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Neue Ausgabe der Passion Chirurgie: Digitalisierung & Innovationen in der Chirurgie

Hier geht’s zur neuen Ausgabe der PASSION CHIRURGIE 11/25: Digitalisierung & Innovationen in der Chirurgie 

Die aktuelle Ausgabe der PASSION CHIRURGIE widmet sich der Digitalisierung in der Chirurgie – mit praxisnahen Einblicken in Künstliche Intelligenz, elektronische Patientenakten und robotische Systeme. Dr. Markus Vogel und Dr. Johanna Ludwig beleuchten Chancen und Grenzen von KI-Anwendungen, während Dr. Peter Kalbe, Dr. Florian Barth und Oliver Butzmann die ePA 3.0 aus praktischer und juristischer Sicht analysieren. Dr. Dolores Thea Krauss berichtet zudem über den Stand autonomer Chirurgie. Ein Heft voller Impulse für eine patientennahe digitale Zukunft.

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Viel Spaß beim Lesen,
Ihr
PASSION-CHIRURGIE-Team

Künstliche Intelligenz in der Chirurgie

Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sind in aller Munde. Die Veröffentlichung von ChatGPT (OpenAI) im November 2022 hat erstmals einer großen Anzahl von Menschen die Technologie der Large Language Modelle (LLM) verfügbar gemacht und ein jüngeres Bild von Künstlicher Intelligenz (KI) geprägt. Die GPT-Technologie (Generative Pre-trained Transformer) ist seit 2018 öffentlich verfügbar (von Google 2017 erstmals veröffentlicht [27]) und damit etwa sieben Jahre alt. Auch der Begriff Künstliche Intelligenz hat ein höheres Alter und wurde bereits 1956 eingeführt. Jonathan Swifts fantastischer Roman „Gullivers Reisen“ von 1726 stellt die Idee von „The Engine“ vor, einem großen mechanischen Gerät, das Wissenschaftlern hilft, neue Ideen, Sätze und Bücher zu generieren.

Eine der ältesten Arbeiten zur Anwendung von „KI“ in der Chirurgie beschreibt die durchaus erfolgreiche Anwendung von Computeralgorithmen zur Diagnostik von abdominellen Schmerzen [6]. Dies unterstreicht bereits die besondere Bedeutung einer unabdingbaren Zusammenarbeit zwischen klinisch erfahrenen Chirurginnen und Chirurgen sowie Forschenden im Bereich der KI [25].

Dieser Artikel beleuchtet aktuelle Entwicklungen und konkrete Anwendungen von KI im chirurgischen Umfeld von der klinischen Entscheidungsunterstützung über Assistenzsysteme im Operationssaal bis hin zu perioperativen Einsatzbereichen, sowie die sich daraus ergebenden Chancen, Herausforderungen und ethisch-regulatorischen Fragen.

Begriffsbestimmung

Künstliche Intelligenz ist ein insgesamt unspezifischer Oberbegriff, der zunächst eine maschinelle Abbildung „intelligenten“ Verhaltens (wie Planen, Entscheiden, Wahrnehmen, Lernen, Sprachverstehen) beschreiben soll. Konkret lässt sich darunter auch das Maschinelle Lernen verstehen, das Maschinen ermöglicht, Vorhersagen, Klassifikationen, Regressionen und Entscheidungen durch das Lernen und Erkennen von Mustern abzuleiten.

Der Begriff Deep Learning wiederum beschreibt das Lernen von Merkmalen direkt aus Rohdaten. Diese Technologie wird im breiteren Umfang bereits etwa zur intraoperative Bildanalyse, Segmentierung in CT/MRT für Tumor-/Organabgrenzung und Resektionsplanung oder Instrument- und Schritt-Erkennung im OP genutzt. Alle diese Verfahren sollen Maschinen zu zweckrationalem, kontextangemessenem Verhalten befähigen. Dabei unterscheidet man symbolische Ansätze (regel-/wissensbasiert, z. B. Entscheidungsbäume, Expertensysteme) und subsymbolische Ansätze (datengetrieben, v. a. Lernverfahren), was ein Spektrum von wissensbasierten OP-Pfadempfehlungen bis zu lernenden Bild- und Signalsystemen bedeutet [11].

Am Patient:inneN-Bett und in der Praxis

KI-Systeme verlagern sich zunehmend aus dem OP oder von Forschungsanwendungen in den klinischen Alltag am Patient:innenbett: Sie analysieren Bild-, Vital- und Verlaufsdaten, präzisieren Diagnosen, erkennen Risiken früh und bewerten Therapieoptionen patient:innenindividuell. Im Zusammenspiel von Diagnostik, Entscheidungsunterstützung und kontinuierlichem Monitoring entlasten sie Arbeitsabläufe und erhöhen die Patient:innensicherheit. Eine Voraussetzung ist, dass die Modelle validiert, erklärbar und in die klinisch und gesetzliche Regulatorik eingebettet sind.

Klinische Entscheidungsunterstützung

Präoperativ ermöglichen KI-Modelle eine patient:innenindividuelle Risikostratifizierung: Im Projekt KIPeriOP analysiert eine KI-basierte Software heterogene Gesundheitsdaten (u. a. Demografie, Komorbiditäten, Labor, Medikation), um das Operationsrisiko präziser vorherzusagen und Hochrisikopatient:innen früh zu identifizieren, mit dem Ziel, Komplikationen und Mortalität zu senken [7].

Peri- und postoperativ kommen zunehmend kontinuierliche Überwachungssysteme zum Einsatz, die Vital- und Verlaufsdaten in Echtzeit auswerten und bei drohender Sepsis, akutem Nierenversagen oder erhöhter Sturzgefahr proaktiv alarmieren, sodass präventive Maßnahmen rechtzeitig eingeleitet werden können. Für die klinische Nutzbarkeit entscheidend sind die prospektive Validierung, transparente Schwellenwerte, Integration in bestehende Workflows (z. B. Krankenhausinformationssystem, Alarmmanagement über Mobilfunk oder DECT-Telefon) und wirksame Mechanismen gegen Alarmmüdigkeit. Ebenso erforderlich sind Regeln zur dauernden Nachkalibrierung oder Adjustierbarkeit der Systeme bei Populations- oder Prozessänderungen.

Die Implementierung von Entscheidungsunterstützung in der Klinik kann signifikante, klinisch sinnvolle Verbesserungen erzielen. Auch der Gemeinsame Bundesausschuss empfiehlt Programme zur Entscheidungsunterstützung als Versorgungsstandard und gibt Hinweise auf den Implementierungsrahmen für KI-gestützte Entscheidungsunterstützung am Patient:innenbett [2, 20].

Dokumentationsassistenzsysteme

Dokumentationsassistenzsysteme auf KI-Basis helfen, zeitaufwendige Routineaufgaben wie die Dokumentation zu automatisieren. Besonders in der Pflege, wo ein hoher Dokumentationsaufwand herrscht, bieten solche Systeme großes Potenzial zur Entlastung und Qualitätssteigerung.

Beispielsweise können chirurgische oder chronische Wunden fotografisch erfasst und automatisch mithilfe von KI analysiert werden. Sinnvollerweise kommen sogenannte Web-Anwendungen zum Einsatz (überall verfügbar, wo ein Netzwerkanschluss, z. B. WLAN, vorhanden ist). Diese umgangssprachlich cloudbasierten Lösungen können dann die Wundmaße und -merkmale aus den Bildern extrahieren. Das System erstellt daraufhin Vorschläge für die weitere Behandlung, wie Hinweise auf erforderliche Verbandswechsel oder Risikofaktoren für Wundheilungsstörungen [14].

Sprachbasierte KI kann dazu beitragen, die Qualität und Nachvollziehbarkeit der Dokumentation zu erhöhen, indem sie z. B. gesprochene oder geschriebene Notizen automatisch strukturiert, relevante Informationen extrahiert und in die Patient:innenakte überträgt. Sogenannte Ambient-AI-Scribes (Systeme, die frei gesprochene Sprache verarbeiten im Gegensatz zum klassischen Diktat) verbreiten sich bei hoher Akzeptanz von Klinikern und Patient:innen rasch. Die Systeme können messbar Dokumentationsaufwand reduzieren und gleichzeitig die Dokumentationsqualität verbessern. Besonders ist auf die klinische Supervision, die Einwilligung und transparente Arbeitsabläufe zu achten, damit KI-generierte Dokumentationsentwürfe verlässlich in die klinische Arbeit übernommen werden können. Für den OP bedeutet das, dass KI in freier Sprache mit Raummikrofonen (ohne Headset) Indikation, Zugang, wesentliche Schritte, Befunde, Implantate und Komplikationen als Entwurf und Herausfilterung unwesentlicher Gesprächsbestandteile des Personals generieren kann [22].

Intra- und perioperativ

Entlang des gesamten Patient:innenpfades können KI-Systeme zum Einsatz kommen. Im Operationssaal entfalten KI-gestützte Robotik, intraoperative Bildgebung und Assistenzsysteme ihre Wirkung im Verbund: präoperative Modelle, Echtzeit-Video-/ Volumenbilddaten und Instrumententracking werden zu kontextbewussten Hinweisen, Navigations- und Sicherheitsfunktionen zusammengeführt. Ziel ist immer der Mensch im Mittelpunkt („Human in the Loop“ oder „Shared Autonomy“. Chirurgin und Chirurg behalten die Kontrolle, während Algorithmen Strukturen markieren, Resektionspfade vorschlagen, Abweichungen detektieren und workflowgerechte Entscheidungshilfen latenzarm und nahtlos in den OP-Datenfluss integriert liefern [16].

Beispielhaft untersucht das Projekt KIARA die automatisierte Erstellung von OP-Berichten, indem KI-basierte Bildverarbeitung und Sprachbefehle (in normaler Sprache mit Erkennung der Absicht des Sprechenden (Intent-Recognition) anstelle starrer Kommandos) genutzt werden, um chirurgische Arbeitsschritte zu erkennen und dokumentationswürdige Ereignisse zu erfassen. Ziel ist es, das medizinische Personal durch automatisch generierte Berichtsentwürfe zu entlasten und die Effizienz sowie Qualität der OP-Dokumentation zu steigern [13].

In der Administration

In der Administration entlasten KI-gestützte Verfahren die Routinen von Klinik und Praxis, indem sie Dokumente aus Freitext automatisiert strukturieren, Abrechnungsinformationen (z. B. OPS/ICD) aus OP-/Arztberichten extrahieren und über Prognosemodelle Belegung, OP-Slots und Materialflüsse vorausschauend planen.

Die Dokumentationsassistenzsysteme können beispielsweise Formulare und Berichte automatisch ausfüllen, indem Daten aus verschiedenen Quellen, wie Sensoren, Bildanalysen oder Freitext zusammengeführt werden. Standardisierte Abläufe werden dokumentiert, ohne dass das Personal jeden Schritt manuell eingeben muss. Dies erhöht die Qualität und Nachvollziehbarkeit der Dokumentation, reduziert Fehlerquellen, erleichtert Materialmanagement und Qualitätssicherung.

Abrechnungsassistenzsysteme erfassen und ordnen erbrachte Leistungen automatisch, indem sie relevante Informationen aus der elektronischen Patient:innenakte extrahieren. Diagnosen, Prozeduren und Behandlungsdaten werden automatisch den richtigen Abrechnungscodes zugeordnet und in die entsprechenden Systeme übertragen. Prüfmechanismen und Vergleich mit menschlichen Codierern zeigen, dass die KI-Systeme nicht nur schneller, sondern auch potenziell präziser arbeiten [12].

Im Ressourcenmanagement analysieren KI-Systeme Belegungspläne, Auslastung und Verfügbarkeiten von OP-Sälen, Personal und Geräten. Sie schlagen optimale Einsatzzeiten vor und helfen, Engpässe frühzeitig zu erkennen. Durch die Analyse historischer Daten können Personal- oder Materialengpässe vorhergesagt und Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. So werden Abläufe effizienter koordiniert und Ressourcen optimal genutzt, was zu einer besseren Auslastung und Planungssicherheit im Klinikalltag beiträgt [26].

Damit wird die Administration zu einem der wichtigsten Innovationsfelder für den erfolgreichen Einsatz von KI in der Medizin.

Für die Fort- und Weiterbildung

Für die Fort- und Weiterbildung ermöglichen KI-gestützte Simulationen (Virtual Reality (VR)/Augmented Reality (AR), synthetische Fälle) ein risikofreies, objektivierbares Training mit automatisierter Leistungsanalyse (z. B. Fehlerprofile, Zeit-/Pfadmetriken). Personalisierte Lernplattformen adaptieren Inhalte an Kompetenzniveaus und OP-Kataloge, verknüpfen Falllernen mit Leitlinien und CME-Credits und integrieren validierte Prüfungsformate sowie Feedback in bestehende Weiterbildungs- und Qualitätsstrukturen.

Schnell wurden die Fähigkeiten von ChatGPT untersucht, als interaktives Wissenstool zur Unterstützung von medizinischem Lernen zu dienen [9]. Im Rahmen der chirurgischen Aus- und Weiterbildung eröffnen KI-basierte Systeme zudem neue Möglichkeiten für ein risikofreies und objektivierbares Training. Durch die Analyse großer Datenmengen und die automatisierte Auswertung von Leistungsparametern können Fehlerprofile, Zeit- und Pfadmetriken erfasst und ausgewertet werden. Dies ermöglicht eine präzise Rückmeldung zum Lernfortschritt und zur Qualität der durchgeführten Simulationen. KI kann dabei helfen, Routinetätigkeiten zu automatisieren und die Lernenden gezielt auf kritische Situationen vorzubereiten. KI-gestützte Lernplattformen sind in der Lage, Inhalte individuell an das Kompetenzniveau der Lernenden sowie an OP-Kataloge und Weiterbildungsanforderungen anzupassen. Sie verknüpfen Falllernen mit aktuellen Leitlinien und ermöglichen die Integration von CME-Credits sowie validierten Prüfungsformaten. Durch die kontinuierliche Analyse von Lernverhalten und Ergebnissen können personalisierte Empfehlungen und Feedback gegeben werden, die direkt in bestehende Weiterbildungs- und Qualitätsstrukturen eingebunden werden [10].

Im deutschsprachigen Kontext reichen die Beispiele von der Charité mit dem Berliner Simulations- & Trainingszentrum (BeST/CAT) für chirurgisch-anatomische Kurse und VR-gestützte Trainingspfade, die strukturiert in Curricula eingebettet sind, bis zu Fraunhofers HandsOn.surgery, einem VR-/Haptik-Simulator auf Basis realer CT-Daten zur objektivierbaren Skills-Schulung [5, 8].

Für die CME-Fortbildung bündeln BDC-Plattformen (eAkademie, Webinarformate) modulare Online-Kurse und Live-Angebote, die sich thematisch an chirurgischen Leitlinien und Weiterbildungsanforderungen orientieren [1].

