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Editorial: Chronische Wunden

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Wunden und ihre Behandlung sind seit jeher eine Kernaufgabe der Chirurgen. Während das für frische, verletzungsbedingte Wunden unwidersprochen ist, gehören chronische Wunden mittlerweile auch zum Betätigungsfeld anderer ärztlicher und nichtärztlicher Berufsgruppen. Das liegt daran, dass chronische Wunden Folgen einer „inneren“ Krankheit sind und damit Folgen unterschiedlichster Erkrankungen. Die überwiegende Mehrzahl ist vaskulärer Genese.

Die Diagnostik dieser Erkrankungen ist zu einem erheblichen Teil keine primärchirurgische Aufgabe und auch die Therapie, sofern sie nicht operativ ist. Der Artikel Update der Krankheitslehre fasst die wesentlichen bekannten Fakten wie Definition, Ätiologie, Kofaktoren, Diagnostik, Therapie und Rezidivprophylaxe chronischer Wunden kurz zusammen.

Welche Rolle den Chirurgen bei der sektorenübergreifenden und interdisziplinären Versorgung chronischer Wunden zukommt, wird aus den Beiträgen von Riedel (Die Kluft überwinden – sektorenübergreifende und interdisziplinäre Versorgung chronischer Wunden) sowie Engels und Hochlenert (Netzwerke Diabetischer Fuß – die Entwicklung in zehn Jahren mit Selektivverträgen) deutlich. Dass die interdisziplinäre Kooperation verbunden mit strukturellen Voraussetzungen tatsächlich eine echte Verbesserung der Ergebnisse erbringt, die sich in der dauerhaften Absenkung der Amputationsrate niederschlägt, belegen die Netzwerke Diabetischer Fuß in eindrucksvoller Weise. Ein wesentlicher Grund für diese Ergebnisverbesserung ist in der konsequenten Gefäßdiagnostik und -therapie zu sehen. Welche Schlussfolgerungen für die arterielle Verschlusskrankheit bei der Behandlung chronischer Wunden zu ziehen sind, ergibt sich aus dem Beitrag von Tigges (Klassifikation chronischer Wunden unter Einbeziehung der pAVK – klinische Schlussfolgerungen). Schließlich zeigt de Roche was der Störfall Dekubitus für den engagierten plastischen Chirurgen bedeutet und wie die Behandlung erfolgt.

Da die Abheilzeiten chronischer Wunden im Vergleich zur ungestörten physiologischen Wundheilung erheblich verlängert sind und in der Regel nicht mit einer kurzzeitigen (operativen) Intervention beendet sind, kommt der richtigen Wund-Pflege bzw. dem Verwalten des Wund-Heilungsvorgangs – umgangssprachlich als „Wundmanagement“ bezeichnet – eine besondere Bedeutung zu. Die Delegation bestimmter Aufgaben bei der Wundbehandlung an qualifizierte Pflegekräfte ist daher notwendig und wird von der Berufsgruppe der pflegerischen Wundexperten mit professioneller Kraft betrieben. Diese interprofessionelle Kooperation wird ergänzt durch Physiotherapeuten, Podologen, und Orthopädietechniker, deren Tätigkeit besonders bei der Rezidivprophylaxe wichtig ist.

Es tut sich was zum Positiven – das ist die Interpretation des BVMed einer neuen Untersuchung, die die Prävalenz chronischer Wunden aus Kassendaten bestimmt. Ob mit dieser Studie die gezogene Schlussfolgerung gerechtfertigt ist, dass „Moderne Wundversorgung hilft, Patienten vor chronischen Wunden zu bewahren“, wird der kritischen Würdigung des Lesers nach Kenntnis aller Beiträge überlassen.

Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre dieser Ausgabe der Passion Chirurgie.

Ihr Walter Wetzel-Roth

Wetzel-Roth W. Editorial: Chronische Wunden. Passion Chirurgie. 2016 Juni; 6(06): Artikel 01.

