Zurück zur Übersicht

Vorwort – Frauen in der Chirurgie – here they are

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Geschlechtergerechtigkeit ist wahrlich kein neues Thema. Die Gleichstellung von Frauen brodelt bereits seit Jahrhunderten, und vereinzelte Berichte lassen sich sogar bis in die Antike verfolgen. Echte Fahrt nahm das Thema in der Französischen Revolution auf, die Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit versprach – allerdings nicht für Frauen. Die folgende Romantik thematisierte mit den großen Verführungsromanen wie „Madame Bovary“, „Effi Briest“ und „Anna Karenina“ gesellschaftliche Emanzipationsansätze, wenn auch jeweils mit tragischem Ausgang. Doch die Saat war gesät und fand ihren prominenten Fortgang z. B. im Kampf um das Wahlrecht, die großen Lohnfragen der Industrialisierung oder das „Women‘s liberation movement“ der 60er- und 70er-Jahre.

Die aktuelle Genderdiskussion wirkt dagegen vordergründig vielleicht kleinteiliger, steht aber ohne Zweifel in der Tradition dringend notwendiger Veränderungen, unermüdlicher Anstrengungen und großer Leistungen. Und sie zeigt auch, dass Großes erreicht, aber das Thema längst noch nicht abgeschlossen ist.

Ein wichtiger Aspekt heutiger Emanzipation betrifft die Gleichstellung in Beruf und Karriere. Sie betrifft neben dem einfach nur beschämenden Gender Pay Gap mit Zugang, Akzeptanz, Förderung, Netzwerk und Aufstieg viele weitere Aspekte des Berufslebens. Die Probleme variieren je nach Sparte in Inhalt und Ausprägung deutlich, und die Medizin ist für Frauen sicher nicht „the worst place to be“. Doch die traditionalistisch geprägte Chirurgie stellt vielfach noch eine echte Männerdomäne. Einen konstruktiven Weg, Verkrustungen aufzubrechen, bietet die Befähigung durch Lernen am Modell. Mentoring für Frauen in der Chirurgie ist deshalb das Leitthema des folgenden Artikels, für dessen Erstellung wir sehr dankbar sind. Der Spirit von Emmeline Pankhurst durchweht die Chirurgie. In einer idealen Welt wäre das für uns peinlich, in der realen ist es ein großes Glück.

Anregende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und      

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Wir treffen heute Dr. med. Julia Osthoff, Dr. med. Franziska Renger und Dr. med. Franziska Hettenbach, die das Mentoringprogramms des Vereins „Die Chirurginnen e.V.“ leiten. Sie sind Vereinsmitglieder der ersten Stunde und stehen für dieses Interview zur Verfügung.

Im Januar 2021 wurde der Verein „Die Chirurginnen e.V.“ von einer Gruppe um Frau Prof. Dr. Katja Schlosser gegründet. Aus einer kleinen Gruppe von Chirurginnen ist eine schnell wachsende Community entstanden. Mittlerweile zählt der Verein über 1.600 Mitglieder. Die pandemiebedingte Verbreitung und Akzeptanz von Video-Kommunikation und Chatplattformen hat einen gleichzeitig einfachen und intensiven Aufbau von Beziehungen im gesamten deutschsprachigen Raum möglich gemacht.

Neben dem direkten Austausch in zahlreichen Arbeits- und Interessengruppen, lokalen Netzwerken sowie einer gut strukturierten Kommunikationsplattform ermöglicht der Verein auch die gegenseitige Unterstützung und Förderung der Mitglieder auf allen Karrierestufen. Eine breite Präsenz in den sozialen Medien, aber auch auf Kongressen trägt zur größeren Sichtbarkeit der chirurgisch tätigen Frauen in der Männerdomäne Chirurgie bei. Eine Kernaufgabe des Vereins ist der Aufbau eines Netzwerks der Chirurginnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Um in diesem Netzwerk zielgerichtete Unterstützung und strukturierte Weiterentwicklung anzubieten, wurde ein Mentoringprogramm ins Leben gerufen. Dieses läuft derzeit im dritten Jahr mit einer steigenden Anzahl an Teilnehmerinnen.

Mentorin: „Ich will Mut machen. Frauen brauchen mehr Mut.“

Mit welcher Intention bietet Ihr Verein ein Mentoringprogramm an?

Die Förderung und Vernetzung von operativ tätigen Frauen gehören zu den wichtigsten Zielen unseres Vereins. Im Rahmen unseres Mentoringprogramms können diese umgesetzt werden.

