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CME-Artikel: Rückenschmerzen – Interventionelle Schmerztherapie

Der scheinbar aus dem Nichts entstehende Rückenschmerz, unterhalb des Rippenbogens und oberhalb der Gesäßfalten, mit oder ohne Ausstrahlung, umfasst in der Regel gleichzeitig unterschiedlich ausgeprägte, somatische, psychische und soziale Komponenten.

Über 80 Prozent der Menschen leiden mindestens einmal in ihrem Leben an Schmerzen im Kreuz, Frauen häufiger – jede vierte Frau und jeder sechste Mann. 90 Prozent aller akuten Rückenschmerzen sind nach sechs Wochen verschwunden, trotzdem ist die Belastung für den Einzelnen direkt oder indirekt im Ereigniszeitraum enorm. Für unsere Sozialsysteme ist dieser Umstand personell und finanziell sehr anspruchsvoll.

Wir unterscheiden akute (weniger als sechs Wochen), subakute (sechs bis 12 Wochen) und chronische (länger als 12 Wochen) sowie rezidivierende Kreuzschmerzen – diese treten nach einer Beschwerdefreiheit von sechs Monaten wieder auf.

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Die Komplexität dieser Erkrankung verlangt, obwohl oft nur ein temporäres Ereignis, eine ganzheitliche Betrachtung, besonders unter dem Aspekt des Erkennens von „Red Flags“, bewusst der Tatsache, dass diese extrem selten sind. Eine primäre singuläre Ausrichtung auf ein Organsystem ist demzufolge nicht zielführend und führt sehr häufig in eine total andere, falsche Richtung.

An die „Red Flags“, Bandscheibenvorfälle, Spinalkanalstenosen, entzündliche Kreuzschmerzen, Osteoporose, Frakturen, Infektionen, Tumore, Spondylolisthesen, unklare Fieberschübe etc. muss gedacht werden und sie können sich hinter einer banal vorgetragenen Anamnese verbergen.

Auch begleitende Nacken-Kopfschmerzen einschließlich der Migräne, Erschöpfung, Schlafstörungen, Depressionen, Angst- sowie Belastungsstörungen werden vom Patienten gelegentlich benannt und haben individuell, in der Art und Weise des Anamnesegesprächs, unter Umständen oberste Priorität. Bei einer schweren Depression oder schweren Angststörung muss sich die Behandlungsstrategie diesem scheinbar fernen Symptomenkomplex anpassen.

Eine körperliche Untersuchung (möglichst neuro-orthopädisch) und entsprechend der Zuordnung des Beschwerdebilds gegebenenfalls eine adäquate Bildgebung – im Einzelfall auch kombiniert mit einer elektroneurophysiologischen Untersuchung – ist Standard.

Psychosoziale Faktoren, Depressionen, Somatisationstendenzen, Stress, kognitive Auffälligkeiten, Angststörungen, posttraumatische Verarbeitungsstörungen etc. die „Yellow Flags“, zeigen oft, wie auch arbeitsbedingte psychische und körperliche Belastungen, „Blue Flags“, den vollzogenen oder den Weg in eine Chronifizierung.

Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist eine Zusammenarbeit zwischen Hausarzt, Orthopäden, Neurochirurgen und Neurologen bei komplizierten Vorgängen wünschenswert. Als Ziel der ärztlichen Tätigkeit, und hier dürfen die assistierenden Fachgebiete wie Psychologie, Physiotherapie, Ergotherapie etc. nicht vernachlässigt werden, steht die Identifikation des Schmerzgenerators an erster Stelle.

Risikoreiche Interventionen stehen immer an letzter Stelle der Kette von Behandlungsmöglichkeiten, die sich von Jahr zu Jahr mehren und in neuen bunten Gewändern, oft aber auch mit einer neuen Idee zum Vorteil des Patienten uns in die Hand gegeben werden.

Entscheidend ist die Zuordnung des Krankheitsbilds und dem folgend die Auswahl einer adäquaten Behandlungsstrategie, die zu 70 Prozent mindestens das Problem des Patienten lösen sollte und eine Risikobelastung, die weitestgehend gegen null geht.

Untersuchung

Grundsätzlich gilt: Finden sich beim Erstkontakt keine Hinweise auf eine ernstzunehmende Pathologie, ist eine erweiterte Diagnostik nicht nötig und von einer Heilung auszugehen.

Die unteren Abschnitte der Hals und Lendenwirbelsäule sind besonders betroffen. Körperliche auch psychosoziale Belastungen, natürlich in Abhängigkeit vom Alter, angeborene Handicaps, berufliche oder auch sportliche Expositionen, werden als Ursache am häufigsten benannt.

Ausstrahlende Beschwerden in den Kopf, aber auch besonders in die Nacken-Schulter-Arm-Region, beziehungsweise lumbal in Richtung des sakralen Übergangs, unter Einbeziehung des Iliosakralgelenks (ISG), der Hüfte, des Unterbauchs, komplizieren in einem hohen Maße dieses Krankheitsbild.

Da diese Beschwerden vom Patienten in einer unregelmäßig starken Ausprägung der Symptome, in unterschiedlichen Situationen und Lebensumständen wahrgenommen werden, ist die Frage „Wie würden Sie Ihre Beschwerden charakterisieren, was führt Sie zu uns?“ richtig, aber für den Patienten ausgesprochen schwierig stringent zu beantworten. Aus diesem Grund ist ein Anamnesefragebogen, der auf der Wartefläche beantwortet werden sollte, vorteilhaft.

Ob der Patient diesen Fragebogen ausfüllt oder nicht, ist zweitrangig, führt aber in jedem Fall dazu, dass er sich, während der Vorbereitung auf den Arztkontakt, mit seinen Problemen zeitnah noch einmal vertraut macht und diese intern zu den verschiedensten Ebenen seines Lebens (Grunderkrankungen, extreme Arbeitsbelastung, Unfälle, psychische Belastungsfaktoren…) zuordnet. Dass sich anschließende Arzt-Patienten-Gespräch, gestaltet sich deutlich einfacher.

In der Kommunikation ist zu beachten, dass bei der Darstellung der „Volkskrankheit“ Rückenschmerz, bestimmte populärwissenschaftliche Begriffe seitens des Patienten einfließen, die verwirren können und nicht korrekt sind. Erwähnt sei hier nur der Hexenschuss, die Lumbalgie, der Ischias oder der Lendenschmerz etc. Auch regionale sprachliche Unterschiede müssen hier unbedingt beachtet werden.

Schädigungen am peripheren beziehungsweise auch am zentralen Nervensystem führen zu einer entsprechenden neurologischen Symptomatik, die oft eine topografische Zuordnung gestatten.

Eine andere Dimension kommt einem chronifizierten Rückenschmerz zu, der durch sämtliche Facetten einer psychischen Begleitsymptomatik auffällt.

Die klinische Untersuchung erfolgt am Patienten, der bis auf die Unterwäsche entkleidet ist. Das Muskelrelief, die Muskelspannung und ihre Funktion sowie die Haltung beim Gehen, Stehen und Sitzen müssen Beachtung finden. Die Tatsache, dass der Mensch ab dem 30. Lebensjahr jeweils über zehn Jahre zehn Kilo Muskelmasse ohne sportliche Aktivität verliert, führt zu einem altersspezifischen Aussehen und Dynamik/Passivität. Ein ausbalanciertes Gehen und Stehen ist dann oft nicht mehr möglich. Die prävertebrale Muskulatur im Trio der Wirbelsäulen-ausbalancierenden Muskelgruppen (Bauchdecke, prävertebrale Muskulatur und die gerade Rückenmuskulatur) dominiert funktionell, sodass der Mensch nach vorn gebeugt seinem Schwerpunkt hinterherläuft.

Die Statik der Wirbelsäule in Ruhe und in der aktiven und bewusst geführten Bewegung gibt uns Informationen zur Balance bzw. Dysbalance unseres aufrechten, zweibeinigen Ganges. Zwingend ist unmittelbar beim Erstkontakt die Beurteilung der muskulär-nervalen Funktion. Sofern es hier Ausfälle gibt, ist eine umgehende Abklärung ohne Zeitverlust unausweichlich.

Therapieoptionen

Beim unkomplizierten Rückenschmerz steht die Einflussnahme des Arztes über die Erklärung der Beschwerdeursachen, der Therapieoptionen und über die Prognose für den Patienten im Vordergrund. Von einem positiven Ergebnis ist auszugehen.

Ist dies nicht der Fall, sollte interdisziplinär, bildgestützt der Symptomenkomplex beurteilt werden. Hier gilt es eine Besonderheit zu beachten: nämlich dass die Kollegen der bildgebenden Seite, oft ohne die klinische Symptomatik weiterzugeben, die gesamten Befunde, die sich digital auf dem Bildschirm darstellen, interpretieren, d. h. auch die normale Anatomie wird beschrieben. Dies kann dazu führen, dass Normvarianten, z. B. altersbedingte Veränderungen etc. in der Hand des Patienten und von ihm gelesen, einen Krankheitswert zugeschrieben bekommen, der an sich nicht besteht.

Abb. 1: Orientierende Darstellung einer Facetteninjektion und PRT

Es ist für den Behandler zwingend nötig, dass er die bildgebende Seite (MRT, CT, Röntgen) unter dem Aspekt der Klinik/Anatomie, so es möglich ist, auch schon unter Beachtung einer allumfassenden therapeutischen Möglichkeit, beurteilt. Die Beschreibung des Bildes muss deckungsgleich zu der des Radiologen sein, jedoch mit einer entsprechenden klinischen/therapeutischen kritischen Wertung.

Was passiert mit der Wirbelsäule im Verlauf des Lebens im Sinne einer vom Menschen verspürten Befindlichkeitsstörung, beziehungsweise Erkrankung? Von dem Verlust an Muskelmasse, zehn Prozent über zehn Jahre ab dem 30. Lebensjahr, haben wir schon erfahren. Weiterhin ist es so, dass die Reduktion an Elastizität des Faserrings der Bandscheibe mit weitestgehend selbstheilenden radiären und zirkulären Rissen sowie Wasserverlust des Gallertkerns zu einer „Sinterung“ des gesamten Segments nach Junghanns führt. Der Mensch wird kleiner – vier Millimeter pro Segment sind möglich. Sind die anatomischen Räume für diesen physiologischen Prozess ausreichend, ist die Folge eine funktionell zu korrigierende Bewegungseinschränkung.

Anders verhält es sich bei Einengungen der Neuroforamen und des Spinalkanals, auch durch knöcherne Anbauten der Wirbelkörper/-gelenke oder Discosen sowie durch Einschränkungen der Wirbelgelenkfunktion. Lumbalgie, Ischialgien oder Lumboischialgien mit oder ohne neurologische Symptome sind die Folge.

Die somatische Seite

Die beschriebenen Veränderungen müssen sich anamnestisch, klinisch und auf der bildgebenden Seite zuordnen lassen. Ist dann der Schmerzgenerator – oder auch mehrere – mit relativer Sicherheit dargestellt und ist die Therapiepalette umfänglich bekannt und wird beherrscht, kann die Indikation zur einer mindestens 70-prozentigen erfolgversprechenden Behandlung indiziert werden.

Abb. 2: Beispiel einer Facetteninjektion am Modell

Die begleitenden ambulanten oder stationären, funktionellen Behandlungen, wie auch die Psyche stabilisierende Therapieformen, sollen hier als bedeutsam benannt, aber nicht weiter beschrieben werden.

Perkutane Therapieverfahren wären (nur die Wichtigsten) die Injektionen von schmerz- und entzündungshemmenden Substanzen an den Schmerzausgangspunkt, an das Wirbelgelenk, in die Bandscheibe, an die Wirbelsäule-stabilisierenden Bänder, das Iliosakralgelenk, in den Spinalkanal und an den Spinalnerven.

Perkutane ergänzende denervierende Verfahren wären die Radiofrequenztechnik bzw. kryothermische Verfahren.

Die offenen operativen Eingriffe wären (nur die Wichtigsten) Nukleotomie, Dekom­pressionsverfahren, Spondylodese, Bandschei­benprothetik.

Perkutane Verfahren, besser als interventionelle Therapien bezeichnet, sind zu favorisieren, da die Ergebnisse ausgesprochen positiv, bei einer überschaubaren Risikobelastung und auch relativ geringen Kosten, sind. Als routinemäßiges Verfahren ist es seit 30 bis 40 Jahren in der Anwendung.