Verfügbarkeit von KI im Gesundheitswesen

Technische Aspekte

Trotz aller verheißungsvollen Potenziale gibt es auch erhebliche Herausforderungen beim Einsatz von KI in der Praxis. Technisch gesehen sind viele KI-Systeme noch in der Entwicklungs- oder Erprobungsphase. Eine große Hürde ist die Verarbeitung der enormen Datenmengen in Echtzeit. Im Operationssaal fallen simultan Bilddaten (z. B. Endoskopie, Ultraschall, Bildwandler), Sensordaten (Instrumententracking, Vitaldaten) und Steuerungsinformationen an. All das muss in Echtzeit erfasst, interpretiert und umgesetzt werden. Hier stoßen heutige im OP installierte Computerleistungen und Algorithmen teils an Grenzen. Die Anbindung an Hochleistungs-Rechenzentren („Cloud“) ist immer noch mit Skepsis verbunden [15]. Zudem entsteht eine Komplexität der Integration verschiedener Systeme: Im Idealfall sollten Navigation, Robotik, Bildgebung und Monitoringsysteme nahtlos zusammenspielen. In der Realität fehlen jedoch oft standardisierte Schnittstellen, und die Komponenten unterschiedlicher Hersteller sind nicht ohne Weiteres kompatibel, wobei KI hier unterstützend wirksam werden kann. Speziell in Deutschland kommt hinzu, dass viele Krankenhäuser unter einem Investitionsstau leiden und die finanziellen Mittel fehlen, um neueste und oft teure Technologien flächendeckend anzuschaffen. Laut Bundesverband Medizintechnologie beläuft sich der Investitionsbedarf der Kliniken auf rund 50 Milliarden Euro [4]. Ohne gezielte Förderprogramme und klare und mutige strategische Planung der Geschäftsführungen kann die breite Einführung von KI-Systemen nicht gelingen.

Ethische und regulatorische Aspekte

Der Einsatz von KI im klinischen Umfeld wirft ethische und rechtliche Fragen auf. An erster Stelle steht oft die Haftungsfrage: Wer ist verantwortlich, wenn ein KI-System etwa eine falsche Empfehlung gibt, Differentialdiagnosen unterschlägt und dadurch ein Schaden entsteht? Aktuell liegt die letzte Entscheidungshoheit immer beim jeweils verantwortlichen behandelnden Personal, doch mit zunehmender Autonomie von (agentischen) Systemen muss die Frage nach Verantwortung klar beantwortet werden [21]. KI-Systeme im Gesundheitswesen müssen bereits in der Planung und Entwicklung verantwortlich gestaltet werden (Responsible AI, Accountability) [17].

Eng verbunden mit dem Verantwortungsbegriff ist die Transparenz: Klinische KI-Systeme sollten so offen wie möglich darstellen können, wie bzw. warum sie zu ihren Ergebnissen kommen (Explainable AI, Transparency). Ein weiterer Aspekt ist die Gerechtigkeit und Zugänglichkeit von KI (Inclusiveness) [18]. Hochentwickelte Technologien drohen, zunächst nur an großen Zentren verfügbar zu sein, was städtische Kliniken gegenüber ländlichen bevorzugt. Ethisch ist jedoch zu fordern, dass alle Patientinnen und Patient:innen gleichberechtigten Zugang zu den Vorteilen von KI haben sollten und dass keine Zweiklassenmedizin entsteht. Dies wiederum ist ein oft übersehenes Argument für den Einsatz von Rechenzentren, Cloud-Computing oder Hybrid-Systemen[19]. Hier spielen erneut Kostenfragen eine Rolle: Wer investiert in KI-Systeme und wie stellen wir sicher, dass ihr Einsatz nicht primär ökonomisch motiviert ist, sondern dem Patient:innen- bzw. Gemeinwohl dient?

Datenschutz ist ebenfalls ein zentrales Thema. Während große „Foundation“-Modelle, bzw. Large Language Modelle, bereits einem Training unterzogen wurden, benötigt spezialisierte KI für ihr Training große Mengen an Patient:innendaten. Diese Daten müssen gemäß Datenschutzgesetzen (z. B. DSGVO in Europa) anonymisiert oder entsprechend geschützt sein, um die Privatsphäre der Patient:innen zu wahren. Zudem müssen Patient:innen in der Regel informiert werden, wenn KI-Systeme in ihrer Behandlung eingesetzt werden, um Transparenz und Einwilligung sicherzustellen. Dies gilt vorbehaltlich sich entwickelnder oder spezieller Anforderungen.

Regulatorisch unterliegen viele KI-Anwendungen in der Medizin den gleichen strengen Anforderungen wie andere Medizinprodukte. In der EU müssen KI-gestützte Systeme, die diagnostische oder therapeutische Entscheidungen beeinflussen, eine CE-Zulassung nach der Medical Device Regulation (MDR) durchlaufen. Dieser Prozess stellt hohe Anforderungen an Sicherheit, Validität und Qualität der Software. Ähnlich prüft die FDA in den USA KI-Systeme auf Wirksamkeit und Sicherheit, bevor sie in den Markt dürfen. Solche Regulierungen sind wichtig, um einen verlässlichen Rahmen zu schaffen, der Innovation ermöglicht, ohne die Patient:innensicherheit zu kompromittieren. Gleichzeitig stehen die Regulierungsbehörden vor der Herausforderung, mit dem rasanten technischen Fortschritt Schritt zu halten. Begriffe wie „Software as a Medical Device“ oder „Software as a Service“ (SaaS) und neue Kategorien für lernende Algorithmen werden diskutiert. Zudem liegt mit dem AI Act eine Regulatorik vor, die Hochrisiko-Anwendungen (wozu medizinische KI zählt) besonders strengen Auflagen unterwirft. Es ist davon auszugehen, dass in diesem dynamischen Umfeld der rechtliche Rahmen laufend angepasst werden wird, um sowohl Förderung von Innovation als auch Kontrolle zu gewährleisten [3].

Ausblick in die Zukunft

Die nächste Entwicklungsstufe klinischer KI verschiebt den Schwerpunkt von isolierten Modulen hin zu koordinierten Agenten-Ökosystemen. Offene Protokolle wie MCP (Model Context Protocol) und entstehende A2A-Schnittstellen (A2A, Agent-to-Agent) können Kontexte, Werkzeuge und Berechtigungen standardisieren, sodass diagnostische, administrative und therapeutische Agenten interoperabel und selbstständig zusammenarbeiten: vom Stationsarbeitsplatz bis in den OP. Für Patient:innen kann das bedeuten, das im Zusammenhang mit der elektronischen Gesundheitsakte auf Patient:innenwunsch und zuarbeitenden Technologieunternehmen gewissermaßen ein „digitaler Leibarzt“ entsteht: ein sicherheitskritisch regulierter Meta-Agent-Arzt, der longitudinal Patient:innendaten, Leitlinien und Präferenzen bündelt, evidenzbasierte Optionen priorisiert und Übergaben (z. B. Prä-OP → Eingriff → Nachsorge) orchestriert. Parallel dazu entstehen KI-informierte Patient:innen: verständliche Erklärungen, personalisierte Risiko-Nutzen-Abwägungen und adaptive Einwilligungsdialoge stärken Autonomie und Adhärenz, wenn Transparenz, Datenschutz und Barrierefreiheit konsequent mitgedacht werden.

Intraoperativ wachsen im OP robotische Assistenz, intraoperative Bildgebung und kontextbewusste Assistenzsysteme zusammen. Kurzfristig dominiert „Shared Autonomy“: Algorithmen markieren Strukturen, stabilisieren Kameraführung, schlagen Resektionspfade vor und dokumentieren Schritte; die chirurgische Entscheidungshoheit bleibt menschlich. Mittel- bis langfristig rücken agentische OP-Suiten in Reichweite, die Video-, Tracking- und Sensordaten in Echtzeit fusionieren, Lernkurven modellieren und Qualitätsmetriken automatisch ableiten, sofern Latenz, Verfügbarkeit (Edge/Cloud-Hybrid) und haftungsfeste Regulatorik gelöst sind.

Querschnittlich wird die freie Sprachschnittstelle zum Normalfall: multimodale Eingabe/Ausgabe (Sprache, Bild, Video) erlaubt es, Dokumentation, Kodierung und Abfragen „nebenbei“ zu erledigen, samt prüfbarer Quellen, strukturierten Feldern und Audit-Trail. Auf Systemebene markiert dies den Paradigmenwechsel von reaktiver zu proaktiver und präventiver Medizin: kontinuierliche Verlaufsmodelle erkennen Verschlechterungen im Patient:innenpfad früh, priorisieren Interventionen und koppeln Versorgungspfade dynamisch an Ressourcen (Betten, OP-Slots, Home-Monitoring) [23].

Offen bleiben zentrale Fragen:

  • Sicherheit & Haftung: Wie werden agentische Entscheidungen auditierbar, versioniert und rückverfolgbar—und wie verteilt sich Verantwortung zwischen Hersteller, Einrichtung und Behandelnden?
  • Interoperabilität & Standards: Welche Mindestprofile (Daten, Ontologien, Telemetrie) braucht A2A/MCP im Klinikverbund, inkl. FHIR-Anbindung und Geräte-APIs?
  • Gerechtigkeit & Zugang: Wie vermeiden wir eine Zwei-Klassen-Medizin und sichern robuste Modelle für diverse Populationen und Versorgungsrealitäten?
  • Betrieb & Nachhaltigkeit: Wie gestalten wir Edge/Cloud-Hybride, die Echtzeitfähigkeit, Kosten, Energiebedarf und Datensouveränität in der EU-Regulatorik (MDR/AI-Act) balancieren?
  • Mitnahme des Personals: Wie können Ärztinnen und Ärzte, Pflegende und andere Gesundheitsberufe die Innovation mitgestalten und Wissen über KI erlangen (AI Literacy)?

Damit wird Künstliche Intelligenz als unverzichtbare klinische Infrastruktur erfahrbar: Sie verbindet Menschen, Daten und Werkzeuge zu lernenden Versorgungssystemen mit mehr Sicherheit, Zeit für die Versorgung und messbarer Qualität.

Fazit

Künstliche Intelligenz (KI) entwickelt sich rasant zu einer unverzichtbaren Infrastruktur in der Chirurgie und im Gesundheitswesen. Sie verbindet Menschen, Daten und Werkzeuge zu lernenden Versorgungssystemen, die mehr Sicherheit, Zeit für die Kernaufgaben und messbare Qualität ermöglichen. KI-Anwendungen reichen von klinischer Entscheidungsunterstützung und Dokumentationsassistenz über intraoperative Assistenzsysteme bis hin zu administrativen und Weiterbildungsbereichen. Die Vorteile liegen in der verbesserten Patient:innensicherheit, Effizienzsteigerung und Entlastung des Personals.

Gleichzeitig bleiben Herausforderungen bestehen: Die technische Integration, regulatorische Anforderungen, Datenschutz, Haftungsfragen und die Sicherstellung von Gerechtigkeit und Zugang müssen konsequent adressiert werden. Nur durch verantwortungsvolle Entwicklung, transparente Prozesse und die aktive Mitnahme des medizinischen Personals kann KI ihr volles Potenzial entfalten und zu einer nachhaltigen Verbesserung der chirurgischen Versorgung beitragen.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via passion_chirurgie@bdc.de.

Dr. med. Markus Vogel, MBA

Chief Medical Information Officer

Director Business Strategy

Microsoft Deutschland GmbH

Walter-Gropius-Str. 5

80807 München

markus.vogel@microsoft.com

Chirurgie

Vogel M: Künstliche Intelligenz in der Chirurgie. Passion Chirurgie. 2025 November; 15(11): Artikel 03_02.

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BDC-Praxistest: Hospitationsbörse der Niederrheinisch-Westfälischen Gesellschaft für Chirurgie

Vorwort

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

das Gebiet Chirurgie splittet sich nach der fachlichen Spreizung durch die Neuplanung des Krankenhausmarkts weiter auf. Konzepte in der Weiterbildung werden zukünftig Absprachen und Verbünde zum Wechsel und Austausch benötigen. Das betrifft nicht nur Versorgungskrankenhäuser, die durch die Reform schwergewichtige Eingriffe verlieren, sondern auch – und vielleicht noch mehr – Groß- und Universitätskliniken, denen die Daily Bread Surgery abhandenkommen wird.

Ein erster Schritt auf diesem Weg der Vernetzung kann eine Hospitationsbörse sein. Nigelnagelneu ist die Idee nicht. Hospitationen gab es für elektive Mitglieder der chirurgischen Gemeinschaft schon immer. Wirklich neu ist der bodenständige breite Ansatz der Hospitationsbörse NRW, der jede und jeden anspricht und damit alle einschließt. Man kann nur hoffen, dass dieser Ansatz Schule macht. Er lässt sich leicht auf andere Regionalvereinigungen übertragen. Und in das neu zu definierende Portfolio der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie würde es auch gut passen, oder nicht?

Inspirierende Lektüre wünschen
Prof. Dr. med. C. J. Krones   und    Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Wissen teilen, voneinander lernen, operative Expertise erweitern

Die Umsetzung der Krankenhausreform mit der dazugehörigen Festlegung der Leistungsgruppen, wie sie in diesem Jahr in Nordrhein-Westfahlen schon gestartet ist, wird auch für die Weiterbildung im Fach Viszeralchirurgie erhebliche Auswirkungen haben.

So wird es in der Zukunft nicht mehr an allen Kliniken die Möglichkeit geben das weite Spektrum der Viszeralchirurgie vollständig zu sehen und zu erlernen. Die Niederrheinisch-Westfälische Gesellschaft für Chirurgie hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt das Fach Viszeralchirurgie weiterhin attraktiv zu gestalten. Hierzu sind insbesondere auch die angehenden Chirurginnen und Chirurgen in der Gesellschaft willkommen. Jungen Kolleginnen und Kollegen soll die Tür geöffnet werden, um gemeinsam die Zukunft zu gestalten und um das Fach Viszeralchirurgie –als Einheit- zu kämpfen. Insbesondere wird es in Zukunft umso wichtiger sein, dass die Klinken sich untereinander vernetzen, die Zusammenarbeit zu fördern und sich auszutauschen. Vielleicht wird es in Zukunft nötig sein, Rotationsprogramme über mehrere Klinikstandorte zu entwickeln.

Die Hospitationsbörse der Niederrheinisch-Westfälischen Gesellschaft für Chirurgie soll chirurgisch tätigen Ärztinnen und Ärzten aller Weiterbildungsstufen die Gelegenheit bieten, hochspezialisierte Eingriffe aus nächster Nähe zu erleben- strukturiert, unkompliziert, intensiv betreut und praxisnah. So sollen Mitglieder der Gesellschaft die Möglichkeit haben, sich nach vorheriger Anmeldung (info@chirurgie-nrw.de) Eingriffe anzusehen, die für die persönlich relevant und interessant sind.

Die Niederrheinisch Westfälische Gesellschaft für Chirurgie ruft dazu auf das Angebot einer Hospitation großzügig wahrzunehmen. Die Liste der aktuell teilnehmenden Kliniken wird auf der Webseite der Gesellschaft regelmäßig aktualisiert (Tab. 1).

        

Dr. med. Uta Bultmann

Oberärztin

Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie

Alfried Krupp Krankenhaus

Alfried-Krupp-Str. 21

45131 Essen

Uta.Bultmann@krupp-krankenhaus.de

Gesundheitspolitik

Bultmann U: BDC-Praxistest: Hospitationsbörse der Niederrheinisch-Westfälischen Gesellschaft für Chirurgie. Passion Chirurgie. 2025 November; 15(11): Artikel 05_02.

Diesen Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Politik | Aus- und Weiterbildung.

Mindestmengen in der komplexen Fehlbildungschirurgie

Miriam Wilms, Horst Schuster

Am 21.08.2025 wurde der Antrag des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-SV) zur Beratung einer Mindestmenge der korrektiven Chirurgie des Morbus Hirschsprung bei Kindern im Plenum des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) einstimmig angenommen. Am 16.10.2025 folgte die Annahme eines entsprechenden Antrages zur Korrekturoperation der anorektalen Malformationen. Erstmalig beginnen somit Beratungsverfahren zu gesetzlichen Mindestmengenregelungen für den Fachbereich Kinder- und Jugendchirurgie. Vor dem Hintergrund aktueller Debatten um kindgerechte Versorgung in der Kindermedizin und der zunehmenden Zentralisierung und Subspezialisierung in der Erwachsenenchirurgie möchte dieser Artikel die Chancen von gesetzlichen Mindestmengen für Qualität und Weiterbildung in dem besonders sensiblen Bereich der komplexen Fehlbildungschirurgie beleuchten.