Frauen in den Kliniken fehlen oft Vorbilder, die zeigen, dass eine Karriere in der Chirurgie für alle Geschlechter möglich ist – und sie ermutigen, diesen Weg auch in Unterzahl zu gehen.

In unserem Verein haben wir diese Role Models, auch wenn sie in der eigenen Klinik vor Ort nicht verfügbar sein mögen. Unsere Aufgabe ist, die Vorreiterinnen und die ‚Nachfolgerinnen‘ zusammenzubringen.

Zusätzlich zur Vernetzung wird in Seminaren und Supervisionen, geleitet von Frau Dr. Osthoff, u. a. an Durchsetzungsvermögen, Führungskompetenzen und Kommunikationsfähigkeiten gearbeitet.

Fakten zum Mentoringprogramm

  • Für approbierte Ärztinnen
  • Voraussetzung ist die Mitgliedschaft
    im Verein „Die Chirurginnen e.V.“
  • Teilnahmegebühr für die Mentees
  • Laufzeit 1 Jahr

Worin heben Sie sich von anderen Mentoringprogrammen ab?

Naturgemäß ist ein Verein von Chirurginnen unter dem Blickwinkel der Profession ein sehr homogenes, aber auch sehr spezialisiertes Konstrukt. Aus der hohen Spezialisierung ergeben sich sehr spezifische Fragestellungen und Herausforderungen, die in einem Mentoringprogramm mit Mentorinnen aus unterschiedlichen Berufsgruppen, wie es sonst üblich ist, wohl weniger gut abzubilden wären.

Neben dem Ermöglichen der Mentoring-Beziehung ist die Weiterentwicklung sowohl der Mentees als auch der Mentorinnen eine Besonderheit unseres Angebots. Unsere Mentees und Mentorinnen sind auf Siilo jeweils als Gesamtheit vernetzt, sodass sie sich auch untereinander im Sinne einer Peer-Supervision austauschen können. Zusätzlich bietet Frau Dr. Osthoff regelmäßige Supervisionsrunden für unsere Mentorinnen an. Dort können gemeinsam Fragestellungen und auch Herausforderungen mit der Mentee oder Mentoring-Beziehung besprochen und gemeinsam nach Lösungsansätzen gesucht werden. Wie auch in unserem klinischen Alltag gilt hier die Schweigepflicht. Unsere Mitglieder eint die enge Verbundenheit mit dem Verein – diese gemeinsame Identität ermöglicht eine sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit.


Ich hätte mir damals schon ein solches Netzwerk wie ‚Die Chirurginnen‘ gewünscht. Ich wurde zum ersten Mal als ‚role model‘ gesehen und möchte jetzt meine Erfahrungen weitergeben.“

Wie rekrutieren Sie Mentorinnen und Mentees? Wie läuft das Programm ab?

Das Mentoringprogramm wird jährlich organisiert und geht mit der Saison 2023/2024 in das dritte Jahr. Bereits im ersten Jahr beteiligten sich ein Viertel der Mitglieder des Vereins als Mentorin, als Mentee oder in einer Doppelrolle. Dieses Jahr starten 95 neue Tandems. Insgesamt betreuen wir 130 aktive Tandems.

Im Februar gibt es eine Online-Informationsveranstaltung, die auch für Nichtmitglieder nach Anmeldung offen ist. Im März läuft die Bewerbungsphase anhand ausführlicher und strukturierter Bewerbungsbögen, die online ausgefüllt werden. Anschließend matchen wir im April händisch die Tandems.

Das eigentliche Mentoring-Jahr startet am 1. Mai für die Dauer eines Jahres bis Ende April. Über das Jahr bieten wir Supervisionen für Mentorinnen und eine Seminarreihe zur persönlichen Weiterentwicklung für Mentees an. Gegen Ende des Mentoring-Jahrs im Januar erfolgt die Evaluation, die uns hilft, das Programm ständig weiterzuentwickeln.

Wie führen Sie das Matching der Tandems durch?

Ab etwa 25 Tandems wird ein Algorithmus-basiertes Matching möglich und empfohlen. Allerdings ist die Voraussetzung, dass inhaltliche Fragen quantitativ beantwortet werden müssen, denn letztlich wird eine Passung anhand von Zahlenwerten errechnet. In unserer homogenen Gruppe aus einer Profession können aber kleine Details den Unterschied machen.

Deswegen haben wir uns bewusst für ein händisches Matching entschieden, auch wenn das viel zeitaufwändiger ist. Unser Ziel ist, ein möglichst ganzheitliches und präzises Matching zu erreichen.

