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F+A: Umsatzsteuerpflicht für ärztliche Vertretungsleistungen und polizeiliche Blutentnahme

Frage:

Ein niedergelassener Chirurg fragt an, ob vertretungsweise Übernahmen für andere Ärzte im Rahmen des ärztlichen Notdienstes sowie Blutentnahmen für die Polizei umsatzsteuerpflichtig sind.

Antwort:

Nach der Rechtsprechung des EuGH und des BFH sind nur solche ärztlichen Tätigkeiten umsatzsteuerfrei, die zum Zweck der Vorbeugung, der Diagnose, der Behandlung und – soweit möglich – Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen bei Menschen vorgenommen werden (= Heilbehandlung). Daraus folgt, dass heilberufliche Leistungen nur dann umsatzsteuerfrei sind, wenn mit ihnen ein therapeutischer Zweck verfolgt wird.

Das Finanzgericht Münster hat nunmehr mit Urteil vom 09.05.2023 – 15 K 1953/20 U (s. unter https://openjur.de/u/2471661.html) entschieden, dass Vertreterleistungen im ambulanten Notfalldienst sowie für die Polizei durchgeführte Blutentnahmen umsatzsteuerpflichtige Leistungen sind.

Der klagende Hausarzt hatte am hausärztlichen ambulanten Notfalldienst im Sitz- und Fahrdienst als Vertreter für andere Ärzte unter Übernahme der Verantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung des Notdienstes teilgenommen. Gegenüber den vertretenen Ärzten rechnete der Kläger einen Stundenlohn ab. Die im Rahmen des Notfalldienstes erbrachten ärztlichen Leistungen rechnete der Kläger darüber hinaus entweder im Wege der Privatliquidation oder über die KV ab (vgl. FG Münster, a. a. O., Rn. 28, 33). Des Weiteren führte er für die Polizeibehörde von dieser angeordnete Blutentnahmen nebst ärztlichem Bericht durch und stellte dies jeweils der zuständigen Landeskasse in Rechnung.

Das FG Münster vertritt die Auffassung, dass die vom klagenden Arzt vereinnahmten Gelder für die Vertretung im ärztlichen Notdienst nicht im Zusammenhang mit einer nach § 4 Nr. 14 Buchst. a) UStG steuerfreien Heilbehandlung stehen und auch die Blutentnahmen nicht hiernach steuerbefreit seien.

Hinsichtlich der Vertreterleistungen erbringe der Arzt mit der Übernahme des ärztlichen Notdienstes gegenüber den vertretenen Ärzten eine sonstige Leistung gegen Entgelt, die auf die Freistellung des vertretenen Arztes von sämtlichen Verpflichtungen im Zusammenhang mit einem zugeteilten Notfalldienst gerichtet sei. Dies sei jedoch keine steuerfreie Heilbehandlung. Der Begriff der Heilbehandlung richte sich nach der oben dargestellten EuGH- und BFH-Rechtsprechung. Das Erfordernis einer therapeutischen Zielsetzung einer Leistung sei danach allerdings nicht unbedingt in einem besonders engen Sinn zu verstehen. Vielmehr sei der Begriff unter Berücksichtigung des Zwecks der Steuerbefreiung auszulegen, der darin bestehe, die Kosten ärztlicher Heilbehandlungen zu senken. Erfasst sein können auch Beratungsleistungen, die darin bestehen, die in Betracht kommenden Diagnosen und Therapien zu erläutern sowie Änderungen der durchgeführten Behandlungen vorzuschlagen oder die es der betroffenen Person ermöglichen, ihre medizinische Situation zu verstehen und gegebenenfalls entsprechend tätig zu werden. Zu den Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin gehören zudem Leistungen, die zum Zweck der Vorbeugung erbracht werden, wie vorbeugende Untersuchungen. Insofern würden auch Maßnahmen erfasst, die darauf abzielen, die Beobachtung und die Untersuchung der Patienten zu ermöglichen, noch bevor es erforderlich wird, eine etwaige Krankheit zu diagnostizieren, zu behandeln oder zu heilen, oder gesundheitliche Gefahrensituationen frühzeitig zu erkennen, um sofort entsprechende Maßnahmen einleiten und damit einen größtmöglichen Erfolg einer (späteren) Behandlung sicherstellen zu können. Demgegenüber komme eine Steuerbefreiung für ärztliche Leistungen, die zu einem anderen Zweck als dem des Schutzes einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit erbracht würden, nicht in Betracht (vgl. FG Münster, a. a. O., Rn. 83). Nach diesen Maßstäben diene somit die vertretungsweise Übernahme eines zugeteilten Notdienstes keinem therapeutischen Zweck. Denn mit der Erbringung dieser Leistung sei im Vergleich zu der ursprünglichen Zuteilung des vertretenen Arztes zum ärztlichen Notdienst kein weitergehender Schutz der menschlichen Gesundheit verbunden. Die Vertretung diene vielmehr dem Zweck, den ursprünglich zum Notfalldienst herangezogenen Arzt von sämtlichen Verpflichtungen in Bezug auf den zugeteilten Notfalldienst zu befreien. Dies fördere den Schutz, die Aufrechterhaltung oder die Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit nicht (vgl. FG Münster, a. a. O., Rn.  85).

Auf die Frage, ob die Durchführung ärztlicher Notdienste einem therapeutischen Zweck diene, komme es aus Sicht des FG im entschiedenen Fall nicht an. Denn die Besonderheit der zu beurteilenden Leistung liege hier darin, dass nicht nur ein ärztlicher Notdienst übernommen und damit im Sinne des Klägers von ihm durchgeführt wurde, sondern dass die Übernahme vertretungsweise und damit unter der von den am Leistungsaustausch beteiligten Personen bezweckten Freistellung des an sich eingeteilten Arztes erfolgte. Der Kläger selbst war nach der Vereinbarung mit der KV auch gar nicht berechtigt, selbst unmittelbar bei der Zuteilung zum ärztlichen Notdienst berücksichtigt zu werden. Dies sei ein Unterschied zu einem bereits anders entschiedenen Streitfall vor dem Niedersächsischen FG, in dem der dortige Arzt gegenüber der zentralen Notfallpraxis der Ärzteschaft die Zurverfügungstellung seiner Arbeitskraft während der Bereitschaftsdienstzeit schuldete (vgl. FG Münster, a. a. O., Rn. 87). Im Übrigen diene nach Meinung des FG Münster die Durchführung des ärztlichen Notdienstes im ambulanten Notdienst keinem therapeutischen Zweck. Denn allein das Vorhalten medizinischer (Personal-)Ressourcen im Sitz- oder Fahrdienst diene noch keinem therapeutischen Zweck. Es handele sich vielmehr nur um die Schaffung der Voraussetzungen für die nachfolgende zeitnahe Erbringung von Heilbehandlungsleistungen, ohne selbst eine Heilbehandlungsleistung zu sein. Dass es sich auch hierbei um eine typische ärztliche Tätigkeit handele, weil die spätere Erbringung einer Heilbehandlungsleistung diese Qualifikation erfordere, sei insoweit ohne Belang (vgl. FG Münster, a. a. O., Rn. 88).

Zudem bilde weder die Übernahme des zugeteilten ärztlichen Notdienstes unter Freistellung des vertretenen Arztes von sämtlichen Verpflichtungen im Zusammenhang mit diesem Dienst mit den etwaig im ärztlichen Notdienst erfolgten Heilbehandlungen eine einheitliche Leistung, noch vermag der Umstand, dass die Durchführung des ärztlichen Notdienstes unerlässlich für eine zeitnahe ambulante Patientenversorgung sei, eine Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 14 Buchst. a) UStG zu begründen (vgl. FG Münster, a. a. O., Rn. 91).

Bezüglich der polizeilich angeordneten Blutentnahmen lehnte das FG Münster eine Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 14 Buchst. a) UStG unter Verweis auf die ständige EuGH- und BFH Rechtsprechung ab.

Zwar seien als Heilbehandlungen noch medizinische Analysen anzusehen, die von praktischen Ärzten im Rahmen ihrer Heilbehandlungen angeordnet werden und zur Aufrechterhaltung der menschlichen Gesundheit beitragen, indem sie wie jede vorbeugend erbrachte ärztliche Leistung darauf abzielen, die Beobachtung und die Untersuchung der Patienten zu ermöglichen, noch bevor es erforderlich wird, eine etwaige Krankheit zu diagnostizieren, zu behandeln oder zu heilen. Werde eine ärztliche Leistung dagegen in einem Zusammenhang erbracht, der die Feststellung zulässt, dass ihr Hauptziel nicht der Schutz der menschlichen Gesundheit ist, komme eine Steuerbefreiung als ärztliche Heilbehandlung nicht in Betracht. Dies gelte insbesondere, wenn Hauptzweck der Leistung nicht der Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit ist, sondern die Erstattung eines Gutachtens, das Voraussetzung einer Entscheidung ist, die Rechtswirkungen erzeugt (vgl. FG Münster, a. a. O., Rn. 101). Die Blutentnahmen seien auf polizeiliche Anforderung durchgeführt worden und erfolgten, um den Blutalkoholwert zu bestimmen oder die Einnahme von Drogen festzustellen. In diesem Zusammenhang sei ein ärztlicher Bericht zu erstellen gewesen, in dem diverse Feststellungen vom Arzt zu treffen waren, beispielsweise Auffälligkeiten im Zusammenhang mit einer weitergehenden Untersuchung wie das Gang- und Sprachbild. Diese Feststellungen dienten nach Ansicht des FG jedoch nicht vorrangig dem Schutz des Gesundheitszustandes des Betroffenen, sondern der Beweiserhebung im Zusammenhang mit einem strafrechtlich oder öffentlich-rechtlich geführten Verfahren. Dementsprechend wurde nicht die Untersuchung des Betroffenen, sondern die Blutentnahme selbst nach dem hierzu zu verwendenden Abrechnungsformular liquidiert (vgl. FG Münster, a. a. O., Rn. 102).