Versorgungsstruktur der Kinderchirurgie

Kinderchirurgie ist ein verhältnismäßig junges Fachgebiet. Zwar wurde die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie bereits 1963 gegründet (seit 2024 umbenannt in Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendchirurgie, DGKJCH), erst 1992 wurde jedoch auch in Westdeutschland die (in der DDR seit 1955 existierende) Facharztweiterbildung „Kinderchirurgie“ eingeführt [1, 2]. Bis dahin führten Erwachsenenchirurg:innen ohne eine gesonderte Facharztbezeichnung die chirurgischen Eingriffe bei Kindern durch. Die bundesweite Anerkennung von Kindern als besondere Patientengruppe im Jahr 1992 und eine auf sie zugeschnittene Facharztweiterbildung ist als Errungenschaft anzusehen.

Seit dieser Etablierung haben sich die Inhalte der Facharztweiterbildung Kinderchirurgie allerdings kaum geändert. Zwar wurden 2005 eine Zusatzweiterbildung Kinderorthopädie und 2020 eine Zusatzweiterbildung Kinderurologie eingeführt; das operative Spektrum des Fachs blieb jedoch unverändert breit [3, 4]. Es umfasst Eingriffe, die sich bei der Behandlung von Erwachsenen auf die Fachbereiche Neurochirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie, Allgemein- und Viszeralchirurgie, Gynäkologie, Thoraxchirurgie, Urologie und weitere Facharztspezialisierungen aufteilen würden.

Dass operative Eingriffe an so unterschiedlichen Organsystemen bei Kindern im Gegensatz zu Erwachsenen durch eine einzige Fachrichtung durchgeführt werden, hat vielerlei Gründe, u. a. die insgesamt deutlich niedrigere Fallzahl von kinderchirurgischen Eingriffen an den einzelnen Organsystemen im Vergleich zu den jeweiligen Fachbereichen der Erwachsenenchirurgie. Ca. 130.000 Operationen werden insgesamt über alle Organsysteme pro Jahr bei Menschen unter 18 Jahren in Deutschland durchgeführt. Im Jahre 2015 erfolgten davon ca. 20.000 Eingriffe ambulant [5]. Im Vergleich dazu erfolgten bei Erwachsenen allein knapp 50.000 onkologische kolorektale Resektionen pro Jahr in den Jahren 2012 bis 2015 [6].

Bei dem wesentlichen Teil der stationären Behandlungen in der Kinderchirurgie handelte es sich um Eingriffe der Grund- und Regelversorgung, mit zum Beispiel ca. 8.650 Wundversorgungen, 6.400 Leistenherniotomien, 5.450 Appendektomien und 5.350 Operationen bei Unterarmfrakturen [5]. Für diese Art der Eingriffe und für diese Patient:innengruppe ist die breite Ausrichtung des Fachgebietes angemessen, entsprechend der Facharztbezeichnung „Allgemeinchirurgie“ beim Erwachsenen. Die im Durchschnitt niedrige Komplexität des Faches Kinder- und Jugendchirurgie zeigt der CMI in einer nach dem NRW-Modell zur Leistungsgruppendefinition identifizierten Leistungsgruppe „Kinder und Jugendchirurgie“ mit nur 0,695 im Jahr 2021 [7]. Pioch et al. schätzten das Ambulantisierungspotenzial in der Kinder- und Jugendmedizin im Jahr 2022 auf ca. 27 % der stationären Behandlungsfälle [8].

Ebenfalls enthalten in diesen 130.000 kinderchirurgischen Operationen pro Jahr sind allerdings auch zwei Patient:innengruppen, die sich in ihrer Inzidenz und in ihren Versorgungsbedürfnissen vollständig von den anderen kinderchirurgischen Patient:innen unterscheiden: Kinder mit komplexen Fehlbildungen (CMI von 7,057 in den Jahren 2020–2022) [9], und Kinder mit soliden Malignomen (CMI von 2,921 in den Jahren 2020–2022) [10]. Die hohe Komplexität der chirurgischen Behandlung von Fehlbildungen, die sich auch im CMI widerspiegelt, ergibt sich unter anderem aus der filigranen, frühkindlichen Anatomie, verbunden mit einem hohen Komplikationsrisiko und aus der absoluten Seltenheit dieser Fehlbildungen, die nur wenigen Zentren zur Entwicklung einer notwendigen Behandlungsroutine verhelfen würde.

Jährlich werden bundesweit ca. 1.500 Kinder mit einer komplexen Fehlbildung des Gastrointestinaltraktes, der Bauchdecke, der Lunge, des Zwerchfells oder des Spinalkanals geboren [11]. Diese Patient:innen stellen eine in sich inhomogene Gruppe dar, mit der wesentlichen Gemeinsamkeit, dass nahezu alle diese Kinder im Neugeborenen- oder frühen Kindesalter einen komplexen, planbaren Korrektureingriff der Fehlbildung benötigen. Die zehn bedeutendsten Fehlbildungen sind die anorektale Malformation mit ca. 300 Fällen pro Jahr in Deutschland, die Ösophagusatresie mit ca. 200 Fällen, die angeborene Zwerchfellhernie mit ca. 180 Fällen, Spina bifida mit ca. 180 Fällen, Morbus Hirschsprung mit ca. 160 Fällen und, noch seltener, die Omphalozele, Gastrochisis, Blasenekstrophie, Epispadie und Gallengangsatresie [9].

Krankenkassenabrechnungsdaten mit der Erfassung aller in Deutschland durchgeführten Korrekturoperationen zwischen 2020–2022 zeigen eine stark zersplitterte Versorgungslandschaft. Die in dem Zeitraum durchschnittlich durchgeführten 1.429 Korrekturoperationen verteilten sich auf 158 Krankenhausstandorte. Davon führten 127 (80 %) der Standorte bei keiner der komplexen Fehlbildungen mindestens fünf Korrekturoperationen pro Jahr durch. Von den verbleibenden 31 Kliniken führten 25 nur für ein oder zwei Fehlbildungen mindestens fünf Korrekturoperationen durch. Die Mindestzahl von zehn Korrekturoperationen pro Jahr erreichte bei Ösophagusatresie, Gastrochisis und Omphalozele bundesweit keine Klinik [9]. Mehr als die Hälfte der in dem Untersuchungszeitraum an der Korrekturoperation für Morbus Hirschsprung partizipierenden Standorte hatte nicht einmal einen Fall in jedem Jahr.

Ein Grund für diese hochgradig zersplitterte Versorgungslandschaft mit nahezu ausschließlicher Gelegenheitschirurgie bei Korrekturoperationen von Fehlbildungen ergab sich aus einer wirtschaftlich motivierten Reaktion der Versorgungslandschaft auf die Einführung der Qualitätssicherungsrichtlinie für Früh- und Reifgeborene (QFR-RL) durch den G-BA im Jahre 2006 [12]. Mit dem Ziel, die Versorgung von Früh- und Reifgeborenen sicherer zu gestalten, sieht die QFR-RL u. a. vor, dass in Perinatalzentren des Level 1 und 2 eine kinderchirurgische Versorgung in Rufbereitschaft permanent gewährleistet ist. An die Expertise dieser kinderchirurgischen Rufbereitschaft werden indes keine weiteren Anforderungen gestellt. In Folge dieser Vorgabe stieg seit 2006 konsekutiv die Anzahl Standorte mit einer „Kinderchirurgie“ von vorher 90 auf 156 im Jahre 2024. Dabei sind die Abteilungsmodelle sehr unterschiedlich: es gibt aktuell ca. 90 kinderchirurgische Fachabteilungen, 40 angestellte Kinderchirurg:innen in Pädiatrie und Allgemeinchirurgie, und sechs belegärztliche Konstellationen [13].

Nun gehört es zu einer anderen Debatte, ob diese ca. 135 Kinderchirurgischen Standorte (von denen einige mehrere Perinatalzentren versorgen), bzw. die 156 Perinatalzentren der höchsten Versorgungsstufe im Jahr 2024 in dieser Anzahl gebraucht werden.

Von dieser Diskussion unabhängig ist die dringende Notwendigkeit einer Regulation der komplexen Kinderchirurgie. Denn bei etwa 7.000 Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 1.250 g pro Jahr in Deutschland, und nur ca. 1.500, untereinander vollkommen unterschiedlichen Neugeborenen jeden Gestationsalters mit angeborenen Fehlbildungen, muss allein schon aufgrund der unterschiedlichen Inzidenzen hier eine getrennte Betrachtung erfolgen. Dessen ungeachtet bietet die QFR-RL für die, an die Perinatalzentren angegliederten Kinderchirurgien eine gute Struktur zur qualitätsgesicherten kindgerechten Frühgeborenenbetreuung, und bleibt von großer Bedeutung. Die operativen Besonderheiten der unterschiedlichen, komplexen und planbaren Korrekturoperationen werden von der QFR-RL jedoch nicht adressiert.

Abb. 1: Schmedding A, Rolle U. Decentralized Rather than Centralized Pediatric Surgery Care in Germany. Eur J Pediatr Surg. 2017 Oct;27(5):399–406. doi: 10.1055/s-0037-1607026

Fallzahl-Ergebnis Zusammenhang in der Fehlbildungschirurgie

„Wer etwas Schwieriges häufiger macht, macht es besser.“ Nach § 17 des zweiten Abschnitts der Verfahrensordnung des G-BA muss ein nach wissenschaftlichen Maßstäben wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen Behandlungsmenge und Ergebnisqualität der Leistung bestehen. Während dies bei den bisherigen Mindestmengenbeschlüssen insbesondere mittels einer systematischen Literaturrecherche möglich war, deren Publikationen hauptsächlich aus Sekundärdatenanalysen der DRG-Statistik in unterschiedlichen Ländern bestanden, gibt es bei den Korrekturoperationen der seltenen komplexen Fehlbildungen drei wesentliche methodische Probleme:

  • Aufgrund der Seltenheit der jeweiligen Fehlbildung und der dezentralen Versorgungsstruktur gibt es in Deutschland bei den meisten Korrekturoperationen keine ausreichend fallzahlstarken Kliniken als Vergleichsgruppe. Einzig für die angeborene Zwerchfellhernie konnte bei einer Verteilung von einem Drittel der Korrekturoperationen auf zwei bis drei Standorte im Untersuchungszeitraum 2016–2023 eine Vergleichsgruppe mit hohen Fallzahlen festgestellt werden. Hier zeigte sich ein signifikanter Fallzahl-Ergebnis Zusammenhang für den Ergebnisparameter Mortalität unter ECMO-Therapie, mit besserem Überleben der Neugeborenen an Standorten mit mehr als zehn Fällen pro Jahr [14].
  • Durch häufig vorliegende assoziierte Fehlbildungen oder Frühgeburtlichkeit lassen sich Patientengruppen selbst nach Risikoadjustierung nur schlecht vergleichen.
  • Der in DRG-Statistiken wesentliche Ergebnisparameter „Mortalität“ ist bei einem Großteil der Fehlbildungen selten, und Qualität muss daher an Langzeitparametern („lifelong burden of disease“) gemessen werden. Diese lassen sich schlechter erfassen, und schwieriger auf die operierende Klinik zurückführen [15].

Diese methodischen Probleme sind aus Studien bei seltenen Erkrankungen bekannt. Die GRADE-Arbeitsgruppe sowie andere methodische Rahmenwerke empfehlen in solchen Fällen, in denen direkte Evidenz selbst unter idealen Studienbedingungen nicht verfügbar ist, den Einsatz indirekter Evidenz. Diese Evidenzübertragung ist in der Nutzenbewertung von Arzneimitteln oder der Erstellung von Leitlinien notwendig und geläufig. Evidenz aus Studien zum Nutzen eines Operationsroboter-Systems aus der Erwachsenenchirurgie wird gerne und bedenkenlos auf die pädiatrische Population übertragen.

Vor diesem Hintergrund hat der G-BA vor Einleitung einzelner Beratungsverfahren zu Mindestmengen für Fehlbildungen zunächst das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) beauftragt, eine entsprechende Methode zur Übertragung von Evidenz bei seltenen Erkrankungen zu entwickeln, die den hohen wissenschaftlichen Standards des IQWIG standhält. Die Übertragbarkeit indirekter Evidenz von einer Ausgangspopulation auf eine Zielpopulation wird danach anhand von festgelegten Kriterien bewertet. Die zeitlich vorausgegangene Publikation von Solari et al. hatte die Übertragbarkeit des Fallzahl-Ergebnis-Zusammenhangs von der Rektumchirurgie des Erwachsenen auf die Korrekturoperation bei Morbus Hirschsprung anhand der technisch-chirurgischen Gemeinsamkeiten und dem überlappenden Komplikationsprofil der Populationen analysiert [16].

Die Gefahr einer emotionalen Debatte

Wenn es um die Versorgung schwerkranker Kinder geht, wird die Debatte leicht emotional. Dies birgt die Gefahr, dass Berufspolitik, Politikverdruss, lokalpolitische Interessen, der Frust über Missstände im Berufsalltag oder im Rahmen der Weiterbildung und die eigenen Erfahrungen mit Kindern vollkommen losgelöst von Versorgungsdaten zu Trugschlüssen führen. Dabei sind gerade in dem Fachbereich Kinder- und Jugendmedizin und Kinder- und Jugendchirurgie nuancierte Ansätze für unterschiedliche Patient:innengruppen notwendig. Eine balancierte Einbindung der verschiedenen Interessenvertretungen, inklusive der Patientenvertretung, unter fachlicher Beratung durch Fachgesellschaften und Berücksichtigung der wissenschaftlichen Evidenz, frei von berufspolitischen Interessen agieren, ist geboten. Hier ist die DGKJCH als wissenschaftliche Fachgesellschaft gefragt, von der eine klare Position zu Fehlbildungsspezifischen Mindestmengen bei planbaren hochkomplexen kinderchirurgischen Eingriffen allerdings bisher aussteht.

Demgegenüber steht die klare Position der Patientenvertretung im G-BA, themenbezogen vertreten durch die Selbsthilfeorganisation für Menschen mit anorektalen Malformationen und Morbus Hirschsprung, der SoMA e.V. „Die SoMA setzt sich seit Jahrzehnten für eine spezialisierte Versorgung von Menschen mit anorektalen Malformationen und Morbus Hirschsprung ein, dennoch sind alle bisherigen Qualitätssicherungsmaßnahmen gescheitert (…) Wir möchten alle Interessensvertreter an die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die nächste Generation Neugeborener mit dieser Fehlbildung erinnern, und hoffen auf ein Resultat des Beratungsverfahrens, das die Gesundheit dieser besonders vulnerablen Patient:innengruppe an erste Stelle setzt“ erläuterte Annette Lemli, 1. Vorsitzende der bundesweiten Patientenorganisation, zu der Zustimmung der Patientenvertretung in der öffentlichen Sitzung des G-BA am 21.08.2025. Andere Patientenorganisationen haben sich ihrerseits für eine Zentralisierung der sie betreffenden komplexen Eingriffe ausgesprochen [17, 18].