Wir fragen jede Bewerberin nach ihrer Priorität zur Auswahl der Tandempartnerin. Diese kann zum Beispiel Fachrichtung, wissenschaftliche Erfahrung, Mutterschaft, regionale Nähe für persönliche Treffen, Erfahrung mit Fachrichtungswechsel und Stellenwechsel sein. Wir versuchen, diese Priorität im Matchingprozess zu berücksichtigen. Dabei wollen wir alle Teilnehmerinnen bestmöglich unterbringen.


Ich konnte mein berufliches Netzwerk deutlich erweitern.“

Was ist wichtig, damit die Beziehung im Tandem funktioniert?

An erster Stelle steht die Kommunikation. Es müssen klare Ziele vereinbart werden und gegenseitige Erwartungen, aber auch Grenzen, geklärt sein. Eine Mentee-Mentorin-Beziehung kann nur bei beiderseitigem Vertrauen und Offenheit funktionieren. Der Zeitrahmen für die Treffen und deren Frequenz muss abgestimmt sein. Das sind Voraussetzungen für ein erfolgreiches Tandem.

Wir haben zudem einen Leitfaden erarbeitet, an dem sich die Teilnehmerinnen orientieren können. Die regelmäßigen Supervisionen unterstützen die Mentorinnen durch gegenseitigen Erfahrungsaustausch.

Abb. 1: Evaluation des Programms durch die Mentorinnen 2022/2023

Was macht Ihrer Meinung nach eine gute Mentorin aus?

Idealerweise ist eine gute Mentorin ihrer Mentee einen Schritt voraus – um als Vorbild zu fungieren und Erfahrungen an die Mentee weitergeben zu können. Sie ist bereit, über ihren Weg und ihre Erkenntnisse offen zu sprechen. Unterschiedliche Erfahrungen und Blickwinkel können sehr wertvoll sein – nicht immer ist Seniorität ausschlaggebend. So ist die Mentorin zugleich Förderin, Kritikerin, Coach, Ratgeberin und Vorbild.


So habe ich jetzt schon Dinge erreicht, die ich mir vor einem Jahr nicht mal hätte erträumen können!“

Mentorinnen profitieren erheblich vom gegenseitigen Austausch. Wir haben in der Evaluation gefragt, wie sehr sie das Programm weitergebracht hat. Die Skala reichte von 1 (gar nicht) bis 10 (ja, sehr). Dabei zeigte sich eine hohe Zufriedenheit (siehe Abbildung 1). Mentorin sein erhöht die Selbstreflexion und macht sichtbar, was man alles schon geleistet hat.

Was sind Inhalte des Mentorings?

Primäre Inhalte sind die Umsetzung beruflicher Ziele und Karriereplanung. Wie gelingt der Berufseinstieg? Wie komme ich an die Rotationen in der Weiterbildungszeit? Wann sollte ich über einen Fachrichtungs- oder Stellenwechsel nachdenken? Welche Aspekte sind für die Entscheidung für eine Niederlassung oder ambulantes Operieren wichtig? Welche Erfahrungen oder Kompetenzen benötige ich dafür? Wie plane ich den nächsten Karriereschritt zur Oberärztin oder Chefärztin?

Weitere Themen sind, wie komme ich erfolgreich durch die Facharztprüfung oder überwinde mich zur Anmeldung? Wie kann ich mich im universitären Umfeld orientieren? Wie fange ich wissenschaftliches Arbeiten an? Wie beginne ich oder vollende ich eine Dissertation oder Habilitation?


Durch gezieltes gemeinsames Setzen von Deadlines habe ich es endlich geschafft, mich zur Facharztprüfung anzumelden und diese bestanden.“

Einen großen Schwerpunkt nimmt natürlich die Frage nach der Vereinbarkeit von Mutterschaft und chirurgischer Karriere ein. Viele unserer Mentorinnen haben damit Erfahrung und helfen zusätzlich bei Erziehungszeiten sowie dem Wiedereinstieg ins Berufsleben nach längerer Pause.

Weibliche Vorbilder fehlen auch im Hinblick auf die persönliche Entwicklung. Welche vielfältigen Möglichkeiten gibt es, als Chirurgin aufzutreten? Hier kommen klassische Coaching-Themen wie das Setzen von Schwerpunkten, Reflexion, externe Sicht einer unabhängigen Kollegin zum Tragen.

Auch bei den Mentees zeigte sich in der Evaluation eine hohe Zufriedenheit mit der Unterstützung durch die Mentorin (siehe Abbildung 2).

Abb. 2: Evaluation des Programms durch die Mentees 2022/2023

Warum ist Ihr Programm auf ein Jahr begrenzt?

