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Zur Person

Lukas Breunig, promovierter Humanmediziner, ist Mitbegründer und Vorstandsmitglied im Verein „Berliner Initiative für Wandel im Gesundheitswesen“. Der Verein steht hinter der Kampagne „Bunte Kittel“, an der Breunig aktiv mitarbeitet. Er ist Facharzt für Innere Medizin in der diabetologischen Abteilung eines Berliner Krankenhauses mit gemeinnützigem Träger. Im Interview nimmt er Stellung zu den Beweggründen der Kampagne. Dabei spielt vor allem das Gewinnstreben in deutschen Kliniken eine wichtige Rolle.

Das Interview führte Holger Wannenwetsch vom BDC.

Holger Wannenwetsch: Wer sind die „Bunten Kittel“, Herr Breunig?
Lukas Breunig: Die Arbeit im Krankenhaus ist geprägt von Hektik, Stress und Unterbesetzung. Therapieentscheidungen müssen schnell getroffen werden und fallen, auch betriebswirtschaftlich motiviert, meist zugunsten einer Prozedur oder Intervention aus. Die Wünsche, Fragen und Sorgen einzelner Patientinnen oder Patienten sind wie Störfaktoren in einer Maschinerie, in der für Individualität keine Zeit mehr ist. Hinzu kommen die fehlende Zeit für Weiterbildung, fehlende Flexibilität für individuelle Arbeitszeitmodelle und fehlende Kapazität für einen kritischen Umgang mit Ressourcenverbrauch und Abfallmanagement im Krankenhaus. Warum das so ist? Weil uns das fallpauschalenbasierte Abrechnungssystem im Krankenhaus dazu zwingt, Gesundheitsversorgung als Wirtschaftszweig zu denken und nicht als Einrichtung der Daseinsvorsorge. Krankenhäuser treten in Konkurrenz um profitable Fälle und versuchen, finanziell unattraktive Fälle loszuwerden oder schnell zu entlassen. Wer leidet darunter? Die Menschen im System. Allen voran die Patientinnen und Patienten. Aber auch ganz massiv das Personal, das sich stets im Zwiespalt zwischen den eigenen Versorgungsansprüchen und der Realität befindet. Bunte Kittel weist auf diese Missstände im Gesundheitswesen hin. Bunt. Kreativ. Laut.

HW Wie kam der Name zustande?
LB  Uns ist wichtig, nicht nur eine Berufsgruppe zu vertreten, sondern wir wollen Sprachrohr aller Menschen sein, die unter den Bedingungen im Gesundheitswesen leiden. Im Krankenhaus werden viele verschiedene Farben getragen, insgesamt sind wir bunt. Unsere Kampagne startete im Jahr 2020 damit, dass wir uns jeden Donnerstag Bunte Kittel anzogen, um unseren Protest auch bei der Arbeit auszudrücken. Uns ist Diversität und Inklusion ein Anliegen. Wir sind eine Kampagne, die für alle Stimmen offen ist, außer für antidemokratische Positionen von rechts. Auch das wollen wir mit unserem Namen ausdrücken.

HW In Ihrem Papier „Mit einer Stimme. Gesundheitspolitik für Berlin“ legen Sie ja nicht nur für die Hauptstadt den Finger in die Wunde. Ihre wohl wichtigste allgemeine Forderung ist eine passgenaue Patientenversorgung ohne Profitdruck. Wo spüren Sie persönlich diesen Druck bei Ihrer täglichen Arbeit?
LB  Ein Krankenhaus kann in unserem Gesundheitssystem nur überleben, wenn es versucht, mit jedem Fall, das heißt mit jeder Patientin und jedem Patienten, Geld zu verdienen. Zu glauben, dass sich ein solch systematischer Druck nicht auf die Versorgung auswirkt, ist naiv. Finanzielle Erwägungen beeinflussen Indikationsstellungen, die Dauer des Aufenthalts und die Art und Weise, wie wir Diagnosen dokumentieren.

Ohne Frage ist es auch im Gesundheitssystem wichtig, mit den verfügbaren Ressourcen verantwortungsvoll zu wirtschaften. Das DRG-System, unser aktuelles Vergütungssystem, setzt jedoch gegenteilige Anreize. Aufwendige apparative und technische Untersuchungen und Prozeduren sind lukrativ für ein Krankenhaus und werden daher häufiger durchgeführt, was die Gesamtkosten des Systems in die Höhe treibt. Finanziell uninteressant für ein Krankenhaus sind Gespräche mit den Patientinnen und Patienten, in denen wir Diagnose und Therapieoptionen erläutern und gegeneinander abwägen sowie auf Sorgen und Fragen, auch von Angehörigen, eingehen. Präventive Maßnahmen, wie die Unterstützung bei gesunder Ernährung oder Rauchverzicht, sind für das System ebenfalls nicht von Interesse.