Ebenso klare Worte zu dem Ausmaß der Gelegenheitschirurgie und der diesbezüglichen Verantwortung des G-BA fand dessen unparteiischer Vorsitzender, Herr Prof. Hecken, bei dem Antrag des GKV-SV betreffs der korrigierenden Chirurgie bei Morbus Hirschsprung: „(…) Dies ist nichts, womit wir irgendjemanden ärgern wollen, sondern hier ist es naheliegend, dass diese Kinder einen Anspruch auf eine optimale Versorgung haben.“ Auch sollte bei komplexen Fehlbildungen die Expertise der Europäischen Referenznetzwerke für seltene Erkrankungen (ERN) nicht ungenutzt bleiben [19, 20].

Die Missverständnisse in der Mindestmengendiskussion

Im August 2023 schrieb die DGKJCH an das Bundesministerium für Gesundheit als Reaktion auf dessen Aufforderung, hochspezialisierte Leistungen im Rahmen des Krankenhaustransparenzgesetzes zu benennen und anhand der ICD- und OPS-Kodes zu operationalisieren: „Die meisten OPS- und ICD-Codes erlauben keine Differenzierung, ob Erwachsene, Jugendliche oder Kinder behandelt wurden. Niedrige Fallzahlen sind in der Pädiatrie und Kinderchirurgie im Vergleich zu Erwachsenen die Regel, da viele unterschiedliche seltene Erkrankungen behandelt werden. Dieser Umstand verzerrt das Bild über eine vermeintlich vorhandene oder fehlende Expertise für die Bevölkerung.“

Durch verschiedene versorgungsforscherische Publikationen ist dagegen klar, dass eine Altersabgrenzung anhand von Krankenkassenabrechnungsdaten sehr wohl möglich ist [10, 21, 22, 23]. Noch wichtiger ist allerdings, dass sich das in diesem Satz geschilderte Problem relativ einfach durch folgende Bruchrechnung lösen lässt: Fallzahl (lt. Behandlungsinzidenz) geteilt durch Zahl der Krankenhausstandorte = Krankenhausfallzahl. Und da sich die Behandlungsinzidenz bei Korrekturoperationen von komplexen Fehlbildungen, außer durch eine gegen das ärztliche Ethos stehende Indikationsausweitung nicht steigern lässt, besteht in der Reduktion der Anzahl der Krankenhausstandorte, die diese hochkomplexen Leistungen durchführen, die einzige Möglichkeit, Krankenhausfallzahlen zu steigern. Diese Maßnahme ist unabhängig von der Seltenheit einer Erkrankung möglich, sie ist sogar umso wichtiger, je seltener eine Erkrankung auftritt. Oder, kurz gesagt: Die Anzahl der Krankenhausstandorte, die eine hochkomplexe Leistung durchführen, muss an die Inzidenz der Behandlung angepasst werden.

Mindestmengen sind nicht subsidiär durch andere Instrumente der Qualitätssicherung wie etwa Strukturvorgaben ersetzbar, wie das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 17.11.2015 klargestellt hat [24]. Dabei sind die Erforderlichkeit einer Mindestmenge (Komplexität und relative Seltenheit) sowie der nach wissenschaftlichen Maßstäben wahrscheinliche Fallzahl-Ergebnis Zusammenhang zwingende Voraussetzungen einer Festlegung. Die in den Beratungen des G-BA resultierende Höhe einer Mindestmenge ist das Ergebnis einer Berücksichtigung der Hinweise aus der wissenschaftlichen Literatur auf eine Schwelle und der Analyse der wahrscheinlich zu erwartenden Auswirkungen dieser Mindestmenge auf die Versorgungslandschaft.

Freiwillige Zertifizierungen waren bisher insbesondere bei der korrigierenden Chirurgie von Fehlbildungen wirkungslos, da sie Gelegenheitsversorger nicht davon abhalten, auch ohne Zertifizierung hochkomplexe Eingriffe durchzuführen.

Abb. 2: Durchschnittliche jährliche Fallzahl pro Standort, ermittelt aus den Jahren 2020, 2021 und 2022 für die Korrekturoperationen von zehn verschiedenen komplexen Fehlbildungen.

Beispiel Ösophagusatresie (ÖA)

Kinder sind keine „kleinen Erwachsenen“. Dennoch bedürfen sie genauso einer qualitätsgesicherten Versorgung in Bezug auf Eingriffe am komplexen Organsystem Ösophagus. Doch diese gibt es bisher nicht, denn während für resezierende Eingriffe an der Speiseföhre bei Erwachsenen eine bundesweite gesetzliche Mindestmenge von 26 Fällen pro Jahr und Standort unabhängig von der zugrundeliegenden Diagnose gilt, schließt diese Menschen unter 18 Jahren nicht ein.

In den Jahren 2016–2022 führten 111 Kliniken die durchschnittlich jährlich 211 Korrekturoperationen bei Kindern mit ÖA durch [21]. Somit werden seit 2024 3.800 Ösophagusresektionen bei Erwachsenen an weniger viszeralchirurgischen Standorten operiert als die rund 200 Kinder mit einer ÖA an kinderchirurgischen Standorten. Der Median der Klinikfallzahlen von Korrekturoperationen bei ÖA lag bei zwei (P25-P95 1–8), und es gab keine Klinik, die durchschnittlich mehr als zehn Korrekturoperationen bei ÖA pro Jahr durchführte. Die dringend notwendige perioperative Bronchoskopie zu Nachweis und Lokalisierung der tracheoösophagealen Fistel wurde in nur 50 % der Fälle durchgeführt. Hochgerechnet prognostizieren diese Zahlen, dass durch das Unterlassen der Bronchoskopie jährlich acht Kinder, bei denen eine Typ IIIc ÖA mit oberer und unterer Fistel vorliegt, präoperativ als solche nicht erkannt werden, und die obere tracheoösophageale Fistel evtl. belassen wird – eine im Langzeitverlauf mit einer hohen Letalität vergesellschaftete „Komplikation“ [21].

2023 publizierte die betreffende Patientenorganisation KEKS e.V. eine Liste zur Korrekturoperation bei ÖA mit Fallzahlen der jeweiligen Klinikstandorte (auf Grundlage der Daten der Qualitätsberichte, mit einer gewissen Unschärfe im extrem niedrigen Fallzahlbereich) [25]. Ziel war es, den Betroffenen eine Entscheidungsgrundlage anzubieten, äquivalent zu der AOK-Transparenzliste der Mindestmengen-unterliegenden Eingriffe. Daraufhin schrieb die Präsidentin der DGKJCH, Frau PD Dr. med. Ludwikowski, in einer öffentlichen Mitteilung an die Mitglieder: „Eine Bündelung der Eingriffe ist notwendig, und hier bitte und fordere ich insbesondere Mitglieder auf, dass sie Neugeborene an Kollegen zur Operation weiterleiten bzw. kooperieren, wenn nur ein bis zwei Kinder pro Jahr in ihrer Abteilung operiert werden.

Dieser zaghafte Versuch einer Zentralisierung zeigte sich in den Daten 2024 als nicht wirksam. Aus versorgungswissenschaftlicher Sicht ist eine „Mindestmenge in der Höhe 2–3“ auch ungeeignet, um Gelegenheitschirurgie auszuschließen.

Die Chance von Mindestmengen für die kinderchirurgische Weiterbildung

Der Musterweiterbildungskatalog der Bundesärztekammer zur Facharztweiterbildung enthält keinen Richtwert für einzelne Korrekturoperation von Fehlbildungen. Wäre dies ein Inhalt der Weiterbildungsordnung, könnten 80 % der kinderchirurgischen Standorte keine Weiterbildung gewährleisten, da sie weniger als fünf Korrekturoperationen pro Jahr für jegliche komplexe Fehlbildung durchführen. Der aktuelle Weiterbildungskatalog „Kinder- und Jugendchirurgie“ ist somit an die Versorgungsrealität angepasst. Am Ende dieser Weiterbildung steht heute der/die „allgemeine Kinderchirurg:in“, der/die die flächendeckende Versorgung der häufigen Krankheitsbilder sicherstellen kann. Ein gesondertes Ausbildungskonzept für die Fehlbildungschirurgie fehlt allerdings, denn bei der aktuellen Fallzahlverteilung ist es in Deutschland unmöglich, sich als Weiterzubildende/r auf einen Teilbereich der Fehlbildungschirurgie zu spezialisieren.

Hier könnte ein zukunftsfähiges Weiterbildungskonzept nachbessern und zum einen die Differenzierung in „allgemeine Kinderchirurgie“, „Fehlbildung-Kinderchirurgie“ und „onkologische Kinderchirurgie“ in Betracht ziehen, und zum anderen Rotationen in spezialisierte Zentren einschließen, sodass die Ausbildung sich dem Versorgungsbedarf anpasst. Voraussetzung hierfür sind Zentren, an denen die jeweiligen Fehlbildungen in einer höheren Fallzahl behandelt werden. Die konzentrierte Fallzahl würde nicht nur – im eigentlichen Sinne der Mindestmengenregelung – die Behandlungssicherheit durch die größere Arbeitsroutine des Teams an den jeweiligen Standorten sichern, sondern darüber hinaus auch eine substanzielle Aus- und Weiterbildung bei der spezifischen Versorgung dieser seltenen Fälle ermöglichen.

Fazit

Zusammenfassend bieten die im August und Oktober 2025 eingeleiteten Mindestmengenverfahren des G-BA zur operativen Korrektur der angeborenen Fehlbildungen Morbus Hirschsprung und Anorektale Malformationen eine große Chance zur Verbesserung der Behandlungssicherheit der Patient:innen mit diesen Fehlbildungen. Auch die Möglichkeiten zur gezielten Weiterbildung und klinischen Forschung zu diesen Krankheitsbildern werden sich durch eine Zentralisierung der Leistung voraussichtlich erheblich verbessern.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via passion_chirurgie@bdc.de.

Korrespondierende Autorin:

Dr. med. Miriram Wilms

Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Anorektalen Malformationen und Morbus Hirschsprung (SoMA e.V.), München

Universitätsklinikum Düsseldorf

Abteilung für Allgemein-, Viszeral- und Kinderchirurgie

Düsseldorf

Medizinische Fakultät der Universität Witten/Herdecke, Witten

m.wilms@soma-ev.de

Dr. med. Horst Schuster

Abteilung Medizin/Referat Qualitätssicherung

GKV-Spitzenverband

Reinhardtstraße 28

10117 Berlin

Gesundheitspolitik

Wilms M, Schuster H: Mindestmengen in der komplexen Fehlbildungschirurgie. Passion Chirurgie. 2025 Mai; 15(11): Artikel 05_03.

Mehr zur Kinderchirurgie finden Sie auf BDC|Online unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Kinder- und Jugendchirurgie.

Vier Arme und beste Sicht – Wie Roboter in Operationssälen zum Einsatz kommen

Dieser Artikel wurde am 15.7.2024 in der Offenbach-Post veröffentlicht. Er galt unter den Einsendungen für den BDC-Journalistenpreis 2024 als einer der Favoriten. Zum Schwerpunktthema dieser Ausgabe passt dieser Artikel, auch wenn er schon etwas älter ist.

16 Operationssäle stehen im Offenbacher Sana-Klinikum zur Verfügung. Einer davon ist dank der neuesten Generation eines Roboters ganz besonders nachgefragt: Schneller, schonender, besser sollen Eingriffe dadurch werden. Ein Besuch am OP-Tisch.

„Ziehen Sie sich bis auf die Unterhose aus“ – ein Satz, den man im Berufsalltag selten hört, erst recht, wenn man sein Gegenüber erst seit fünf Minuten kennt. Doch dieser Termin ist selbst für einen Journalisten besonders: Mit OP-Hose, -Kittel und Schlappen ganz in Grün, einer Haube auf dem Kopf und einer Maske vor Mund und Nase geht es an diesem Dienstagmorgen in einen OP-Saal des Offenbacher Sana-Klinikums. Das Team wartet bereits auf Chirurg Prof. Dr. Peter Kleine, der seiner 84-jährigen Patientin die von einem Tumor befallene Thymusdrüse, die hinter dem Brustbein liegt, sowie einen weiteren Tumor in der Lunge entfernen will. Dabei setzt er auf seinen neuen „Kollegen“ im OP: die vierte Generation des Roboters Da Vinci.

Vorarbeiten sind etwas aufwEndiger als bei einer „normalen“ Operation

1,6 Millionen Euro hat sich das Sana-Klinikum den mit vier Armen und einer hochauflösenden Kamera ausgestatteten Hightech-Roboter aus den USA kosten lassen. Einst für das US-Militär entwickelt, um verwundete Soldaten im Auslandseinsatz aus der Ferne operieren zu können, hat er in gut einem Jahr einen festen Platz auf den OP-Plänen des größten Offenbacher Krankenhauses eingenommen. Thoraxchirurgie, Gynäkologie, Urologie und Allgemeinchirurgie reißen sich förmlich um Zeit mit dem Roboter, die OP-Pläne sind durchgetaktet. Denn: Der minimalinvasive Eingriff mit Roboterunterstützung verspricht kürzere Narkosezeiten, schnellere Erholung und weniger Komplikationen – und damit eine größere Effizienz, weil Betten schneller wieder frei werden. „Natürlich gibt es diese Rechnungen, aber es ist auch eine Investition in eine bessere Patientenversorgung und damit in die Attraktivität des Standorts“, sagt Kleine.

Im OP-Saal ist alles vorbereitet: Die Patientin liegt auf dem Tisch, drei kleine Schnitte in ihrem Oberkörper, in dem sogenannte Trokare, dünne Rohre, stecken, in denen später die Roboterarme in den Körper eingeführt werden. Nachdem der Operateur den Anwesenden Patientin, Ziel und Dauer der Operation vorgestellt sowie der Anästhesist den Zustand beschrieben hat, geht es los. Das Licht wird gedämpft, im siebenköpfigen Team kehrt Ruhe ein, nur noch das Brummen der Klimaanlage und das Piepen des Herzmonitors ist zu hören.

Zunächst wird mit Kohlenstoffdioxid ein Überdruck im Oberkörper erzeugt, um den Brustkorb zu weiten und damit mehr Bewegungsfreiheit beim Operieren zu schaffen. Anschließend werden die Kamera sowie die Operationsinstrumente, zunächst eine kleine Pinzette und ein winziger Draht, der unter Strom gesetzt als Schneidwerkzeug dient und dabei gleichzeitig Blutgefäße wieder verschließt, eingeführt.

Der Operateur steht allerdings nicht am Tisch, er sitzt, in einen großen grauen Kasten starrend, in einer Ecke des Raums. Am Tisch stehen sein Assistent sowie ein OP-Helfer. Der graue Kasten, das ist das Herzstück: Nachdem per Login das Gerät automatisch die persönlichen Einstellungen übernimmt, beginnt Kleine mittels zweier Joysticks an den Händen und Pedalen an den Füßen die Roboterarme am Tisch zu steuern. Wie durch ein Fernglas bekommt er eine vergrößerte 3-D-Sicht auf das OP-Feld. „So gut sieht man die menschliche Anatomie sonst nie“, schwärmt Kleine, der auf diese Weise kleinste Gefäße und Nerven schonen kann. „Das ist mit bloßem Auge nicht möglich.“

Roboterarme haben eine größere Beweglichkeit als die menschliche Hand

Weitere Vorteile für den Chirurgen: Die Roboterarme haben mehr Freiheitsgrade, sind also beweglicher als eine menschliche Hand. Auch ein geringes Zittern der Hand gleicht der Roboter aus. „Ich habe bereits mit der ersten Generation dieses Roboters gearbeitet. Damals sind die Arme teilweise noch untereinander kollidiert, das passiert heute so gut wie gar nicht mehr. Auch die Kamera ist auch noch einmal deutlich besser geworden“, sagt Kleine. „Natürlich sind Anschaffung und Wartung extrem teuer, aber das Gerät ist auch ungemein wertvoll für uns.“

Das zeigt auch die Operation an diesem Tag. Binnen weniger Minuten hat Kleine die Thymusdrüse, auch Wachstumsdrüse oder Bries genannt, vom Rest des Körpers getrennt und den Tumor vom Blutkreislauf isoliert. Anschließend wird ein kleiner Plastikbeutel eingeführt, der sich wie ein Kescher im Inneren der Patientin aufklappt, das abgetrennte Gewebe auffängt und, dicht verschlossen, den Körper verlässt – ohne dass Tumorzellen gesundes Gewebe berühren können. Die Probe geht zur Untersuchung ins Labor. Je nach Ergebnis erfolgt die weitere Krebsbehandlung, etwa eine Chemo- oder Immuntherapie oder Bestrahlungen.