Aus unserer Sicht erleichtert die zeitliche Begrenzung eine realistische Zielsetzung. Ein Ziel zu definieren unterstützt dabei, es zu erreichen. Zudem sind alle unsere Mentorinnen ehrenamtlich tätig. Dafür ist, neben Berufs- und Privatleben, ein überschaubarer Zeitrahmen für die Teilnahmebereitschaft maßgeblich. Daher haben wir als ‚Grundeinstellung‘ die Beendigung des Tandems nach einem Jahr gewählt. Der Bedarf an Mentoring ändert sich gegebenenfalls und gesetzte Ziele können abgeschlossen sein. Trotzdem gibt es die Möglichkeit, das Tandem in beiderseitigem Einverständnis zu verlängern. Wir haben viele Tandems, die bereits das zweite oder dritte Jahr gemeinsam bestreiten. Nicht wenige Mentees werden im Anschluss selbst Mentorin, um jüngere Chirurginnen zu unterstützen und um selbst etwas zurückzugeben.

Abb. 3: Gruppenbild mit allen Mentorinnen bei der Jahresversammlung

Ein besonderes Angebot ist die integrierte Seminarreihe. Worum geht es da genau?

Die Seminarreihe wird von Dr. Osthoff geleitet, die neben ihrer klinischen Tätigkeit als Coach für Ärztinnen und Ärzte arbeitet.

Die Treffen finden in regelmäßigen Abständen online und in Gruppen von 15-20 Mentees statt. Schwerpunkt ist jeweils ein karriererelevantes Thema. In der Regel gibt Dr. Osthoff einen Impuls und eine Einführung in die Thematik und dann erarbeiten die Mentees in Kleingruppen einzelne Fragestellungen. Themen sind z. B. die eigenen Ziele der Karriere oder auch des eigenen Lebens sowie eigene Stärken. Ein sehr beliebtes Thema war im vergangenen Jahr das Thema „Netzwerken“. Für die Zukunft sind Zeitmanagement, Achtsamkeit, Stationsorganisation, Gespräche mit Vorgesetzten etc. geplant. Das Hauptziel dieser Seminare ist die eigene Reflexion, der Austausch und das Netzwerken mit den anderen Mentees und nicht zuletzt, das eigene Karriereziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Was ist Ihre persönliche Motivation, sich mit diesem Programm für die Kolleginnen zu engagieren?

Der überwältigende Zulauf zu unserem Verein zeigt, dass es Zeit für eine solche Unternehmung war. Chirurginnen wollen sich vernetzen und weiterentwickeln. Wir sehen unglaublich viel Erfahrung, Expertise und so viele so unterschiedliche Lebens- und Berufswege. Das verstehen wir als eine immense Ressource. Diese für uns alle nutzbar und verfügbar zu machen treibt uns an.

Vor allem aber wollen wir, dass chirurgisch tätige Frauen dorthin kommen können, wo sie hinwollen. Dafür braucht es Arbeit am System und an einem selbst. Wir wollen ermutigen, den eigenen Weg zu finden und zu gehen. Wie das aussehen kann, lesen Sie in den Zitaten unserer Teilnehmerinnen.

Wir danken für die Möglichkeit, unsere Arbeit hier vorzustellen.

Dr. med. Julia Osthoff

Oberärztin, Fachärztin für Orthopädie u. Unfallchirurgie

Notaufnahme des Klinikums Kempten

MA Supervision, Organisationsberatung und Coaching, Selbstständigkeit als Coach und Beraterin für Ärztinnen und Ärzte

Dr. med. Franziska Renger

Oberärztin, Fachärztin für Allgemein- u. Viszeralchirurgie

Helios Klinikum Berlin-Buch

Weiterbildung in Systemischer Beratung, Coaching und Organisationsentwicklung

Dr. med. Franziska Hettenbach

Oberärztin, Fachärztin für Gefäßchirurgie

Katholisches Krankenhaus „St. Johann Nepomuk“ in Erfurt

Gesundheitspolitik

Osthoff J, Renger F, Hettenbach F: BDC-Praxistest: Geteilter Erfolg ist doppelt gut –Mentoringprogramm „Die Chirurginnen e.V.“ Passion Chirurgie. 2023 Juni; 13(06): Artikel 05_01.

Weitere Artikel zum Thema „Mentoring“ finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Fachübergreifend.

Weitere Artikel zum Thema

PASSION CHIRURGIE

Passion Chirurgie: Kongressnachlese 2023

Es ist offiziell Sommer – und damit Zeit für unsere

Passion Chirurgie

Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!

Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.