Hinzuweisen ist aus Sicht des Verfassers noch darauf, dass der Arzt, der sich auf eine Steuerbefreiung beruft, auch die Feststellungslast trägt, d. h. er muss darlegen können, dass eine Heilbehandlung im oben genannten Sinn vorliegt. Aus diesem Grund muss zwingend bei derartigen Leistungen die medizinische Indikation nachprüfbar und einzelfallbezogen dokumentiert werden.

In diesem Zusammenhang muss abschließend auch darauf hingewiesen werden, dass zum einen dieses Urteil noch nicht rechtskräftig ist, sondern Revision zum BFH eingelegt wurde, die dort unter dem Aktenzeichen XI R 24/23 anhängig ist. Es bleibt somit mit Spannung abzuwarten, ob der BFH dieses Urteil bestätigt, sodass die derzeitige Auskunft des Verfassers nicht als abschließend gesichert betrachtet werden kann. Zum anderen wird in steuerrechtlichen Angelegenheiten aufgrund der Komplexität des Rechtsgebiets stets eine steuerrechtliche Beratung durch einen Steuerberater oder Fachanwalt für Steuerrecht empfohlen.

Heberer J: F+A: Umsatzsteuerpflicht für ärztliche Vertretungsleistungen und polizeiliche Blutentnahme. 2024 Januar/Februar; 14(01/02): Artikel 04_12.

F+A: Letztverantwortung des Operateurs

Frage:

Ein Oberarzt fragt an, wer die Verantwortung für einen operativen Eingriff trägt, bei dem der Chefarzt zwar die Indikation zur Operation gestellt und die Weisung zu deren Durchführung erteilt hat, jedoch aus Sicht des die Operation durchführenden Oberarztes die Indikation nicht vorliegt, sondern vielmehr ein konservatives Vorgehen angezeigt ist. 

Antwort:

Der Operateur am Tisch trägt die Letztverantwortung für die Korrektheit der Indikation und der Aufklärung. Er kann sich dann nicht auf die Anweisung eines Chefarztes berufen, wenn offensichtlich erkennbar war, dass die Indikation nicht bestanden hat. Wenn diese nur zweifelhaft und damit vertretbar ist, dann wäre der Eingriff ja möglicherweise durchzuführen. Bei ganz klaren Kontraindikationen oder fehlenden Indikationen ist der Chefarzt auch nicht berechtigt, derartige Weisungen zu erteilen.

Heberer J: F+A: Letztverantwortung Operateur. 2023 November; 13(11): Artikel 04_08.

F+A: Genehmigung ambulanter Operationen

Frage:

Ein niedergelassener Vertragsarzt fragt an, ob die Auffassung der Kassenärztlichen Vereinigung rechtens ist, dass er keine rückwirkende Genehmigung für die Erbringung ambulanter Operationen und damit keine Vergütung der in diesem genehmigungslosen Zeitraum erbrachten Leistungen erhält, obwohl er den Antrag auf Genehmigung zum ambulanten Operieren unverschuldet verspätet gestellt hat. 

Antwort:

Maßgebliche Rechtsgrundlagen sind § 2 und § 7 Qualitätssicherungsvereinbarung ambulantes Operieren (QSV AOP). Nach § 2 Abs. 1 QSV AOP ist die Ausführung und Abrechnung von Eingriffen gemäß § 115b SGB V im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung durch die Vertragsärzte erst nach Erteilung der Genehmigung durch die Kassenärztliche Vereinigung zulässig.

Gemäß § 7 Abs. 1 QSV AOP setzt die Erteilung der Genehmigung die Antragstellung durch den Vertragsarzt voraus.

Bei solchen antragsgebundenen Leistungen ist die Gesetzeslage und die Rechtsprechung leider sehr eindeutig. Unabhängig davon, ob ein Genehmigungsantrag verschuldet oder unverschuldet verspätet gestellt wurde, ist eine rückwirkende Genehmigung nicht möglich.

Aus diesem Grund haben Rechtsmittel gegen diese Auffassung der KV keine echten Erfolgsaussichten.

Heberer J: F+A: Genehmigung ambulanter Operationen. 2023 November; 13(11): Artikel 04_07.

Das neue Ehegattennotvertretungsrecht in Gesundheitsangelegenheiten

Seit 01.01.2023 gilt die gesetzlich in § 1358 BGB verankerte gegenseitige Vertretung von Ehegatten in Angelegenheiten der Gesundheitssorge (sog. Ehegattennotvertretungsrecht). Wie das Wort „Ehegattennotvertretung“ aber schon suggeriert, wird hiermit keine Pauschalbefugnis für eine anlasslose und zeitliche unbegrenzt zulässige Vertretung geschaffen, sondern dieses gesetzliche Vertretungsrecht wird auf bestimmte Personen, Anwendungsfälle, abschließend aufgezählte Vertretungshandlungen im Bereich der Gesundheitssorge sowie zeitlich beschränkt.

Beschränkung des Notvertretungsrechts auf bestimmte Personen

Das Recht zur gegenseitigen Vertretung kommt ausschließlich Ehegatten oder Lebenspartnern nach § 21 Lebenspartnerschaftsgesetz (nicht zu verwechseln mit Lebensgefährten, für die die gesetzliche Regelung gerade nicht gilt) zu, die nicht getrennt leben im Sinne des § 1567 Abs. 1 BGB. Hiernach leben Ehegatten getrennt, wenn zwischen ihnen keine häusliche Gemeinschaft besteht und ein Ehegatte sie erkennbar nicht herstellen will, weil er die eheliche Lebensgemeinschaft ablehnt. Erforderlich für ein Getrenntleben ist damit jedenfalls ein Trennungswille zumindest eines Ehegatten.

Anwendungsfälle

§ 1358 Abs. 1 BGB beschränkt die Anwendungsfälle des Vertretungsrechts darauf, dass ein Ehegatte aufgrund von Bewusstlosigkeit oder Krankheit seine Angelegenheiten der Gesundheitssorge rechtlich nicht besorgen kann (vertretener Ehegatte). Damit ist erforderlich, dass der vertretene Ehegatte entweder bewusstlos oder krank und aufgrund dessen einwilligungsunfähig ist.

Der Gesetzgeber führt in der Gesetzesbegründung dazu aus, dass damit klargestellt werde, dass Anlass für das gesetzliche Vertretungsrecht von Ehegatten eine akut eingetretene gesundheitliche Beeinträchtigung des Ehegatten infolge eines Unfalls oder einer Erkrankung ist, die auch eine ärztliche Akutversorgung notwendig macht (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 179).

Fraglich ist damit aber, ob das Vertretungsrecht damit beispielsweise bei einer durch chronische Krankheit erstmals hervorgerufenen Einwilligungsunfähigkeit generell nicht gilt. Es wird hier somit wieder einmal die Rechtsprechung sein, die die Vorschrift wird auslegen müssen, um den Anwendungsbereich klar zu definieren.

Zulässige Notvertretungs­handlungen

Ferner grenzt § 1358 Abs. 1 BGB den Umfang der Vertretungsberechtigung dahingehend ein, dass er die Angelegenheiten der Gesundheitssorge, in denen der vertretende Ehegatte zur Vertretung berechtigt ist, abschließend festlegt.

Der vertretende Ehegatte kann hiernach für den vertretenen Ehegatten

1.in Untersuchungen des Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligen oder sie untersagen sowie ärztliche Aufklärungen entgegennehmen,
Hierbei muss es sich um medizinisch notwendige Untersuchungen, Behandlungen oder Eingriffe handeln. Der vertretende Ehegatte ist danach auch berechtigt, alle im Zusammenhang mit diesen medizinischen Maßnahmen notwendigen Aufklärungen entgegenzunehmen.

2.Behandlungsverträge, Krankenhausverträge oder Verträge über eilige Maßnahmen der Rehabilitation und der Pflege abschließen und durchsetzen,
Umfasst sind damit Rechtsgeschäfte, die unmittelbar nach Eintritt der das Vertretungsrecht auslösenden Erkrankung bzw. Bewusstlosigkeit anstehen sowie unaufschiebbare Maßnahmen der Rehabilitation und Pflege, die im zeitlichen Rahmen des Vertretungsrechts und im unmittelbaren kausalen Zusammenhang mit der anlassgebenden Erkrankung oder Bewusstlosigkeit getroffen werden müssen (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 180). Mit umfasst vom Recht zur Durchsetzung sind auch die Geltendmachung von Mängeln sowie die Einleitung gerichtlicher Verfahren.

3.über Maßnahmen nach § 1831 Abs. 4 BGB entscheiden, sofern die Dauer der Maßnahme im Einzelfall sechs Wochen nicht überschreitet:
Diese zeitlich begrenzte Entscheidungsbefugnis bezieht sich auf freiheitsentziehende Maßnahmen. Hierunter fallen beispielsweise Bettgitter oder Medikamentengaben zur Ruhigstellung. Gleichwohl ist eine betreuungsgerichtliche Genehmigung der Entscheidung des vertretenden Ehegatten stets erforderlich, um deren Rechtmäßigkeit zu gewährleisten. Nicht unter die Vertretungsbefugnis fällt die Entscheidung über eine freiheitsentziehende Unterbringung.

4.Ansprüche, die dem vertretenen Ehegatten aus Anlass der Erkrankung gegenüber Dritten zustehen, geltend machen und an die Leistungserbringer aus den Verträgen nach Nummer 2 abtreten oder Zahlung an diese verlangen.
Hauptanwendungsfälle dürften Leistungsansprüche gegen die Krankenversicherung oder die Beihilfe des vertretenen Ehegatten sein. Der vertretende Ehegatte kann diese Ansprüche zwar geltend machen, jedoch wird der Vertretungsumfang dahingehend beschränkt, dass er Leistung (z. B. Zahlung der Erstattungsleistung der Krankenversicherung) nicht an sich verlangen kann, sondern er den Leistungsanspruch entweder an den Leistungserbringer abtreten muss oder nur Zahlung direkt an diesen fordern kann (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 180).