Insgesamt steht dem Operateur eine Palette von mehr als 35 verschiedenen Instrumenten zur Verfügung, die an die Roboterarme angeschlossen werden können. Durch einen Initialisierungsprozess werden die Instrumente automatisch auf ihr Alter und ihre Einsatzfähigkeit überprüft. Stimmt etwas nicht, lehnt der Roboter sie ab und sie werden entsorgt.

Hersteller verlangt mehrstufige Ausbildung von Operateur und Assistenten vor erstem Einsatz

Sein kleines Team und er selbst mussten sich für den Einsatz vom Hersteller in mehrstufigen Verfahren ausbilden und zertifizieren lassen. Operateure üben zunächst an einem Simulator, dann an einer Leiche, ehe sie einen lebenden Patienten operieren. OP-Helfer sind speziell in der Handhabung der Instrumente geschult. Der Hintergrund: „Der Hersteller hat großes Interesse daran, dass Operationen mit seinem Gerät ohne Komplikationen verlaufen.“

Doch das neue System hat auch Grenzen: Muss extrem schnell gehandelt werden, sind Tumore zu groß oder mit Organen verwachsen, muss das Team auf andere Verfahren zurückgreifen. Auch zu einfache oder nur sehr kurze Eingriffe sind nichts für den Roboter, denn „dann lohnt der Aufwand nicht“, sagt Kleine, ist die Vorbereitung doch aufwendiger als bei einem normalen Eingriff.

Auch an diesem Tag müssen sein Team und er zur Entfernung des zweiten Tumors an der Lunge wieder selbst am Tisch stehen und operieren. Nach gut einer Stunde ist alles vorbei, die Patientin kommt in den Aufwachraum und wird anschließend geröntgt. Ist alles unauffällig, darf sie bereits auf die Normalstation. „Es war eine völlig entspannte OP“, bilanziert Kleine in seinem Büro. Er ist zufrieden: „Die Patientin hat ungefähr so viel Blut verloren wie bei einer normalen Blutentnahme. Sie wird sich schnell erholen.“ Und in der Tat: Schon vier Tage später darf sie das Krankenhaus wieder verlassen.

Operieren Roboter bald allein einen Menschen?

Im Rahmen einer Doktorarbeit hat Kleines Team ermittelt, dass 94 Prozent aller Patienten, die mit Roboterunterstützung operiert wurden, bereits nach drei Tagen auf starke Schmerzmittel verzichten können, nach fünf Tagen brauchten 88 Prozent überhaupt keine mehr. Das senkt auch das Risiko von Komplikationen, wie etwa Lungenentzündungen. Der Trend sei also klar, sagt Kleine: „Schon jetzt gibt es Überlegungen, ob wir einen zweiten Roboter anschaffen sollten. Meine Abteilung könnte in jedem Fall noch mehr damit arbeiten.“ Insgesamt habe Deutschland in diesem Bereich noch Nachholbedarf, sagt Kleine, dessen Team auch in Langen, in Rüsselsheim und am Rotkreuz-Krankenhaus in Frankfurt operiert – dort allerdings ohne Roboterunterstützung.

Selbst an Robotern, die dank Künstlicher Intelligenz zumindest teilweise allein operieren können, wird bereits geforscht. „KI ist das nächste Thema“, sagt Kleine, schränkt jedoch ein: „Das Herz schlägt, die Lunge bewegt sich: Bei einem Menschen ist trotz bester Vorbereitung nicht alles auf den Millimeter genau. Bislang hat es deshalb noch nicht funktioniert, in Zukunft ausschließen würde ich es aber nicht.“

Abb. 1: Bei einer roboterunterstützten Operation ist die Vorbereitung aufwendiger als bei einem herkömmlichen Eingriff.

Abb. 2: Der große Bildschirm im Operationssaal zeigt ein hochauflösendes Bild mit bis zu zehnfacher Vergrößerung.

Abb. 3: Der Arbeitsplatz des Chirurgen ist dank Roboter nicht mehr direkt am OP-Tisch.

Abb. 4: Der assistierende Chirurg ist für die korrekte Lagerung der Patientin sowie die passenden Instrumente an den Roboterarmen verantwortlich.

Abb. 5: Bereits vier Tage nach der OP kann die Patientin von Prof. Dr. Kleine wieder entlassen werden.

Roboter-Operationen sind noch kein Standard

Roboterunterstützte Operationen gibt es in Deutschland seit 2008, nachdem das erste Da-Vinci-System bereits seit 1999 in Europa und kurze Zeit später in den USA eingeführt wurde. „Damals war das noch eine Sensation“, erinnert sich Prof. Dr. Peter Kleine vom Offenbacher Sana-Klinikum, der selbst 2011 mithilfe eines Roboters erstmals eine Lungenoperation in Frankfurt durchgeführt hatte. Inzwischen liegt die Zahl der roboterunterstützten Eingriffe in Deutschland pro Jahr bei über 48.000 (Stand 2021). Häufigste Anwendungsfälle sind Operationen an Prostata, Galle und Niere, aber zunehmend auch an Herz und Lunge.

Zum Vergleich: 2022 gab es hierzulande insgesamt knapp 16 Millionen Operationen und chirurgische Eingriffe bei vollstationären Patienten. Mehr als 300 Da-Vinci-Roboter unterschiedlicher Generationen sind inzwischen an deutschen Kliniken im Einsatz (Stand 2023). Dem schonenderen Operationsverfahren (weniger Blutverlust, geringere Narkosezeit, kleine Wunden, weniger Komplikationen) stehen aktuell höhere Kosten (Anschaffung und Wartung sowie teurere Instrumente) gegenüber.

Philipp Keßler

Chefredakteur

Mediengruppe Offenbach-Post

Pressehaus Bintz-Verlag GmbH & Co. KG

philipp.kessler@op-online.de

Panorama

Keßler P: Vier Arme und beste Sicht – Wie Roboter in Operationssälen zum Einsatz kommen. Passion Chirurgie. 2025 November; 15(11): Artikel 09.

Mehr Artikel zur Robotik finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachbereiche | Digitalisierung.

Kinderbetreuung auf dem DCK 2026 in Leipzig

Auf dem Chirurgiekongress 2026 in Leipzig können Sie Ihre Kinder an allen Kongresstagen durch den KidsClub im CCL Congress Center Leipzig betreuen lassen!

  • Wann? An allen Kongresstagen, Mittwoch 22. April bis Freitag 24. April 2026, von 08:00 Uhr bis 18:00 Uhr (Freitag nur bis 17:00 Uhr).
  • Wer? Kinder im Alter von 12 Monaten bis 10 Jahre. Die Kinderbetreuung ist auf 20 Kinder täglich begrenzt.
  • Wo? CCL Congress Center Leipzig
  • Wie? Verbindliche Anmeldung bis zum 01. April 2026 im Rahmen der Kongressanmeldung unter www.dck2026.de/anmeldung/
    Vor-Ort-Anmeldungen am Tagungsschalter je nach Kapazität gegebenenfalls noch möglich
Quelle: BDC

Nähere Informationen über die Kongressseite unter www.dck2026.de. Zu zahlen sind 15 Euro pro Tag Selbstkostenbeitrag pro Kind.

Wir bitten Sie um eine verbindliche Anmeldung, da die Betreuungskapazität auf 20 Kinder täglich begrenzt ist.

Geben Sie Ihre Kinder ab und lassen sich Zeit für Seminare, Workshops und netzwerken!

Neue Ausgabe der Passion Chirurgie: Krankenhausstrukturreform – Chancen für die Chirurgie?

Hier geht’s zur neuen Ausgabe der PASSION CHIRURGIE 10/25: Krankenhausstrukturreform – Chancen für die Chirurgie

An der Krankenhausstrukturreform und den unvermeidlichen Veränderungen in der Gesundheitslandschaft kommt niemand mehr vorbei. Im Strudel lauter Bedenken wagen wir die Frage: „Welche Chancen könnte die Krankenhausstrukturreform für die Chirurgie bieten?“ Lesen Sie in dieser Ausgabe über erste Erkenntnisse für die Chirurgie aus der Umsetzung des Krankenhausplans in NRW, neue Modelle der Rotationsplanung, Transparenz der Kompetenzen und modularen Weiterbildungsmodellen sowie über den Stellenwert der Spezialisierung.

„Hybrid-DRG: pro und contra?“  ̶   diskutieren Sie mit beim kostenfreien BDC-Live-Webinar Hernie kontakt am Donnerstag, 15. Oktober 2025 ab 17:00 Uhr in der BDC|eAkademie. Fragen können Sie den Referenten gerne vorab stellen. Hier geht’s zu mehr Infos…

Viel Spaß beim Lesen

Ihr
PASSION CHIRURGIE-Team

Stellenwert der Spezialisierung – Chance zur Neuorientierung

Die Veränderungen im Kontext der Krankenhausreform machen eine Neuorientierung der persönlichen Kompetenzen des Klinikarzt-Berufs erforderlich. Wer sich darauf gezielt vorbereitet, wird seine individuellen Herausforderungen bewältigen und für sich eine positive Lebensqualität sicherstellen.

Die Krankenhausreform 2025 (auch „Level-Reform“) ist eines der größten gesundheitspolitischen Projekte der letzten Jahrzehnte. Sie zielt darauf ab, Qualität, Effizienz und Versorgungssicherheit zu verbessern, und sie hat für alle weitreichende Folgen. (Abb. 1) Anlass dafür war, die steigenden Kosten im Gesundheitswesen besser zu kontrollieren und langfristig tragfähig zu gestalten. Darüber hinaus zielt die Gesundheitsreform auf eine verbesserte Qualität der Versorgung ab und eine Erhöhung der Transparenz in der Leistungserbringung. Nicht zuletzt geht es auch darum, die Finanzierung gerechter und nachhaltiger zu gestalten. [1, 2]

Abb 1: Auswirkungen der Krankenhausreform auf Kliniken und Krankenhausärzte

Auswirkungen auf Kliniken

Die Klinken werden nach ihrer Leistungsfähigkeit in sog. Versorgungsstufen/-level eingeteilt. Die Einteilung erfolgt in drei Versorgungsstufen, wobei die erste Stufe die Grund- und Regelversorgung, die zweite die spezialisierte Versorgung und die dritte Stufe die hochspezialisierte Versorgung betrifft. Diese uns seit vielen Jahren bekannte Einteilung soll dabei helfen, die Patientenströme zu lenken und die Ressourcen effizient zu nutzen. Diese unterschiedlichen Versorgungsstufen werden in der Krankenhausreform spezifisch genutzt, um adäquat Leistungen auf die verschiedenen Versorgungsstufen zu verteilen. Das Besondere dabei ist die Einbeziehung aller Krankenhäuser: Universitätskliniken sind genauso wie hochspezialisierte Privatkliniken Teil dieser Reform. Kliniken dürfen nur noch bestimmte Leistungen erbringen – definiert in sogenannten Leistungsgruppen –, wenn sie die dafür nötige Infrastruktur, das Patientenvolumen und Personalqualifikation nachweisen. Bereits vor der aktuellen Gesundheitsreform wurden die sogenannten Mindestmengen dazu genutzt, Patientenströme zu kanalisieren. Es sollte damit sichergestellt werden, dass bestimmte Behandlungen nur noch von Einrichtungen durchgeführt werden, die eine ausreichende Erfahrung für die zu erbringenden Eingriffe mitbringen. Dies sollte die Qualität der Versorgung erhöhen und Komplikationen minimieren. Eines von vielen Beispielen sind Herztransplantationen: Ab Januar 2026 gilt hier eine Mindestzahl von zehn Eingriffen pro Jahr und Krankenhausstandort. Hiermit soll nicht nur sichergestellt werden, dass das Krankenhaus, sondern auch die Operateure entsprechende Erfahrung mit diesen Eingriffen erreichen und kontinuierlich halten können. Allerdings hatte dies die nicht unerhebliche Folge, dass falsche Leistungsanreize gesetzt wurden und die Fallzahlen künstlich in die Höhe getrieben wurden. Dadurch bestand die Gefahr einer Fehlversorgung, was eine der Ursachen für die aktuelle Gesundheitsreform ist. Die Folge ist, dass kleinere Kliniken Fachabteilungen verlieren oder sich neu spezialisieren müssen bzw. mit Kliniken höherer Leistungsstufen Verbundsysteme etablieren oder gar ganz schließen werden. Andererseits werden möglicherweise auch Maximalversorger und Universitätskliniken künftig nicht mehr alle Leistungen erbringen dürfen.

Der Wegfall der Fallpauschalen als Hauptanreiz für die Finanzierung führt zur Einführung von Vorhaltepauschalen: Kliniken erhalten Geld für das „Bereitstellen“ von Kapazitäten, nicht nur für tatsächlich erbrachte Leistungen. Dies reduziert den wirtschaftlichen Druck, möglichst viele Fälle zu behandeln, und sorgt für bessere Planbarkeit und finanzielle Unsicherheit für kleinere Kliniken, die auf hohe Fallzahlen angewiesen waren. Da es durch die intendierte Fokussierung der Kliniken in der Folge zu einer Konzentration auf die zugelassenen Behandlungsgruppen kommen wird, wird davon ausgegangen, dass hierdurch die Fallzahlen in den entsprechenden Kliniken steigen, Indikationen schärfer als bisher gestellt werden und in der Gesamtheit eine Qualitätsverbesserung in Bezug auf Prozess- und Ergebnisqualität erfolgen wird. Diese Vorhaltepauschalen sollen dazu beitragen, Leistungen auch unabhängig von der aktuellen Auslastung finanziell abzusichern. [3]

Dies soll vor allem die Planungssicherheit erhöhen, die Versorgungssicherheit garantieren und auch sicherstellen, dass Krankenhäuser bestimmte Leistungen, gerade in weniger gut ausgelasteten Zeiten, trotzdem aufrechterhalten können. Damit soll insgesamt eine Stabilisierung und mehr Planungssicherheit erreicht werden. [4]

Hieraus leiten sich jedoch zwangsweise auch Schließungen und Umwandlungen ab, d. h. Kliniken ohne Nachweis einer notwendigen Struktur verlieren Leistungsaufträge, einige Häuser werden in Gesundheitszentren oder Tageskliniken umgewandelt werden. Die Folge könnte die Gefahr von Versorgungslücken im ländlichen Raum sein. Eine deutlich engere Kooperation zwischen den Häusern wird damit zur Notwendigkeit werden.

Das Transparenzregister und die Qualitätsoffenlegung sollen dazu führen, dass Kliniken ihre Qualitätskennzahlen öffentlich machen (z. B. Komplikationsraten, gegebenenfalls auch Operateur-spezifisch, Personalbesetzung etc.) müssen. [5] In der Folge wird der Wettbewerb über Qualität statt nur über die Wirtschaftlichkeit gesteuert. Hiermit ist insgesamt eine Outcomeverbesserung der Patientenbehandlung beabsichtigt.

