenpläne bedarfsgerecht sind, werden – auch mangels objektiver und weitestgehend konsensfähiger Maßstäbe – somit ausdrücklich nicht getroffen. Nachfolgend werden Zeitreihen für die Ärzte, die Pflege und das OP-Personal präsentiert, der Beobachtungszeitraum beträgt jeweils 12 Jahre (2011–2022).

Stellenbesetzungsprobleme im Ärztlichen Dienst

Im Frühjahr 2022 hatten 72 % der Krankenhäuser Probleme, offene Stellen im ärztlichen Dienst zu besetzen. Im Vergleich zum Jahr 2019, als die Stellenbesetzungsprobleme bei Ärzten letztmalig erhoben wurden, ist die Entwicklung leicht rückläufig (Abb. 1). Jedoch hat sich m Zeitvergleich mit 2019 die Zahl der offenen Arztstellen je betroffenes Krankenhaus auf durchschnittlich fast sieben Vollkraftstellen nahezu verdoppelt (Abb. 1).

Abb. 1: Stellenbesetzungsprobleme im Ärztlichen Dienst

Rechnet man die Ergebnisse auf die Grundgesamtheit der Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten hoch, konnten bundesweit rund 5.200 Vollkraftstellen im Ärztlichen Dienst nicht besetzt werden. Das entspricht einem Anteilswert von rund 3 % der ärztlichen Vollkraftstellen in der genannten Grundgesamtheit.

Stellenbesetzungsprobleme im Pflegedienst auf Allgemeinstationen

89 % der Krankenhäuser hatten im Frühjahr 2022 Probleme, offene Pflegestellen auf Allgemeinstationen zu besetzen. Die Stellenbesetzungsprobleme im Pflegedienst der Allgemeinstationen haben seit 2011 kontinuierlich zugenommen (Abb. 2). In den letzten Jahren sind sie auf ohnehin hohem Niveau noch weiter gestiegen.

Abb. 2: Stellenbesetzungsprobleme im Pflegedienst auf Allgemeinstationen

Die von Stellenbesetzungsproblemen betroffenen Krankenhäuser konnten im Mittel rund 21 Vollkraftstellen nicht besetzen (Abb. 2). Hochgerechnet auf die Grundgesamtheit der Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten blieben bundesweit rund 20.600 Vollkraftstellen im Pflegedienst der Allgemeinstationen unbesetzt. Bezogen auf die Vollkraftstellen im Pflegedienst auf den Allgemeinstationen der Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten insgesamt sind knapp 8 % der Pflegestellen derzeit vakant.

Stellenbesetzungsprobleme in der Intensivpflege

Im Frühjahr 2022 hatten drei von vier Krankenhäusern mit Intensivstationen Probleme, offene Intensivpflegestellen zu besetzen. Der Anteil der vom entsprechendem Fachkräftemangel betroffenen Krankenhäuser hat sich in den letzten Jahren auf hohem Niveau stabilisiert (Abb. 3).

Abb. 3: Stellenbesetzungsprobleme in der Intensivpflege

Die von Stellenbesetzungsproblemen betroffenen Krankenhäuser konnten im Mittel fast elf Vollkraftstellen in der Intensivpflege nicht besetzen (Abb. 3). Hochgerechnet auf die Grundgesamtheit der Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten mit Intensivstationen blieben bundesweit rund 9.500 Vollkraftstellen in der Intensivpflege unbesetzt. Bezogen auf die Vollkraftstellen in der Intensivpflege der Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten insgesamt sind rund 14 % der Pflegestellen derzeit vakant.

Stellenbesetzungsprobleme im OP- und Anästhesiedienst

Das nicht-ärztliche Personal im Operationsdienst umfasst Operationstechnische Assistenten (OTA), weitergebildete OP-Pflegefachkräfte sowie nicht entsprechend aus- oder weitergebildetes OP-Personal. Das nicht-ärztliche Personal in der Anästhesie umfasst Anästhesietechnische Assistenten (ATA), weitergebildete Anästhesie- und Intensivfachpflegekräfte sowie Anästhesiepersonal ohne Aus- oder Weiterbildung.

62 % der Krankenhäuser hatten im Frühjahr 2022 Probleme, offene Stellen beim nicht-ärztlichen Personal im Operationsdienst zu besetzen (Abb. 4). Beim nicht-ärztlichen Personal im Anästhesiedienst waren 58 % der Krankenhäuser von Stellenbesetzungsproblemen betroffen. Die Krankenhäuser mit Stellenbesetzungsproblemen konnten im Mittel 4,5 Vollkraftstellen im Operationsdienst nicht besetzen. Für das nicht-ärztliche Personal in der Anästhesie lag der Durchschnittswert bei 3,3 Stellen (Abb. 4).

