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Wie in einer Notaufnahme, nur schneller

Um 02:15 Uhr in der Nacht werde ich als Senior Doctor durch die diensthabende Senior Nurse angerufen. Sie kündigt einen Patienten mit einer Schnittverletzung am Finger an. Der Weg zum Bordhospital ist in zwei Minuten zurückgelegt und im Eingriffsraum findet sich ein Mitarbeiter der Bar, der mit einer Kompresse auf eine Schnittverletzung am dritten Finger der rechten Hand drückt.

Nachdem der Patient auf dem OP-Tisch gelagert ist, erfolgt die Überprüfung der Leitungsbahnen. Es gibt keinen Hinweis auf Verletzung von Nerven, Sehnen oder größeren Gefäßen. Im Dorsalbereich des dritten Fingers findet sich eine circa dreieinhalb Zentimeter lange klaffende und scharfkantige Schnittwunde, die sich der Patient beim Schneiden von Obst, das zur Dekoration von Drinks benötigt wird, zugezogen hat. Nach entsprechender Aufklärung des Patienten erfolgt das Setzen einer Oberstschen Anästhesie, laut Patienten ist ein Tetanus-Impfschutz gegeben. In der Wartezeit bis zum Eintreten der Anästhesie erfolgt die Dokumentation des Befundes im bordeigenen Patientenverwaltungsprogramm.

Anschließend steriles Abdecken der Situation nach vorheriger Hautdesinfektion und Einzelknopf-Nahtverschluss der Schnittwunde, Pflasterverband, am ersten Tag zusätzlich mit einem Fingerling. Dem Patienten wird Ibuprofen mit der Empfehlung von 3×600 mg täglich über den ersten Tag mitgegeben. Eine Wiedervorstellung wird nach 48 Stunden verabredet.

Nach ca. 20 Minuten ist diese nächtliche Einsatzsituation beendet, der Patient ist versorgt und ich liege wieder im Bett. Dies ist ein typischer Einsatz für einen Schiffsarzt auf einem Kreuzfahrtschiff mit circa 3.000 Passagieren und 1.000 Crewmitgliedern, das sich zu diesem Zeitpunkt auf einer Rundreise durch das westliche Mittelmeer befindet.

Die Sprechstunde

Der morgige Hafen heißt Ajaccio (Korsika) und das Anlegen wird gegen 7:00 Uhr morgens erfolgen. Um 8:00 Uhr beginnt die Sprechstunde für die Crew-Mitglieder, wobei die Palette der dabei zu behandelnden Erkrankungen ausgesprochen variabel, interessant und manchmal auch herausfordernd ist. An diesem Morgen kommen im Verlauf von 60 Minuten Sprechstunde insgesamt 14 Crew-Mitglieder mit sehr unterschiedlichen Anliegen in das Bordhospital. Sechs von ihnen leiden unter fieberhaften oder nicht fieberhaften Infekten der oberen Atemwege mit Halsschmerzen, Schnupfen und oder Muskel- und Gliederschmerzen.

Die Behandlung erfolgt symptomatisch mit der Gabe von Halslutschtabletten, Paracetamol, Sekretolytika, Inhalationstherapie und Krankschreibung für 24 oder 48 Stunden. Zum einen, um die Erholung des Crew-Mitglieds zu gewährleisten, aber auch, um die Ansteckungsgefahr an Bord zu reduzieren.

Das Team

Das Bordhospital der Mein Schiff 2 ist mit zwei Ärzten besetzt, in der Regel ein Allgemeinmediziner oder Internist und ein/e chirurgisch tätige/r Kollegin oder Kollege. Drei Nurses, alle mit dem Hintergrund einer entweder langjährigen intensivmedizinischen Tätigkeit, der Ausbildung als Rettungssanitäter oder mit langjähriger Erfahrung in einer Notfallambulanz. Dieses Team gewährleistet rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr die medizinische Versorgung der Crew-Mitglieder und der Gäste an Bord des großen Kreuzfahrtschiffs. Die Ausstattung des Bordhospitals auf dem TUI-Cruises-Schiff ist ausgezeichnet.