Auswirkungen auf Klinik-Ärztinnen und -Ärzte

Die veränderten Rahmenbedingungen führen für die Klinik-Ärztinnen und -Ärzte zu einer ganz erheblichen Veränderung der Arbeitsstruktur – und ihres eigenen Selbstverständnisses. Fachärzte werden künftig nicht mehr in ihrer ganzen Facharztbreite tätig sein, sondern werden sich auf Kernkompetenzen spezialisieren und „zurückziehen“ müssen. Konkret bedeutet dies: Weniger „Falljagd“, mehr Fokus auf Qualität und Koordination und Verlagerung hin zu interdisziplinärer Teamarbeit in spezialisierten Zentren. Die Folgen sind auch auf die Weiterbildung der Assistentinnen und Assistenten vielfältig: Die neuen Strukturen werden zu einer erhöhten medizinischen Behandlungsfreiheit, aber auch zu Umstellungen in Arbeitsabläufen führen. Die weiterbildungsermächtigten Ärztinnen und Ärzte werden ihre Berechtigungen in der bisherigen Form verlieren und Verbundweiterbildungen werden erforderlich werden. Dies wiederum hat zur Folge, dass Assistenzärztinnen und -ärzte in Weiterbildung ihre Facharztausbildung künftig nicht mehr an einer Klinik absolvieren werden, sondern hierzu im Rotationsprinzip an unterschiedliche Kliniken wechseln müssen, um den Facharztkatalog erfüllen zu können. Auch dies könnte zu einer Verbesserung der Weiterbildungsqualität führen, da nunmehr sämtliche weiterbildungsermächtigten Kliniken im Verbund mit einem höheren Spezialisierungsgrad arbeiten. Die Spezialisierungen führen somit zu Standortverlagerungen, jedoch auch Arbeitsplatzunsicherheit. Bei Umstrukturierung oder Schließung von Kliniken ist ein Wechsel an größere Standorte oder andere Fachrichtungen erforderlich. Die Folge: Besonders junge Ärztinnen und Ärzte könnten profitieren (mehr Spezialisierung), während andere umdenken müssen.

Damit sind höhere Spezialisierungsanforderungen verbunden. Nur noch zertifizierte Zentren dürfen bestimmte Eingriffe durchführen. Das Thema wechselnde Zusammenarbeit gewinnt einen neuen Stellenwert für Kliniken und für Klinikärztinnen und Ärzte. Hierdurch entsteht eine Zunahme von Fortbildungsdruck, aber auch Qualitätssicherung im Berufsalltag.

Schließlich wird die Reform auch Einfluss auf Bürokratie und Administration haben. Durch die neue Struktur entsteht zusätzlicher Dokumentationsaufwand (z. B. Nachweis der Struktur- und Prozessqualität), der vermutlich zu einer weiteren Erhöhung administrativer Tätigkeiten für Ärztinnen und Ärzte bedeuten wird.

All diese Veränderungen kommen zusätzlich zu der bereits bestehenden Alltagswelt, die gekennzeichnet ist von:

  • voller Konzentration über einen langen Arbeitstag,
  • wechselnden Herausforderungen mit Patienten und Mitarbeitenden,
  • wechselnden Teamkonstellationen bei der Visite, auf Station und im OP,
  • wechselnden Kliniken und Kulturen,
  • fehleranfälligen Abläufen oder suboptimaler Arbeitsqualität,
  • suboptimaler Kommunikation in der Sache und in Bezug auf Menschen und ihr Verhalten,
  • vielfältigem Druck im privaten Umfeld,
  • wenig Zeit für sich, zum Auftanken.

Die richtigen Kompetenzen, um vor der Welle zu bleiben

Welche Kernkompetenzen braucht es also, um in diesem Kontext und den neuen Herausforderungen zu bestehen? Nachfolgend zeigen wir die wesentlichen Human Skills auf, die Klinik-Ärztinnen und -Ärzte fit für das Leben machen. Sie orientieren sich an den Basismotiven von David McClelland [6]. Er definierte Gestaltung (Power), Leistung (Performance) und Beziehung (Relationship) als Kraftquellen, die in jedem Menschen angelegt sind, i. d. R. in unterschiedlichen Ausprägungen. Das nachfolgende Modell hat diesen Basismotiven konkrete persönliche Profilkompetenzen zugeordnet und wurde mit Selbstbefähigung (Empowerment) um eine weitere, wesentliche Kategorie ergänzt. Um nun den skizzierten Anforderungen gerecht zu werden, haben erfahrene Klinikärzte und Psychologen aus den generellen 24 die Top 9 Kompetenzen priorisiert, die nachstehend dargestellt sind.

Das Cluster Power umfasst Kompetenzen, die das Einfluss- sowie Gestaltungsbedürfnis einer Person zeigen, also das Bestreben, Führung und Verantwortung zu übernehmen sowie Entscheidungen zu treffen. Dabei spielen auch Themen wie unternehmerisches Denken und Feedback eine wesentliche Rolle sowie das Aufsuchen möglicher Durchsetzungssituationen, um dem Drang nach Selbstbehauptung nachzukommen. Personen, die hohe Ausprägungen in diesem Cluster aufweisen, wollen demnach Einfluss nehmen, aktiv gestalten und eine tragende Rolle im Unternehmen einnehmen.

1.Verantwortungsübernahme: Fähigkeit, sich für Personen und Aufgaben verantwortlich zu fühlen und proaktiv einzusetzen.

2.Unternehmerisch denken: Fähigkeit, die Interessen des Unternehmens im Blick zu haben und Themen aus einer übergeordneten Perspektive zu betrachten.

Das Cluster Performance umfasst Kompetenzen, die das Bedürfnis einer Person nach inhaltlicher Auseinandersetzung mit herausfordernden Aufgaben widerspiegeln. Dafür sind Themen wie das Einbringen eigener Ideen und die Erarbeitung strategischer Konzepte, als auch eine Detailorientierung und Umsetzungsstärke relevant. Zudem wird die Fähigkeit erfasst, passende Rückschlüsse aus Fehlern oder Rückschlägen für das eigene Verhalten zu ziehen.

Personen mit starken Ausprägungen in diesem Cluster legen ihren Fokus demnach stark auf die inhaltliche Umsetzung von Aufgaben. Sie wollen Ziele erreichen und Neues lernen.

3.Innovationsstärke: Fähigkeit, sich mit eigenen Impulsen einzubringen sowie die Ideen anderer zu unterstützen.

4.Lernen aus Fehlern: Fähigkeit, Rückschläge zu reflektieren und die damit verbundenen Erkenntnisse für sich anzunehmen.

Das Cluster Relationship umfasst Kompetenzen, die Aufschluss über das Anschlussmotiv einer Person geben, also ihr Bedürfnis nach einem wertschätzenden Miteinander, Zugehörigkeit und Geselligkeit im Arbeitskontext. Neben grundlegenden Sozialkompetenzen, wie dem Aufbau von Beziehungen oder der Zusammenarbeit im Team, werden auch Kompetenzen wie Empathie oder Konfliktlösung dargestellt. Personen mit starken Ausprägungen in diesem Cluster legen daher großen Wert auf ein wertschätzendes und kollaboratives Arbeitsumfeld und vernetzen sich gern mit anderen.

5.Teamorientierung: Fähigkeit, mit anderen Personen zusammenzuarbeiten und kooperativ zu agieren.

6.Konfliktlösung: Fähigkeit, Unstimmigkeiten zu erkennen und gemeinsam konstruktive Lösungen zu entwickeln.

Das Cluster Empowerment bildet die Selbststeuerungskompetenzen einer Person ab, also deren Fähigkeiten, im selbstbestimmten Umgang mit Belastungssituationen und Anpassung an neue Gegebenheiten umzugehen. Dafür sind Themen wie Selbstmotivation und -reflexion ebenso wichtig, wie der souveräne Umgang mit Widersprüchlichkeiten und emotionalen Stressoren.

Abb 2: Profilkompetenzen in Motivclustern (Quelle: Pawlik Consultants GmbH)

Personen mit starken Ausprägungen in diesem Cluster verfügen über eine hohe Selbststeuerung und können demnach leichter mit Veränderungen, neuen Herausforderungen oder Stresssituationen umgehen und diese selbstbestimmt sowie souverän meistern.

7.Selbstmotivation: Fähigkeit, unliebsame Aufgaben zuversichtlich anzugehen und sich die positiven Anreize vor Augen führen zu können.

8.Selbstreflexion: Fähigkeit, sich selbst kritisch zu hinterfragen und externes Feedback in das Selbstbild integrieren zu können.

9.Anpassungsstärke: Fähigkeit, sich veränderten Rahmenbedingungen anzupassen und das eigene Verhalten daraufhin zu ändern.

… und jetzt?

Wenn wir das souveräne Denken und Handeln in Bezug auf relevante Kompetenzen als Lebensinvestition betrachten, bietet sich ein bewährter und professioneller Wachstumsweg an:

Der erste Schritt ist immer die Selbsteinschätzung: Wo bin ich bereits hinreichend gut, wo habe ich noch deutliches Entwicklungspotenzial? Es gibt viele Wege, das zu tun: Es kann sehr einfach mit einer simplen Liste erfolgen oder mit einem wissenschaftlich fundierten Online-Assessment mit umfassenden Gutachten, der sog. Scan-Analyse [7].

Im zweiten Schritt gilt es, die Ergebnisse zu reflektieren und individuelle Entwicklungsziele zu priorisieren, zu konkretisieren und dann einen persönlichen Entwicklungsplan zu gestalten inkl. der dafür passenden Unterstützung. Letztere kann durch professionelle Experten, am besten in einem Tandem von Ärztinnen und Ärzte sowie Psychologinnen und Psychologen, erfolgen, mit didaktisch interaktivem E-Learning oder auch durch einen geeigneten AI-Coach.

Ein dritter Schritt ist dann das Lernen und Üben im Alltag und das wiederkehrende Reflektieren und Dranbleiben. Dies ist ein permanenter Prozess, der nie aufhört (permanentes Lernen). Es kann nützlich sein, sich wiederholt zur Adjustierung auch extern begleiten zu lassen (Coaching).

Dieser Weg zu einer persönlichen Neuorientierung ermöglicht ein persönliches Bewusstsein über seine Notwendigkeit und über den fundamentalen Nutzen für das eigene Leben.

Literatur

[1]   AUGURZKY, Boris; KARAGIANNIDIS, Christian. Gesundheitsagenda 2030: Ohne Reformen drohen Sozialabgaben von 50% und mehr. Steigende GKV-Beiträge und demografischer Wandel erfordern tiefgreifende Strukturreformen. RWI Impact Notes, 2025.
[2]   WELLER, M. (2025). Die Krankenhausreform. Gesundheits-und Sozialpolitik (G&S), 78(4-5), 54-60.]
[3]   VAN DEN HEUVEL, Dirk. Krankenhausreform: Einführung von Leistungsgruppen und Vorhaltepauschalen. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 2023, 8. Jg., S. 707.]
[4]   ROHATSCH, Nadine. 15 Thesen zur zukünftigen strategischen Ausrichtung von Krankenhäusern in Deutschland. Gesundheits-und Sozialpolitik (G&S), 2025, 78. Jg., Nr. 3, S. 4-15.]
[5]   STOLLMANN, Frank; TRIEBEL, Enrico. Zum Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Qualität der stationären Versorgung durch Transparenz (Krankenhaustransparenzgesetz). GesundheitsRecht, 2023, 22. Jg., Nr. 10, S. 613-620.]
[6]   KRUG, Joachim Siegbert / KUHL, Julius: Macht, Leistung und Freundschaft – Motive als Erfolgsfaktoren in Wirtschaft, Politik und Spitzensport, Kohlhammer 2006
[7]   Hogrefe-Verlag: „Motivation und Persönlichkeit: Interaktionen psychischer Systeme“, 2001, https://www.amazon.de/Motivation-Pers%C3%B6nlichkeit-Interaktionen-psychischer-Systeme/dp/3801713075

Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. med. Eike Sebastian Debus, FEBS, FEBVS

Direktor Klinik für Gefäßmedizin

(Gefäßchirurgie – Angiologie – endovaskuläre Therapie)

Universitäres Herz- und Gefäßzentrum

Universitätsklinikum Hamburg/Eppendorf

Martinistr. 52

20246 Hamburg

s.debus@uke.de

Prof. Dr. phil. Henrik Meyer- Hoeven

Pawlik Consultants GmbH

Zirkusweg 2 – 20359 Hamburg

Hamburg School of Business Administration (HSBA)

Willy-Brandt Str. 75

20459 Hamburg

Chirurgie

Debus ES, Meyer-Hoeven H: Stellenwert der Spezialisierung – Chance zur Neuorientierung. Passion Chirurgie. 2025 Oktober; 15(10): Artikel 03_04.

Mehr zur Krankenhausreform lesen Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Politik.

Um Leben und Tod – Deutschlands Kliniken stecken in der Krise

Dieser Artikel stammt aus DER SPIEGEL Nr. 32/5.8.2023. Er galt unter den Einsendungen für den BDC-Journalistenpreis 2024 als einer der Favoriten. Zum Schwerpunktthema „Krankenhausreform“ passt dieser Artikel, auch wenn er schon etwas älter ist.

Deutschlands Kliniken stecken tief in der Krise. Patienten werden teilweise schlecht versorgt, Tausende könnten gerettet werden, Manager fahren Verluste ein. Eine große Reform soll es nun richten – das Beispiel eines mittelgroßen Hauses zeigt, was das für die Menschen bedeuten kann.

Der Himmel ist blau an diesem schicksalhaften Morgen des 12. September 2022. Um kurz vor zehn Uhr laufen Frauen und Männer in weißem Kittel durch das Krankenhaus von Spremberg im Süden Brandenburgs. Es sind Chefärzte, die gleich in einem Konferenzraum die Wahrheit hören werden: Ihre Klinik ist insolvent. Zahlungsunfähig. Pleite.

Angereist sind ein Rechtsanwalt mit Assistentin, zwei Unternehmensberater, zwei Vertreter einer Krisenkommunikationsfirma. Die Sitzung dauert fast zwei Stunden. Als die Ärzte den Raum verlassen, schweigen sie. Mittlerweile ist der Insolvenzantrag beim Amtsgericht Cottbus gestellt. Der Beratertross, der nun das Sagen hat, hatte am Morgen den Besprechungsraum im Leitungsflur bezogen. Er befindet sich im Erdgeschoss des Krankenhauses mit mehr als 200 Betten, 34 Ärzten und 125 Pflegekräften. Die Krisenmanager finden tote Fliegen in Wassergläsern, WLAN gibt es nicht.

Der SPIEGEL konnte über Monate hinweg im Krankenhaus Spremberg recherchieren und die Klinik in ihrem Überlebenskampf begleiten. Was dort passiert ist, könnte so ähnlich bald in Hunderten der mehr als 1.800 Krankenhäuser in Deutschland geschehen. Laut einer Umfrage der Beratungsgesellschaft Roland Berger schreibt etwa die Hälfte der deutschen Hospitäler rote Zahlen.

Die Branche klagt über explodierende Kosten für Lohnerhöhungen und Energie bei bestenfalls stagnierenden Erlösen. Etwa jedes fünfte Krankenhaus werde in den kommenden zehn Jahren verschwinden, warnt Gerald Gaß, Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Der Bundesgesundheitsminister sieht das entspannt. Deutschland hat viele Kliniken und gibt noch mehr für sie aus, bei allenfalls mittelprächtigen Ergebnissen für Patientinnen und Patienten. SPD-Mann Karl Lauterbach will deshalb einen Umbau des Systems. Kliniken wie die in Spremberg könnten zu den Opfern gehören.