Abb. 4: Stellenbesetzungsprobleme im OP- und Anästhesiedienst

Rechnet man die Stichprobenergebnisse auf die Grundgesamtheit der Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten hoch, blieben bundesweit rund 2.500 Vollkraftstellen im Operationsdienst unbesetzt. Beim nicht-ärztlichen Personal in der Anästhesie konnten hochgerechnet rund 1.700 Vollkraftstellen nicht besetzt werden. Bezogen auf die Vollkraftstellen im OP- und Anästhesiedienst insgesamt sind jeweils knapp 8 % der Stellen derzeit vakant.

Diskussion

In allen betrachteten Berufsgruppen hat der Fachkräftemangel, gemessen an der Anzahl und dem Anteil vakanter Vollkraftstellen, zwischen 2011 und 2022 deutlich zugenommen. Im Beobachtungszeitraum fällt die Zunahme vakanter Stellen im Pflegedienst auf den Allgemein- und Intensivstationen im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen besonders stark aus.

Gemessen am Anteil der von Stellenbesetzungsproblemen betroffenen Häuser ist in den letzten Jahren im Ärztlichen Dienst ein leichter Rückgang, in der Pflege auf den Allgemeinstationen ein moderater Anstieg und in der Intensivpflege eine weitgehend stabile Entwicklung zu beobachten. Der steigende Fachkräftemangel bei Ärzten und in der Pflege ist daher maßgeblich auf die deutliche Zunahme vakanter Stellen pro Krankenhaus pro Berufsgruppe zurückzuführen.

Im Unterschied zum Pflege- und Ärztlichen Dienst hat der Fachkräftemangel bei den nicht-ärztlichen OP- und Anästhesieberufen erst in den letzten Jahren des Beobachtungszeitraums merklich zugenommen. Hier sind sowohl der Anteil der betroffenen Häuser als auch die Anzahl der offenen Stellen deutlich angestiegen.

Angesichts von massiven Stellenbesetzungsproblemen und des signifikanten Personalmehrbedarfs im Krankenhaus, insbesondere bei wünschenswert verbesserten Personalschlüsseln, stellt sich die Frage, welche grundsätzlichen Handlungsoptionen für eine verbesserte Personalausstattung bestehen. Hier bieten sich im Wesentlichen die folgenden Handlungsoptionen an:

  • Die Aus- und Weiterbildungskapazitäten in den Gesundheitsberufen sind kontinuierlich auszubauen. Für die Bekämpfung des Fachkräftemangels und perspektivisch verbesserte Personalschlüssel ist dieser Kapazitätsausbau erforderlich.
  • Durch einen längeren Berufsverbleib und einen verzögerten Renteneintritt können beim vorhandenen Personal zusätzliche Vollzeitäquivalente gewonnen werden. Für diese Zwecke bieten sich vor allem Maßnahmen des altersgerechten Arbeitens, der Personalentwicklung und ein betriebliches Gesundheitsmanagement an.
  • Durch Arbeitszeitverlängerungen bei Teilzeitkräften bzw. reduzierte Teilzeitquoten in den Gesundheitsberufen können zusätzliche Vollzeitäquivalente generiert werden. Zu diesem Zweck sind Arbeitszeitmodelle und Arbeitsbedingungen zu entwickeln, die es Teilzeitkräften erleichtern, länger und flexibler zu arbeiten.
  • Viele Beschäftigte, vor allem in den nicht-ärztlichen Berufen, steigen vorzeitig oder längerfristig aus dem Beruf aus, etwa während der Phase der Elternzeit und Kindererziehung. Durch entsprechende Akquiseaktivitäten, wie Kontakthalte-, Wiedereinstiegs- und Qualifizierungsprogramme sowie familienorientierte Angebote, kann diese „stille Reserve“ gezielt angesprochen werden.
  • Durch einen gezielten Abbau von Dokumentation und Administration in den Gesundheitsberufen und eine weitreichende Digitalisierung der Dokumentation und anderen Prozessen im Krankenhaus haben die Mitarbeiter mehr Zeit für patientennahe Tätigkeiten. Damit verbessert sich Versorgungsqualität für die Patienten sowie die Berufszufriedenheit der Mitarbeiter und ihre Bindung an das Krankenhaus.