Die Komplexität der anatomischen Schädigungsmöglichkeit stellt sehr hohe Ansprüche während der klinischen Untersuchung an den Therapeuten. Oft ist der Schmerzgenerator nur verschwommen zu erkennen – gibt es vielleicht mehrere Schmerzgeneratoren? Haben wir hier eine Somatisierungsstörung?

Die interventionelle Schmerztherapie bietet hier neben der therapeutischen Seite auch eine diagnostische. Es werden Medikamente an den vermeintlichen Generator (Ort der Schmerzentstehung) injiziert oder später dieser – so nötig – mittels einer hohen elektrischen Frequenz oder Kälte dauerhaft ausgeschaltet. Geht es dem Patienten nach der Injektion gut, wird dieses Therapiekonzept weitergeführt, oder wir müssen in Richtung OP denken.

Bei der zu favorisierenden interventionellen Therapie ist die Kanülenplatzierung an den Ort der Schmerzentstehung unter Sicht zwingend.

Zum Einsatz kommen meist Röntgenstrahlen in der Verwendung eines Durchleuchtungsgeräts oder auch eine Computertomografie (CT).

Abb. 3: Wirbelgelenkinnervation (a. N. spinalis, b. Ramus anterior, c. Ramus posterior, d. Ramus lateralis, e. Ramus medialis)

Ziel ist es, mit einer geringen Menge eines Anästhetikums, oft in Kombination mit einem Kortisonpräparat, die alterierte anatomische Struktur seitens der Schmerzgenerierung auszuschalten und antientzündlich positiv zu beeinflussen.

Die Strukturen, die den Rücken-/Beinschmerz dominierend auslösen, sind die Wirbelgelenke. Dort sind neuroforaminale, spinale Engen unterschiedlichster Causa zu betrachten. Die Behandlung erfolgt in der Regel ambulant. Das Ziel einer mindestens 70-prozentigen Besserung der Symptomatik wird bei über 95 Prozent der Patienten erreicht. Eine Operation wird damit verhindert.

Unter Beachtung der Erfolgsaussicht und der Häufigkeit stehen die transforaminale (periradilkuläre) Injektion, die direkte Fazetteninjektion sowie die Injektion an die Äste des Ramus dorsalis (medialer, lateraler Ast) im Zentrum der interventionellen Therapie bei Lumboischialgien.

Die transforaminale, periradikuläre Technik ist bei radikulären Beschwerden zu favorisieren. Der pathophysiologische Hintergrund ist die Einflussnahme der Medikamente auf die durch Kompression ödematisierte Radix, besonders im anterioren Bereich.

Die zu erwartende Abschwellung der Wurzel über die Zeit und unter Umständen gefolgt von einer „biologischen“ Dehydration eines Bandscheibenvorfalls, so dieser durch den Nukleus pulposus definiert wird, lässt ein positives Ergebnis erwarten. Ein gallertig strukturierter Bandscheibensequester kann bei einer MRT-Kontrolle dann durchaus verschwunden sein.

Die Folge von Discosen oder Instabilitäten der Wirbelsäule führt zur enormen Belastung der Wirbelgelenke und ihrer Gelenkflächen, die als „Schiebegelenke“ entzündungsähnlich reagieren. Die Injektion in das einzelne Gelenk oder an mehrere ist erfolgversprechend.

Ein wichtiger Aspekt ist hier der Umstand, dass die lumbalgieformen Beschwerden in ihrer Dramatik oft der Bildgebung nicht folgen. Beginnend mit sechs Injektionen in die unteren drei Segmentgelenke beidseits der Lendenwirbelsäule, im Sinne der diagnostischen Zuordnung der Rückenschmerzen, ist oft als Einstieg in dieses Prozedere nötig. Bei Erfolg ist eine Höhen- und Seitenlokalisation möglich.

Abb. 4: Injektionsziele bei der Schmerztherapie; Zielpunkte: a. Wirbelgelenk, b. Scotty Doc/Ramus Dorsalis, c. Nervus spinalis

Eine Injektion an die dorsalen Äste führt zur Anästhesie der betroffenen Wirbelgelenke und ist vom Handling ähnlich der Facetteninjektion. Sie bietet jedoch durch die Selektion des entsprechenden Nervenpaars die Möglichkeit, durch eine Läsion derselben, durch eine mikrochirurgisch geführte OP, durch eine Radiofrequenzläsion oder mittels einer Kryodenervation einen schmerzlindernden Effekt über eine längere Zeit zu erreichen. Oft ist eine Kombination der Verfahren empfehlenswert.

 

Dr. med. Roland Minda

BAG für Chirurgie/Unfallchirurgie/Orthopädie

Durchgangsarztpraxis
Lübecker Straße 32

39124 Magdeburg

info@orthospine-md.de

www.Orthospine-MD.de

Chirurgie

Minda R: CME-Artikel: Rückenschmerzen – interventionelle Schmerztherapie. Passion Chirurgie. 2023 Mai; 13(05): Artikel 03_01.

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Chirurginnen: Wann ist man Chirurgin?

Über falsche Mentoren, das Selbstwertgefühl und die unterstützende Gemeinschaft der Chirurginnen e.V.

Vor Jahren – ich war bereits Fachärztin für Urologie, hatte schon zwei, drei Jahre in der Viszeral-, Thorax- und Gefäß-Chirurgie gearbeitet, war bei Organentnahmen und Transplantationen aktiv beteiligt und hatte in der unfallchirurgischen Rotation schon gebrochene Knochen zusammengeschraubt – sagte ich in einem Gespräch mit einem sehr konservativen, weißen, älteren Chirurgen, den ich bis dato als Mentor betrachtete, den Satz „… ich bin Chirurgin.“ Seine Reaktion hätte vernichtender nicht sein können: „Nein, du bist keine Chirurgin. Du bist Assistenzärztin.“

Dieser Satz und das damit verbundene Gefühl brannte sich ein. In meine Seele, in meine Hände, in meinen Körper. Es nahm mir – auch aus Mangel an mich unterstützenden Weggefährt:innen – das Selbstbewusstsein und das Selbstbild, mich als Chirurgin zu sehen und mich so zu fühlen. Immer war ich das fleißige Bienchen auf Station, das alles wuppte, die internistische, die psychosomatische, die geriatrische und onkologische Begleitung der Patient:innen gleich mit. Auch ein Wechsel an eine andere Klinik half nicht. Ich operierte wenig und schrieb umso mehr Arztbriefe. Ich bastelte mir ein Kittelschild „Fachärztin für Visitenmedizin“ – aus Trotz. Doch letztlich hatte ich mich selbst dazu degradiert und war kurz davor alles hinzuschmeißen. Ich war keine Chirurgin. Ich fühlte es nicht.

Ich stand nicht oft auf dem OP-Plan. Ich bettelte und bat förmlich um OPs. Und wurde noch seltsam vorwurfsvoll angeschaut, wenn ich nach durchgearbeiteten Nächten im Rufdienst nicht noch blieb, um zu operieren. Du bist halt keine richtige Chirurgin, hallte es in meinem Kopf.

Ich trat den Chirurginnen e.V. bei und hatte ein schlechtes Gewissen. Ich gehöre doch gar nicht richtig dazu. Ich spiele doch mit dem Gedanken alles hinzuwerfen … Auf dem BDC-Facharztseminar scheute ich jeden Smalltalk mit den Seminarleitern, denn: Was hatte ich schon zu erzählen? Weder fühlte ich, dass ich Chirurgin bin, noch wusste ich, ob ich überhaupt Gefäßchirurgin sein wollte. Beim gemeinsamen Abendessen wechselte ich den ganzen Abend kein Wort mit dem Chefarzt neben mir.

Zwei erfahrene Chirurginnen, die ich über Die Chirurginnen e.V. kennengelernt hatte, waren mir geduldige Zuhörerinnen, stellten provokante Fragen und gaben ehrliche Antworten, die mir Mut machten.

Dann aktivierte ich unser Netzwerk für eine Patientin und durfte einen aus dem Netzwerk vermittelten Patienten in unserer damaligen Sprechstunde einplanen. Ich hatte das Gefühl dazuzugehören. Auch wenn ich doch eigentlich keine Chirurgin bin.

Das Gefühl konnte mir keiner geben. Ich musste es selbst fühlen. Aber es kann Initialzündungen geben. Und diese Zündung, die ich als Rehabilitation der Brandmarkung von damals empfand, kam unerwartet: Als ich eine „komplexe Notfallreko klug und technisch brilliant“ löste und mein damaliger Chef noch anfügte: „Sie sind Gefäßchirurgin.“ Noch bevor ich wenige Monate später zur Prüfung antrat. In der gleichen Nacht erkannte ich den rupturierten Carotispatch klinisch und sonografisch und stellte die Indikation zur sofortigen OP. Ich war mir meiner Diagnose sicher. In dieser Nacht fühlte ich endlich, dass ich Chirurgin bin. Und dazu noch Gefäßchirurgin. Auch wenn ich die Carotis nicht selbst revidierte. Ich habe all die Jahre durchgehalten, weil tief in mir drin die Chirurgin verborgen lag. Und nicht aufgab.

Also: Wann ist man Chirurgin?

Wenn Herz, Geist und Seele es fühlen. Wenn die Hände nach Skalpell und Pinzette verlangen und man sich plötzlich nichts anderes mehr vorstellen kann. Wenn man sich begeistert mit Kolleg:innen über mögliche OP-Verfahren austauscht. Wenn man aus dem Saal geht und sich innerlich über jeden Schnitt und jede Naht freut.

Dann ist man Chirurgin.

Dr. med. Astrid Stula

Fachärztin für Gefäßchirurgie und Urologie

Oberärztin Gefäßchirurgie in der Schön Klink Vogtareuth

astula@schoen-klinik.de

Chirurgie+

Stula A: Wann ist man Chirurgin? Passion Chirurgie. 2023 Mai; 13(05): Artikel 04_03.

Weitere Artikel zum Thema „Chirurginnen“ finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Karriere.

Abrechnung: Honorarberichte der KBV – Quartal 1–4/2021

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat nun auch das letzte Quartal 2021 des Berichts zur Honorarentwicklung im Vergleich zu den entsprechenden Vorjahreszeiträumen veröffentlicht.

Hier geht es zum Download:

Erstes Quartal 2021

Zweites Quartal 2021

Drittes Quartal 2021

Viertes Quartal 2021

Alle Honorarberichte der KBV – auch für die Vorjahre –, Kennzahlen der Abrechnungsgruppen, Fragen und Antworten zum Honorarbericht sowie grafische Darstellungen dazu finden Sie hier.

(Quelle: http://www.kbv.de/html/honorarbericht.php).

Der Honorarbericht und die Kennzahlen erscheinen quartalsweise. Das Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (VStG) überträgt der KBV die Aufgabe, einen Bericht über die Ergebnisse der Honorarverteilung, über die Gesamtvergütungen, über die Bereinigungssummen und über den Honorarumsatz je Arzt und je Arztgruppe zu veröffentlichen.

Kassenärztliche Bundesvereinigung KdöR (KBV)

Herbert-Lewin-Platz 2

10623 Berlin

Chirurgie+

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Kopfarbeit – Ein Gehirnchirurg über den schmalen Grat zwischen Leben und Tod

In seinem Buch „Kopfarbeit“ will Peter Vajkoczy seine Faszination für das Gehirn weitergeben und die Leidenschaft für die Neurochirurgie wecken, ein Fach, in dem noch so viele Fragen offen, so viele Zusammenhänge ungeklärt sind, das sich zugleich aber mit einer schier unglaublichen Rasanz weiterentwickelt.

Im Folgenden lesen Sie das Vorwort des Buches, das vielleicht Lust auf mehr macht.

Sie hatte schwere Symptome, Schwierigkeiten, sich zu bewegen; immer wieder traten Schwindelgefühle auf und zeitweise konnte sie nicht einmal mehr sprechen. Ein MRT ergab, dass die 35-jährige Singer-Songwriterin Pam Reynolds ein großes Aneurysma im Gehirn hatte. Ein Aneurysma ist eine krankhafte Aussackung einer Arterie, in diesem Fall einer besonders wichtigen, tief im Gehirn, nahe dem Hirnstamm. Es drückte auf andere sensible Bereiche, daher die Ausfallerscheinungen, und es drohte jederzeit zu platzen: Das wäre ihr sicherer Tod. Die Chance, eine Operation in dieser Region zu überleben, war gleich null.