Abb. 1: OP im Bordhospital

Abb. 2: Team von Dr. Machens

Die Ausstattung

Neben den Untersuchungs- und Behandlungsräumen, in denen der Erstkontakt mit unseren Patienten und die körperliche Untersuchung erfolgen, verfügt das Bordhospital über eine digitale Röntgenanlage und ein Sonografie-Gerät, mit dem auch dopplersonografische Untersuchungen durchgeführt werden können. Die Laborausstattung umfasst Blutbild, Nieren- und Leberfunktionsparameter, Entzündungswerte (CRP) sowie das in der Notfalldiagnostik wichtige Troponin und die D-Dimere. In Schnelltestverfahren können sowohl Norovirus wie Malaria und Corona-Infektionen nachgewiesen werden. Ein PCR-Gerät mit Testkartuschen für Atemwegserkrankungen beinhaltet die Diagnostik der Influenza und von Covid-19 sowie auf dem Gastro-Panel den Norovirus-Nachweis.

Eine komplett ausgestattete Intensivstation mit zwei Betten, einem Zwölf-Kanal-EKG-Gerät mit inkludiertem Lungenfunktionstest ist ebenso vorhanden wie ein Dräger-Beatmungsgerät, ein Corpuls-Überwachung und Interventionsmonitor mit Defibrillator.

Die medikamentöse Ausstattung der Apotheke ist sowohl parenteral wie enteral umfassend und ausreichend für alle Notfalleinsätze auf See, inklusive einer eventuellen Lysetherapie bei nicht möglicher Ausschiffung eines Herzinfarkt- oder Emboliepatienten.

Starcode: Immer in Bereitschaft

Im Verlauf der Sprechstunde gibt es nach telefonischer Voranmeldung 12 Patientinnen und Patienten, die sich mit sehr unterschiedlichen gesundheitlichen Problemen in der Sprechstunde vorstellen. Viele klagen über Erkältungskrankheiten bei hohen Außentemperaturen und durch die Klimaanlage heruntergeregelten Bereichen in den Ausflugsbussen, Taxis und Restaurants. Immer wieder gibt es die Erklärung, dass man auch bei hohen Temperaturen bei Ausflügen einen warmen Schal oder Pullover zum Schutz der Hals- und Nackenbereiche parat halten sollte. Inmitten der Sprechstunde gibt es nach einem Gongsignal durch den Lautsprecher die Durchsage: Starcode, Starcode, Starcode.

Das ist für uns das Signal für einen akuten medizinischen Notfall. Wir begeben uns sofort zum Ort des Geschehens. Dort finden wir eine Patientin, die aufgrund von Schmerzen in ihrem Kniegelenk kollabiert ist und kurzzeitig bewusstlos war. Schon bald ist sie wieder wach und ansprechbar, wird aber zu einer kurzfristigen Überwachung und weiteren Kontrolle der Vitalfunktionen mit unserem Team in das Bordhospital transportiert. Das Kniegelenk ist bei der klinischen Untersuchung stabil und ohne Hinweis auf einen Erguss, eine Meniskus- oder Bandverletzung. Nach Anlage eines stabilisierenden Verbands, der Gabe von Schmerzmitteln und erneuter Kontrolle der Vitalfunktionen, die alle im Normbereich liegen, wird die Patientin wieder entlassen.

Abb. 3: ICU-Einheit im Bordhospital

Der Hautklassiker

Immer wieder werden wir mit einem Krankheitsbild konfrontiert, das eine punktförmige zum Teil flächig konfluierende Rötung im Bereich der Unterschenkel zeigt. Sie tritt häufig nach intensiven Spaziergängen, meist in Großstädten, und ausgedehnter Sonneneinstrahlung auf. Bei der Krankheit handelt es sich um die sogenannte Pilger- oder Wandererkrätze, französisch freundlicher formuliert: Purpura d’effort.

Außer Kühlung und Schonung ist eine weitere Therapie nicht erforderlich, dann werden die Symptome auch wieder von allein verschwinden. Die Patienten erhalten von uns ein Merkblatt zur Aufklärung über diese Hauterscheinung.