Politik und Selbstverwaltung sind gefordert, die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für eine angemessene Personalsituation im Krankenhaus zu schaffen, etwa über die Kalkulation der Leistungsentgelte, die Erhöhung der Ausbildungsbudgets, Bürokratieabbau und bedarfsorientierte Personalregelungen. Die Krankenhäuser können ihrerseits durch eine erhöhte Arbeitgeberattraktivität zusätzliche Fachkräfte generieren bzw. einen längeren Verbleib in den Gesundheitsberufen begünstigen.

Literatur

[1]   Deutsches Krankenhausinstitut (2011 ff.): Krankenhaus Barometer. https://www.dki.de/barometer/krankenhaus-barometer (27.03.2023)

Dr. Karl Blum

Vorstand

Deutsches Krankenhausinstitut e. V.

Hansaallee 201, Haus 1

40549 Düsseldorf

karl.blum@dki.de

www.dki.de

Gesundheitspolitik

Blum K: BDC-Praxistest: Wo sind unsere Ärzte und Pflegekräfte hin? Passion Chirurgie. 2023 September; 13(09): Artikel 05_01.

Mehr Artikel zum Thema „Ärztemangel“ finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Karriere | Arbeitsmarkt.

Passion Chirurgie im September

Das „D-Arzt-System“ steht im Fokus der aktuellen Ausgabe, passend zum Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU), der vom 24. bis 27. Oktober 2023 in Berlin stattfindet. Der BDC ist an allen vier Kongresstagen mit einem Stand vertreten in Halle 2.2b. Wir freuen uns auf Gespräche mit Ihnen!

Kennen Sie schon unseren Chirurgie-Podcast „Surgeon Talk“? Im September 2023 diskutierte der Leiter der BDC|Akademie Professor Dr. Wolfgang Schröder mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt zum Thema „Wie gewinnen wir genug Ärztinnen und Ärzte in Deutschland, um eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten?“. Sie sind herzlich eingeladen, den kostenlosen Podcast im Archiv anzuhören: www.surgeontalk.de.

Hier gehts zur neuen Ausgabe.

Wir wünschen eine spannende Lektüre!
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

Über 100 Jahre D-Arzt – der Schnellzug in der medizinischen Versorgung

Am 1. Mai 1892 ist es soweit: Der D 31/32 rollt vom heutigen Potsdamer Platz, dem damaligen Berlin-Potsdamer Bahnhof vom Gleis. Das Ziel: der Kölner Hauptbahnhof.

Neben den Fahrgästen versammeln sich auf dem Gleis auch zahlreiche Schaulustige. Denn die Möglichkeit des Durchschreitens der Waggons während der Fahrt ist eine kleine Sensation. In den Vorläufermodellen des D-Zugs müssen die Reisenden nämlich noch jedes einzelne Abteil von außen durch Türen betreten. Längs aller Wagen sind Laufbretter mit Haltestangen angebracht, über die der Schaffner zur Fahrkartenkontrolle balancieren und die Türen in akrobatischen Aktionen öffnen muss. Selbst als die früher gemächlich vor sich hin tuckernden Züge Geschwindigkeiten von 100 Stundenkilometern erreichen, ist das noch so. Entsprechend hoch sind die Unfallzahlen: vor allem auch, weil sich in überfüllten Zügen immer wieder Reisende auf die Trittbretter stellen. Es gibt nicht nur Verletzte, sondern auch Tote. [2]

Und nun, der D-Zug! So wurden ausschließlich Züge bezeichnet, deren Wagen durch mit Faltenbälgen geschützte Übergänge untereinander verbunden waren, die sogenannten Durchgangswagen. [3] Zudem sollte der D-Zug besonders pünktlich und bequem sein. Und nicht mehr an jeder „Milchkanne“, sondern nur noch an den wichtigsten Stationen halten.

Leider wissen wir nicht, ob der Begriff „Durchgangsarzt (D-Arzt)“ [1] in Anlehnung an den Durchgangszug gewählt wurde. Vorstellbar ist es aber durchaus: der D-Arzt als Ansprechpartner für die wichtigsten Stationen für gesetzliche Unfallversicherte und Berufserkrankte. Der D-Arzt, der die Behandlungsübergänge überwacht, der dafür sorgt, dass die Behandlungen für die Versicherten bequem und pünktlich durchgeführt werden.