Es gab eine winzig kleine Hoffnung, an die zu klammern in etwa so viel bedeutete, als würde man sich an einem Blatt, das an der Wasseroberfläche treibt, festhalten wollen, um sich vor dem Ertrinken zu retten, zumindest klang es nicht weniger abstrus: Hypothermic cardiac standstill, so die Fachbezeichnung. Eine extrem selten durchgeführte Operationstechnik. Man würde die Patientin in einen Zustand versetzen, in dem sie klinisch tot war, Herzstillstand durch Unterkühlung. Keine Atmung mehr, keine Hirnaktivität während des Eingriffs, kein Blut mehr im Gehirn – absoluter Stillstand. Nur unter diesen extremen Bedingungen könnte eine Operation gelingen. Pam Reynolds sollte sich also in den klinischen Tod versetzen lassen, um zu überleben – sofern man es denn schaffen würde, sie auch wieder ins Leben zurückzuholen. Falls ja, und falls die Operation gelingen sollte, gab es Hoffnung, wieder ein normales Leben führen zu können.

Das war 1991. Pam Reynolds hat sich an diesem Blatt festgehalten, und sie ging nicht unter. Ihr Fall machte noch aus einem anderen Grund weltweit Schlagzeilen. Nach der Operation berichtete sie von einer Nahtoderfahrung. Sie konnte zahlreiche Details von der Operation, von den Gesprächen im OP-Saal wahrheitsgetreu wiedergeben; sie konnte einzelne Instrumente beschreiben, die zum Einsatz gekommen waren. Doch all das hatte sich ereignet, als sie, permanent überwacht, ohne jegliche Hirnaktivität auf dem OP-Tisch lag – die Ohren verschlossen, die Augen abgedeckt. Eine spektakuläre, schier unglaubliche Geschichte, die die Frage, ob es so etwas wie eine Seele gibt, weiter befeuert hat. Eine schlüssige Erklärung für Reynolds’ Berichte gibt es bis heute nicht. Reynolds hat diesen Eingriff 20 Jahre ohne große Beeinträchtigungen überlebt.

Robert F. Spetzler hieß der Neurochirurg, der sich an diese Operation gewagt hatte. Es war nicht seine erste dieser Art. Als junger Neurochirurg las ich ein Buch über seine Arbeit am Barrow Neurological Institute in Phoenix, The Healing Blade hieß es, die heilende Klinge, und ich war absolut fasziniert. Das liegt nun deutlich mehr als 20 Jahre zurück. Damals gab es weltweit kaum eine Handvoll Ärzte, die diesen Eingriff wagten, und Spetzler war einer der Pioniere. Er hat die meisten Operationen dieser Art durchgeführt – mit den geringsten Todesraten. Spetzler wurde in einem Dorf bei Würzburg geboren und ist im Alter von elf Jahren Anfang der 1950er-Jahre mit seiner Familie in die USA ausgewandert. Er war ein guter Freund meines inzwischen verstorbenen früheren Chefs am Universitätsklinikum Mannheim. Über diesen Kontakt habe auch ich ihn später kennengelernt und einige Male in Phoenix besucht. Dort leitete er lange Zeit die Neurochirurgie am Barrow Neurological Institute, das als eine der weltweit größten Einrichtungen zur Erforschung und Behandlung neurologischer Krankheiten gilt. Mit den Jahren ist er auch für mich ein Freund und Mentor geworden, und wir halten noch immer Kontakt.

Heute werden keine Standstill-Operationen mehr durchgeführt. So hilfreich der Zustand bei der Operation sein mag, so schwierig ist er danach zu beherrschen. Die Aufwärm- und Aufwachphase war jedes Mal ein hochriskantes Vabanquespiel, das oft irreparable Schäden bei den Betroffenen hinterließ.

Wir verfügen in unseren modernen Operationssälen inzwischen über so ausgefeilte bildgebende Verfahren, computergesteuerte Techniken und neue, minimalinvasive Operationstechniken, dass wir ganz andere Möglichkeiten haben und auch ohne völligen Stillstand in Regionen operieren können, die lange als inoperabel galten. Die Suche nach neuen Methoden und das Bangen nach jeder Operation, ob auch keine Folgeschäden bleiben, hat sich freilich nicht geändert. Auch heute noch warten wir Neurochirurgen nach jeder Operation beim Patienten und zählen die zähen Minuten bis zum Erwachen, bis wir prüfen können, ob sie sich noch bewegen und ob sie sprechen können.

Doch was mich vor allem an der Lektüre des Buchs von Robert Spetzler in Aufruhr versetzte, war seine Haltung – sein Mut, nichts unversucht zu lassen, solange für seine Patienten noch der Hauch einer Chance bestand. Und sein Wille, die Grenzen unseres Wissens ständig zu erweitern, aus jedem Rückschlag zu lernen. Auch wenn ich damals noch nicht im gleichen Umfang nachempfinden konnte wie heute, wie sehr einen jeder Fall mitnimmt, der nicht glücklich ausgeht, der mit schweren Schäden oder gar dem Tod endet, so war mir doch bewusst, dass hier jemand war, der das in Kauf nahm, um vielleicht anderen zu helfen. Diese Haltung wollte ich mir zum Vorbild nehmen, sie prägt mich bis heute.

„Die Neurochirurgie ist ein Pakt zwischen dem Allerschönsten und dem Allerschrecklichsten“, so drückt es der Neurochirurg Aaron A. Cohen-Gadol von der Indiana University School of Medicine aus. Ich werde diesen Satz in diesem Buch noch einige Male zitieren müssen, denn ich werde bewusst auch von Operationen berichten, die nicht zum gewünschten Ergebnis geführt haben, von Patientinnen und Patienten, denen wir nicht helfen konnten, oder solchen, die nach dem Eingriff mit schwersten Beeinträchtigungen zurechtkommen müssen. Manchmal liegen nur ein paar Minuten oder Sekunden zwischen der Freude über eine gelungene Operation und dem Entsetzen, wenn es plötzlich zu einer Nachblutung kommt. Es wird schnellstmöglich nachoperiert, aber der Patient stirbt trotzdem, oder er ist am Ende behindert. Keine noch so große Routine führt je dazu, solche Vorfälle leicht wegzustecken. Sorgen, Ängste und Zweifel sind in unserem Beruf ständige Begleiter.

Doch zugleich ist die Neurochirurgie eben auch der Pakt mit dem Allerschönsten. Die zahlreichen Fälle, in denen es gelingt, Tumore oder gefährliche Gefäßveränderungen zu entfernen oder Betroffenen mit Erkrankungen, die noch vor Kurzem zu komplex erschienen, um operiert zu werden, doch noch ihre Lebensqualität zurückgeben zu können, sind ein Geschenk und zugleich Ansporn für das gesamte neurochirurgische Team. So oft werde ich nach meiner Arbeit gefragt, wie man als Neurochirurg solche Operationen erlebt, aber auch wie man als Mensch mit den Herausforderungen und Niederlagen zurechtkommt, wie sehr einen die Schicksale der Patientinnen und Patienten persönlich treffen. Anhand ausgewählter Fälle, die jeweils besondere Aspekte berühren, will ich Ihnen in diesem Buch eine Antwort geben.

Und dann ist da noch das menschliche Gehirn selbst, das uns Bewunderung abringt – seine Fragilität und Verletzbarkeit, aber auch seine verblüffende Fähigkeit zu regenerieren. Wer immer zum ersten Mal während einer Operation einen Blick auf das menschliche Gehirn werfen darf, reagiert bei seinem Anblick mit Bewunderung. Das weiß-rosa-grau schimmernde Organ mit seiner komplexen Anatomie bietet ein höchst ästhetisches, völlig unblutiges und friedliches Bild. Unser Gehirn ist das Ergebnis der Evolution von Millionen von Jahren. Hundert Milliarden winziger Zellen, die in ihrer Gesamtheit und in ihrem Zusammenwirken die Schaltzentrale eines Menschen ergeben, das Headquarter seiner Persönlichkeit. In gesundem Zustand sieht das Gehirn bei jedem ähnlich aus, und doch ist es wie ein Fingerabdruck stets einzigartig. Die Strukturen des Gewebes, die feinen und feinsten Gefäße, ihre Verzweigungen, und wie alles zusammenspielt, einen Sinn ergibt. Man empfindet unwillkürlich und jedes Mal neu Respekt vor diesem erhabensten Ergebnis der Schöpfung, das da vor einem pulsiert. Und in einem bin ich mir sicher: Im neurochirurgischen OP-Saal wird man nicht eine Person finden, die diese Begeisterung nicht teilt und es nicht als Privileg empfinden würde, hier arbeiten zu dürfen.

Diese faszinierende Struktur mit all ihren Funktionen, von denen so viele noch nicht ergründet sind, ist unser tägliches Arbeitsfeld, so spannend wie herausfordernd. Sie umfasst, was uns als Menschen ausmacht, das zentrale Nervensystem – das Gehirn und seine „Verlängerung“, das Rückenmark, das periphere Nervensystem, alle Nervenfasern, die sich außerhalb davon netzartig durch den gesamten Körper ziehen. Das eine könnte ohne das andere nicht existieren. Das Nervensystem bestimmt unser Sein und Dasein. Seine Intaktheit ist Voraussetzung dafür, dass wir Arme und Beine bewegen, sprechen und kommunizieren können, emotional, aber doch beherrscht sind, denken, fühlen, Informationen speichern oder vergessen, lieben und Glück empfinden, oder auch das Gegenteil.

Und damit ist das wichtigste Ziel, das ich mit diesem Buch verfolge, umrissen: die Faszination für all dies weiterzugeben, die Leidenschaft für ein Fach, in dem noch so viele Fragen offen, so viele Zusammenhänge ungeklärt sind, das sich zugleich aber mit einer schier unglaublichen Rasanz weiterentwickelt, mit immer noch eindrucksvolleren Möglichkeiten. Ich möchte von den innovativen technischen Mitteln berichten, die wir heute haben, und möglichst viele Menschen dafür begeistern. Sie werden miterleben, wie Wach-OPs ablaufen und welche Chancen sie bieten, Sie werden die Möglichkeiten der digitalen Neurochirurgie, Operationen in Multifunktions-OP-Sälen mit High-Performance-Teams und vielfältiger Bildunterstützung kennenlernen, Sie werden von seltenen Erkrankungen erfahren, die lange als unbeherrschbar galten, von Erfolgen und Komplikationen. Und vor welchen Aufgaben und Herausforderungen wir dabei als Forschende, Lehrende und Mentoren in diesem dynamischen Feld stehen. Aber auch, wie die Covid-19-Pandemie sich auf unsere Arbeit und die Operation einer jungen Patientin ausgewirkt hat.

Hirnoperationen sind hochkomplex; man erfährt dabei eine Menge darüber, wie das Gehirn funktioniert, welche Prozesse darin ablaufen. Zahlreiche Wissenschaftler nutzen bei uns im OP-Saal die Chance, ihre Erkenntnisse zu erweitern – in Zukunft wird der OP-Saal zu einem zentralen Ort neurowissenschaftlicher Forschung werden. Viele Menschen interessieren sich dafür, und ich finde, es ist ein Teil unserer Aufgabe, ihnen das verständlich zu erklären.