Trotz des abschließenden Katalogs sind in der Praxis Anwendungsschwierigkeiten zu erwarten. Denn der Vertretungsumfang wird jeweils nur allgemein beschrieben, sodass der Gesetzeswortlaut im Einzelfall dahin wird ausgelegt werden müssen, ob eine konkrete Handlung, z. B. eine Einwilligung oder ein Vertragsabschluss, tatsächlich vom Vertretungsrecht umfasst ist. Beispielsweise kommt es nach dem Gesetzeswortlaut in Nummer 1 nicht darauf an, ob eine Behandlungsmaßnahme oder ein ärztlicher Eingriff unaufschiebbar ist. Die Gesetzesbegründung fordert andererseits aber für Behandlungen oder Eingriffe, die nicht in direktem Zusammenhang mit der das Vertretungsrecht auslösenden Erkrankung stehen, die im Zuge der Behandlung jedoch erstmals diagnostiziert wurden und deren Behandlung aus medizinischer Sicht notwendig ist, jedenfalls eine Unaufschiebbarkeit der Behandlung bzw. des Eingriffs (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 179).

Derartige Auslegungsfragen sind zukünftig durch die Gerichte zu klären, sodass eine gewisse Rechtsunsicherheit durch die Neuregelung verbleibt.

Zeitliche Beschränkung des Notvertretungsrechts

In § 1358 Abs. 3 Nr. 4 wird das Vertretungsrecht zeitlich auf maximal sechs Monate befristet, d. h. es endet mit Fristablauf automatisch. Hierdurch sollen Missbrauchsgefahren verhindert werden. Die Frist beginnt mit der Feststellung des Arztes vom Vorliegen der Voraussetzungen des Vertretungsrechts nach § 1358 Abs. 4 Nr. 1 BGB. Ist die Frist abgelaufen und der vertretene Ehegatte weiterhin nicht in der Lage, seine gesundheitlichen Angelegenheiten zu regeln, so muss ein Betreuer bestellt werden, denn die Verlängerung des Notvertretungsrechts ist ausgeschlossen.

Wird während der Geltungsdauer des Notvertretungsrechts ein Betreuer bestellt, dessen Aufgabenkreis die in Absatz 1 Nummer 1 bis 4 bezeichneten Angelegenheiten umfasst, darf ab dessen Bestellung die Vertretung durch den Ehegatten nicht mehr ausgeübt werden (§ 1358 Abs. 5 BGB).

Gesetzliche Offenbarungsbefugnis für Ärzte

§ 1358 Abs. 2 BGB normiert bei Vorliegen der Voraussetzungen des Ehegattennotvertretungsrechts eine gesetzliche Offenbarungsbefugnis für Ärzte hinsichtlich der in Absatz 1 Nummer 1 bis 4 genannten Angelegenheiten, d. h. die behandelnden Ärzte sind gegenüber dem vertretenden Ehegatten von ihrer Schweigepflicht diesbezüglich entbunden. Der vertretende Ehegatte darf zudem die diese Angelegenheiten betreffenden Krankenunterlagen einsehen und ihre Weitergabe an Dritte bewilligen.

Ausschluss des Notvertretungsrechts

Dieses neue Vertretungsrecht nebst den Rechten des Ehegatten aus § 1358 Abs. 2 BGB besteht allerdings gemäß § 1358 Abs. 3 Nr. 1 – 4 BGB nicht, wenn

1.die Ehegatten getrennt leben,

2.dem vertretenden Ehegatten oder dem behandelnden Arzt bekannt ist, dass der vertretene Ehegatte

a)eine Vertretung durch ihn in den in Absatz 1 Nummer 1 bis 4 genannten Angelegenheiten ablehnt oder

b)jemanden zur Wahrnehmung seiner Angelegenheiten bevollmächtigt hat, soweit diese Vollmacht die in Absatz 1 Nummer 1 bis 4 bezeichneten Angelegenheiten umfasst,

Dem vertretenden Ehegatten kommt allerdings keine Pflicht zu, Ermittlungen bezüglich des Eingreifens von lit. a) oder b) anzustellen. Liegt eine Vorsorge- oder Generalvollmacht vor, so ist der Ehegatte in seiner Vertretung jedenfalls nur insoweit beschränkt, als die Vollmacht eine Vertretungsbefugnis für die in Absatz 1 Nrn. 1–4 genannten Angelegenheiten bestimmt. Somit kann der Ehegatte entweder ganz oder auch nur teilweise von der Notvertretung ausgeschlossen sein.

3.für den vertretenen Ehegatten ein Betreuer bestellt ist, soweit dessen Aufgabenkreis die in Absatz 1 Nummer 1 bis 4 bezeichneten Angelegenheiten umfasst, oder

4.die Voraussetzungen des Absatzes 1 nicht mehr vorliegen oder mehr als sechs Monate seit dem durch den Arzt festgestellten Zeitpunkt, zu dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 spätestens eingetreten sind, vergangen sind.

Die Voraussetzungen des Notvertretungsrechts liegen nicht mehr vor, sobald der vertretene Ehegatte seine gesundheitlichen Angelegenheiten rechtlich wieder selbst besorgen kann. Ist dies nach sechs Monaten immer noch nicht der Fall, endet das Notvertretungsrecht automatisch und es muss, wie oben dargestellt, ein Betreuer bestellt werden.

Liegt nur einer dieser Ausschlussgründe vor, so ist der Ehegatte nicht zur Notvertretung berechtigt bzw. endet dessen Vertretungsrecht bei späterem Eintritt eines Ausschlussgrundes.

Es stellt sich damit aber auch die Frage, ob Ärzte hier zur Prüfung bzw. Nachforschung bezüglich des Vorliegens eines Ausschlussgrundes verpflichtet sind. Die Begründung zum Gesetzentwurf spricht sich jedenfalls gegen eine solche spezifische Prüf- und Nachforschungspflicht des Arztes aus. Inwieweit dies auch bei aufkommenden Zweifeln des Arztes an der Vertretungsberechtigung gilt, ist offen und müsste ebenfalls gerichtlich geklärt werden, wobei eine solche Pflicht dem Sinn und Zweck der Regelung zuwiderlaufen würde und Ärzten regelmäßig nicht zumutbar sein dürfte.

Hingegen ist bei positiver Kenntnis eines Arztes vom Vorliegen eines Ausschlussgrundes, z. B. von einer Ablehnung oder einer Vollmacht nach Ziffer 2, dieser zwingend zu berücksichtigen, sodass die Vertretung durch den Ehegatten folglich abgelehnt werden muss (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 181).

Neues Auskunft- und Einsichtsrecht für Ärzte in das Zentrale Vorsorgeregister

Dennoch hat der Arzt nunmehr die Möglichkeit, bei Zweifeln, ob der Vertretene von seinem Ehegatten vertreten werden möchte oder wenn Anhaltspunkte bestehen, dass einem Dritten eine Vorsorgevollmacht erteilt wurde, der Ehegatte aber auf seinem Notvertretungsrecht besteht, zu überprüfen, ob der Patient einen Widerspruch gegen die Vertretung durch seinen Ehegatten oder eine Vorsorgevollmacht, ggf. in Kombination mit einer Patienten- oder Betreuungsverfügung im Zentralen Vorsorgeregister eintragen hat lassen. Bisher konnte eine solche Einsicht nur durch das Betreuungsgericht vorgenommen werden (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 182). Nun steht in diesen Fällen auch dem Arzt ein Auskunft- und Einsichtsrecht in das Register zu, soweit eine Auskunft für die Entscheidung über eine dringende medizinische Behandlung erforderlich ist (vgl. § 78b Abs. 1 S. 2 BNotO). Das Auskunft- und Einsichtsrecht ist somit auf Notfallsituationen beschränkt, in denen die Behandlung oder der Eingriff dringlich ist (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 325).

Die Auskunft an die Ärzte erfolgt im Wege eines automatisierten Verfahrens auf Abruf. Dafür hat die Bundesnotarkammer zuvor mit der jeweiligen Landesärztekammer generell für solche Abfragen schriftlich Festlegungen zu den technischen und organisatorischen Maßnahmen zur Gewährleistung des Datenschutzes und der Datensicherheit zu treffen (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 325). Die Abfragen werden protokolliert. Die Landesärztekammern sind zur nachträglichen Überprüfung, ob die Voraussetzungen des § 78b Abs. 1 S. 2 BNotO vom ersuchenden Arzt eingehalten worden sind, berechtigt und können die Protokolle hierzu verwenden. Sollte ein Arzt Einsicht in das Zentrale Vorsorgeregister genommen haben, ohne dass diese Einsicht für die Entscheidung über eine medizinische Behandlung dringend erforderlich gewesen ist, wäre dies ein berufsrechtlicher Verstoß gegen die Pflichten zur gewissenhaften Berufsausübung, zur Entsprechung des entgegengebrachten Vertrauens und zur Einhaltung der berufsrechtlichen Vorschriften (vgl. §§ 2 Abs. 2 S. 1, Abs. 5 MBO-Ä). Dies könnte ein berufsrechtliches Verfahren nach sich ziehen, in dem die Protokolle zur Beweisführung verwendet werden können. Die Landesärztekammer hat ihr zur Verfügung gestellte Protokolle ein Jahr nach ihrem Eingang zu löschen, sofern die Protokolle nicht für weitere, bereits eingeleitete Prüfungen benötigt werden (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 325, 326).

Dokumentationspflichten des Arztes

Bedauerlicherweise geht mit dem Notvertretungsrecht aber ein weiterer Verwaltungsaufwand für Ärzte einher. Denn nach § 1358 Abs. 4 BGB hat der Arzt im Zusammenhang mit der erstmaligen Ausübung des Vertretungsrechts dem vertretenden Ehegatten

1.Das Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1 und den Zeitpunkt, zu dem diese spätestens eingetreten sind, schriftlich zu bestätigen.