Benutzt wurde der Begriff „Durchgangsarzt“ zum ersten Mal in § 3 der Reichsversichertenordnung (RVO) am 29. November 1921, also fast 30 Jahre, nachdem der erste D-Zug durch Deutschland rollte. Danach hatte die Krankenkasse auf Wunsch der Berufsgenossenschaft deren Unfallverletzte anzuhalten, sofort nach der Krankmeldung und vor der ersten Inanspruchnahme des Kassenarztes einen von der Berufsgenossenschaft bezeichneten Facharzt (Durchgangsarzt) zurate zu ziehen.

Es ist leider nicht nur unbekannt, vor welchem Hintergrund der Begriff „D-Arzt“ gewählt wurde. Auch der Anlass für die Überlegungen zur Einführung eines Durchgangsarztes in der gesetzlichen Unfallversicherung ist nicht genau überliefert. Vielleicht aber steht die Einführung des Durchgangsarztes im Zusammenhang mit dem bislang schwersten Unglück in der Geschichte der deutschen chemischen Industrie und der größten zivilen Explosionskatastrophe in Deutschland: „Am Morgen des 21. Septembers 1921 ereigneten sich im Oppauer Werk der Badischen Anilin- und Sodafabrik im Laboratorium 53 zwei schwere Explosionen. Das ganze Gebäude wurde durch den Luftdruck emporgehoben und stürzte in sich zusammen. In dem Gebäude waren etwa 800 Mitarbeiter beschäftigt, von denen keiner mit dem Leben davongekommen ist. Durch den Luftdruck sind in der weiteren Umgebung von Mannheim bis Heidelberg zahlreiche Fensterscheiben zertrümmert worden. In Mannheim, das vom Explosionsherd weit entfernt ist, sind bis jetzt ein Toter, 36 Schwer- und 20 Leichtverletzte festgestellt worden. Sämtliche Lazarette und Mannheim und Ludwigshafen sind von Verwundeten überfüllt.[4]

Dieses schwere Unglück in der chemischen Industrie könnte tatsächlich der Auslöser für die Implementierung des D-Arzt-Systems gewesen sein – denn die speziellen schweren (Brand-)Verletzungen erforderten eine spezielle medizinische Versorgung.

Abb. 1: D-Arztverfahren der gesetzlichen Unfallversicherung

Und der D-Arzt beurteilte seinerzeit bereits, ob die Fürsorge der Krankenkasse ausreicht oder ob besondere Heilmaßnahmen notwendig sind – Kriterien, die man in ähnlicher Weise noch immer im Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger wiederfindet. Schon damals musste der Durchgangsarzt in der Beurteilung und Behandlung von Unfallverletzten besonders erfahren, fachärztlich ausgebildet (Chirurg oder Orthopäde) und ausschließlich fachärztlich tätig sein. [5]

Hohe Anforderungen an D-Ärzte gerechtfertigt

Auch heute noch ist es im Zusammenhang mit Arbeitsunfällen die Aufgabe der Unfallversicherung, für den Verletzten durch geeignete Behandlungsmaßnahmen sowie durch Geld- oder Sachleistungen die schnellstmögliche Rückführung zur Leistungsfähigkeit sicherzustellen (§§ 26 ff. SGB VII). Hierzu werden in erster Linie Durchgangsärzte (D-Ärzte) bestellt, die nach Diagnosestellung über den weiteren Therapieverlauf entscheiden und den weiterbehandelnden Arzt bestimmen. Nach § 26 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger hält der Arzt „den Unfallverletzten an, sich unverzüglich einem Durchgangsarzt vorzustellen, wenn die Unfallverletzung über den Unfalltag hinaus zur Arbeitsunfähigkeit führt oder die Behandlungsbedürftigkeit voraussichtlich mehr als eine Woche beträgt … Eine Vorstellung beim Durchgangsarzt hat auch dann zu erfolgen, wenn nach Auffassung des behandelnden Arztes die Verordnung von Heil- oder Hilfsmitteln oder außerhalb der Berechtigung nach § 12 die Hinzuziehung eines anderen Facharztes erforderlich ist. Bei Wiedererkrankung ist in jedem Fall eine Vorstellung erforderlich. Der Unfallverletzte hat grundsätzlich die freie Wahl unter den Durchgangsärzten.