Und nicht zuletzt gehöre ich zu einer Generation von Neurochirurginnen und Neurochirurgen, die, im Gegensatz zu unseren Vorvätern, die Rolle des Chirurgen entmystifizieren wollen und zeigen, wie unendlich viel Teamarbeit hinter jeder Hirn-OP steht, wie viele hoch spezialisierte Menschen Hand in Hand arbeiten und wie viel ausgereifte Technik daran beteiligt ist. Manche sagen, die Neurochirurgie sei das Wunder der Medizin. Das stimmt genauso wenig, wie einzelne Neurochirurgen Zauberer sind. Oder um es mit den Worten des Neurochirurgen Karl Schaller von den Hôpitaux Universitaires de Genève zu sagen: „Auch wenn das neurochirurgische Zielorgan noch immer etwas Geheimnisvolles an sich haben mag: Die Arbeit daran und darum herum folgt den Gesetzen der Physik und nicht der Aura des Chirurgen. Dass Letztere einen Einfluss auf das Verhältnis zu den Patienten und den Heilungsverlauf haben mag, ist wiederum unbestritten und macht einen guten Teil des ärztlichen Erfolges und der Freude daran aus, diesen Beruf ausüben zu dürfen.“

Wir sind in einer Spezialdisziplin unterwegs, die von allen medizinischen Disziplinen wahrscheinlich am stärksten auf modernster Technologie basiert und durchweg von hoch qualifiziertem Personal betrieben wird, und ja, Mikrochirurgie bedarf absoluter Präzision. Aber das zeichnet nicht uns allein aus. Letztlich sind wir Handwerker. Vielleicht kann man die Arbeit der Neurochirurgie aber auch gut mit der von Tänzern vergleichen, denn auch da kommen mehrere Dinge zusammen: Tänzer müssen nicht nur körperlich fit sein und die komplette Choreografie im Kopf haben, sie müssen die einzelnen Sprünge und Figuren wieder und wieder und wieder üben, allein sowie im Zusammenspiel mit der Musik und den Partnern auf der Bühne. Tänzer müssen mit absoluter Präzision arbeiten, und sie müssen einander vertrauen können und dabei ständig auf die Musik und das Orchester achten. Auch Tänzer treibt der Wille zur Perfektion an, die unbedingte Liebe zu ihrer Kunst und das Gefühl einer Verantwortung, das persönliche Talent zu seiner vollen Entfaltung zu bringen, um Menschen damit zu beglücken. Aus alldem speist sich die nicht nachlassende Energie, täglich stundenlang zu üben und sich nicht zufriedenzugeben, solange es nicht perfekt ist – und das ist es nie.

Eine solche Liebe zu ihrem Fach, die Faszination des menschlichen Gehirns mit seinen grandiosen Fähigkeiten, treibt auch Neurochirurginnen und -chirurgen und neurochirurgische Teams an. Vor allem anderen aber wollen sie sich der Verantwortung nicht entziehen, mit ihren spezifischen Fähigkeiten Leben retten zu können.

Ich persönlich glaube, dass es einiger vielleicht altmodisch anmutender Tugenden bedarf, um ein guter Neurochirurg zu sein; Starallüren passen da sicher nicht dazu. Für mich sind Demut und Verantwortungsbewusstsein, Dankbarkeit und Vertrauen, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit, Disziplin, Durchhaltevermögen und wissenschaftliche Neugier das Fundament, auf dem unsere Arbeit aufbaut.

Die Behandlung all dieser Patienten mit ihren individuellen Krankheitsgeschichten und Lebensumständen ist aber auch mit einem hohen Maß an Emotionalität verbunden. Viele Menschen fragen sich, was in den Köpfen von Neurochirurginnen und Neurochirurgen vorgeht, wenn sie sich den Herausforderungen stellen oder Fehlschläge verarbeiten müssen. Hier in diesem Buch kann ich nur für mich sprechen. Ich bin mir aber sicher, dass sich viele, die sich diesen Aufgaben täglich stellen, wiedererkennen werden und ähnliche Emotionen kennen. Eine ganze Reihe von Kollegen aus aller Welt, die ich um ihr Statement gebeten habe, werden in diesem Buch zu Wort kommen, diese Aspekte untermauern und zeigen, wie eng wir über sämtliche Grenzen hinweg zusammenarbeiten, voneinander lernen und uns gegenseitig über die neuesten Entwicklungen informieren.

Aber auch die so schwierigen wie spannenden ethischen Fragen, die sich stellen, wenn man im Gehirn operiert, möchte ich in diesem Buch zumindest anklingen lassen. Ich will nicht pathetisch wirken, aber es sind nun einmal Fragen, die an unser Menschsein als solches rühren.

Sollte sich jemand erhoffen, ich würde die Frage beantworten, ob die Seele im Gehirn zu finden ist – und falls ja, wo dort –, dann muss ich ihn enttäuschen. Daran haben sich bereits etliche Wissenschaftler und Philosophen abgearbeitet, ohne den letzten Beweis zu erbringen. Ich glaube, dass jeder Mensch eine Seele hat. Und ich glaube, dass sie im Gehirn sitzt. Sie macht unsere Identität aus, auch wenn es schwierig ist, sie zu definieren. Wir wissen nicht, was mit ihr geschieht, wenn das Gehirn nicht mehr funktioniert. Für Operationen wäre es überaus interessant zu erfahren, wo man die Seele finden kann, ob sie sich überhaupt irgendwo lokalisieren lässt. Mein Gefühl sagt mir, dass Seele am ehesten mit Emotionalität zu tun hat. Dann wäre sie im limbischen System zu verorten, dem entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil des Gehirns, dort, wo unter anderem Lust, Antrieb und unsere Triebe ihren Ursprungsort haben. Wer weiß. Die Suche geht weiter …

Mehr lesen Sie im Buch …

Zum Buch

Kopfarbeit – Ein Gehirnchirurg über den schmalen Grat zwischen Leben und Tod

Peter Vajkoczy (Autor), in Zusammenarbeit mit Gisela Fichtl
Hardcover, 272 Seiten, 2022
Droemer (Verlag)
ISBN: 978-3-426-27814-7

Beim Verlag bestellen…

 

 

 

 

Prof. Dr. Peter Vajkoczy

Direktor

Klinik für Neurochirurgie

Arbeitsbereich Pädiatrische Neurochirurgie (CVK)

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Charitéplatz 1

10117 Berlin

Panorama

Vajkoczy P: Kopfarbeit – Ein Gehirnchirurg über den schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Passion Chirurgie. 2023 Mai; 13(05): Artikel 09.

Mehr Panorama-Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Panorama.

Passion Chirurgie im April: Hygiene & Wundversorgung

Wundversorgung – schon wieder? Ja, gerade weil es ein Thema ist, das in einem Dilemma steckt, da die Therapie chronischer Wunden noch immer nicht durch einen bundesweiten und alle Krankenkassen umfassenden Versorgungsvertrag geregelt ist. Aber es tut sich etwas: Wir können in diesem Heft über einige gute Ansätze und Beispiele berichten. Lesen Sie selbst.

In der kommenden Woche findet der 140. Deutsche Chirurgiekongress (DCK) 2023 in München statt, auf dem auch der BDC wieder mit einem Stand vertreten sein wird! Lassen Sie uns dort ins Gespräch kommen, oder nehmen Sie an einer der BDC-Vortragssitzungen teil. Am Freitag, 28. April, 13.00 Uhr bis 14.00 Uhr findet die BDC-Mitgliederversammlung in Saal 11 statt. Sie sind herzlich dazu eingeladen!

Unser nächstes kostenloses Webinar: „S2K-Leitlinie – Rekonstruktive und ästhetische Operationen des weiblichen Genitals” findet am Donnerstag, den 20. April, um 18.00 Uhr statt. Klicken Sie HIER für mehr Information und die Anmeldung.

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

Dr. Peter Kalbe jetzt im Ruhestand

Abb. links: Dr. Peter Kalbe arbeitete über Jahre mit den medizinischen Fachangestellten Vera Behrens (links) und Nicole Baake zusammen.

Patientenbetreuung war ihm immer das Wichtigste

„Damit musst du zu Kalbe gehen“ – wer in Rinteln und Umgebung hat diesen Satz nicht schon einmal gehört. Als sogenannter Durchgangsarzt ist Dr. Peter Kalbe in Rinteln auch für Arbeits- und Schulunfälle zuständig gewesen – und egal welche Knochen gebrochen waren, welche Gelenke schmerzten und welche Wunde klaffte, die Praxis Dr. Kalbe am Josua-Stegmann-Wall war jahrzehntelang die richtige Adresse.

Mit Beginn des Jahres 2023 ist Dr. Peter Kalbe, nach 33 Jahren Praxis-Tätigkeit, aus dem Praxisbetrieb ausgestiegen und will nun seinen Ruhestand genießen. „Tennis und vermehrtes Reisen stehen jetzt auf der Bucket-List. Ich möchte alle vier Grand-Slam-Tennis-Turniere als Zuschauer besuchen und außerdem viel mehr Zeit mit der Familie verbringen“, erzählt Kalbe gegenüber dieser Zeitung.

Von 1974 bis 1980 hat Kalbe in Berlin, Hannover und New York studiert und an der Medizinischen Hochschule Hannover eine Weiterbildung zum Unfallchirurgen absolviert. Als leitender Hubschrauberarzt hob er von 1982 bis 1987 mit „Christoph 4“ ab, um Menschenleben zu retten. Eine handchirurgische Spezialisierung erfolgte von 1987 bis 1989 im Friederikenstift in Hannover.

„Unter Abwägung der persönlichen und familiären Interessen fiel damals der Entschluss, die akademische Karriere nicht weiter zu verfolgen und nach Rinteln zurückzukehren, um dort als niedergelassener Chirurg mit ambulanten Operationen in einer eigenen Praxis zu arbeiten“, so Kalbe.

1989 übernahm er die alteingesessene chirurgische Praxis des Vaters Dr. Fritz Kalbe auf dem Josua-Stegmann-Wall 7. „Der Patientenansturm war überwältigend und daher musste Entlastung her. Als Einzelpraxis konnte man den Ansturm auf Dauer nicht bewältigen“, erzählt Kalbe.

Abb. 2: Von Anfang an ein Team: Dr. Peter Kalbe und Vera Behrens (links) und Nicole Baake

1994 wurde die Praxis durch den Eintritt von Dr. Claus-Joachim Kant zur Gemeinschaftspraxis. Trotzdem war der Andrang noch riesig und eine Lösung musste her. Bei einer Reise nach Straubingen besuchte der Rintelner Chirurg ein ärztliches Zentrum und das Konzept überzeugte ihn. „Es hat allerdings lange gedauert, bis ich das umsetzen konnte“, so Kalbe.

2010 trat Dr. Karl-Heinz Thielke mit in die Praxisgemeinschaft ein und erweiterte das Angebot um belegärztliche Operationen in der Innenstadtklinik in Minden. 2012 kamen die Chef- und Oberärzte der Unfallchirurgie des Krankenhauses Bethel in Bückeburg, Dr. Stefan Bartsch und Dr. Florian Bartz, dazu.

„Im deutlich größeren und gestärkten Team konnte schließlich das ,Gelenkzentrum Schaumburg‘ gegründet werden“, erinnert sich Kalbe. Außerdem wurde eine eigene Krankenhausabteilung als „Schulter- und Gelenkchirurgie“ aufgebaut und betrieben.

„Diese enge Zusammenarbeit einer chirurgischen Klinik mit niedergelassenen Chirurgen hat Modellcharakter für ganz Deutschland“, sagt Kalbe.

2015 trat Andreas Müller als Nachfolger von Dr. Kant in das Team ein und verstärkte die Hüftchirurgie. Als Verstärkung für das Schulter-Team kam 2017 Dr. Katja Tegtmeier dazu und seit 2019 Gohar Harutyunyan als angestellte Fachärztin für die chirurgische Grundversorgung.

2021 erfolgte der Umzug der Praxis von den zu eng gewordenen Räumen auf dem Josua-Stegmann-Wall in das neue Gebäude im Gewerbegebiet Süd in der Stükenstraße 3. Dort sind mittlerweile auf 420 Quadratmetern acht Ärztinnen und Ärzte und mehr als 30 medizinische Fachangestellte tätig. Das Gelenkzentrum betreibt darüber hinaus eine Zweigpraxis im Ev. Agaplesion Klinikum Schaumburg in Vehlen und hat mittlerweile ein weitaus überregionales Einzugsgebiet.

„Es gibt doch diesen Spruch, fünf Freunde müsst ihr sein‘. Der trifft auf uns im Gelenkzentrum zu. Die Chemie stimmt, das Betriebsklima ist gut und wir bieten attraktive Arbeitsbedingungen“, erzählt Kalbe. Gründe, warum die medizinischen Fachangestellten Vera Behrens (seit 1983) und Nicole Baake (seit 1986) schon so lange in der Praxis tätig sind. Und Ausbildungsbetrieb ist das Gelenkzentrum ebenfalls. Derzeit sind dort sechs Auszubildende beschäftigt.

Und was bleibt dem „Ruheständler“, der noch Gutachten machen will, von seiner 33-jährigen Praxiszeit in Erinnerung. „Naja, die Patientin, die ich während meiner Weiterbildung in Hannover erfolgreich an Magenkrebs operiert habe und die 25 Jahre später in meiner Praxis als Patientin war, und auch der 22-Jährige Handballer, der auf dem Spielfeld mit Herzinfarkt zusammengebrochen war und den ich reanimiert und in stabilem Zustand in die Klinik gebracht habe, das sind schon besondere Geschehnisse gewesen“, erzählt Kalbe.