Es muss vom Arzt also bestätigt werden, dass aufgrund von Bewusstlosigkeit oder einer Krankheit der Patient seine Angelegenheiten der Gesundheitssorge rechtlich nicht besorgen kann sowie der Zeitpunkt, zu dem die Erkrankung oder die Bewusstlosigkeit spätestens eingetreten sind. Zur Festlegung des Zeitpunkts kann sich der Arzt auf die Angaben des vertretenden Ehegatten stützen oder, falls solche fehlen, auf den Zeitpunkt der Klinikeinlieferung bzw. der Vorstellung beim Arzt (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 183).

2.Dem vertretenden Ehegatten diese Bestätigung mit einer schriftlichen Erklärung über das Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1 und das Nichtvorliegen der Ausschlussgründe des Absatzes 3 vorzulegen.

Nachdem der Arzt die Voraussetzungen des Notvertretungsrechts und des Zeitpunkts ihres Eintritts festgestellt hat, muss der Ehegatte, der das Vertretungsrecht ausüben möchte, über die Ausschlussgründe nach Absatz 3 informiert werden. Hierzu ist ihm nach der Gesetzesbegründung ein Dokument vorzulegen, in dem neben der Bestätigung des Arztes die in der Regelung vorgesehenen Ausschlussgründe für das Ehegattenvertretungsrecht nach Absatz 3 dargelegt sind. Wünscht der Ehegatte deren Erläuterung, muss dem vom Arzt oder einem Verwaltungsmitarbeiter der Klinik nachgekommen werden (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 183).

3.Sich von dem vertretenden Ehegatten schriftlich versichern zu lassen, dass

a)das Vertretungsrecht wegen der Bewusstlosigkeit oder Krankheit, aufgrund derer der Ehegatte seine Angelegenheiten der Gesundheitssorge rechtlich nicht besorgen kann, bisher nicht ausgeübt wurde und

b)kein Ausschlussgrund des Absatzes 3 vorliegt.

Auf dem Dokument ist somit zudem die schriftliche Versicherung des Ehegatten erforderlich, dass weder ein Ausschlussgrund vorliegt noch das Notvertretungsrecht aufgrund der aktuellen Bewusstlosigkeit oder Krankheit schon ausgeübt wurde. Durch die Versicherung der erstmaligen Ausübung soll eine „kettenmäßige“ Ausübung bei länger andauernden oder chronischen Erkrankung verhindert werden. Nicht ausgeschlossen sein soll jedoch nach dem Willen des Gesetzgebers eine mehrfache Notvertretung wegen zeitlich unabhängig voneinander eingetretener Krankheiten bzw. Bewusstlosigkeit, beispielsweise eines schweren Unfalls und eines zu einem späteren Zeitpunkt erlittenen Schlaganfalls (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 183).

Dieses Dokument ist dem vertretenden Ehegatten für die weitere Ausübung des Notvertretungsrechts schließlich auszuhändigen. Ebenfalls sollte dies nach Ansicht des Verfassers zwingend in die Behandlungsdokumentation Einzug halten.

Das Bundesjustizministerium, die Bundesärztekammer und die Deutsche Krankenhausgesellschaft haben ein Muster-Dokument erstellt, das unter anderem HIER erhältlich ist.

Anforderungen an den Ehegatten bei Ausübung des Notvertretungsrechts

Nachdem § 1358 Abs. 6 BGB auf diverse Vorschriften zur Betreuung verweist, unterliegt der vertretende Ehegatte letztendlich bei der Ausübung des Vertretungsrechts den gleichen Vorgaben wie ein Vorsorgebevollmächtigter und ein gerichtlich bestellter Betreuer. Beispielhaft sind hier zu nennen, dass er die Angelegenheiten des vertretenden Ehegatten so zu besorgen hat, wie es dessen Wünschen entspricht oder, dass dem in einer wirksamen Patientenverfügung niedergelegten Willen des vertretenen Ehegatten Ausdruck und Geltung zu verschaffen ist, wenn die Festlegungen in der Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ferner ist insbesondere auf § 1829 Absatz 1 bis 4 BGB hinzuweisen, der festlegt, unter welchen Voraussetzungen die Entscheidung des vertretenden Ehegatten eine Genehmigung des Betreuungsgerichts erfordert.

FAZIT

Nachdem in der Praxis die Erteilung einer Vorsorgevollmacht zu Gunsten des Ehegatten für Fälle einer plötzlichen Einwilligungsunfähigkeit bislang wohl zu wenig genutzt wurde, ist nach Meinung des Verfassers die gesetzliche Verankerung eines Ehegattennotvertretungsrechts sicherlich dem Grunde nach zu befürworten. Dies zum einen im Hinblick auf die dadurch grundsätzlich und zumindest zunächst entfallende Betreuerbestellung, was die Ärzteschaft zukünftig hoffentlich entlastet. Zum anderen auf die hiermit in der Regel verbundene Rechtssicherheit.

Dennoch bleiben auch hier Unwägbarkeiten für die Ärzte in der praktischen Anwendung im Einzelfall bestehen, vor allem durch die von den Gerichten zukünftig zu klärenden Auslegungsfragen.

Zudem ist auch fraglich, ob ein Arzt Konsequenzen zu befürchten hat, wenn sich beispielsweise der vertretende Ehegatte das Ehegattenvertretungsrecht durch falsche Angaben erschleicht oder eine Vorsorgevollmacht fälscht. Der Gesetzgeber vertritt hierzu jedenfalls klar die Auffassung, dass dem vertretenen Ehegatten in solchen Fällen keine Ansprüche gegen Dritte, wie Ärzte oder Krankenhaus zustehen und zwar unabhängig vom Gutglaubensschutz sowie, dass ein Arzt, der auf eine gefälschte Vollmacht vertraut, weder zivil- noch strafrechtliche Sanktionen befürchten muss (vgl. BT-Drucksache 19/24445, S. 480). Nach Auffassung des Verfassers kann dies unter allen rechtlichen und tatsächlichen Aspekten nur richtig sein. Gleichwohl wird man abwarten müssen, ob und wie sich ggf. die Gerichte hierzu positionieren werden. Bei Zweifeln des Arztes über die Vertretungsberechtigung wäre bis dahin nach Ansicht des Verfassers jedenfalls der rechtssicherste Weg die Anregung einer Betreuerbestellung.

Ebenso bleibt abzuwarten, ob der für Ärzte neu einhergehende Informations- und Dokumentationsaufwand für die Ausstellung der ärztlichen Bescheinigung, den die Gesetzesbegründung im Übrigen mit ca. 30 Minuten einschätzt, tatsächlich zu keinem Mehraufwand im Vergleich zu den ärztlichen Aufgaben bei Betreuerbestellung führen wird.

Heberer J: Das neue Ehegattennotvertretungsrecht in Gesundheitsangelegenheiten. Passion Chirurgie. 2023 Mai; 13(05): Artikel 04_08. 

F+A: Bedenkzeit zwischen Aufklärung und Einwilligung

Frage:

Ein Chefarzt fragt an, ob dem Patienten ein bestimmter Zeitraum als Bedenkzeit zwischen Aufklärung und Einwilligung gewährt werden muss, oder ob der Patient auch unmittelbar nach der Aufklärung bzw. durch späteres Erscheinen zum Eingriff rechtswirksam in diesen einwilligen kann.

Antwort:

Das OLG Bremen hatte im November 2021 für eine aufsehenerregende Entscheidung unter Klinikträgern, Ärzten und Fachanwälten für Medizinrecht gesorgt, indem es zum einen die Auffassung vertrat, dass die Einwilligung eines Patienten unwirksam sei, wenn diese unmittelbar nach dem Aufklärungsgespräch erteilt werde, weil dem Patienten entgegen § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB keine Bedenkzeit zwischen der Aufklärung über die Risiken des Eingriffs und der Entscheidung über die Einwilligung eingeräumt werde. Zum anderen war es der Ansicht, ein Patient könne auch nicht konkludent dadurch in eine Operation einwilligen, wenn er sich drei Tage nach dem Aufklärungsgespräch zur stationären Aufnahme in die Klinik begibt, um die Operation durchführen zu lassen.

Dieses Urteil hat jedoch – nach Meinung des Verfassers glücklicher- und richtigerweise – keine Bestandskraft erlangt, da der BGH diesen beiden Rechtsauffassungen des OLG Bremen nunmehr entschieden eine Abfuhr erteilt hat. Am 20.12.2022 urteilte der BGH hierzu wie folgt (vgl. zu Nachfolgendem: BGH, Urteil vom 20.12.2022 – VI ZR 375/21):

Grundsätzlich ist keine Bedenkzeit zwischen Aufklärung und Einwilligung erforderlich

Mit seiner Beurteilung, dass eine Einwilligung nicht sofort nach der Aufklärung erteilt werden könne, überspannt das OLG Bremen aus Sicht des 6. BGH-Senats den Wortlaut des § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB und stellt überzogene Anforderungen an die der Behandlungsseite obliegenden Pflichten zur Einholung einer Einwilligung. Die Bestimmung enthält kein Erfordernis, wonach zwischen Aufklärung und Einwilligung ein bestimmter Zeitraum liegen müsste, sondern kodifiziert die bisherige Rechtsprechung, der zufolge der Patient vor dem beabsichtigten Eingriff so rechtzeitig aufgeklärt werden muss, dass er durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahrnehmen kann (vgl. Rn. 16). § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB regelt die Anforderungen an die Aufklärung des Patienten in zeitlicher Hinsicht. Nach dieser Vorschrift muss die Aufklärung so rechtzeitig erfolgen, dass der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann. Bereits nach dem Wortlaut und der Stellung im Gesetz bezieht sich die Bestimmung somit allein auf den Zeitpunkt, zu dem das Aufklärungsgespräch stattzufinden hat, das rechtzeitig vor dem Eingriff erfolgen muss. Nach dem Willen des Gesetzgebers zum Patientenrechtegesetz sollte mit dieser Regelung keine inhaltliche Änderung der Rechtslage verbunden sein, sondern lediglich die bisherige Rechtsprechung wiedergegeben werden. Im Einklang mit dieser sieht sie keine vor der Einwilligung einzuhaltende „Sperrfrist“ vor, deren Nichteinhaltung zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen würde; sie enthält kein Erfordernis, wonach zwischen Aufklärung und Einwilligung ein bestimmter Zeitraum liegen müsste. Entscheidend ist, ob der Patient unter den jeweils gegebenen Umständen ausreichend Gelegenheit hat, innerlich frei darüber zu entscheiden, ob er sich der beabsichtigten medizinischen Maßnahme unterziehen will oder nicht (vgl. Rn. 18).