Kommentar zum Artikel „Moderne Wundversorgung hilft, Patienten vor chronischen Wunden zu bewahren“

 

Der BVMed überrascht in dem Artikel mit zwei Thesen:

In Deutschland leiden deutlich weniger Patienten an chronischen Wunden als bisher angenommen wurde.

Moderne Wundversorgung hilft, Patienten vor chronischen Wunden zu bewahren und in rund zwei Dritteln aller Fälle können Patienten mit wundrelevanten Diagnosen vor einem chronischen Verlauf bewahrt werden.

Artikel „Moderne Wundversorgung hilft, Patienten vor chronischen Wunden zu bewahren“ (Passion Chirurgie 06/2016).

Gestützt werden diese zwei Thesen auf eine durch den BVMed in Auftrag gegebene Untersuchung. Es handelt sich um eine Sekundärdatenanalyse von KV- und Kassendaten – ambulant und stationär behandelter Patienten – durch die Forschungsgruppe Primärmedizinische Versorgung (PMV) an der Universität Köln. Von 19 Prozent der Versicherten der AOK Hessen wurde eine Hochrechnung auf die gesamte Bundesrepublik vorgenommen.

Um die Aussagen besser zu verstehen, ist es sinnvoll, sich die Untersuchung genauer anzuschauen.

Grundsätzlich ist gegen die Untersuchung aus Kassen-und/oder KV-Daten nichts einzuwenden. Es muss aber bezweifelt werden, dass die valide sind. Skepsis ist angebracht, da hinlänglich bekannt ist, dass die Kodierqualität Mängel aufweist. Erschwerend gibt es bei den Wund-Entitäten Ulcus cruris, Dekubitus, Diabetisches Fußsyndrom, postoperative und Wundheilungsstörungen bei malignen Erkrankungen im ICD verschiedene Kodes, die zur Anwendung kommen. Das alleine kann die Ergebnisse verzerren.

Die Studienautoren haben diese Problematik erkannt und sich erkennbar sehr viel Mühe gegeben, mögliche Verzerrungen durch den Einschluss aller möglichen relevanten ICD-Kodes auszuschließen. Auch wurde erkannt, dass arterielle Durchblutungsstörungen sowohl in das Ulkus cruris und den Diabetischen Fuß fallen können. Entsprechende Kodes wurden hier erfasst.

Trotzdem fehlen wundrelevante Kodes. Auch wenn diese Diagnosen zahlenmäßig nicht besonders „ins Gewicht fallen“ dürften, sind:

das Mal perforans bes. bei Diabetischem Fuß,

rheumatische Diagnosen,

Hypertonie (Martorellulcus)

und die Chemotherapie bei anderen Erkrankungenzu nennen.

Die Definition, „zwei wundrelevante Leistungen oder Verordnungen, die dokumentiert mindestens acht Wochen auseinanderliegen müssen“ ist unter dem Definitionskriterium „acht Wochen nicht heilende Wunde“ zwar nachvollziehbar, aber keineswegs richtig, da nicht erfasst wird, wie lange die Patienten vor der Erstdiagnose schon erkrankt sind. Außerdem ist eine Definition der chronischen Wunde ausschließlich über den Zeitraum per se falsch.

Weitaus gravierender ist die Tatsache, dass die wesentlichen Kausaltherapien und sonstige Behandlungen nicht erfasst und dargestellt werden.

Zwar werden Maßnahmen der Kompressionstherapie, für die es keinen OPS gibt, über ambulante Verordnungen erfasst. Aber die Maßnahmen zur arteriellen Durchblutungsverbesserung sind nicht erfasst. Die statistischen Bundesdaten weisen in den letzten Jahren eine deutliche und stete Zunahme der Gefäßinterventionen (OPS 8-836 ff) auf, bei nur geringfügigem Rückgang der offenen Revaskularisationen (OPS 5-38ff, 5-39ff). Auch die Hybrideingriffe (5-98.a), die in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben, werden nicht aufgeführt.