Aber auch gerade erst am Neujahrsmorgen konnte er helfen. Seine zweijährige Enkelin war vom Sofa gefallen und konnte den Arm nicht mehr bewegen. „Da hat Opa etwas am Arm gedreht und klack, war die Enkelin wieder gesund. Das geht eben mit viel Erfahrung“, freut sich Kalbe.

Kerstin Lange

Redakteurin

Schaumburger Zeitung

la@szlz.de

Quelle: Schaumburger Zeitung

Intern | BDC

Lange K: Dr. Peter Kalbe jetzt im Ruhestand. Passion Chirurgie. 2023 April; 13(04): Artikel 07_03.

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BDC-Praxistest: Die Generationen Z und Alpha ticken digital

Vorwort

Employer Branding und digitales Recruiting für Krankenhäuser in Zeiten von Instagram & Co

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Krankenhäuser sind Orte, an denen Menschen in schwierigen Situationen häufig auch ihre letzte Hoffnung verlieren. Dennoch müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Bereich jeden Tag positiv und leidensfähig sein. Das ist nicht immer einfach und doch ist es eines der wichtigsten Aufgaben von Krankenhäusern, dass die Patientinnen und Patienten sich wohlfühlen. Doch auch für die Arbeitgeber selbst stellt die Tätigkeit als Mitarbeiter oder Personaler in einem Krankhaus oft große Herausforderungen dar. Hier findest du Tipps zum Employer Branding für Krankenhäuser sowie digitale Tools zum digitalen Recruiting für die Branche.

Instagram, Snapchat, Facebook & Co. – die sozialen Medien sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Auch im Recruiting und Employer Branding spielen sie eine immer größere Rolle. Doch wie können Krankenhäuser diese Kanäle für sich nutzen? Wir geben einen Überblick über die Möglichkeiten und zeigen Beispiele auf.

Heutzutage gewinnen soziale Medien und vor allem Bildplattformen wie Instagram immer mehr an Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt. Employer Branding und digitales Recruiting spielen dabei eine zentrale Rolle, um Krankenhäuser und andere Unternehmen schnell, effizient und erfolgreich bei potentiellen Kandidaten zu positionieren. In unserem Blog beschäftigen wir uns näher mit diesem Thema und blicken speziell auf die Anforderungen von Krankenhäusern in Zeiten von Instagram & Co. Wir untersuchen hierbei interessante Fragestellungen, Strategien sowie Technologien, hinterfragen bestehende Herausforderungen und bieten Ideen für praktische Umsetzungsmöglichkeiten.

Genussvolle Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und       

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Personalmarketing, Employer Branding und Social Media- Recruiting für Krankenhäuser in Zeiten von Instagram, TikTok und Co.

Der sogenannte „war for talents“ ist in Deutschland in vollem Gange. Im Jahr 2030 werden rund 4 Millionen Babyboomer den Arbeitsmarkt verlassen. Dem gegenüber stehen im Jahr 2030 über 900.000 Menschen, die älter als 90 Jahre und zum Großteil auf medizinische Versorgung angewiesen sind. Bis 2035 werden sogar 7 Millionen offene Stellen prognostiziert. Schon heute fehlen rund 15.000 Ärztinnen und Ärzte in der Bundesrepublik. Experten gehen davon aus, dass 2030 jedes fünfte bis sechste Krankenhausbett wegen des zunehmenden Fachkräftemangels unbesetzt sein wird.

Die Kinder und die Enkel der Babyboomer kommen nun in den nächsten Jahren mehr und mehr auf den Arbeitsmarkt. Mit all ihren Bedürfnissen, die sie als sogenannte Generationen Z und Alpha in Bezug auf ihren Arbeitsplatz bzw. ihr Arbeitsleben haben.

Insbesondere die Suche nach Bewerber:innen der begehrten Zielgruppen wie Fachärzt:innen, Krankenpfleger:innen und Arzthelfer:innen muss über Social Media Kanäle geführt werden. Sonst erreicht eine Klinik den jungen Nachwuchs gar nicht mehr, weil sie gar nicht wahrgenommen wird. Social Recruiting, also das Suchen von Bewerber:innen über Social Media Kanäle, ist bereits seit einigen Jahren problemlos möglich, da die technologischen Voraussetzungen vorhanden sind. Zu viele Krankenhäuser zögern aber immer noch, diese Möglichkeiten umzusetzen. In Gesprächen mit Vorständen und Geschäftsführer:innen der Babyboomer Generation wird immer wieder die Frage gestellt, wer denn überhaupt Social Media Kanäle wie Instagram, Facebook oder TikTok nutze und ob unter diesen Nutzern auch die Zielgruppen vertreten sind, die Krankenhäuser als zukünftig Beschäftigte suchen.

Die weiter unten aufgeführten Zahlen und Fakten belegen, dass das Nutzungsverhalten weitaus höher ist, als sich viele Babyboomer vorstellen können. Der folgende Beitrag soll Kliniken dazu ermutigen, Social Media Kanäle für Employer Branding, Recruiting und Personalmarketing zu nutzen, um neue Ärzt:innen beziehungsweise Vetreter:innen aller Berufsgruppen zu finden und zu binden.

Merkmale der Generationen Z und Alpha

In der Marketing-Kommunikation bestimmen die Geburtsjahrgänge, zu welcher Generation wir gehören und welche technologischen und popkulturellen Einflüsse unsere Entwicklung wesentlich prägen. Während die meisten gegenwärtigen Teenager noch der Generation Z angehören (alle zwischen ca. 1995 und 2009 Geborenen), folgt bereits die Generation Alpha. Der Generation Alpha wird überwiegend zugerechnet, wer von etwa 2010 bis 2025 geboren wurde oder wird.

Der Begriff „Generation Alpha“ geht auf McCrindle (2020) zurück. Er bezeichnet die Generationen Z und Alpha auch als „Generationen Internet“, da sie die ersten Generationen sind, die komplett mit digitalen Standards aufwachsen.

Einen sehr guten Überblick zu den Bedürfnissen und der Mediennutzung der Generationen Z und Alpha gibt McCrindle (2020) in Abbildung 1.

Wie junge Menschen heute soziale Medien nutzen

Wie jede Generation vor ihr, treibt auch die Generation Z die aktuelle Medienentwicklung voran. Diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen nutzen Video-on-Demand, Podcasts und neue Social Media Plattformen rund um die Uhr. Der durchschnittliche junge User verfügt dabei über fünf verschiedene Social Media Accounts. Der meistbesuchte Social Media Kanal der Generation Z ist Instagram. Jede:r zweite 14- bis 29-Jährige in Deutschland nutzt Instagram täglich – keine andere Altersgruppe nutzt eine Social Media Plattform so häufig (vgl. ARD/ZDF-Onlinestudie (2022): Reichweiten von Social-Media-Plattformen und Messengern, https://www.ard-zdf-onlinestudie.de/).

Da die Generation Z über die Social Media Kanäle sehr viel (Video-)Content konsumiert und auch selbst produziert, steigen auch die Ansprüche an den Social Media Content an ihre zukünftigen Arbeitgeber. Ein qualitativ ansprechender Content unter Einbindung der entsprechenden Social Media Features (z. B. Filter, Memes, Schriften, Sticker etc.) wird deshalb zukünftig auch für Krankenhaus-Accounts sehr wichtig werden.

TikTok ist wohl der Social-Media-Kanal, den die Generation Alpha am meisten nutzen wird. 2021/2022 war TikTok das wertvollste Start-up der Welt und die erfolgreichste App in den App-Stores – noch vor Facebook, Instagram und Snapchat. Die Contentansprüche der Generation Alpha gehen gerade hinsichtlich „Schnelligkeit“ noch einen Schritt weiter. Laut McCrindle (2020) wird Realtime-Content für die Generation Alpha eine noch größere Rolle spielen als für ihre Vorgängergeneration Z.

Belegt wird dieser Trend aktuell auch durch neue Social-Media-Apps, wie zum Beispiel „BeReal“. BeReal ist eine französische Social Media App. Das Ziel von BeReal ist es, einen spontanen Schnappschuss aus dem eigenen Alltag zu senden und diesen möglichst unverfremdet mit seinen Freunden zu teilen. Dazu erhalten Nutzer:innen der App täglich eine Aufforderung zu einer zufälligen Uhrzeit. Anschließend haben sie zwei Minuten Zeit, ein Foto zu machen und hochzuladen. Diese App setzt – im Vergleich zu Instagram und Co. – also auf kurzfristige, unerwartete und „ungeschönte“ Bilder statt auf lang geplanten Content.

Neben einer Vielzahl an Social-Media-Kanälen wächst die Gen Alpha als erste Generation von Anfang an mit Sprachsteuerungsassistenten, wie zum Beispiel Alexa, auf. Damit erlebt sie als sogenannte „Early Adopter“ die Abkehr vom (Touch-)Screen. Obwohl die Generation Alpha digitale Medien selbstverständlich nutzt, werden ihre Augen nicht so stark belastet. Ihr Alltag mit Assistenten wie Alexa verändert auch ihr Verständnis von Wissen. Aufgrund der ständigen Verfügbarkeit von Wissen und dem direkten Austausch im Social Web ist klug nicht mehr derjenige, der alle Informationen im Kopf hat, sondern der, der weiß, wie man sie möglichst schnell findet.

Abb. 1: Infografik (vgl. McCrindle Research, (2020): https://mccrindle.com.au/article/topic/generation-z/gen-z-and-gen-alpha-infographic-update/)

Employer Branding und Recruiting via Social Media in Krankenhäusern

Im Jahr 2030 stellen die Generationen Z und Alpha laut McCrindle (2020) rund 45 Prozent der arbeitenden Bevölkerung dar. Darauf müssen sich auch Krankenhäuser einstellen und ihre Employer Branding und Recruiting Aktivitäten entsprechend digital anpassen. Sicherlich ist es sinnvoll, sich schon jetzt mit den Ansprüchen, die beide Generationen an die Stellensuche und an ihre Arbeitgeber haben, auseinanderzusetzen.

Es ist gut vorstellbar, dass spätestens 2035 Vertreter:innen der Generation Alpha sich hauptsächlich via Voice-Nachricht bewerben wollen, wenn sie über Google oder ChatGPT auf offene Stellen stoßen.

Um als moderner Arbeitgeber aufzufallen und sich die passenden Talente „sichern“ zu können, ist ein sehr schneller, absolut digitaler, transparenter und zuverlässiger Bewerbungsprozess Pflicht. Krankenhäuser liegen hier – bis auf sehr wenige Ausnahmen – noch deutlich zurück.

Die folgenden ausgewählten Best Practice Beispiele belegen, dass bereits einige Kliniken vor der Pandemie, also 2018/2019, angefangen haben, zu erkennen, welch hohen Stellenwert Social Media Kanäle und ihre eigenen Mitarbeiter:innen bzw. deren Communities haben, wenn es um digitales Personalmarketing, Employer Branding und Recruiting geht. Die Einbindung der eigenen Mitarbeiter:innen geht sogar so weit, dass sie als Job-Botschafter „ausgebildet“ und systematisch bei Recruiting und Onboarding Aktivitäten eingebunden werden (vgl. Lüthy, 2023).

Im besten Fall kommunizieren die Klinikmitarbeiter:innen als sogenannte Corporate Influencer in Ergänzung zur zentralen Unternehmenskommunikation in ihren eigenen sozialen Netzwerken und repräsentieren ihre Klinik in der Öffentlichkeit. Diese sogenannten Klinik – Botschafter:innen berichten kontinuierlich auf ihren eigenen Social-Media-Kanälen oder auf dem Account des Arbeitgebers aus ihrer Abteilung und von ihrem Arbeitsplatz. Sie können auf diese Weise als Ko-Recruiter aktiv werden und sogar Stellenanzeigen ihrer Klinik selbst auf einem Social-Media-Kanal ihrer Wahl (z. B. bei LinkedIn oder Instagram) posten.