Zu welchem konkreten Zeitpunkt ein Patient nach ordnungsgemäßer – insbesondere rechtzeitiger – Aufklärung seine Entscheidung über die Erteilung oder Versagung seiner Einwilligung trifft, ist aus Sicht der Richter seine Sache. Sieht er sich bereits nach dem Aufklärungsgespräch zu einer wohlüberlegten Entscheidung in der Lage, ist es sein gutes Recht, die Einwilligung sofort zu erteilen. Wünscht er dagegen noch eine Bedenkzeit, so kann von ihm grundsätzlich erwartet werden, dass er dies gegenüber dem Arzt zum Ausdruck bringt und von der Erteilung einer – etwa im Anschluss an das Gespräch erbetenen – Einwilligung zunächst absieht. Dass ihn dies – beispielsweise, weil er bereits in Operationsplanungen einbezogen ist und sich einem „Apparat“ gegenübersieht, den er möglichst nicht stören möchte – eine gewisse Überwindung kosten mag, ist seiner Selbstbestimmung zuzuordnen. Der – zum Zwecke einer sinnvollen Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts – ordnungsgemäß aufgeklärte Patient ist nicht passives Objekt ärztlicher Fürsorge; er ist vielmehr grundsätzlich dazu berufen, von seinem Selbstbestimmungsrecht aktiv Gebrauch zu machen und an der Behandlungsentscheidung mitzuwirken. Es kann von ihm grundsätzlich verlangt werden zu offenbaren, wenn ihm der Zeitraum für eine besonnene Entscheidung nicht ausreicht. Tut er dies nicht, so kann der Arzt grundsätzlich davon ausgehen, dass er keine weitere Überlegungszeit benötigt (vgl. Rn. 19).

Eine andere Beurteilung ist allerdings – sofern medizinisch vertretbar – nach Ansicht des BGH dann geboten, wenn für den Arzt erkennbare konkrete Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass der Patient noch Zeit für seine Entscheidung benötigt. Solche Anhaltspunkte können beispielsweise in einer besonders eingeschränkten Entschlusskraft des Patienten liegen. Gleiches gilt, wenn dem Patienten nicht die Möglichkeit gegeben wird, weitere Überlegungszeit in Anspruch zu nehmen. Das ist etwa – von medizinisch dringenden Behandlungsmaßnahmen abgesehen – dann anzunehmen, wenn der Patient zu einer Entscheidung gedrängt oder „überfahren“ wird (vgl. Rn. 20).

Konkludente Einwilligung durch Erscheinen zur OP

Nach der Rechtsprechung des Senats ist die Einwilligung in den ärztlichen Eingriff kein Rechtsgeschäft, sondern eine Gestattung oder Ermächtigung zur Vornahme tatsächlicher Handlungen, die in den Rechtskreis des Gestattenden eingreifen. Die Vorschriften über Willenserklärungen finden daher keine unmittelbare Anwendung. Der Gesetzgeber hat die Einwilligung nicht als Rechtsgeschäft konzipiert, sondern als frei widerrufliche Disposition über ein höchstpersönliches Rechtsgut (vgl. Rn. 23).

Die Einwilligung in den ärztlichen Eingriff ist nicht an eine bestimmte Form gebunden. Sie kann ausdrücklich erfolgen oder sich konkludent aus den Umständen und dem gesamten Verhalten des Patienten ergeben. Für die Ermittlung des Bedeutungsgehalts des Verhaltens des Patienten ist dabei maßgeblich, wie es aus der Sicht eines objektiven Dritten in der Position des Empfängers – des Behandlers – verstanden werden musste. Entgegen der Auffassung des OLG Bremen setzt die Annahme einer (konkludenten) Einwilligung weder den Widerruf einer zuvor erklärten (unwirksamen) Einwilligung durch den Patienten noch das Bewusstsein des Behandelnden voraus, der Patient erteile erstmals eine wirksame Einwilligung (vgl. Rn. 24). Entscheidend ist, ob der Patient zu irgendeinem Zeitpunkt vor dem Eingriff eine wirksame Einwilligung erklärt und diese nicht widerrufen hat (vgl. Rn. 25).

Nachdem der Patient im konkreten Fall am 01.11.2013 ordnungsgemäß aufgeklärt und sich mehr als zwei Tage später, am 04.11.2013, zum Zwecke der Operation in das Krankenhaus begab, sich stationär aufnehmen ließ und die Operationsvorbereitungen duldete, mussten die behandelnden Ärzte dieses Verhalten dahingehend verstehen, dass er mit der streitgegenständlichen Operation einverstanden war. Mit diesem Verhalten hat er seine bereits am 01.11.2013 unmittelbar nach dem Aufklärungsgespräch erklärte Einwilligung, sofern sie wirksam ist, „bekräftigt“; war diese Einwilligung hingegen unwirksam, weil ihm nicht die erforderliche Überlegungszeit eingeräumt war, sondern er zu ihrer Erteilung gedrängt wurde, so hat er die erforderliche Einwilligungserklärung erstmals am 04.11.2013 abgeben. Der ärztliche Eingriff vom 04.11.2013 war somit aus Sicht der BGH-Richter in jedem Fall durch eine wirksame Einwilligung des Patienten gedeckt (Rn. 26).

Zusammenfassend kann ein Patient damit sofort nach dem Aufklärungsgespräch in eine Behandlungsmaßnahme wirksam einwilligen, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt zu einer wohlüberlegten Entscheidung in der Lage sieht. Ist dies nicht der Fall, muss er dies gegenüber dem Arzt kundtun. Die unmittelbar erteilte Einwilligung kann jedoch dann unwirksam sein, wenn für den Arzt erkennbar konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die gegen eine wohlüberlegte Entscheidungsfähigkeit des Patienten zum Einwilligungszeitpunkt sprechen. Keinesfalls sollte der Patient auch zu einer Entscheidung unmittelbar nach dem Aufklärungsgespräch gedrängt oder „überfahren“ werden. Erscheint der Patient sodann jedoch einige Tage nach dem Aufklärungsgespräch zur Durchführung der Maßnahme, dann erteilt er hiermit jedenfalls konkludent seine Einwilligung.

Für Klinikträger und Ärzte ist diese BGH-Entscheidung höchst erfreulich, da ansonsten erhebliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Praxis- und Klinikabläufe zu befürchten gewesen wäre. Aber auch die Mündigkeit der Patienten wird hierdurch nicht mehr in Frage gestellt.

Heberer J: F+A: Bedenkzeit zwischen Aufklärung und Einwilligung. 2023 Mai; 13(05): Artikel 04_09.

F+A: Auslandsreise mit Krankschreibung

Frage:

Ein niedergelassener Arzt fragt an, ob es rechtens ist, wenn eine angestellte Praxismitarbeiterin während einer Krankschreibung ins Ausland in den Urlaub fährt, wobei die attestierte Arbeitsunfähigkeit bereits vor Reisebeginn vorlag und er nur per Zufall über deren Social-Media-Auftritt die Urlaubsfotos gesehen und so von der Auslandsreise erfahren hat. 

Antwort:

Zwar gilt der Grundsatz, dass Arbeitnehmer während einer Krankschreibung alles unterlassen müssen, was ihre Genesung hindert. Allerdings schließt dies nach ständiger Rechtsprechung einen Urlaub bzw. Auslandsaufenthalt während einer Krankschreibung nicht aus. Maßgeblich ist stets, ob die Urlaubsreise der Genesung entgegensteht oder ob sie dieser möglicherweise sogar dienlich sein kann. Für diese Einschätzung spielt deshalb auch immer die Art der Erkrankung eine Rolle.

Falls der Urlaub der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nicht entgegensteht bzw. der Genesung oder Gesundheit förderlich sein kann, liegt aus Sicht des Verfassers kein Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten vor, sodass für den Arbeitgeber in diesem Fall auch keine Sanktionsmöglichkeiten bestehen.

Sollte hingegen der Auslandsaufenthalt der Genesung hinderlich sein, liegt ein Pflichtverstoß vor. Dieser könnte zunächst mittels einer Abmahnung sanktioniert werden und erst bei Wiederholung oder in einem schwerwiegenden Fall ein Grund für eine fristlose Kündigung sein. Allerdings muss man für die rechtliche Würdigung immer auf die konkreten Einzelfallumstände abstellen.

In der Regel werden die Überprüfung und der Nachweis eines Verstoßes für den Arbeitgeber jedoch äußerst schwierig sein, da er den Grund der Erkrankung nicht kennt und die Mitarbeiterin diesen selbst bei Nachfrage nicht mitteilen muss. Spätestens in einem Arbeitsrechtsstreit kann dies zu Lasten der dem Arbeitgeber obliegenden Beweislast bezüglich einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit der Mitarbeiterin gehen. Die Rechtsprechung spricht nämlich einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einen großen Beweiswert zu und ihre inhaltliche Richtigkeit wird vermutet. Die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung fordert vom Arbeitgeber deshalb die Darlegung der vorsätzlichen Täuschung durch die Mitarbeiterin über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit und darüber hinaus von ausreichenden Tatsachen, die ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit begründen und den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeit erschüttern. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass aus Sicht der Gerichte nicht zwangsläufig der Täuschungsbeweis schon dadurch geführt werden kann, weil beispielsweise Urlaubsfotos auf Social Media veröffentlicht werden. Die Rechtsprechung sieht allein hierin keine Tatsache, die zu ernsthaften Zweifeln an der attestierten Arbeitsunfähigkeit Anlass gibt.