Abb. 1: Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner im europäischen Vergleich 2021

Im Krankenhaus leitet Anwalt Mark Boddenberg vom ersten Tag an das Verfahren. Eine seiner Mitarbeiterinnen hat einen Drucker mitgebracht und sicherheitshalber auch Kopierpapier. »Man weiß nie, was man vorfindet«, sagt sie. Boddenberg verhandelt am Handy mit der Investitionsbank des Landes Brandenburg. Zu Beginn der Mitarbeiterversammlung um 13.27 Uhr ist es mucksmäuschenstill in der Kantine des Krankenhauses, nur die Tiefkühltruhe brummt. Es sind so viele Ärzte, Krankenschwestern und andere Angestellte gekommen, dass etliche von ihnen stehen müssen. »Endlich dürfen wir mal wieder das Licht hier anmachen«, sagt eine Angestellte, die in der Kantine arbeitet. Bisher habe man darauf geachtet, die Beleuchtung im Speisesaal auszulassen – Sparmaßnahme von oben. Die Geschäftsführerin hat ihre Rede mit der Hand in einen Collegeblock geschrieben. Man stehe vor einer ökonomischen Klippe, windet sie sich. Nach ihr sprechen zwei drahtige Unternehmensberater. Sie bemühen sich um Mitgefühl, machen »das System« und »die Politik« verantwortlich. Einer der beiden hat mal als Arzt in der Gynäkologie des Klinikums rechts der Isar in München gearbeitet. Nun erzählt er etwas von der Ambulantisierung des Gesundheitswesens und »einem massiven Fallzahlrückgang«.

Die Krankenhausfinanzierung ist eine Dauerbaustelle, an der Regierungen und Kassen permanent herumwerkeln. Die letzte größere Reform fand vor 20 Jahren statt, die Gesundheitsministerin hieß damals Ulla Schmidt (SPD), Karl Lauterbach gehörte zu ihren engsten Beratern. Die beiden setzten damals jene »Fallpauschalen« durch, die Lauterbach heute als Ursache vieler Fehlentwicklungen betrachtet. In diesem System hat, vereinfacht gesagt, jedes Krankheitsbild ein Preisschild. Kliniken können anhand eines dicken Katalogs von Basisfallwerten, Multiplikatoren, Zusatzentgelten, Zu- und Abschlägen vorab ausrechnen, ob sie beispielsweise 2000 bis 4000 Euro für eine Blinddarmoperation von den gesetzlichen Krankenkassen bekommen – oder auch rund 10.000 für eine Harnblasenoperation bei einem Krebskranken. Das System führt dazu, dass es aus Sicht der Kliniken lukrative und wenig lukrative Patientinnen und Patienten gibt. Lukrativ ist, wer eine Krankheit mitbringt, die laut Katalog besonders gut bezahlt wird, keine Komplikationen erwarten lässt und das Klinikbett nicht lange blockiert. Krankenhäuser, die zu wenige solcher Idealpatienten auftreiben und durchschleusen können, geraten leicht in eine Schieflage.

Das Gutachten über die Zukunftsaussichten der Klinik in Spremberg ist 103 Seiten lang. Es stammt von der Münchner Firma WMC Healthcare, einem Beratungsunternehmen für Kliniken, das Krankenhaus hat es in Auftrag gegeben. Liest man es, könnte man kurz zusammengefasst sagen: Kein Mensch braucht dieses Krankenhaus. Die Berater formulieren das etwas differenzierter. Die Klinik besteht zu dem Zeitpunkt aus einem stationären Teil, drei Tageskliniken für Psychiatrie und Psychotherapie sowie einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ), einer Art Poliklinik angestellter Ärztinnen und Ärzte, die ambulant behandeln. 2019 machte das Krankenhaus rund 24 Millionen Euro Umsatz, 2021 waren es nur noch 23 Millionen. 2021 wurden auch die Probleme sichtbar, ein negatives Betriebsergebnis von mehr als 1,9 Millionen Euro. Das Krankenhaus, seit 1869 an diesem Standort, litt zuletzt durch Corona vor allem an einer schlechten Auslastung der Psychiatrie. Dort waren die Fallzahlen um acht Prozent zurückgegangen. Obwohl weniger Patienten dort waren, musste das Krankenhaus Personal aufstocken, um 18 Stellen in zwei Jahren. Gesetzliche Vorgaben machten das nötig. Ein Arzt verdient in Spremberg im Schnitt 125.000 Euro im Jahr – etwas weniger als im bundesdeutschen Durchschnitt, der bei 129.000 Euro liegt. Trotzdem sank die Produktivität des Krankenhauses, weil mehr Personal weniger Patienten behandelte. 2021 lagen die Personalkosten bei 18,1 Millionen Euro. Spremberg rekrutiert 56 Prozent seiner Patienten aus einem Umkreis von zehn Kilometern, so die Analyse der WMC-Berater. Im Umkreis von 30 Fahrminuten finden sich gleich vier Konkurrenten, darunter ein Maximalversorger in Cottbus. Würde Spremberg von der Krankenhauslandkarte verschwinden, würde sich für die Bevölkerung der Region die durchschnittliche Fahrzeit zum nächsten Krankenhaus der Grundversorgung um knapp fünf Minuten erhöhen, haben die Berater ausgerechnet – von 8,6 auf dann 13 Minuten. Allerdings wären nur zwei Prozent der Klinikpatienten von einer längeren Fahrzeit betroffen. Soll man ein Krankenhaus retten, weil zwei Prozent der Patienten sonst etwas länger bis in ein anderes Klinikum brauchen?

Vor vielen deutschen Kliniken versammeln sich Mitte Juni Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und Verwaltungsangestellte, sie halten Plakate hoch, auf denen »Alarmstufe Rot« steht. Sie verlangen Reformen, mehr Personal und vor allem: mehr Geld für die Kliniken. Die Gesundheitsminister von Bund und Ländern hatten schon vor Monaten angekündigt, die Krankenhausfinanzierung umkrempeln zu wollen. Doch über Details wird gestritten. In Krankenhäusern, denen das Geld auszugehen droht, wachsen Existenzängste. »Es wäre unverantwortlich, Kliniken zu schließen, die für eine flächendeckende, wohnortnahe und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung gebraucht werden«, sagt die Ver.di-Gewerkschafterin Sylvia Bühler auf der zentralen Protestveranstaltung in Berlin.

Spremberg hat keinen wirklichen medizinischen Schwerpunkt. Es ist ein Krankenhaus, das alles Grundlegende macht, nichts aber mit besonderem Profil. Tendenziell, so die Analyse von WMC, werde die Zahl der Patienten weiter sinken. Steigen würden hingegen die Kosten. Personal, Energie, Material – mit drei bis vier Prozent jährlich kalkulieren die Berater. Kurz nach der Insolvenz wollen sie das Krankenhaus schrittweise schließen, nur eine Psychiatrie könnte bleiben. Die restliche Krankenversorgung soll ein MVZ übernehmen, das mit angestellten Ärzten die ambulante Versorgung übernimmt. Nur 15 Prozent der derzeitigen Fälle könnten künftig weiter am Standort behandelt werden. Spremberg steht nicht allein da mit seinen Problemen. Kleine Krankenhäuser, also jene mit weniger als 300 Betten, erwirtschafteten schon 2020 in 44 Prozent der Fälle ein Minus. Große Krankenhäuser mit mehr als 600 Betten standen noch schlechter da; mehr als die Hälfte schrieb rote Zahlen. Am besten ging es jenen Häusern, die mittelgroß sind, also zwischen 300 und 600 Betten haben – 57 Prozent von ihnen machten Gewinn. Spremberg ist das, was Berater als »subkritische Größe« bezeichnen.

Bei einem Treffen in Berlin können sich die Gesundheitsminister Ende Juni immer noch nicht auf ein gemeinsames Konzept einigen. Allerdings zeichnet sich ab, dass die ungeliebten Fallpauschalen gekappt werden. Sie sollen künftig nur noch bis zu 40 Prozent der Behandlungskosten decken. Der Löwenanteil von 60 Prozent soll in Zukunft über »Vorhaltepauschalen « finanziert werden. Das heißt: Die Kliniken bekommen Geld von den Krankenkassen künftig dafür, dass sie Betten, Personal und Material für die Behandlung bestimmter Krankheiten bereitstellen – auch wenn die Kapazitäten nicht komplett genutzt werden. Das soll den Konkurrenzkampf um Patienten mit lukrativen Krankheitsbildern mildern. Es soll auch verhindern, dass Hilfesuchende aus ökonomischen Gründen auch dann von Kliniken aufgenommen werden, wenn es gar nicht unbedingt nötig wäre – oder dass Kranke dort operiert werden, obwohl sie in einer besser ausgestatteten Klinik viel größere Heilungschancen hätten. Als Reformvorbild wird ein Modell aus Nordrhein-Westfalen gehandelt. Danach sollen etwa 70 medizinische »Leistungsgruppen« benannt und den Kliniken zugeordnet werden. Eine Leistungsgruppe wäre etwa Allgemeine Chirurgie, eine andere Kardiologie oder Intensivmedizin. Für jede Leistungsgruppe, die sie anbieten, müssen die Kliniken dann strikte Qualitätsstandards einhalten, etwa eine vorgegebene Zahl an Fachärzten und eine Mindestzahl an Behandlungen oder Operationen in dem jeweiligen Fachgebiet. Eine Klinik, die diese Standards reißt, soll für Behandlungen in dieser Leistungsgruppe kein Geld mehr von den Krankenkassen bekommen.

Spremberg hätte nicht in Schieflage geraten müssen.
Tobias Grundmann, Klinikchef

Krankenhausmanager Tobias Grundmann steht im Frühjahr 2023 vor dem Krankenhaus Spremberg und zeigt auf die Fassade. Grundmann ist der neue Geschäftsführer, er hat seine Vorgängerin im Dezember 2022 abgelöst. Zuvor leitete er für einen großen Krankenhauskonzern eine Klinik in Rottweil, südwestlich von Stuttgart. Er stammt aus Chemnitz und wollte wieder näher an seiner Heimat sein. Ein paar Wochen vorher hatte Grundmann eine Runde aus Klinikführungskräften in den Konferenzraum geladen, in dem zuvor das vorläufige Ende des Krankenhauses besiegelt worden war. Seitdem ist einiges passiert. Die Stadt sprang als neue Mehrheitsgesellschafterin bei und gab ein Darlehen von bis zu 3,75 Millionen Euro. Das todgeweihte Krankenhaus soll, entgegen dem Rat der Berater, gerettet werden. Grundmann hält nicht viel von den Konzepten seiner Vorgängerin, die etwa aufs Lichtausschalten setzte. Er investiert. Die Station neben dem Operationstrakt soll umgebaut werden. Patientenzimmer werden zurückgebaut, Duschen rausgestemmt, Patientenschränke entfernt. Rund 100.000 Euro soll das kosten. Grundmann erklärt seiner Leitungsrunde, dass das Krankenhaus kleiner werden muss. Wo einst Patienten stationär aufgenommen worden sind, sollen sie nun ambulant operiert werden. Deshalb brauche man die Station so nicht mehr, vielmehr sollten dort bald Untersuchungen vor Operationen und die anschließende Aufnahme stattfinden. Das Personal könne flexibel hin- und hergeschickt werden. Das bringt Geld, denn die Untersuchungen können über ein Pflegebudget gesondert mit den Krankenkassen abgerechnet werden. Grundmann führt die Runde durchs Haus. Der OP-Trakt ist gut zehn Jahre alt. Die Überwachungsstation ist lichtdurchflutet, hat sechs Betten und mit zwei Pflegekräften einen besseren Betreuungsschlüssel als so manche Universitätsklinik. Es ist Nachmittag, zwei Betten werden über den Flur geschoben. Die beiden älteren Patientinnen sind nach ihren Operationen noch intubiert, werden unterstützend beatmet. Schwere intensivmedizinische Fälle können in Spremberg nicht behandelt werden. Sie müssen nach Cottbus gebracht werden – 30 Minuten Fahrzeit entfernt. In der Notaufnahme ist nichts los an diesem Tag. Grundmann steuert einen Raum am Ende des Flurs an. Noch steht darin eine Liege, bald sollen es drei Betten sein. »Wir richten hier eine Überwachungsstation ein.« Wenn die Patienten dort liegen, können sie der stationären Pflege zugeschlagen und über das Pflegebudget der Kassen abgerechnet werden. Auch das bringe Geld. Grundmann ist sich sicher: Spremberg hätte nicht in Schieflage geraten müssen. Schuld sei zu einem großen Teil das Krankenhaus selbst gewesen, das die Feinheiten des Abrechnungssystems nicht gut genug genutzt habe.

Um den Druck für eine Reform zu erhöhen, stellt Karl Lauterbach im Juni eine Analyse von Experten vor, es ist ein vernichtendes Urteil über die Qualität der deutschen Klinikstruktur. In keinem europäischen Land gebe es mehr Krankenhausbetten pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner, und mit Ausnahme der Schweiz stecke auch kein europäisches Land gemessen am Bruttoinlandsprodukt mehr Geld ins Gesundheitssystem als Deutschland. Doch bei der Behandlungsqualität liege die Bundesrepublik im internationalen Vergleich nur im Mittelfeld. Der Grund: Viel zu viele Kranke würden in Kliniken behandelt, die dafür nur unzureichend qualifiziert seien. Patientinnen mit Brustkrebs hätten beispielsweise eine fast 25 Prozent höhere Überlebenschance, wenn sie in einem zertifizierten Brustkrebszentrum behandelt würden statt in einem Wald-und-Wiesen-Hospital. Und würden Menschen mit Schlaganfällen durchweg in Kliniken mit spezieller Behandlungseinheit (Stroke-Unit) gebracht, könnten rund 5000 Todesfälle im Jahr nach dem Gehirninfarkt vermieden werden, so die Experten. Zehntausende Menschenleben, mahnt Lauterbach, könnten jedes Jahr gerettet werden, wenn anspruchsvolle Behandlungen nur noch in Kliniken vorgenommen werden, die über große Routine und Kompetenz verfügten. Kleinere Krankenhäuser sollten sich auf die Grundversorgung und einfache Standardbehandlungen konzentrieren – oder sich in ambulante Behandlungszentren mit Haus und Fachärzten umwandeln. Die gesetzlichen Krankenkassen assistieren. Sie halten 1.250 Kliniken in Deutschland für ausreichend, um die Bevölkerung zu versorgen. Das wäre gut ein Viertel weniger als bisher.