Drei Best Practice Krankenhaus – Beispiele

Die Chefärztin der Klinik für Gynäkologie des Berliner Auguste Viktoria Krankenhauses, Prof. Dr. med. Mandy Mangler, richtete zum 01. Juni 2019 selbst einen Account auf Instagram mit dem Namen Gyn Magazin ein, da die Vivantes Klinikgruppe hierfür kein Personal zur Verfügung stellte (vgl. https://www.instagram.com/gyn_magazin/)

Innerhalb von gut vier Jahren ist die Community auf über 10.000 Follower gewachsen, die diesen Account besuchen. Die Chefärztin und ihr Team posten fast täglich einerseits Fotos von Neugeborenen ihrer Klinik, andererseits Storys von Kolleginnen und Kollegen der verschiedenen Berufsgruppen. Auf lustige Art und Weise, mit kurzen, umgangssprachlich formulierten Botschaften, gelingt es Mandy Mangler, ihre Klinik als attraktiven Arbeitsplatz für Pflegekräfte, Hebammen und Ärzte beziehungsweise Ärztinnen zu präsentieren. Während der Pandemie fanden sogar die Informationsabende für werdende Eltern regelmäßig live auf Instagram statt. Der Fachkräftemangel ist in dieser Klinik kein Thema mehr.

Das Klinikum Dortmund begann 2018 TikTok sehr erfolgreich für sein Employer Branding und Recruiting zu nutzen. Dieses Vorgehen war Teil einer umfassenden Social-Media-Strategie mit kreativen Filmen auf Youtube und Live-Chats mit Chefärzt:innen auf Instagram und Facebook.

Marc Raschke, der damalige Leiter der Unternehmenskommunikation, traute sich, im Klinikum herumzufragen, ob Mitarbeiter:innen (zunächst nur aus der Pflege) für kurze Filmsequenzen auf TikTok tanzen würden. Viele haben mitgemacht. In einem Video stellten sie Desinfektionsmittel als Parfüm dar, unterlegt mit Musik. Die Botschaft des 20-Sekunden-Filmclips lautete: Arbeite mit uns, wir sind eine coole Klinik und du lernst bei uns, kranke Menschen zu pflegen. Nach vier Wochen hatte der TikTok-Account 100.000 Follower. Das Klinikum Dortmund bekam damals mehr Bewerbungen in der Krankenpflege, als es offene Stellen hatte.

Die DRK Kliniken Berlin haben Anfang 2020 eine neue Stelle geschaffen. Maja Schäfer wurde Leiterin Strategisches Recruiting und entwickelte in Zusammenarbeit mit einer Agentur innerhalb von sechs Monaten ein Karriereportal und bekam dafür sogar den HR Excellence Award 2020.

Das Karriereportal wurde mitten in der Corona-Pandemie von März bis Juli 2020 konzipiert und online gestellt. Mit dem Slogan „Wir bedeuten einander etwas“ beziehungsweise Employer Branding und der Einbindung von sehr vielen authentischen Mitarbeitervideos (die von ihren Arbeitsplätzen in der Klinik erzählen) ist es den DRK Kliniken gut gelungen, eine Karriereseite zu entwickeln, die zu einer signifikanten Steigerung der Bewerberzahlen, zu einer Senkung der Cost per Hire und zur Senkung der Kosten für die Schaltung von Stellenanzeigen führte. Schon im November 2020 berichtete Maja Schäfer, dass die Bewerberzahlen 116 Prozent angestiegen waren (von 3.248 auf 7.035 Bewerbungen) und die Page Views sich auf der Karriereseite verdreifacht hatten.

Dieser Erfolg ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass auf der Karriereseite die Gehälter transparent gemacht werden und für jede ausgeschriebene Stelle die jeweilige Verdienstspanne auf Heller und Cent angegeben ist.

Darüber hinaus können sich interessierte Bewerbende sowohl über Whats-app als auch über ein Online-Formular oder via Sprachnachricht bei den DRK Kliniken bewerben. Eine Kommunikation über Whats-app zu ausgeschriebenen Stellen mit Maja Schäfer ist tagsüber ebenso möglich wie ein Dialog mit einem Chatbot, der erste Fragen zur Klinik beantwortet.

Ende 2021 wurde bei YouTube ein eineinhalbminütiger Arbeitgeberfilm hochgeladen, der sehr gut und mit einem Augenzwinkern den Spirit der Berliner DRK Kliniken zeigt (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=KhlCIQnMR9k). Der Filmclip dient letztlich dazu, den Zielgruppen Lust auf das Arbeiten in den DRK Kliniken zu machen.

Auch die Erwartungen an die Vorgesetzten werden sich verändern

Neben vielen interessanten Aspekten, wie beispielsweise der Entwicklung der unterschiedlichen Automarken, Spielzeugen oder Musikgeräten macht McCrindle (2020) auch deutlich, dass sich entlang der Generationen ebenfalls das Thema „Führung“ stark verändert hat.

Statt einer kontrollierenden, hierarchisch und autoritär geprägten Führung (wie sie beispielweise noch bei den „Baby Boomern“ üblich war), wünscht sich die Generation Z ein „Empowering Leadership“. Generation Z scheint sich zu wünschen, dass die Vorgesetzten Verantwortung an das Team abgeben und es befähigen, Prozesse, To-Dos und Lösungen von Aufgaben selbst zu bestimmen.

Die Generation Alpha wird voraussichtlich noch einen Schritt weiter gehen wollen und sogenanntes „Inspiring Leadership“ einfordern: Hierbei soll der oder die Vorgesetzte als Teammitglied inspirieren, motivieren und individuell unterstützen beziehungsweise das Team professionell begleiten. Auch deshalb wird sich Führung im Zusammenhang mit dem immer mehr diskutierten „New Work-Ansatz“ in den nächsten Jahren stark verändern (vgl. Lüthy, 2020).

Auch das Thema „Feedback“ spielt schon jetzt für die Generationen Z und Alpha eine wichtige Rolle. Bei Instagram, Facebook und TikTok sind sie es gewohnt, sehr rasch „echtes“ Feedback zu bekommen. In Form von Likes und/oder Kommentaren bekommen sie beispielsweise nach wenigen Sekunden bereits ein unmittelbares Feedback zu ihren veröffentlichten Inhalten. Dieses unmittelbare Feedback wünschen sie sich nun auch von ihren Vorgesetzten. Ein Mitarbeitergespräch, das nur einmal im Jahr geführt wird, ist der Generation Z schon heute viel zu „oldschool“. Sie wünschen sich ein hochfrequentes, kontinuierliches Feedback zu ihren Leistungen – sei es nur der Daumen, der nach oben gestreckt wird.

Die jungen Generationen betrachten ihre Vorgesetzten eher als Coaches, die sie – zum Beispiel als angehende Chirurg:innen im OP – für komplexe Operationen trainieren.

Ausblick

Krankenhäuser werden bei ihrer Personalgewinnung über Social-Media-Kanäle in Zeiten des Fachkräftemangels nicht erfolgreich sein, wenn sie nicht in einem ersten Schritt ihre Personalabteilungen aufrüsten und Stellen für Personalmarketing, Employer Branding, Social Recruiting, Active Sourcing und das Talentmanagement schaffen. Unserer Meinung nach sind diese Investitionen sinnvoll und notwendig, weil Krankenhäuser damit das dringend benötige Fachpersonal aufspüren und damit ihre Zukunft sichern.

In einem zweiten Schritt sollten sie ihre Strategie festlegen, um danach die ausgewählten Social-Media-Kanäle mit kreativem, ansprechendem Content unter Einbeziehung ihrer Mitarbeiter:innen „bespielen“. Dabei sollten sie sich ein Beispiel an denjenigen Kliniken nehmen, die bereits seit einigen Jahren mit Social Recruiting erfolgreich Personal finden und sogar binden.

Literatur

[1]   Lüthy, Anja (2023, im Druck) Recruiting und Employer Branding mit den Mitarbeitern: Corporate Influencer als Unternehmensbotschafter in: Dannhäuser, R. (Hrsg.): Praxishandbuch Social Media Recruiting. Springer Gabler. 5. Auflage
[2]   Lüthy, Anja (2020): Vom Leitbild zur werteorientierten Unternehmensführung in: Lange, J. (Hrsg.): Werteorientierte Führung in Theorie und Praxis. Springer Gabler, 1. Auflage

Anja Lüthy

Anja Lüthy (geboren 1962, Dipl.-Psych. und Dipl.-Kauffrau (FH) ist Professorin am Fachbereich Wirtschaft der TH Brandenburg mit den Schwerpunkten Dienstleistungsmanagement und-marketing. Nebenberuflich ist sie Trainerin und Coach für Führungskräfte aller Berufsgruppen in Krankenhäusern und Universitätskliniken. Außerdem ist sie Verfasserin mehrerer Lehrbücher und tritt als Keynote Speakerin zu den Themen Employer Branding, Social Media-Recruiting und Personalmarketing auf. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das Ziel, in Krankenhäusern eine Unternehmenskultur so zu entwickeln, dass diese attraktive Arbeitgeber werden. Sie ist Gründerin des Frauennetzwerkes #FemaleHRexcellence.

www.luethy.dewww.femaleHRexcellence.de

Julia Böttcher

Julia Böttcher ist als HR-Marketing Managerin bei der Techniker Krankenkasse tätig. Dort ist sie vor allem für den Aufbau und die strategische Weiterentwicklung des Personalmarketings in der Online-Kommunikation zuständig. Sie ist Mitglied im Netzwerk #FemaleHRexcellence und gibt als Speakerin und Trainerin ihre Erfahrungen im Bereich Online-Kommunikation und Social Recruiting weiter. Sie ist davon überzeugt, dass ein umfassendes Zielgruppenverständnis und die Beobachtung von Veränderungen im Spannungsfeld „Medien und Kommunikation“, maßgeblich dafür sind, zielgruppenspezifische Bedürfnisse zu erkennen, um auf den richtigen (Kommunikations-)Kanälen besser auf sie einzugehen.

https://www.jbsocialrecruiting.com/

Korrespondierende Autorin:

Prof. Anja Lüthy

Schwerpunkten Dienstleistungsmanagement und -marketing

TH Brandenburg

Trainerin und Coach

Julia Böttcher

HR-Marketing Managerin

Techniker Krankenkasse

Social Recruiting Beraterin und Trainerin

Panorama

Lüthy A, Böttcher J: BDC-Praxistest: Die Generationen Z und Alpha ticken digital. Passion Chirurgie. 2023 April; 13(04): Artikel 09_01.

Weitere BDC-Praxistipps finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de).

Innovationsfondsprojekt holt die Wundbehandlung zurück in die Arztpraxis

Die Kassenärztliche Vereinigung Bremen (KVHB) und eine Reihe von Partnern haben vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) den Zuschlag über 5,5 Millionen Euro für das Projekt „IP-Wunde“ erhalten – „Infrastruktur und Prozesse für optimierte Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden – dezentral und regelversorgungsnah in Bremen: IP-Wunde“. Beteiligt sind neben der KVHB die AOK Bremen/Bremerhaven, das Kompetenzzentrum für Klinische Studien Bremen und die Hamburger Firma IVP Networks.

Im Innovationsfondsprojekt IP-Wunde wurde ein flächendeckendes Behandlernetzwerk aus initial sieben ambulanten, spezialisierten Wundpraxen (SWP) im Land Bremen aufgebaut, welches zur Verbesserung der Wundversorgung führen soll. Primärversorgende Haus- und Facharztpraxen haben die Möglichkeit ihre Patient:innen an eine SWP weiterzuleiten und bleiben gleichzeitig Teil des Behandlernetzwerks. Die ausführliche Ursachenklärung und die Ausarbeitung individueller Behandlungspläne sollen eine schnellere Wundheilung erzielen. Da die Behandlung von chronischen Wunden komplex ist, wird die fachübergreifende Kommunikation zwischen den Behandelnden durch eine digitale Wundfallakte ermöglicht, in die auch die Patient:innen Einsicht haben.

2,5 Millionen Betroffene in Deutschland

Bislang gibt es jenseits individuellen Engagements keine einheitlich strukturierte, regelbasierte fachgruppenübergreifende Zusammenarbeit entlang definierter Behandlungspfade. Dabei leben einer Schätzung zufolge 2,5 Millionen Menschen in Deutschland mit chronischen Wunden, die zum Beispiel an einem Ulcus cruris, dem diabetischen Fußsyndrom, der arteriellen Verschlusskrankheit oder Dekubitus leiden. Meist sind es ältere Menschen, deren Grunderkrankung wie bspw. Diabetes mellitus eine gute Wundheilung behindert. In der Freien Hansestadt Bremen sind das etwa 25.000 Menschen.

In vielen Fällen wird die Einbindung verschiedener Akteure wie ärztlicher und nichtärztlicher Leistungserbringer erforderlich. Die entsprechende fachliche Spezialisierung bei der Therapieführung und eine über alle Akteure hinweg transparente und koordinierte Behandlung sind unerlässlich.