Welche Möglichkeiten zum Nachweis eines Arbeitspflichtenverstoßes kann der Arbeitgeber also ergreifen? Er könnte die Krankenkasse informieren. Diese ist sodann bei Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit gemäß § 275 Abs. 1 S. 1 Nr. 3c) SGB verpflichtet, den Medizinischen Dienst mit einer Gutachtenerstellung zu beauftragen.

Ferner könnte der Arbeitgeber selbstständig weitere Recherchen anstellen, beispielsweise in den Social-Media-Auftritten. Allerdings kann dies zum einen sehr zeitaufwendig sein. Zum anderen muss er unbedingt darauf achten, dass das Profil bzw. ein Chat der Mitarbeiterin öffentlich ist oder er zu den Kontakten der Mitarbeiterin zählt, für die ein konkreter Chatinhalt bestimmt ist und keine Dauerüberwachung stattfindet.

Abschließend sei noch erwähnt, dass die Mitarbeiterin nicht verpflichtet ist, den Arbeitgeber über ihren Aufenthaltsort während der Krankschreibung zu informieren, sodass auch hieraus kein Verstoß gegen arbeitsrechtliche Pflichten hergeleitet werden kann.

Heberer J: F+A: Auslandsreise mit Krankschreibung. 2023 Januar/Februar; 13(01/02): Artikel 04_10.

F+A: Schallschutz für Sprech- und Untersuchungszimmer

Frage:

Ein Chefarzt fragt an, ob es Vorschriften zum Schallschutz für Sprech- und Untersuchungszimmer gibt, wenn Krankenhausabteilungen neu gebaut oder umgebaut werden.

Antwort:

Tatsächlich gibt es diesbezüglich diverse Vorschriften.

Nach Kenntnis des Verfassers gilt bei Neu- oder Umbaumaßnahmen zum einen die DIN 4109-1 „Schallschutz im Hochbau“, die in Kapitel 6.2, Tabelle 5 Anforderungen an die Schalldämmung in Krankenhäusern aufstellt. Hierbei gelten erhöhte Schallschutzanforderungen. Die vorgenannte DIN 4109-1 gibt meines Wissens nach beispielsweise für Türen zwischen Untersuchungs- bzw. Sprechzimmern sowie zwischen Fluren und Untersuchungs- bzw. Sprechzimmern eine Mindestanforderung an den Schalldämmwert von 37 dB im eingebauten Zustand vor. Dies gilt auch für Türen zwischen Räumen, die einem erhöhten Ruhebedürfnis oder einer erhöhten Vertraulichkeit unterliegen.

Ebenso sind hier Mindestwerte für Wände vorgegeben, die zwischen Untersuchungs- und Sprechzimmern sowie zwischen Fluren und Untersuchungs- und Sprechzimmern ein Schalldämmmaß von 47 dB ergeben müssen. Für Wände zwischen Räumen mit Anforderungen an ein erhöhtes Ruhebedürfnis und besondere Vertraulichkeit gilt sogar ein Schalldämmmaß von mindestens 52 dB.

Nach Auffassung des Verfassers ist bei Sprech- und Untersuchungszimmern durchaus von einer besonderen Vertraulichkeit auszugehen, da ein Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht sowohl berufs- als auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Für eine Strafbarkeit reicht es dabei schon aus, dass der Arzt es billigend in Kauf nimmt, dass eine geheime Tatsache gegenüber Dritten unbefugt offenbart wird.

Diese Werte wären somit im Rahmen der neu bzw. umzubauenden Sprechstundenräume und Untersuchungszimmer aus Sicht des Verfassers durch den Krankenhausträger zu berücksichtigen.

Des Weiteren ist bezüglich des vorhandenen Lärms die Arbeitsstättenverordnung maßgebend. Diese gibt bezüglich des Lärms im Anhang unter Ziffer 3.7 vor, den Schalldruckpegel in den Arbeitsstätten so niedrig zu halten, wie es nach der Art des Betriebes möglich ist. Darüber hinaus ist der Schalldruckpegel in den Arbeitsräumen in Abhängigkeit von der Nutzung und den dort zu verrichtenden Tätigkeiten so weit zu minimieren, dass keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Beschäftigten entstehen. Die Anwendung wurde auf den Bereich unterhalb des in der Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (LärmVibrationsArbSchV) festgelegten unteren Auslösewertes von 80 dB(A) begrenzt. Die Höhe der zulässigen Geräuschbelastung und ggf. erforderliche Schutzmaßnahmen müssen sich am Stand der Technik und den arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren. Nach der LärmVibrationsArbSchV sind Arbeitsräume so zu gestalten, dass die Schallausbreitungsbedingungen dem Stand der Technik entsprechen. Die Technische Regel zur Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (TRLV Lärm) aus August 2017 definiert in Teil 3 (Maßnahmen zur Lärmreduzierung) den Stand der Technik bei Reflexionsschall und Schallpegelabnahme (bei Entfernung von der Schallquelle). Außerdem gilt der Stand der Technik als eingehalten, wenn der mittlere Schallabsorptionsgrad α in den Oktavbändern mit den Mittenfrequenzen von 500 Hz bis 4000 Hz mindestens 0,3 beträgt. Als Hilfe kann dabei die Richtlinie VDI 2058 Blatt 3:2013-04 Blatt 3 dienen, die die unterschiedlichen Auswirkungen von Lärm beschreibt und in Abhängigkeit von der Tätigkeit Richtwerte von 55 dB(A) für ärztliche Tätigkeiten vorgibt.

Empfehlungen zur akustischen Gestaltung hinsichtlich der Sprachverständigung in Räumen werden ferner in der DIN 18041:2016-03 „Hörsamkeit in kleinen bis mittelgroßen Räumen“ gegeben. Die DIN 18041:2016-03 gibt für unterschiedliche Raumnutzungen (z. B. Besprechungsräume etc.) Nachhallzeiten an. Sie sind frequenzabhängig. Eine maximale Nachhallzeit bei Räumen z. B. von 200 Kubikmetern von 0,6 Sekunden wird in DIN EN ISO 9241-6:2001-03 gefordert.

Insofern müssen je nach Raumgröße, Raumnutzung und Gebäudeteilen (z. B. Innentür zu einem Lager oder Tür zwischen zwei Sprechzimmern) die unterschiedlichen DIN-Vorgaben beim Neu- oder Umbau von Sprech- und Untersuchungszimmern durch den Krankenhausträger berücksichtigt werden.

Heberer J: F+A: Schallschutz für Sprech- und Untersuchungszimmer. 2022 November; 12(11): Artikel 04_07.

Zum 100. alles Gute – Prof. Dr. Walther Weißauer

Der BDC gratuliert Herrn Senator E. h., Professor Dr. med. h. c. Walther Weißauer zum 100. Geburtstag und dankt für drei Jahrzehnte als Justitiar im BDC

Walther Weißauer gilt als Nestor des Medizinrechts. Er hat sich als hervorragender Sachkenner des Arztrechts und des Grenzbereiches zwischen Jurisprudenz und Medizin einen Namen gemacht. Er wurde am 10.11.1921 in Freising geboren. Weißauer schloss 1948 sein durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochenes Jurastudium ab. Zunächst nahm er eine Stelle im Bayerischen Staatsministerium an, bevor er von 1952 bis 1954 als Richter am Landgericht München tätig war. Er kehrte dann an das Justizministerium zurück und wurde dort 1963 zum Ministerialrat und 1970 zum Ministerialdirigenten befördert. 1984 wurde er pensioniert.

Bereits 1953 begann seine zweite medico-legale Karriere als Vorsitzender des Disziplinarausschusses der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns. 1961 fertigte er ein wegweisendes Rechtsgutachten zur Frage der Arbeitsteilung und Verantwortung zwischen Anästhesie und Chirurgie. Damit ebnete er den Weg für die eigenständige und weisungsungebundene Anästhesie. Viele kluge und ebenfalls wegweisende Impulse gab Weißauer für das gesamt Medizinrecht, beispielsweise für das noch heute im Wesentlichen geltende Institut der Aufklärung. Rund 30 Jahre von 1968 bis 1998 war Weißauer unter anderem Justitiar des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen.

Als genialer Medizinrechtlicher, als ehrlicher Makler zwischen auch anderen Fachrichtungen der Medizin, insbesondere auch der Anästhesisten, als bescheidener und humorvoller Mensch war Walther Weißauer in dieser langen Zeit eine große Unterstützung für den Berufsverband der Deutschen Chirurgen. Anlässlich seines 100. Geburtstages dankt ihm der BDC hierfür und wünscht ihm weiterhin gute Gesundheit.

Das Ende der gleichzeitigen Gesellschafterstellung und Anstellung im MVZ?

Anmerkungen zur Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 27.01.2022, Az. B 6 KA 2/21 R

Die Entscheidung

In dem Urteil geht es um ein als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) von zwei Ärzten geführtes Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ). Die GbR beantragte die beiden Gesellschafter in dem von ihr betriebenen MVZ als Ärzte anzustellen. Beide Gesellschafter waren zugleich Geschäftsführer und jeweils zur Hälfte am Vermögen und am Gewinn der Klägerin beteiligt.

Nach Ablehnung durch den Zulassungs- und Berufungsausschuss gab das SG Marburg dem Genehmigungsantrag statt. Dass die beiden Vertragsärzte Gesellschafter der Klägerin mit jeweils hälftigem Anteil seien, schließe den Anspruch nicht aus. Die zu erteilende Genehmigung sei allein an vertragsärztlichen Gesichtspunkten zu messen. Zivil-, gesellschafts-, steuer-, arbeits- oder sozialversicherungsrechtliche Aspekte hinderten die Erteilung der Genehmigung nicht. Ärzte könnten bei einem MVZ angestellt sein, auch und gerade, wenn sie Gesellschafter der Träger-GbR seien. Weder die Größe ihres Gesellschafteranteils noch ihr Einfluss auf die MVZ-GbR und damit die arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Einordnung ihrer Beschäftigung als abhängig Beschäftigte oder als selbstständig Tätige erlaube es den Zulassungsgremien, die Genehmigung der Anstellung zu versagen.