Bundesweit sind über 3.700 niedergelassene
sowie an Krankenhäusern und
Kliniken tätige Ärzte in dieses Verfahren
vertraglich eingebunden. Jährlich werden
ca. 2,8 Millionen Versicherte der gesetzlichen
Unfallversicherungsträger im
Durchgangsarztverfahren versorgt.

Auch wenn sich das D-Arzt-System in den vergangenen 100 Jahren mit leichten Modifikationen bewährt hat: Die hohen fachlichen und persönlichen Anforderungen an die Durchgangsärzte sind immer wieder Diskussionspunkt in der Ärzteschaft.

Denn der Durchgangsarzt muss zum Führen der deutschen Facharztbezeichnung „Orthopädie und Unfallchirurgie“ berechtigt und als solcher fachlich und fachlich-organisatorisch weisungsfrei tätig sein. Der Durchgangsarzt muss zudem nach der Facharztanerkennung mindestens ein Jahr in einer Abteilung zur Behandlung Schwer-Unfallverletzter eines zum Verletzungsartenverfahren zugelassenen Krankenhauses vollschichtig unfallchirurgisch tätig gewesen sein. Dies ist durch ein qualifiziertes Zeugnis des für diese Abteilung verantwortlichen Durchgangsarztes nachzuweisen. Ist der Durchgangsarzt an einem Krankenhaus oder einer Klinik tätig, muss er darüber hinaus über die Zusatzbezeichnung „Spezielle Unfallchirurgie“ verfügen. [6] Der Durchgangsarzt ist grundsätzlich verpflichtet, seine Tätigkeiten persönlich zu erbringen. Ferner müssen Durchgangsärzte zusätzlich personelle, apparative und einrichtungsmäßige Voraussetzungen erfüllen und zur Übernahme weiterer Pflichten (insbesondere im Bereich der Berichtserstattung, des Reha-Managements und auf dem Gutachtensektor) bereit sein. [7]

Die Landesverbände der DGUV beteiligen demnach ausschließlich fachlich geeignete Ärzte mit entsprechender Ausstattung der Praxis/Klinik am Durchgangsarztverfahren. Die hohen Anforderungen an den D-Arzt sind aber gewollt und gerechtfertigt, weil die Unfallversicherungsträger nach § 34 Abs. 1, 2 SGB VII alle Maßnahmen zu treffen haben, um eine möglichst frühzeitige und sachgemäße Heilbehandlung Versicherter zu gewährleisten. Diese Anforderungen sind gesetzeskonkretisierende Berufsausübungsregelungen zur Sicherung der Gleichbehandlung, die zur Qualitätssicherung gerechtfertigt sind, wie auch das Bundessozialgericht 2006 entschied. [8]

In einem späteren Urteil hat der Bundesgerichtshof zudem entschieden, dass „wegen des regelmäßig gegebenen inneren Zusammenhangs der Diagnosestellung und der sie vorbereitenden Maßnahmen mit der Entscheidung über die richtige Heilbehandlung … jene Maßnahmen ebenfalls der öffentlich-rechtlichen Aufgabe des Durchgangsarztes zuzuordnen [ist] mit der Folge, dass die Unfallversicherungsträger für etwaige Fehler in diesem Bereich haften“. [9] Was nichts anderes heißt, als dass sich die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung das Handeln der Durchgangsärzte als eigenes Handeln zurechnen lassen müssen.

Die Anforderungen an den Durchgangsarzt sind aber auch deshalb so hoch, weil er als „Lotse“ durch den gesamten Behandlungsablauf als Generalist fungieren muss, gleichzeitig aber einen hohen Spezialisierungsgrad im Bereich der in der gesetzlichen Unfallversicherung vorkommenden Verletzungsarten haben muss.

Eine Übernahme dieses Konzeptes zur Versorgung von Unfallverletzten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung würde sich anbieten. Im Bundesministerium für Gesundheit wird allerdings das D-Arzt-System nicht in den Blick genommen –auch heute nicht. Somit sind nicht nur die Versorgungsbrüche über Sektorengrenzen hinweg im Deutschen Gesundheitssystem ein Problem – sondern auch die unterschiedliche Zuständigkeit der Ministerien (BMG = SGB V/BMAS = SGB VII). Dies führt dazu, dass die Best-Practice-Beispiele zwar quasi vor der Haustür liegen, aber keine Beachtung finden.