In der Versorgungsrealität fehlt es oft an klarer Ursachen- und Zielorientierung, systematischer Berücksichtigung leitliniengerechter Versorgung, transparenter Dokumentation und Standardisierung der Datensätze sowie ausreichender Kommunikation und Koordination zwischen den Akteuren. Die Versorgung erfolgt bei verschiedenen Ärztegruppen mit geringen Fallzahlen und wenig Spezialisierung. Zudem sind manche Praxen und Pflegedienste bzgl. räumlicher Ausstattung und Ablauforganisation nicht ideal auf die Versorgung chronischer Wunden ausgerichtet.

Die Konsequenzen der Unter- und Fehlversorgung sind relevant: lange Anschlusszeiten bis zur fachärztlichen Behandlung, im Durchschnitt 3,5 Jahre [1], hohe Fallkosten in Höhe von ca. 10.000 € pro Patienten und Jahr [2, 3, 4] sowie erhebliche Komplikationen. Nur ein geringer Teil der Patient:innen mit Ulcus Cruris und diabetischem Fußsyndrom wird adäquat versorgt. Jährlich könnte bspw. ein beträchtlicher Anteil der etwa 32.000 diabetesassoziierten Amputationen vermieden werden, wenn eine frühzeitige, sachgerechte Behandlung durchgeführt würde [5].

Interessenkonflikte wegen der Wundverbände

In diesem Marktumfeld haben sich Strukturen institutioneller Anbieter (z. B. Home Carer, Hersteller, Sanitätshäuser etc.) etabliert, die den Haus- und Facharztpraxen Unterstützung anbieten (z. B. durch Wunddokumentation, Produkt- und Anwendungsberatung, Verbandwechsel, Produktlogistik etc.). Oft werden solche Services aus Margen im Produktverkauf von Verbandmitteln und somit über Absatzmengen finanziert. Es resultieren Interessenskonflikte hinsichtlich eines kosten- und mengenbewussten Einsatzes von Verbandmitteln und anderer heilungsverkürzender Maßnahmen. Laut AOK Bremen/Bremerhaven entfallen von den durchschnittlichen Jahreskosten allein 48 Prozent auf die Kosten für Verbandmittel. Der Anteil der Gesamtkosten, der auf eine Krankenhausbehandlung entfällt liegt bei 44 Prozent. Der Anteil der Jahreskosten, der auf Pflegehonorare und ärztliche Honorare entfällt, liegt bei 4 bzw. 3 Prozent.

Förderung für die nächsten drei Jahre

Das innovative Projekt IP-Wunde läuft über einen Zeitraum von drei Jahren, in dem eine strukturierte flächendeckende Wundversorgung im Land Bremen erschaffen und ausgebaut wird. Dafür wurde ein Behandlernetzwerk von bisher sieben ambulanten, spezialisierten Wundpraxen – davon 5 x in Bremen und 2 x in Bremerhaven – aufgebaut. Die SWP verfügen nicht nur über ausreichend personelle und räumliche Kapazitäten, sondern insbesondere über Ärzte/Ärztinnen und medizinische Fachangestellte mit ICW-Wundfortbildung oder vergleichbarer Fortbildung. Hausärzte/-ärztinnen und Fachärzte/-ärztinnen der Fachgruppen: Innere Medizin, Dermatologie, Chirurgie, Gynäkologie, Orthopädie und Diabetologie können seit dem 01.07.2022 am Projekt teilnehmen und Patient:innen mit einer chronischen Wunde in das Projekt einschreiben. Primärversorgende Haus- und Fachärzte/-ärztinnen können die eingeschriebenen Patient:innen nach dem Erstkontakt an eine SWP weiterleiten und gleichzeitig Teil des Behandlernetzwerks bleiben. Die ausführliche Ursachenklärung und die Ausarbeitung individueller Behandlungspläne sollen eine schnellere Wundheilung erzielen.

Digitale Wundfallakte für das Netzwerk

Die Behandlung von chronischen Wunden ist komplex und erfordert eine fachübergreifende Kommunikation zwischen den Behandelnden. Um diese zu ermöglichen, greift IP-Wunde auf die digitale Wundfallakte IVPnet zurück. Sie dient als gemeinsame Behandlungsplattform, in der alle zur Diagnostik und Therapie notwendigen Daten der jeweiligen Patient:innen strukturiert erfasst und gespeichert werden. Die am IP-Wunde-Netzwerk beteiligten Mediziner:innen können jederzeit darauf zugreifen und ihre Expertise einbringen. Die Patient:innen werden dann bedarfsorientiert von den Wundexpert:innen in einer SWP oder gemeinsam mit den Haus- und Fachärzten/-ärztinnen behandelt. Im Rahmen von IP-Wunde können auch integrierte Kommunikationsmöglichkeiten wie die Videosprechstunde bspw. für immobile Patient:innen oder ein digitales Wundboard bei komplexen Heilungsverläufen genutzt werden. Ebenso können die Betroffenen mittels Patientenzugang einen unkomplizierten Zugriff auf die eigene Patientenakte erhalten.

Neue Versorgungsstruktur wird evaluiert

Das innovative Projekt IP-Wunde versucht zudem die Versorgung konkret und messbar zu verbessern. Es ist in eine cluster-randomisierte Studie eingebettet und wird durch das Kompetenzzentrum für Klinische Studien Bremen wissenschaftlich begleitet. Die Evaluation ist in Form eines modifizierten Stepped-Wedge-Designs mit einer Gesamtstudiendauer von 27 Monaten angelegt. Im geplanten Design erfolgt die Einschreibung in das Versorgungskonzept IP-Wunde bei ca. ein Drittel der Primärversorgerpraxen direkt bei Studieneinschluss und bei ca. zwei Drittel der eingeschlossenen primärversorgenden Praxen um sieben Monate verzögert, d. h. erst im achten Monat seit Studienteilnahme. Die zuletzt genannten Primärversorgerpraxen rekrutieren bis zum siebten Monat Patient:innen für die Kontrollgruppe. Die Behandlung der Kontroll-Patient:innen erfolgt durchgängig nach dem derzeit üblichen Behandlungspfad, ohne in die Intervention einzuschreiben. Ob ein Primärversorger sofort oder verzögert am Versorgungskonzept IP-Wunde teilnehmen kann und in welchem der ersten neun Monate der Einschluss in die Studie erfolgt, wird per Zufall entschieden.

IP-Wunde fördert die Weiterbildung

Ein weiterer Teil des IP-Wunde Projektes ist neben der Schaffung nachhaltiger Versorgungsstrukturen auch die Qualifizierung der Ärzteschaft und medizinischer Fachangestellter. In Kooperation mit der Ärztekammer Bremen konnten die ersten beiden Wundmanagement-Kurse für medizinische Fachanstellte angeboten werden, die jeweils vollständig ausgebucht waren. Um der Nachfrage gerecht zu werden, sind weitere Kurse in Planung.

Lebensqualität Betroffener soll verbessert werden

Ziel des Projektes ist es, Wundschmerzen, Heilungsdauer und die Gefahr von Komplikationen bei den Betroffenen deutlich zu verringern und so ihre Lebensqualität zu verbessern. Die im IP-Wunde Projekt geschaffene hohe Qualität in der Wundbehandlung kombiniert mit der digitalen Unterstützung durch IVPnet schafft nicht nur transparente Teilhabe an der Behandlung aller Beteiligten, sondern verbessert zudem sowohl die Akzeptanz von Leistungsanbietern als auch die Zufriedenheit der Patient:innen.

Nach den ersten sechs Monaten Projektlaufzeit lässt sich bereits eine positive Bilanz ziehen. Über 40 Bremer Haus- und Facharztpraxen sind Teil des Behandlernetzwerks und haben über 100 Patient:innen im Rahmen des Projektes behandelt.

Literatur

[1]   Storck M., Dissemond J., Gerber V., Augustin M., Expertenrat Strukturentwicklung Wundmanagement: Kompetenzlevel in der Wundbehandlung. Gefäßchirurgie 2019; 24: 388–389.
[2]   Diener, H., Debus E., Herberger S.K., Heyer K., Augustin M., Tigges W., Karl T., Strock M.: Versorgungssituation gefäßmedizinischer Wunden in Deutschland. Gefäßchirurgie 2017
[3]   Fischer T.; Baczako A., Konstantinow A., Volz T.: Chronische Wunden richtig behandeln. Hautnah dermatologie 2019; 35 (5): 44–51
[4]   Aykac, V.: Versorgung chronischer Wunden. Klinikarzt 2017; 46 (12): 630–634
[5]   Augustin M., Mayer G, Wild T.: Herausforderungen der alternden Haut- Versorgung und Therapie am Beispiel des UC. Hautarzt 2016; 67: 160–168

Korrespondierende Autorin: Stefanie Hornemann

Kassenärztliche Vereinigung Bremen

Schwachhauser Heerstr. 26/28

28209 Bremen

S.Hornemann@kvhb.de

 

Julia Berg

Kassenärztliche Vereinigung Bremen

Janina Schumacher

Kassenärztliche Vereinigung Bremen

Dr. Bernhard Rochell

Kassenärztliche Vereinigung Bremen

Chirurgie

Hornemann S, Berg J, Schumacher J, Rochell B: Innovationsfondsprojekt holt die Wundbehandlung zurück in die Arztpraxis. Passion Chirurgie. 2023 April; 13(04): Artikel 03_03.

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Digital und vernetzt – Besondere Versorgung chronischer Wunden

Die Versorgung chronischer Wunden stellt nicht nur für Patient:innen und Angehörige eine Belastung dar, sondern fordert auch ärztliches und pflegerisches Personal in ihrem Arbeitsalltag. Der bundesweit gültige besondere Versorgungsvertrag „Innovative Wundversorgung – gut vernetzt, besser verheilt“, den das Hamburger Unternehmen IVPNetworks GmbH im Auftrag der DAK Gesundheit und der IKK classic umsetzt, geht einen neuen Weg in der Versorgung chronischer Wunden. IVP hat Erfahrung bei der Umsetzung solcher Konzepte – seit über 10 Jahren entwickelt das Team individuelle Programme jenseits der Regelversorgung.

Abb. 1.: Deutschlandweites Behandlernetzwerk

Vernetztes Arbeiten ist das zentrale Ziel des seit 2017 bestehenden Programms, dem bundesweit über 260 Leistungserbringer aller einschlägigen Fachrichtungen angehören. Um Transparenz zu schaffen, wurde eine digitale Wundfallakte aufgesetzt, die Praxispersonal, Pflegefachkräfte, Lieferanten und ggf. externe Medizinprodukteberater:innen gemeinsam nutzen. Die Patienteneinschreibung erfolgt durch den behandelnden Arzt, der jederzeit die Verantwortung in der sektorenübergreifenden Versorgung behält. Verbandstoffe werden phasengerecht über die Akte elektronisch und ohne Budgetdruck vom behandelnden Arzt verordnet, sodass auch teurere Verbandmittel zum Einsatz kommen können, sofern ihre Anwendung einen Heilungserfolg verspricht. Die Patient:innen erhalten die Produkte zuzahlungsfrei. Regelmäßige Wunddokumentationen zur Verlaufskontrolle werden entweder von der behandelnden Arztpraxis, einem wundversierten Pflegedienst oder Medizinproduktberater:innen erstellt – die Entscheidung darüber fällt die behandelnde Person. Die Patient:innenversorgung und die Dokumentation im Rahmen des Programms werden für die teilnehmenden Leistungserbringer Add-on vergütet.

Im Rahmen digitaler Fallkonferenzen ist der Austausch mit ärztlichen Kolleg:innen über die Plattform möglich. Über die integrierte KBV-zertifizierte Videotelefonie können Videotermine mit den Patient:innen vereinbart werden. Um die Transparenz im Versorgungsgeschehen für die Patient:innen zu erhöhen, wurde die Möglichkeit eines Patientenzugangs zur Wundfallakte geschaffen.

Bereits mehr als 1000 Wunden wurden im Rahmen des Selektivvertrages seit Vertragsstart versorgt. Die Bandbreite der Diagnosen reicht von chronischen Wunden bei diabetischem Fußsyndrom, Ulcus cruris und Dekubitus über postoperative Wunden bis hin zu Wundheilungsstörungen.

Weitere Informationen zum Programm bietet die Webseite https://www.innovative-wundversorgung.de/.