Der Berufungsausschuss legte hiergegen Sprungrevision zum BSG ein. Dieses hob die SG-Entscheidung mit Urteil vom 27.01.22 auf. Das schriftliche Urteil liegt noch nicht vor. Aus dem Terminbericht lässt sich entnehmen, dass die Anstellungsgenehmigungen nach Meinung des BSG nicht erteilt werden dürften, weil die verzichtenden Ärzte als Geschäftsführer und Gesellschafter derart an der Gesellschaft beteiligt seien, dass sie über ihre Möglichkeiten der Einflussnahme die Geschicke der Gesellschaft lenken können. Dies stehe einer Angestelltenstellung entgegen. Hierfür sehe das Gesetz die Variante des Vertragsarzt-MVZ vor.

Stellungnahme

Die Entscheidung betrifft zunächst die konkrete Konstellation eines MVZ in der Rechtsform der GbR und mit lediglich zwei Ärzten. Klar ist jedoch auch, dass zukünftig bei vergleichbaren Anträgen auf Anstellungsgenehmigung regelhaft eine Berücksichtigung der gesellschafts- und sozialversicherungsrechtlichen Regeln zu erfolgen hat und nicht nur die vertragsarztrechtlichen Vorgaben maßgeblich sind. Es ist also im Einzelfall zu prüfen, in welcher Rechtsform das MVZ betrieben wird und wie die Rechte der einzelnen Arzt-Gesellschafter konkret ausgestaltet sind.

Denn das BSG orientiert sich in seiner Entscheidung offensichtlich primär an dem sozialversicherungsrechtlichen Begriff der abhängigen Beschäftigung. Dieses Thema ist seit langem relevant bei der Frage, ob Geschäftsführer Sozialversicherungsabgaben zahlen müssen, wenn sie zugleich Gesellschafter sind. Nach der einschlägigen Rechtsprechung hierzu können viele unterschiedliche Aspekte eine Rolle für die Beurteilung des Einzelfalls haben.

Hilfreich kann es z. B. sein, die Befugnisse der Gesellschafter-Ärzte in bestimmten Bereichen so zu beschränken, dass diese sie selbst betreffende Beschlüsse des MVZ nicht verhindern können. Dies wird allerdings in kleineren MVZ, wie das in der BSG-Entscheidung betroffene, kaum möglich sein. Viele Fragen bleiben aber auch offen, wie z. B.:

  • Welche Rolle spielt zukünftig die Vertragsarztvariante?
  • Gibt es eine wesentlich andere Beurteilung bei der GmbH?
  • Besteht Bestandsschutz für vorhandene MVZ mit dieser Konstellation.

Ob die schriftlichen Urteilsgründe etwas mehr Klarheit bringen werden, bleibt abzuwarten. In jedem Fall sollten aber Ärzte, die eine MVZ-Gründung planen, die genannten gesellschafts- und sozialversicherungsrechtlichen Aspekte ebenso wie das Vertragsarztrecht in ihre Beratung mit einbeziehen.

Butzmann O, Heberer J: Das Ende der gleichzeitigen Gesellschafterstellung und Anstellung im MVZ? Passion Chirurgie. 2022 August, 12(07/08), Artikel 04_09. 

Entschädigungsansprüche aufgrund einer Maßnahme nach dem Infektionsschutzgesetz anlässlich der Covid-19-Pandemie

Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen der Landesregierungen wirken sich nach wie vor privat und beruflich auf die Menschen aus.

Nunmehr hat nach Kenntnis des Verfassers erstmals ein Zivilgericht über Entschädigungsansprüche eines selbständigen (Zahn-) Arztes (im Folgenden: Kläger) aufgrund finanzieller Mindereinnahmen während des ersten Lockdowns, die aufgrund der durch die Landesregierung Niedersachsen mit Verordnung vom 17.04.2020 getroffenen Regelungen verursacht worden seien, entschieden. Rechtsgrundlage der Verordnung vom 17.04.2020 war das Infektionsschutzgesetz (IfSG).

Das LG Hannover entschied hierüber mit Urteil vom 20.11.2020 – 8 O 4/20 (vgl. im Folgenden:LG Hannover, Urteil vom 20.11.2020 – 8 O 4/20, juris).

SACHVERHALT

Das Bundesland Niedersachsen erließ am 27.03.2020, gestützt auf § 32 S. 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Sätze 1 und 2 IfSG die zeitlich befristete Niedersächsische Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Corona-Virus. Am 17.04.2020 wurde dann eine Anschlussverordnung erlassen, die u. a. in § 1 Abs. 1 eine physische Kontaktreduzierung außerhalb der Personen des eigenen Hausstands auf das nötigste Minimum vorsah sowie in § 3 Nr. 3 die Inanspruchnahme dringend erforderlicher zahnmedizinischer Behandlungen für zulässig erklärte. Diese Anschlussverordnung galt vom 20.04.2020 – 06.05.2020 (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 3).

Der Kläger verklagte zusammen mit anderen Branchenbeteiligten deshalb das Land Niedersachsen unter der Behauptung, dass ihm während dieses ersten Lockdowns finanzielle Einbußen von über EUR 10.000,00 entstanden seien. Er begehrte deshalb den Ausgleich aller Mindererträge, die ihm durch die oben genannte Infektionsschutzmaßnahme des beklagten Landes vom 17.04.2020 entstanden seien (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 8, 12).

Zwar stimmte der Kläger zu, dass diese Maßnahmen zum Infektionsschutz auf der primären Eingriffsebene rechtmäßig waren. Allerdings müssten diese Eingriffe aus verfassungsrechtlichen Gründen auf sekundärer Ebene finanziell ausgeglichen werden. Hierfür verwies er darauf, dass die wirtschaftlichen Folgen der coronabedingten Betriebsschließungen und Betriebseinschränkungen trotz staatlicher Fördermaßnahmen für viele Betriebsinhaber eine existentielle Notlage bedeuteten (vgl. LG Hannover a. a. O., Rn. 14).

Sofern auch die gebotene verfassungskonforme Auslegung ergebe, dass das Infektionsschutzgesetz derzeit einem Ausgleichsanspruch für seine aufgrund der Infektionsschutzmaßnahmen erlittenen finanziellen Nachteile entgegenstehe, sei es verfassungswidrig. Denn aus Sicht des Klägers verlangten Artikel 12, insbesondere aber Artikel 14 GG als Kompensation für die erheblichen Eingriffe eine angemessene finanzielle Entschädigung, da es für ihn bei einer Güterabwägung nicht zumutbar sei, selbst kurzzeitige Betriebsschließungen entschädigungslos hinnehmen zu müssen. Werde die Privatnützigkeit des Eigentums wenn auch nur vorübergehend ganz oder teilweise entzogen, liege ein Fall des verfassungsrechtlichen Ausgleichsanspruchs vor. Diese Entschädigung müsse vom Gesetzgeber geregelt werden, wobei kein voller Schadensersatz, aber zumindest eine Deckung der Betriebskosten und eine angemessene Vergütung des Betriebsinhabers vorzusehen sei, um Insolvenzen zu vermeiden. Dass dies zu erheblichen Belastungen für die öffentlichen Haushalte führe, sei der Preis der gewählten Strategie zur Pandemiebekämpfung, da die Grundrechte nicht kostenlos seien (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 15, 16).

Das beklagte Land wandte hiergegen ein, dass der klägerische Vortrag zu Grund und Höhe der behaupteten finanziellen Nachteile unsubstantiiert sei. Insbesondere sei festzustellen, dass die hierzu vorgelegte Übersicht des Klägers nur eine Umsatzveränderung ausweise und damit keinerlei Aussagekraft habe, weil aus Artikel 14 GG allenfalls Substanzeinbußen finanziell ausgleichsfähig seien, nicht aber Erwerbschancen. Zudem enthalte die angegriffene Verordnung keine Vorschrift, die den Betrieb seiner Arztpraxis beschränkt habe. Darüber hinaus verwies das beklagte Land darauf, dass der Praxisbetrieb des Klägers auch ohne die angegriffene Verord­nung erhebliche Einbußen gehabt hätte, da seine Dienstleistungen allein schon aufgrund der Pandemielage nicht oder nur in geringem Umfang nachgefragt worden wären, weil sich der Großteil der Bevölkerung ohnehin und auch ohne die angegriffene Verordnung nur auf lebensnotwendige Kontakte beschränkt habe, sodass es auch ohne explizite staatliche Schließungsanordnung zu deutlichen Umsatzrückgängen gekommen wäre (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 24, 25).

ENTSCHEIDUNG

Das LG Hannover wies die Klage als unbegründet ab. Es sah die Voraussetzungen eines Zahlungsanspruchs aus dem IfSG, dem allgemeinem Gefahrenabwehrrecht oder dem allgemeinen Staatshaftungsrecht nicht als erfüllt an.

ZAHLUNGSANSPRUCH AUS § 56 ABS. 1 ODER 1A IFSG

Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch gem. § 56 Abs. 1 IfSG ist, dass der Anspruchsteller einen Verdienstausfall erlitten hat, weil er als Ausscheider, Ansteckungsverdächtiger, Krankheitsverdächtiger oder als sonstiger Träger von Krankheitserregern einem infektionsschutzrechtlichen Verbot in der Ausübung seiner bisherigen Erwerbstätigkeit oder einem infektionsschutzrechtlichen Absonderungsgebot unterliegt (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 36).