Zukunft des D-Arztes

Die Gemeinsame BG-Kommission der unfallchirurgisch-orthopädischen Berufsverbände hat gemeinsam mit der DGUV eine weitgehende Reform der ambulanten D-Arzt-Versorgung auf den Weg gebracht. Ausgangspunkt war die Sorge um die weitere Akzeptanz der derzeitigen, in den Anforderungen der gesetzlichen Unfallversicherungen mit Geltung vom 01. Januar 2011 festgelegten Pflichten und die damit verbundene zukünftige flächendeckende Versorgung mit D-Ärzten. Auch die Altersstruktur der D-Ärzte spielt bei den Überlegungen eine Rolle, wobei dazu gesagt werden muss, dass die fachliche Befähigung zum D-Arzt eine jahrelange Ausbildung mit sich bringt. Zudem ist die Altersstruktur ähnlich der von Ärzten in der gesetzlichen Krankenversicherung.

Für die DGUV war bei den weiteren Diskussionen aber auch von Bedeutung, dass sich nicht nur die Medizinerwelt, sondern die Arbeitswelt insgesamt verändert:

Klassische Arbeits- und Beschäftigungsformen werden zunehmend verändert oder gar abgelöst werden. Und nicht erst seit Corona besteht der Wunsch der jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach alternativen Arbeits- und Beschäftigungsformen. Die Möglichkeiten des Nutzens des technologischen Fortschritts für den eigenen Arbeitsplatz, die Vereinbarkeit von Beruflichem und Privatem sowie Aspekte der Nachhaltigkeit führen ebenso wie verstärkte Aktivitäten im Bereich von Arbeitsschutz und Prävention zu einem gewünschten Rückgang der Arbeitsunfälle.

Abb. 2: Alterstruktur beteiligter D-Ärztinnen und D-Ärzte – Stand April 2021

Bei allen Diskussionspunkten muss gemeinsames Ziel der Berufsverbände und der DGUV sein: Es gilt, in allen Teilen Deutschlands das seit über 100 Jahren bewährte D-Arzt-System zu erhalten oder dort, wo dies nicht immer möglich ist, neue Wege zu suchen, damit die Unfallversicherung weiterhin durch ein flächendeckendes Netzwerk von spezialisierten Ärztinnen und Ärzten, Therapeutinnen und Therapeuten sowie Unfall- und Rehabilitationskliniken die medizinische Versorgung sicherstellen kann!

Vielleicht ist die Bahn ja auch bei der Weiterentwicklung des D-Arzt-Verfahrens Impulsgeber: Ab 2023 sollen neue Züge mit dem Arbeitstitel „ECx“ die DB-Fahrzeugflotte erweitern. Das Innovative an diesen Zügen: Sie sind sehr flexibel einsetzbar, bieten WLAN sowie Fahrgastinformation mit Echtzeitdaten und sind barrierefrei. Im übertragenen Sinne: Mit Flexibilität, dem Einsatz von digitalen Hilfsmitteln und dem Blick auf die Versicherten wird der D-Arzt noch weitere 100 Jahre das System der gesetzlichen Unfallversicherung bereichern!

Literatur

[1]   Offiziell heißt es Durchgangsarzt-Verfahren. Natürlich sind aber auch alle Ärztinnen gemeint, die diesen Beruf ausüben. Die DGUV setzt sich dafür ein, dass sich auch Frauen diese spezielle Facharztrichtung ausüben. Deshalb sind mit dem Begriff D-Arzt alle Geschlechter einbezogen.

[2]   https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-d-zug-100.html

[3]   https://de.wikipedia.org/wiki/Schnellzug

[4]   https://dfg-viewer.de/show/?set
%5Bmets%5D=https://content.staatsbibliothek-berlin.de/zefys/SNP27112366-19210921-1-0-0-0.xml

[5]   K.-H. Andro, Trauma und Berufskrankheit 9 aus 2007, Seite S339–S345

[6]   Vgl. https://www.dguv.de/medien/landesverbaende/de/med_reha/documents/d_arzt3.pdf

[7]   Arzt und BG, 6. Auflage, S. 112.

[8]   BSG vom 05.09.2006 – B 2 U 8/05 R

[9]   BGH Urteil v. 29.11.2016 – VI ZR 208/15

Melanie Wendling

Geschäftsführerin
Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e.V.
Friedrichstraße 200
10117 Berlin
melanie.wendling@bvitg.de

Panorama

Wendling M: Über 100 Jahre D-Arzt – der Schnellzug in der medizinischen Versorgung. Passion Chirurgie. 2023 September; 13(09): Artikel 09_01.

Mehr Artikel zum D-Arzt finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Fachübergreifend.