Abb. 4: Pilger- oder Wandererkrätze

Luxationsfraktur der Schulter

Zwei weitere medizinische Notfälle füllen den Vormittag aus. Ein Gast ist auf der Treppe gestürzt, sie hat den letzten Absatz verfehlt und ist dann mit der rechten Schulter gegen eine Wand gestoßen. Als wir am Unfallort eintreffen, liegt die Patientin auf dem Rücken mit dem 90 Grad abgewinkelten Oberarm und klagt über heftigste Schmerzen in der Schulter. Die klinische Untersuchung erbringt keinen Anhalt für eine Verletzung der Leitungsbahnen, palpatorisch ist die Schultergelenkspfanne leer. Die Patientin kann sich gut relaxieren und es erfolgt die sofortige bimanuelle Reposition des Schultergelenks, die ohne jede Anästhesie umgehend gelingt. Danach ist die Patientin sofort weitgehend beschwerdefrei.

Die anschließende Röntgenaufnahme zeigt eine operationswürdige subcapitale Humerusfrakur. Wir stellen die Schulter in einem Gil-Christ-Verband ruhig und verordnen ausreichend Schmerzmittel. Wir stellen der Patientin frei, umgehend die Heimreise anzutreten oder die noch verbleibenden sechs Tage an Bord zu bleiben. Sie entscheidet sich fürs Bleiben und wird durch uns bei Bedarf weiterbetreut. Die Röntgenbilder übermitteln wir mit Befund dem Heimatkrankenhaus und verabreden bereits einen OP-Termin zur Abstimmung mit der Patientin.

Der nächste Patient hat sich beim Einsteigen in einen Ausflugsbus das linke Knie verdreht und klagt über heftigste Schmerzen. Er wird von den Ausflugsbetreuern in einem Rollstuhl in das Bordhospital transportiert. Nach der Entkleidung des Beins ist die Ursache klar: Die Patella ist luxiert. In Streckstellung des Beins erfolgt nach einer kurzen Aufklärung des Patienten die sofortige Reposition.

Danach herrscht wieder weitgehende Beschwerdefreiheit. Es handelt sich um ein Erstereignis. Der Patient wird umfassend über die notwendigen diagnostischen Maßnahmen aufgeklärt. Zur Sofortversorgung erhält er eine Kniegelenksbandage sowie eine Thromboembolieprophylaxe. Mit zwei Unterarmgehstützen wird er nach Anleitung mobilisiert. Auf Röntgenaufnahmen wird, da hier keine Konsequenzen daraus gezogen werden können, bewusst verzichtet. Daheim soll die MRT-Diagnostik erfolgen.

Abb. 5: Mein Schiff 2

Der akute Bauch

Ein weiteres chirurgisches Krankheitsbild beschäftigt uns während dieses Einsatzes mehrfach. Es handelt sich um die sogenannte Links-Appendizitis oder genauer: die Sigmadivertikulitis. Mehrere Patienten, bei denen zum Teil schon eine Episode einer akuten Entzündung abgelaufen ist, stellen sich mit anhaltenden linksseitigen Unterbauchschmerzen und Defäkationsbeschwerden in unserer Sprechstunde vor.

Das klinische Bild zeigt bei einer tiefen Palpation im linken Unterbauch eine tastbare Resistenz mit lokalisierter Abwehrspannung. Häufig besteht auch ein kontralateraler Loslassschmerz. Die sonografische Untersuchung ergibt in allen Fällen keinen weiterführenden Befund. Laborchemisch besteht häufig eine Leukozytose sowie eine deutliche CRP-Erhöhung. Eine subfebrile Temperatursituation komplettiert das klinische Bild. Wir haben uns jeweils zur Kombinationstherapie mit Metronidazol und Cefuroxim entschieden. Begleitend wurde eine Nahrungskarenz und die Ernährung mit Suppen und ballaststoffarmer Nahrung verordnet. Die engmaschigen klinischen Kontrollen des Befundes ergaben jeweils nach circa 48 Stunden einen Rückgang der Beschwerdesymptomatik, zeitlich verzögert trat auch nach circa sieben Tagen eine CRP-Normalisierung ein.