HW Mussten Sie schon oft Entscheidungen treffen, die ohne Profitdruck vielleicht ganz anders ausgefallen wären, also mehr orientiert am Patientenwohl?
LB  Viele Menschen, die in der Krankenpflege, in therapeutischen Berufen oder als Ärztinnen und Ärzte arbeiten, tun dies aus der Motivation heraus, Menschen zu helfen. Wenn es in einem System keine finanziellen Anreize für eine menschliche Behandlung gibt, dann heißt das nicht, dass sie nicht stattfindet. Jedoch ist es ein ständiges Dilemma, in dem wir uns befinden. Mehr Zuwendung bedeutet meist, dass andere Aufgaben zu kurz kommen oder dass man länger bleiben muss, um allen Aufgaben gerecht zu werden. Viele opfern so ihre Freizeit auf, um ihren eigenen Ansprüchen an eine menschliche Behandlung gerecht zu werden. Das zermürbt auf Dauer. Das DRG-System besteht nun seit knapp 20 Jahren, und seine Auswirkungen manifestieren sich immer mehr. Bei der Besetzung von Posten für Chefärztinnen und -ärzten ist das betriebswirtschaftliche Denken und Handeln mittlerweile eine Grundvoraussetzung. Und von oben wird der Druck dann nach unten weitergegeben.

So sickert das profitorientierte Denken immer tiefer in die Versorgung ein. Persönlich versuche ich, dem so wenig wie möglich nachzugeben. Doch gerade bei der Indikationsstellung ist es in der Medizin nicht immer schwarz-weiß. Manchmal ist die Situation medizinisch eindeutig, und dann wird auch keine Ärztin oder kein Arzt aus Profitgründen anders entscheiden. Jedoch gibt es oft einen Graubereich, und zwei oder mehrere Wege sind vertretbar. Und wenn es einen systematischen Anreiz gibt, sich im Zweifel für die lukrativere Behandlungsoption zu entscheiden, dann gibt es auch immer wieder Fälle, in denen dieses Argument das Zünglein an der Waage ist.

HW Wenn Sie für Berlin kiezspezifische Versorgungsangebote haben wollen, woran denken Sie da zum Beispiel?
LB  Gesundheitliche Probleme sind in den seltensten Fällen rein mechanischer Natur, sodass nach einer „Reparatur“ der erkrankten Struktur alle Probleme gelöst sind. Wir begegnen häufig Problemen auf verschiedenen Ebenen, der körperlichen, der psychischen, der sozialen Ebene. Eine am Menschen orientierte Gesundheitsversorgung nimmt alle diese Ebenen in den Blick. Dabei ist die Vernetzung zwischen den Behandlern entscheidend. Es gibt in Berlin und anderen Städten Deutschlands einige Modellprojekte von multiprofessionellen Gesundheitszentren, die stadtteilorientiert und gesundheitsfördernd arbeiten. Bei der Realisierung solcher Einrichtungen gibt es unter der aktuellen Gesetzgebung noch große Hürden, zum Beispiel bei der Finanzierung. Während derartige Projekte sich unter den bestehenden Regularien nur langsam entwickeln können, werden in Deutschland zunehmend Medizinische Versorgungszentren von profitorientierten Konzernen aufgekauft. Ein als Wirtschaftssektor gedachtes Gesundheitswesen verfestigt sich auch im ambulanten Bereich weiter, mit allen beschriebenen Problemen für die am Bedarf orientierte Gesundheitsversorgung. Für weitere Informationen zu diesem Thema empfehle ich die kürzlich herausgegebene Broschüre des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää) und des Vereins Demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP) über die ambulante Versorgung im deutsche Gesundheitswesen. Das ist hier abrufbar.

HW Ein Dauerärgernis ist, dass die Länder ihrer gesetzlichen Investitionspflicht nicht nachkommen. Wie wollen Sie den Berliner Senat nachdrücklich dazu zwingen?
LB  Die duale Krankenhausfinanzierung ist gesetzlich verankert. Wenn die Bundesländer dieser Verpflichtung nicht nachkommen, müssen wir als Kampagne die daraus resultierenden Missstände sichtbar machen. So haben wir im April gemeinsam mit der Berliner Klinikoffensive vor dem Abgeordnetenhaus für eine Anpassung der im Haushaltsentwurf viel zu knapp bemessenen Fördermittel für die Krankenhäuser an den tatsächlichen Bedarf demonstriert.

HW Sie bemängeln auch Medizinerknappheit und Pflegenotstand. Warum gab es hier über die Jahre keine entscheidenden Fortschritte und wo würden Sie jetzt ansetzen?
LB  Der Pflegeberuf ist eine hoch anspruchsvolle und komplexe Aufgabe. Wenn aufgrund von Personalmangel zu wenige Pflegekräfte pro Patientin oder Patient eingesetzt sind, folgt daraus nachgewiesenermaßen eine erhöhte Sterblichkeit. Aber auch die körperliche und emotionale Belastung für die Pflegekräfte selbst ist enorm. Einerseits wollen sie eine gute Versorgungsqualität und zugewandte Pflege leisten, können aber andererseits oft aus Zeitgründen den eigenen Ansprüchen nicht genügen. Sie fühlen ihre eigene Unzulänglichkeit, wenn sie Aufgaben nicht erledigen konnten und an die nachfolgende Schicht übergeben mussten. Sie wissen, dass ungeplante Ereignisse wie medizinische Notfälle oder krankheitsbedingte Personalausfälle das überfrachtete System zum Kollabieren bringen. Diese Faktoren machen einen Beruf extrem belastend, den viele Pflegekräfte eigentlich als sehr schön und sinnstiftend empfinden. Hinzu kommt die Belastung durch die Schichtarbeit und die ständige Gefahr, aufgrund eines Ausfalls in der Freizeit plötzlich einspringen zu müssen. Dass Pflegekräfte in Deutschland durchschnittlich nur noch sieben Jahre im Beruf verweilen, zeigt, wie unerträglich diese Zustände oft sind.