IVPNetworks GmbH

Conventstr. 8 – 10 Haus D

22089 Hamburg

www.ivpnetworks.de

wundversorgung@ivpnetworks.de

Netzwerkpartnerhotline: 040 / 60 77 222 21

Chirurgie

IVPNetworks: Digital und vernetzt – Besondere Versorgung chronischer Wunden. Passion Chirurgie. 2023 April; 13(04): Artikel 03_04.

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Kommentar – Neubewertung von Hygienevorgaben angesichts der Klimakrise

…eine „Neubewertung von Hygienevorgaben angesichts der Klimakrise“ zu unterstützen, mit dieser Bitte trat Dr. Quitterer, Präsident der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) an die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) sowie den Berufsverband der Deutschen Chirurgie e.V. (BDC) heran. Dies ist einer der ersten Schritte den gleichlautenden Beschluss des 81. Bayerischen Ärztetags [1] im Herbst 2022 umzusetzen.

Die Redaktion „Passion Chirurgie“ las diese Aufforderung und suchte, wer den Antrag federführend anregte und daher weitere Erläuterungen dazu abgeben kann. Die Initiatorin Ursula von Gierke stimmte zu, ein paar Gedanken zu diesem Thema vorzustellen.

Die Errungenschaften der Hygiene sind unstrittig – dies sei bei einer Neubewertung von Hygienevorgaben vorausgeschickt. Eine Neubewertung der praktizierten Vorgaben ist notwendig, um Überregulierungen, Fehlentwicklungen und ein falsches Sicherheitsgefühl zu beenden. Dabei dürfen sinnvolle Hygienemaßnahmen und Klimaschutz auch angesichts der Klimakrise nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Ständige Verbesserungen in Pharmakologie, Anästhesie, Operationstechnik, Impfungen und Hygiene werfen ein strahlendes Licht auf die medizinischen Behandlungsoptionen. Doch dieser Fortschritt [2] hinterlässt auch eine Schattenseite, die bisher nicht ausreichend wahrgenommen, erforscht und beherrscht wird. Es ist eine Art Schmuddelecke aus Unmengen an Abfall von Praxen und vor allem aus Krankenhäusern, die ausgeleuchtet und ausgeräumt werden muss. Abfall ist hässlich, lästig, toxisch bis infektiös, seine Beseitigung aufwändig und teuer. Das allein sind schon genügend Gründe für eine Reduktion. Doch angesichts der Klimakrise gibt es noch weitere, dringende Argumente: Der Verbrauch von Ressourcen wie Energie, Rohstoffe und Wasser ist hoch und bei der Produktion wie auch bei der Vernichtung wird CO2 freigesetzt. Paradox ist, dass unser ärztliches Handeln zwar den einzelnen Kranken hilft, jedoch gleichzeitig und unbeabsichtigt neue Gesundheitsprobleme für alle Menschen hervorruft.

Laut WHO entstanden allein durch die Schutzmaßnahmen während der COVID-19-Pandemie zehntausende von Tonnen Abfall [3]. Das war Extramüll, den alltäglich anfallenden nicht eingerechnet. Bei einer aufwändigen, orthopädischen OP beispielsweise kann dieser bis zu 100 Kilogramm betragen. Einen „Müll-Tsunami“ in deutschen Krankenhäusern nennt dies Prof. Wirtz auf dem Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) [4] in Berlin 2021, der „ökologisch nicht vertretbar ist“.

Noch gibt es keine Blaupause für ein ökologisch vertretbares Konzept, bei dem die Hygienevorgaben die Patientensicherheit wie bisher bestmöglich garantieren. Aber einige spannende Ideen zu medizinischen Abfällen, giftigen Materialien, sichereren Chemikalien, umweltfreundlichem Bauen und Transportwesen, schadstoffärmeren Arzneimitteln, nachhaltiger Materialbeschaffung, klimaschonender Energie- und Wasserversorgung lassen sich bereits finden. Wichtige Denkanstöße zu den Themen geben u. a. Mitteilungen des o. g. DKOU-Kongresses, Vorträge des Helmholtz Instituts [5], „Greenhealthcare“ [6], „KLUG – Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit“ [7] und fundierte Webinare [8] von „Heal without Harm“ [9].

Sofort starten mit drei Punkten

In drei Bereichen kann die Sinn- und Zweckhaftigkeit der bisherigen Hygienevorgaben ohne aufwändige Vorarbeit sofort geprüft werden:

  1. die Verpackung, vor allem von Sterilgut,
  2. die Wiederverwendbarkeit von Materialien, insbesondere der OP-Instrumente und
  3. Vorschriften zur Verwendung unsteriler Einmalhandschuhe.

Weniger Verpackung

Zur Reduktion von Verpackungsmaterial braucht es Mut, Abläufe zu ändern, verstärkte Forschungsprojekte der Fachgesellschaften, Erfahrungen und Kenntnisse der Teams vor Ort. Jeder Schritt muss den örtlichen Bedingungen, ja den speziellen Bedürfnissen der Fachabteilungen, angepasst sein. Als Taktgeber für die Entwicklung sind daher die Abteilungsleitungen gefragt, aber aus ihrer Alltagssituation heraus können alle Beschäftigten mit eigenen Vorschlägen beitragen, überflüssige Verpackungen abzuschaffen. Erste Denkanstöße dazu kann der Blick in den Abfalleimer einer chirurgischen Station und der OP-Räume geben.

Hilfreich – wie bei jedem Veränderungsprozess – ist, dass das Ziel quantitativ bestimmt und qualitativ kontrolliert wird. In Kilogramm oder in Kubikmetern gemessen, spornen „gute“ Zahlen an „noch mehr“ Abfall zu vermeiden. Die Hygienekommission kann mit ihren Argusaugen unerwünschte Änderungen der Keim- und Infektionslast rasch aufspüren und besitzt dank des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) jetzt schon geeignete Surveillance-Methoden.

Weniger Einmalmaterial

Die Frage der Wiederverwendbarkeit von Materialien, insbesondere von OP-Instrumenten, ist hoch komplex. Waren bisher in erster Linie die Zweckmäßigkeit und Kosten bei der Produktauswahl ausschlaggebend, müssen jetzt auch deren schädliche Auswirkungen für Umwelt und Klima mitgerechnet werden. Der Aufwand für Sauberkeit, Hygiene, Sterilisation erfordert gut ausgebildetes, zuverlässiges Personal, das wegen Arbeits- bzw. Fachkräftemangel schwer zu organisieren ist.

Rechtliche Vorgaben wie z. B. wiederaufbereitbare Medizinprodukte verwerfen zu müssen, sind zwar hinterfragbar, jedoch bis zu einer Revision zu beachten. Es wird eng für eine Lösung allein zwischen der Fach- und der Hygieneabteilung, hier werden auch Einkauf und Klinikleitung gefordert. Der Spagat zwischen technischen Ansprüchen, Hygieneerfordernissen, grundlegenden Schutzmaßnahmen, ökologischen Notwendigkeiten und ärztlicher Verantwortung wird anspruchsvoller.

Weniger Einmalhandschuhe

Nicht die (glücklicherweise ausreichend vorhandenen) unsterilen Einmalhandschuhe selbst – sondern ihr aktueller Gebrauch zeigt, dass einige Entscheidungen tatsächlich unzeitgemäß, nicht zweckmäßig und sogar gefährlich sein können [10].

Der Verbrauch an Einmalhandschuhen sollte nicht unterschätzt werden. Mit den 1,7 Milliarden Handschuhen, die der britische National Health Service [11] bereits vor der Covid-19-Pandemie pro Jahr verbrauchte, wird die Dimension klar: Als Kette aneinandergereiht, würden sie fast den Mond erreichen.

Noch mehr als die pure Quantität erschreckt dabei, dass zwei Drittel ohne Indikation getragen wurden, d. h. ohne Kontakt mit potenziell infektiösen Körperflüssigkeiten und ohne verletzte Haut [12]. Oft unzweckmäßig eingesetzt oder sinnlos dauerhaft getragen, vermittelt das Handschuhtragen ein trügerisches Sicherheitsgefühl [13]: Alles wird berührt, Händewaschen und Desinfektion gemieden, die natürliche Hautbarriere geschädigt und eine „Keimschleuder“ entsteht. Diese Angewohnheit wächst inzwischen – z. B. in Bäckereien – weit über den ärztlichen und pflegerischen Bereich hinaus. Grundsätzlich gilt, dass das Tragen von medizinischen, unsterilen Einmalhandschuhen nicht die hygienische Händedesinfektion im Gesundheitssektor bzw. ein sorgfältiges Händewaschen beim Brotverkauf ersetzt.

Um die fehlerhafte Verwendung durch Einzelpersonen, Krankenhäuser und sogar von Regierungsseite zu beenden, gab das Royal College of Nursing 2021 einen überarbeiteten Leitfaden heraus [14]. Diese Kampagne ist in zweierlei Hinsicht beachtlich: mit Schulungen zur Händedesinfektion verbessert sie die Hygiene und zugleich präventiv den Hautschutz. Die Reduktion der Handschuhmenge zum einen, der Anstieg des Verbrauchs an Desinfektionsmitteln zum anderen, sind validierte, einfache Methoden, den Erfolg auf einzelnen Stationen zu messen.

Langfristiges Format für Entscheidungsträger und Verantwortliche gesucht

Mit der Corona-19-Pandemie stieg der Verbrauch von persönlichen Schutzausrüstungen. Nachdem der aerogene Übertragungsweg erkannt war, blieb der Mund-Nasen-Schutz unstrittig. In den bayerischen Impfzentren wurde jedoch die „volle Montur“ mit Plastikschürze und Handschuhen beibehalten. Beim Impfen ist das nach der „Empfehlung an die Hygiene bei Punktionen und Injektionen“ der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) von 2021 nicht erforderlich [15].

Die Verschwendung dieser Millionen von Handschuhen mahnt der Artikel „Der Handschuhberg – ein Detail beim Impfen“ [16] im Juli 2022 an. Die Reaktion der Ärztinnen und Ärzte verschiedenster Arbeitsbereiche, Impfzentren eingeschlossen, war ausnahmslos positiv. Auch die verantwortlichen Institutionen wie das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, das Gesundheitsreferat der Stadt München, das Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umwelt u. a. zeigten durchwegs Verständnis für das Anliegen. Der Vorschlag, gemeinsam an einem Tisch die „Handschuhfrage“ zu lösen, wurde von den beteiligten Institutionen nicht aufgegriffen. Und im Alleingang konnte, wollte oder durfte wohl keiner entscheiden. So wurde an den Vorgaben bis zur Schließung der Impfzentren am Jahresende 2022 nichts geändert.

Im Oktober 2022 forderte der Bayerische Ärztetag eine zeitnahe Revision der bisher geltenden hygienischen und arbeitsschutzrelevanten Vorschriften und Bestimmungen. Die Aufforderung richtet sich an „die für eine Entscheidung notwendigen und befugten Fachgremien, die politisch verantwortlichen und zuständigen Institutionen bzw. Gremien“. Für die Neubewertung sind neben den Gesundheitsministerien, Gesundheitsämtern der Kommunen, Arbeitsmedizinischen Einrichtungen/Fakultäten und Hygieneabteilungen, auch Berufsgenossenschaften und Arbeitnehmervertretungen [17], nicht nur wegen des Rechts auf Mitbestimmung, sondern wegen ihrer praxisnahen Kenntnisse wichtige Partner.

„Nur“ auf die Handschuhe beim Impfen zu verzichten, wäre eine einfache „Übung“ gewesen. Jedenfalls im Vergleich zur jetzt angesagten, umfassenden „Neubewertung von Hygienevorgaben angesichts der Klimakrise“. Die medizinischen Fachgesellschaften und die ärztliche Selbstverwaltung müssen ihren Einfluss nutzen, ein neues Format für die Balance von guter Medizin, Hygiene, Arbeits-, Eigen- und Fremdschutz mit ökologischen Notwendigkeiten zu schaffen.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via passion_chirurgie@bdc.de.

Dr. med. Ursula von Gierke

Fachärztin für Innere Medizin, Tropenmedizin und Infektiologie

Beraterin, Koordinatorin, Trainerin für Ethik in der Medizin (AEM) ursula_von_gierke@hotmail.com

Chirurgie

von Gierke U: Kommentar – Neubewertung von Hygienevorgaben angesichts der Klimakrise. Passion Chirurgie. 2023 April; 13(04): Artikel 03_06.

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