So ist durchaus denkbar, dass ein Teil der Wunden bei diabetischem Fußsyndrom innerhalb der acht Wochen abheilt, weil eine Revaskularisationsmaßnahme erfolgt ist.

Das ist durchaus auch beim Ulcus cruris denkbar. Damit würden diese Ulcera und Gangräne aus der Statistik wegfallen, obwohl sie chronische Wunden sind.

Gleiches wie für die Revaskularisation gilt für plastisch rekonstruktiven Gewebeersatz, der offenbar nicht berücksichtigt wurde. So würden Patienten mit einer Wunde fälschlicherweise als nicht chronifiziert eingeschätzt, die im Beobachtungszeitraum eine Wunddiagnose erhalten und unter einem Zeitraum von acht Wochen per plastisch rekonstruktivem Gewebeersatz therapiert wurden.

Als wundspezifische Therapien wurden lokal-topische Therapeutika, Wundauflagen und das operative Debridement erfasst. Verzerrend ist die Tatsache, dass Verordnungen über Sprechstundenbedarfsrezepte (weil nicht einem einzelnen Patienten zuordenbar) nicht berücksichtigt wurden.

Die übrigen Auswertungen, besonders was die Altersverteilung und Pflegebedürftigkeit, die Verteilung der Diagnosestellenden Ärzte und Schlussfolgerungen der Studienautoren der PMV betrifft, erscheinen kritikfrei.

Die Aussage des BVMed, dass in Deutschland deutlich weniger Patienten an chronischen Wunden leiden als bisher angenommen wurde, geht weder aus der Studie hervor, noch erscheint sie richtig.

Zum einen werden nicht alle Menschen mit chronischen Wunden auch behandelt und zum anderen gibt es bisher keine wirklich validen Daten, lediglich Schätzungen, die sich in Deutschland in der Höhe von 1,5 (-4) Mio. Patienten bewegten. Frühere Daten gingen von einer Prävalenz von 1,5 Prozent der Menschen in Europa, den USA und Japan aus. Diese Schätzungen werden durch die vorliegende Studie nicht widerlegt.

Die jetzige Studie spricht von einer Prävalenz von 1,1 Prozent tatsächlicher und 3,3 Prozent potentieller chronischer Wunden. Das Ergebnis ist auch abhängig von der Definition der chronischen Wunde und dem Messzeitpunkt acht Wochen.

Dass die Verordnung hydroaktiver Wundauflagen chronifizierte Verläufe verhindere, was der BVMed als Rückschluss in dieses Ergebnis hineininterpretiert, wird von den Studienautoren nicht formuliert und erscheint absolut spekulativ.

Welche Verbandstoffe bei welcher Erkrankung und in welcher Wundphase verordnet wurden geht aus der Studie jedenfalls nicht hervor. Im Umkehrschluss würde das bedeuten, es wäre unerheblich, welche Produkte angewendet werden würden. Nun werden aber Verbandstoffe mit völlig unterschiedlichen Eigenschaften den hydroaktiven Wundauflagen zugerechnet.

Dass bei nur 86 Prozent der Patienten Verbandstoffe verordnet wurden, würde bedeuten, dass 14 Prozent der Patienten keinen Verband erhalten hätten, oder Selbstversorger wären. Diese 14 Prozent verzerren die Aussage erneut.

Und zu guter Letzt: die Behandlung chronischer Wunden wird wieder einmal ausschließlich auf die Versorgung mit Wundauflagen reduziert. Auch das ist falsch. Doch wie schreibt der BVMed so schön: „Die Ergebnisse der PMV-Studie sind dann wertvoll, wenn sie nicht vordergründig der akademischen Diskussion dienen, sondern helfen, den praktischen Versorgungsalltag zu verbessern.“

Wetzel-Roth W. Kommentar zum Artikel „Moderne Wundversorgung hilft, Patienten vor chronischen Wunden zu bewahren“. 2016 Juni, 6(06): 
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