Um dem jetzt schon eklatanten Mangel an Pflegekräften entgegenzuwirken, müssen sich die Arbeitsbedingungen stark verbessern. Entlastungstarifverträge mit verbindlichen Vorgaben zur Personalbesetzung und einem Belastungsausgleich bei Unterbesetzung, wie sie zum Beispiel die Berliner Krankenhausbewegung erstreikt hat, sind ein wichtiger Schritt. Es bedarf jedoch zeitnah einer bundesweiten bedarfsgerechten gesetzlichen Personalbemessung, wie sie der Koalitionsvertrag mit der Pflegepersonalregelung 2.0 (PPR 2.0) in Aussicht gestellt hat. Wir befürworten eine strukturierte Eingliederung und Ausbildung von zugewanderten Pflegekräften. Hingegen lehnen wir es ab, Menschen aus ökonomisch schlechter gestellten Regionen der Welt gezielt abzuwerben. Dieser Praxis liegt die Strategie zugrunde, Personallücken in der Krankenpflege mit Menschen zu füllen, die aus einer ökonomischen Zwangslage heraus bereit sind, unter diesen Umständen noch zu arbeiten, anstatt die den Pflegemangel hervorrufenden Arbeitsbedingungen zu verbessern.

HW Wie oft haben Sie schon konkret beobachtet, dass der Personalmangel entweder fürs Personal selbst oder in der Patientenversorgung wirklich gefährlich geworden ist?
LB  Während meiner Arbeit im Krankenhaus sind mir Fälle begegnet, bei denen aufgrund von Personalmangel schwere medizinische Notfälle nicht schnell genug erkannt und behandelt wurden. Viel häufiger als solche dramatischen, aber seltenen Ereignisse sind jedoch die täglich erlebten zwischenmenschlichen Katastrophen: angespanntes Personal, das nicht ausreichend auf Nöte, Sorgen und Informationsbedürfnis der Patientinnen und Patienten eingehen kann, unterbrochene oder kurz angebundene Visitengespräche und abgespeiste Angehörige.

HW Wie realistisch ist Ihr Wunsch nach einem klimaneutralen Gesundheitswesen bis 2030, bedenkt man, dass gerade die Krankenhäuser extrem energieintensiv arbeiten?
LB  Als relevanter Erzeuger von klimaschädlichen Emissionen muss das Gesundheitswesen klimaneutral werden. Anderenfalls gefährdet die Gesundheitsversorgung von heute die Gesundheit zukünftiger Generationen. Wie realistisch das ist, ist in erster Linie eine organisatorische Frage und hängt maßgeblich davon ab, welche Priorität wir dem Thema einräumen. Bunte Kittel kritisiert, dass unter den ökonomischen Zwängen, die das DRG-System erzeugt, das Thema Klimaschutz im Krankenhaus bislang kaum Beachtung findet.

HW Sie wollen in den Kliniken mehr saisonale und regionale Kost mit reduziertem Fleischanteil. Wenn ich Sie unterstütze, muss ich dann damit rechnen, in einer Berliner Klinik als Patient künftig keine „richtigen“ Bouletten mehr zu bekommen?
LB  Durch unsere Ernährung bestimmen wir maßgeblich die individuelle Gesundheit und auch die Gesundheit unseres Planeten. Glücklicherweise ist genau die Art der Ernährung für den Menschen die gesündeste, die sich auch am schonendsten auf unser Klima auswirkt: frisch zubereitete und somit wenig vorverarbeitete Nahrungsmittel aus regionalem Anbau, reich an pflanzlichen Proteinen und Fetten, mit einem hohen Anteil an Ballaststoffen und einem reduzierten Anteil tierischer Produkte. In deutschen Krankenhäusern werden unterdessen weit weniger als fünf Euro pro Patient und Tag für die Ernährung ausgegeben. Das Resultat fällt entsprechend aus. Wir von Bunte Kittel finden, dass Krankenhäuser ihre Patientinnen und Patienten mit leckerer regionaler Küche beim Gesundwerden unterstützen sollten – und Sie als Boulettenliebhaber am Ende des stationären Aufenthalts mit neuen Ernährungsinspirationen nach Hause gehen.

Wannenwetsch H: „Das profitorientierte Denken sickert immer tiefer in die Versorgung ein“. Passion Chirurgie. 2023 Januar/Februar; 13(01/02): Artikel 05_02.

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