Das LG verneinte hiernach einen Zahlungsanspruch, da der Kläger weder zum Personenkreis des Abs. 1 gehörte, noch die Tatbestandsvoraussetzungen des Abs. 1a erfüllt waren.

ZAHLUNGSANSPRUCH AUS § 65 ABS. 1 IFSG

Diese Tatbestandsvoraussetzungen waren vorliegend ebenfalls nicht erfüllt, da anspruchsbegründende Maßnahmen nur solche gem. § 16 oder § 17 IfSG sind, während die streitgegenständliche Verordnung des beklagten Landes auf § 28 Abs. 1 IfSG gestützt worden war (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 40). Mit der streitgegenständlichen Verordnung wurden nach detaillierter Begründung des Gerichts Bekämpfungsmaßnahmen nach § 28 IfSG und keine Verhütungsmaßnahmen nach § 16 IfSG getroffen.

ANALO GE ANWENDUNG DER ENTSCHÄDIGUNGSTATBESTÄNDE GEM. § 56 BZW. § 65 IFSG

Einen aus einer analogen Anwendung des § 56 bzw. § 65 IfSG hergeleiteten Zahlungsanspruch lehnte das LG Hannover ebenfalls ab, da es keine planwidrige Regelungslücke des Gesetzgebers sah.

ZAHLUNGSANSPRUCH AUS DEM ALLGEMEINEN POLIZEIRECHT GEM. § 80 NPOG I.V.M. § 8 NPOG

Das Gericht erläuterte zunächst, dass zwar der Tatbestand des § 80 Abs. 1 NPOG nach seinem Wortlaut einschlägig sein könnte, da die dem Kläger auferlegte Betriebsschließung eine Inanspruchnahme darstellt, die sich unstreitig weder auf einen von ihm selbst noch von seinem Betrieb ausgehenden Corona-Verdachtsfall bezieht und er daher als Nichtstörer im Sinne von § 8 Abs. 1 NPOG angesehen werden könnte. Jedoch sei aus Sicht des Gerichts Voraussetzung für dessen Anwendbarkeit gem. § 3 Abs. 1 Satz 2 und 3 NPOG, dass das IfSG insoweit keine abschließende Regelung enthalte, da Ansprüche aus § 80 NPOG nur dann in Frage kommen, wenn das IfSG als spezielles Gefahrenabwehrrecht keine Normen enthält, die die Anwendung des NPOG sperren (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 68, 69).

Das LG vertrat sodann die Auffassung, dass ein Anspruch des Klägers aus § 80 Abs. 1 S. 1 NPOG aufgrund der Sperrwirkung der speziellen Regeln des IfSG ausscheide, da hierfür ausreichend sei, wenn die Normen des IfSG eine abschließende Regelung für die einschlägige Fallkonstellation der Inanspruchnahme von Nichtstörern treffen (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 71). Dies sei mit § 65 IfSG jedenfalls gegeben.

ZAHLUNGSANSPRUCH AUFGRUND ENTEIGNENDEN EINGRIFFS

Ansprüche aus enteignendem Eingriff kommen nach ständiger Rechtsprechung des BGH in Frage, wenn an sich rechtmäßige hoheitliche Maßnahmen bei einem Betroffenen unmittelbar zu meist atypischen und unvorhergesehenen Eigentumsbeeinträchtigungen führen, die er aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen hinnehmen muss, die aber die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren übersteigen (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 77).

Zwar sah das Gericht in den durch die Verordnung angeordneten Betriebsschließungen bzw. in der Untersagung, den bereits vorhandenen Betrieb im bisherigen Umfang zu nutzen, einen Eingriff in den eigentumsrechtlichen Schutzbereich von Artikel 14 GG.

Allerdings verneinte es die weitere Anspruchsvoraussetzung eines dem Kläger auferlegten Sonderopfers. Ein ausgleichspflichtiges Sonderopfer besteht, wenn ein Eingriff in eine eigentumsmäßig geschützte Rechtsposition vorliegt, durch die der Betroffene als Eigentümer unverhältnismäßig oder im Verhältnis zu anderen ungleich betroffen wird und er mit einem besonderen, den übrigen nicht zugemutetes Opfer für die Allgemeinheit belastet wird (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 80).

Nachdem ein sehr weiter Personenkreis von den Schließungsmaßnahmen bzw. Betriebseinschränkungen betroffen war, wurde dem Kläger schon kein individuelles Sonderopfer auferlegt. Darüber hinaus hegte das Gericht auch keine durchgreifenden Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Verordnung und die Verhältnismäßigkeit der hierdurch bewirkten Eingriffe in die Rechtspositionen des Klägers (vgl. LG Hannover a. a. O., Rn. 81, 83).

Ferner wies das Gericht hierzu auf die Rechtsprechung des BGH hin, wonach bei der im Rahmen der Prüfung eines Sonderopfers geforderten „wertenden Betrachtung der Kollision zwischen Gemeinwohl und Einzelinteresse“ (vgl. BGH, Urteil vom 05. März 1981 – III ZR 9/80 –, BGHZ 80, 111–118, Rn. 22) dem gemeinwohlorientierten Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit der Bevölkerung der Vorrang vor den Eigentümerbelangen des Klägers einzuräumen sei (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 108).

Ein Anspruch des Klägers wegen enteignenden Eingriffs scheitere nach Meinung des LG darüber hinaus auch an dem Umstand, dass diese Anspruchsgrundlage auf die vorliegende Fallkonstellation keine Anwendung finden würde. Denn die vom BGH zur Ablehnung der Haftung für legislatives Unrecht entwickelte Argumentation treffe nach dem Verständnis des LG auch auf den vorliegenden Fall zu, in dem massenhafte Ansprüche auf Grund von Rechtsverordnungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zu erwarten wären. Die Zubilligung von Entschädigungs- oder Ausgleichsansprüchen gegen den Staat für vielfach auftretende Eigentumsbeschränkungen könnte so weitreichende Folgen für die staatlichen Finanzen haben, dass hierdurch dem Haushaltsgesetzgeber die freie Entscheidungskompetenz aus der Hand genommen würde, wie, wofür und in welchem Umfang er in einer nationalen Krisensituation die begrenzten staatlichen Mittel einsetzt. Dies widerspräche dem Grundsatz der Gewaltenteilung, da die grundlegenden Entscheidungen über die Verwendung der staatlichen Mittel zum Kern der parlamentarischen Rechte in der Demokratie gehören und es insoweit für die Auswirkung auf den Entscheidungsspielraum des parlamentarischen Gesetzgebers unerheblich sei, welche Rechtsform der als entschädigungspflichtig angesehene staatliche Akt habe. Das richterrechtlich entwickelte Rechtsinstitut des enteignenden Eingriffs biete keine geeignete Grundlage, um die generellen und typischen Folgen einer in einem formellen Gesetz enthaltenen oder auch auf einem formellen Gesetz beruhenden Inhalts- oder Schrankenbestimmung finanziell abzugelten. Denn die Gewährung von Ausgleichsansprüchen durch die Zivilgerichte würde hier im Ergebnis darauf hinauslaufen, dass das den hoheitlichen Eingriff betreffende Gesetz kraft Richterrechts um eine Klausel für Ausgleichsleistungen ergänzt werde. Eine solche Befugnis stehe aber dem an Recht und Gesetz gebundenen Richter nicht zu (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 109, 111).

WEITERE ANSPRUCHSGRUNDLAGEN UND HILFSANTRAG DES KLÄGERS

Weitere Anspruchsgrundlagen kamen aus Sicht des Gerichts nicht in Betracht. Da das Gericht damit den Hauptantrag des Klägers auf Zahlung abgewiesen hatte, musste es nunmehr noch über dessen Hilfsantrag entscheiden.

Diesbezüglich hatte der Kläger hilfsweise beantragt, dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorzulegen, ob das IfSG insoweit mit Artikel 12 und 14 GG vereinbar sei, als es keine angemessene Entschädigung für die Anordnung von Betriebsschließungen und Tätigkeitsverboten gegenüber Personen und Betrieben vorsehe, die nicht unter die §§ 31, 56, 65 IfSG fallen, sowie dem Gesetzgeber in zu bestimmender Frist aufzugeben, das IfSG insoweit um Regelungen der angemessenen Entschädigung zu ergänzen.

Auch diesen Hilfsantrag hielt das LG Hannover letztendlich für unbegründet.

STELLUNGNAHME

Damit bestätigt sich nunmehr, dass eine zivilrechtliche Durchsetzung von Erstattungsansprüchen aufgrund Mindereinnahmen einer Arztpraxis während des ersten Lockdowns im Frühjahr dieses Jahres, die Folge der von den Bundesländern erlassenen Maßnahmen zur Bekämpfung bzw. Eindämmung der Corona- Pandemie per Verordnung waren, äußerst schlechte bis gar keine Erfolgsaussichten haben dürfte.

Hinzu kommt, dass bereits diverse Oberverwaltungsgerichte die formelle und materielle Rechtmäßigkeit dieser jeweiligen landesrechtlichen Verordnungen zwischenzeitlich bestätigt haben (vgl. LG Hannover, a. a. O., Rn. 107 mit weiteren Nachweisen, u. a. OVG Magdeburg, Beschluss vom 30.4.2020 – 3 R 69/20; OVG Schleswig, Beschluss vom 30.4.2020 – 3 MR 15/20; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30.03.2020 – 20 NE 20.632, Rn. 33–34, juris).

Damit müssen betroffene Ärzte nach Auffassung des Verfassers aus Gründen der Rechtssicherheit bedauerlicherweise weiterhin zum Ausgleich ihrer coronabedingten finanziellen Verluste auf die bisher beschlossenen staatlichen Hilfsmaßnahmen verwiesen werden, sofern hier natürlich überhaupt eine Anspruchsberechtigung im jeweiligen Einzelfall gegeben ist.

Heberer J.: Entschädigungsansprüche aufgrund einer Maßnahme nach dem Infektionsschutzgesetz anlässlich der covid-19-Pandemie. 2021 April; 11(04): Artikel 04_06.