Alle Patienten erhielten eine entsprechende Aufklärung für daheim, um die weitere Diagnostik in einem freien Intervall zu betreiben und dafür entsprechende Fachkolleginnen aufzusuchen. Dieses Krankheitsbild schildere ich, weil es in besonderer Weise deutlich macht, in welcher Art und Weise bei der Behandlung der Patientinnen an Bord eine besondere Abwägung stattfinden muss. Da wir an Bord über keine sofortige notfallchirurgische Interventionsmöglichkeit verfügen, ist das klinische Krankheitsbild in besonderer Weise zu gewichten und mit dem Patienten zu besprechen und abzuwägen. Dabei findet auch die Fahrtroute des Schiffs, wie zum Beispiel bevorstehende Seetage, entsprechende Berücksichtigung.

Kammertachykardie

Während des Aufenthalts in einem norwegischen Fjord meldet sich bei uns ein junger Patient, der über eine hohe Pulsfrequenz und Herzjagen klagt. Im EKG zeigt sich eine Kammertachykardie mit 220 Schlägen pro Minute. Der Patient ist Träger eines Defibrillators, der offensichtlich nicht funktioniert hat. Klinisch ist der Patient kompensiert und zeigt in Ruhe keinerlei Dyspnoe oder anderweitige Beschwerden. Nach Rücksprache mit dem Kardiologen verabreichen wir Amiodaron, leider ohne therapeutischen Effekt. Die nächste kardiologische Klinik ist sechs Autofahrstunden entfernt, und daher transportieren wir den Patienten mithilfe eines Rettungshubschraubers in das landseitige Fachkrankenhaus. Dort erfolgt mit dem entsprechenden technischen Gerät, das an Bord zur Einstellung des Defibrillators nicht vorhanden ist, eine Neuprogrammierung und ein Restart des Defis, und der Patient kann bereits am nächsten Tag in einem anderen Hafen die Reise mit uns fortsetzen.

Behandeln und Abwägen

Sie sehen, im Bordhospital eines Kreuzfahrtschiffs finden sich zahlreiche medizinische Herausforderungen und Fragestellungen, die Sie in besonderer Weise, adaptiert an die Situation den Patienten und den Fahrplan des Schiffs, abwägen müssen. Dazu kommt bei der Behandlung der Crew stets der Gedanke, ob eine Erkrankung oder Verletzung an Bord fachgerecht und zügig ausheilen kann oder ob an Land oder zu Hause bessere Heilungs- und Therapiechancen bestehen.

Die Tätigkeit als Schiffsarzt ist eine spannende ärztliche Aufgabe, die neben einer breiten medizinischen Kenntnis insbesondere eine gute Teamfähigkeit und eine gute Kooperationsfähigkeit mit allen anderen Abteilungen des Schiffs und mit dem Kapitän voraussetzt.

Wer Freude an einer sehr individuellen, breit gefächerten medizinischen Tätigkeit hat, gerne reist und neugierig auf fremde Länder mit ihren kulturellen Highlights und der unglaublichen Vielfalt der Menschheit ist, kann als Schiffsarzt einen reichen Schatz an Erfahrungen sammeln.

Wie werde ich Schiffsarzt/-ärztin?

Wer als Schiffsarzt arbeiten möchte, sollte Allgemeinmediziner, Internist, Chirurg oder Anästhesist sein.

Da es den Facharzt „Schiffsarzt“ nicht gibt und der Wirkungskreis an Bord ganz anders als an Land ist, sind zur Vorbereitung Schiffsarztlehrgänge mit dem Erwerb erforderlicher Zertifikate und Qualifikationen sehr zu empfehlen.

Die Deutsche Gesellschaft für Kreuzfahrtmedizin, die von aktiven Schiffsärzten gegründet wurde, bietet diese umfangreichen Schiffsarztlehrgänge an, die an Bord eines Kreuzfahrtschiffs stattfinden.

KLICKEN Sie hier für einen kurzen Film zum Thema „Das Boardhospital der Mein Schiff 2“.

Nähe Informationen unter: www.dgkmed.de/fortbildungen/

Kurt Machens

Chirurg & Unfallchirurg

Notfallmedizin

Total Quality Management

Geschäftsführer DGKmed

Humboldtstraße 15

31134 Hildesheim

[email protected]

Panorama

Machens K: Sehnsucht nach Meer. Passion Chirurgie. 2023 November; 13(11): Artikel 09.

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