An einem Freitagmorgen im Mai dieses Jahres grillt Geschäftsführer Grundmann für seine Leute. Neben der Notaufnahme des Krankenhauses ist dazu ein Pavillon aufgebaut worden. Grundmann stellt die neu ernannte Pflegedienstleiterin vor, während er leicht verkohlte Würste auf dem Grill wendet. Etwa 100 Meter neben Grundmanns Grillfest führt Sabine Manka durch ihr Reich. Manka hat seit ihrer Ausbildungszeit beruflich nie etwas anderes kennengelernt als das Krankenhaus Spremberg. Sie ist sogar im Krankenhaus auf die Welt gekommen. Seit 1987 arbeitet sie in Spremberg. Manka ist Chefärztin der Gynäkologie. Als sie kam, wurden noch 500 Kinder pro Jahr in Spremberg geboren, in den besten Zeiten waren es mal 700. Kurz vor der Abwicklung der Geburtshilfe waren es nicht mal mehr 50. Schwangere müssen nun zur Entbindung nach Senftenberg, Forst oder Cottbus fahren. Manka hat sich auf Brustkrebsoperationen spezialisiert. Rund 100 Frauen operiert sie pro Jahr. Das ist künftig wohl die Mindestmenge, die ein Krankenhausstandort jährlich erbringen muss, um Brustkrebspatientinnen auf Kosten der Kassen behandeln zu dürfen. Spremberg ist nicht von der Deutschen Krebsgesellschaft als Brustkrebszentrum zertifiziert. In Fachkreisen würde man vermutlich abraten, eine so schwerwiegende Erkrankung in einer schrumpfenden Klinik einer brandenburgischen Kleinstadt behandeln zu lassen. Andererseits ist Manka durch ihre Spezialisierung sehr erfahren. In einem großen Klinikum kann die Gesamtzahl der behandelten Fälle größer sein, aber auf den einzelnen Operateur kommen am Ende eventuell weniger Patienten. Manka sagt, dass aus medizinischer Sicht wenig dagegenspreche, Tumore der Brust auch ambulant zu entfernen – was hier bisher kein medizinischer Standard ist. »Brustoperationen sind oft Operationen an der Oberfläche. Man kann eine Drainage einsetzen und die Frau danach nach Hause schicken.« Ambulante Versorgung soll die Zukunft sein in Spremberg. Spezialistin Manka muss jetzt Sprechstunden abhalten, zu ihr kommen nun auch Frauen für Routineuntersuchungen. »Ich musste mich erst mal damit beschäftigen, wie man einen Krebsfrüherkennungsabstrich macht«, sagt Manka. Zuletzt hatte sie damit vor Jahrzehnten während ihrer Facharztausbildung zu tun. Ob sie künftig noch Krebspatientinnen operieren kann? 2022 hatte sie 99 Brustoperationen, im ersten Halbjahr 2023 waren es 48. Die Mindestmengen für zertifizierte Zentren würde sie damit verfehlen, und das könnte, wenn die Reform kommt, zum Aus der Brustchirurgie in dem Haus führen. »Das würde uns die Füße weghauen«, sagt Manka. Was dann aus ihr wird? Unklar.

Mitte Juli verkünden die Gesundheitsminister von Bund und Ländern endlich eine Einigung, wenn auch mit einer Gegenstimme aus Bayern. Der Wechsel von den Fallpauschalen zu den Vorhaltevergütungen wird vereinbart, ebenso die Einführung der Leistungsgruppen. Lauterbach spricht euphorisch von einer »Revolution«. Viele Interessenvertreter sind skeptischer. Für die Reform müssten Abteilungen verschiedener Krankenhäuser verlagert, geschlossen oder zusammengelegt werden. Das kostet, doch die Minister können sich nicht auf zusätzliche Mittel zur Finanzierung der Reform einigen.

Christine Herntier ist eine Optimistin. Die parteilose Bürgermeisterin von Spremberg vertritt die Anteile der Stadt am Krankenhaus. Bei der vergangenen Wahl musste sie sich gegen den Kandidaten der AfD durchsetzen, gewann dann aber in einer Stichwahl mit komfortabler Mehrheit. Spremberg hat knapp 22.000 Einwohner. Zu DDR-Zeiten waren es mehr, auch wenn der Zuschnitt der Gemeinde ein anderer war als heute. Es boomten Tagebaue und Kohlekraftwerke, die für Arbeitsplätze und Wohnraum sorgten. Steht man auf dem Dach des Krankenhauses, sieht man die Kühltürme des Kraftwerks Schwarze Pumpe, heute ein Ortsteil von Spremberg. Noch husten sie weiße Dampfschwaden aus. Für die Bürger hänge jetzt alles am Kohlekompromiss, sagt Herntier. Sie steht in einem Patientenzimmer der Klinik, die Betten sind mit Folie abgedeckt. Es ist zwischenzeitlich ihr Haus geworden, die Stadt übernahm Anteile vom Förderverein und ist nun mit 80 Prozent Mehrheitsgesellschafterin. Seitdem muss Geschäftsführer Grundmann einmal im Monat Zahlen präsentieren, bei ihr im Rathaus. Das Krankenhaus, so Herntier, sei vielleicht medizinisch nicht absolut notwendig, aber als psychologisches Signal. »Es ist ein Pflänzchen Hoffnung. Wäre das Haus verschwunden, hätten sich viele Spremberger mit herunterziehen lassen«, glaubt sie. Dass Herntier dem Krankenhaus überhaupt beispringen konnte, liegt daran, dass die Gemeinde wirtschaftlich nicht so schlecht dasteht. Noch 2022 erwirtschaftete die Stadt knapp 5,7 Millionen Euro Überschuss, die Zahl der Gewerbebetriebe stieg sogar leicht auf 1622. Herntier setzt etwa auf eine australische Firma, die im Gewerbegebiet Vorprodukte für Batterien produziert, ein Windpark soll entstehen. Bis 2030 hofft man in Spremberg auf steigende Einwohnerzahlen. Dann könnte ein eigenes Krankenhaus ein wichtiger Standortfaktor sein – wenn es noch da ist.

Eine Kliniklandschaft, wie Karl Lauterbach sie sich vorstellt, wäre in ein Dreiklassensystem aufgeteilt. Ganz oben, Level 3, würden die großen Maximalversorger stehen, etwa Universitätskliniken mit vielen gut ausgestatteten Abteilungen. Zum Mittelfeld, Level 2, zählten spezialisierte Fachkliniken sowie Krankenhäuser, die neben einer Grundversorgung mit Chirurgie, Intensiv- und Notfallmedizin noch mindestens einen herausragenden Schwerpunkt anbieten können. Kliniken auf Level 1, die »Grundversorger«, sollten nur noch Basisbehandlungen in innerer Medizin und Chirurgie vornehmen. Manche dieser Kliniken sollten sich als Untergruppe Level 1i auf ambulante und kurzstationäre Behandlungen beschränken. Sie hätten keine Notaufnahme mehr und würden nicht mehr von Rettungswagen angefahren. Das wäre dann eine Art Ärztehaus mit Übernachtungsmöglichkeit, spotten Kritiker. Die Gesundheitsminister der Länder halten nicht viel von dieser Kategorisierung. Sie könne dazu führen, dass die Patienten nur noch in Level-3-Kliniken drängen würden, zulasten gut geführter kleinerer Häuser: »Am Ende werden die Leute einfach sagen, große Krankenhäuser sind gute Krankenhäuser«, sagt Karl-Josef Laumann (CDU), der Gesundheitsminister Nordrhein-Westfalens. »Dabei kann eine Lungenfachklinik in diesem Bereich mindestens genauso gut sein wie eine Universitätsklinik.« Der Kompromiss sieht nun vor, dass Unikliniken und große Krankenhäuser eine Koordinierungsfunktion bekommen sollen. Ähnlich wie in der Coronakrise sollen sie schwere Fälle an sich ziehen und weniger komplizierte an Kliniken mit niedrigeren Levels abgeben. Außerdem will Lauterbach eine »Transparenzoffensive« starten, ohne Beteiligung der Länder. In einem vom Bund initiierten Informationsportal sollen die Bürger nachschauen können, welche Kliniken wie oft bestimmte Eingriffe machen und wie viele Fachärzte sie dafür vorhalten. In diese Datenbank will Lauterbach auch seine Level-Einteilung einpflegen.

Die Klinik ist vielleicht nicht medizinisch notwendig,
aber als psychologisches Signal.
Christine Herntier, Bürgermeisterin

In der Notaufnahme des Klinikums Spremberg schieben an einem Freitagvormittag im Juni drei Pflegekräfte Dienst, eine junge Frau im Freiwilligen Sozialen Jahr und der Chefarzt der Abteilung. Ein Pfleger klebt rote Pappe auf eine Glastür, damit Besucherinnen und Besucher nicht mehr durchgucken können. Überfüllte Wartesäle, überlastete Ärzte oder abweisende Pflegekräfte gibt es nicht in Spremberg. Wartezeiten? »Manchmal gibt es die, aber es ist selten«, sagt Anne Grabein, 39, Krankenpflegerin in der Notaufnahme. Eine 90-Jährige hat Schmerzen an Arm und Schulter, wurde von Angehörigen gebracht. Gestürzt sei sie nicht, doch Arzt Robert Tscherner traut den Aussagen der Dame nicht ganz und schickt sie zum Röntgen. Eine eigene Röntgenabteilung gibt es in Spremberg nicht mehr, dafür eine radiologische Praxis direkt neben der Notaufnahme. Eine Mutter kommt mit ihrem Sohn in die Rettungsstelle. Er war in eine Schulhofschlägerei verwickelt, hat nun eine Wunde an der Lippe. Tscherner, ein Internist, holt einen Chirurgen hinzu, der soll entscheiden, ob man nähen muss. Um 12.29 Uhr klingelt dann das Telefon, Sekunden später geht Tscherners Piepser. Die Rettungsleitstelle hat Alarm ausgelöst. Ein Notruf aus einer Spremberger Grundschule ist eingegangen, ein Kind schaue apathisch. Tscherner muss auch Notarztdienst schieben, es ist der erste Einsatz heute. Es sind eher die alltäglichen Dramen, die in der Notaufnahme in Spremberg behandelt werden. Und es sind Fälle, für die es in einer ausgedünnten medizinischen Versorgungslandschaft mit wenigen niedergelassenen Ärzten kaum noch Ansprechpartner in der Nähe geben wird.

Auch nach der Einigung der Gesundheitsminister bleiben viele Fragen offen. Vor allem solche, bei denen es ums Geld geht. Lauterbach solle erst aufzeigen, wie die zu Gesundheitszentren abgestuften Kleinkliniken wirtschaftlich arbeiten können, fordern Vertreterinnen und Vertreter der Länder. Bis zum Ende des Sommers soll an Gesetzestexten gebastelt werden. »Bei uns stehen halt die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, und bei uns fliegen die Tomaten, wenn ein Klinikum fusioniert oder ein kleines Klinikum geschlossen wird«, sagt der baden-württembergische Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne). Bis die Reform überall umgesetzt sei, dürften Jahre vergehen, räumt Lauterbach ein. Die Länder pochen darauf, dass die Krankenhausplanung, also die Grundsatzentscheidung über Standorte, in ihrer Hand bleiben soll. Die Entfernung zum nächsten Krankenhaus mit Notaufnahme dürfe in dünn besiedelten Regionen nicht mehr als 30 Autominuten betragen. »Auf dem Land wird sich sehr wahrscheinlich wenig ändern, da wir da schon oft eine Unterversorgung haben«, kündigt NRW-Minister Laumann schon mal an. »Die Doppelstrukturen haben wir vor allem in den Ballungsgebieten.«

Im Juli herrscht unerwartet Betrieb im ersten Stock des Krankenhauses Spremberg. Geschäftsführer Grundmann hat eingeladen, zur Eröffnung einer neuen Station. Bürgermeisterin Herntier ist gekommen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie eine Journalistin der »Lausitzer Rundschau«. Dann schreitet der Geschäftsführer zur Tat. Mit je einer Schere schneiden Grundmann und die Pflegedienstleiterin ein rotes Band durch, das an zwei Infusionsständern festgebunden ist. Grundmann weiß noch nicht genau, wie sich die Pläne der Gesundheitsminister auf seine Klinik auswirken werden. Letztlich, sagt er, werde wohl das Land Brandenburg entscheiden, welches Versorgungsniveau das Krankenhaus künftig erbringen könne. Mit der Auslastung der Klinik ist er einstweilen zufrieden. Ende Juni lag sie bei 78 Prozent, 65 Patienten seien in der Psychiatrie, 65 weitere in den anderen Abteilungen. Die neu eröffnete Aufnahmestation sieht ein wenig so aus, als hätte Grundmann Restbestände eines Billigmöbelhauses aufgekauft. Wahrscheinlich ist es mit der Station so, wie Herntier die Sache für das ganze Krankenhaus sieht. Besser billige Möbel als gar kein Haus mehr, wenn es darum geht, Zuversicht für den Ort zu demonstrieren.

Korrespondierender Autor:

Martin U. Müller

Redakteur

DER SPIEGEL

Martin.Mueller@spiegel.de

Matthias Bartsch

Redakteur

DER SPIEGEL

Panorama

Bartsch M, Müller MU: Um Leben und Tod – Deutschlands Kliniken stecken in der Krise. Passion Chirurgie. 2025 Oktober; 15(10): Artikel 09.

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Umsetzung des Krankenhausplans in NRW – Lehren für die Chirurgie

Chronologie des NRW-Krankenhausplans

Das 2018 vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) beauftragte Gutachten zur Krankenhauslandschaft in Nordrhein-Westfalen (Lohfert & Lohfert AG, TU Berlin) bildete die Grundlage für eine der tiefgreifendsten Reformen im deutschen Gesundheitswesen seit Jahrzehnten. Kernaussage: Die Krankenhausplanung muss sich stärker an Versorgungsbedarf und Behandlungsqualität orientieren.

Nach intensiven Abstimmungen mit Ärztekammern, Krankenkassen, der Krankenhausgesellschaft NRW und dem MAGS wurde 2022 der neue Krankenhausplan verabschiedet. Ende desselben Jahres konnten die Krankenhäuser ihre gewünschten Leistungsgruppen digital beantragen. Die Verhandlungen mit den Krankenkassen schlossen im Mai 2023 ab, woraufhin die Bezirksregierungen die Anträge prüften. Nach zwei Anhörungsrunden wurden im Dezember 2024 die Feststellungsbescheide verschickt. Seit dem 1. April 2025 ist der Plan – mit wenigen Übergangsregelungen – verbindlich in Kraft.

Erfahrungen aus dem Antragsverfahren

Allgemeine Beobachtungen

Aus Sicht der Autoren ist die Grundidee des Plans – eine Strukturreform mit Fokus auf Behandlungsqualität – richtig und wichtig. Bei viszeralchirurgischen Leistungsgruppen wurde die Zuteilung jedoch nahezu ausschließlich anhand von Fallzahlen entschieden, ergänzt durch vorhandene Vorhaltestrukturen. Die Höhe der Fallzahlen orientierte sich, wenn vorhanden, an den G-BA Mindestmengen. Für die Leistungsgruppen (LG), bei denen keine G-BA Vorgaben vorlagen (Adipositas, Leber, Rektum) wurden Fallzahlen von Zertifizierungsvorgaben von Fachgesellschaften (z. B. DGAV) zugrunde gelegt. Zertifikate (DKG, DGAV u. a.) spielten in der Entscheidung nur eine untergeordnete Rolle.

Die Folge war eine deutliche Konzentration der Leistungsgruppen. Besonders drastisch ist dies in der Leberchirurgie: Rund 75 % der beantragenden Häuser erhielten keine Genehmigung für anatomische Leberresektionen. Damit wird eine zentrale Zielgröße – Qualitätssteigerung durch höhere Fallzahlen – stringent verfolgt. Ob dies allein ausreicht, muss sich jedoch zeigen. Unverzichtbar bleibt die ausreichende finanzielle Unterstützung der Krankenhäuser, an der es bislang fehlt.

Da ähnliche Verfahren in anderen Bundesländern absehbar sind, lassen sich aus NRW erste Lehren ziehen.

Erste Erkenntnisse nach Inkrafttreten

Obwohl der Krankenhausplan NRW erst seit vier Monaten greift, zeichnen sich bereits zentrale Aspekte ab:

1.Online-Verfahren und Verhandlungen

Die Beantragung und Verhandlung der Leistungsgruppen sollte künftig nicht nur von Ökonomen, sondern auch von medizinischen Fachvertretern begleitet werden.

2.Eilverfahren

Die überwiegende Mehrheit, der nach Versendung der Feststellungsbescheide von einigen Klinikern eingereichten Eilanträge gegen den NRW-Krankenhausplan, wurden vom Düsseldorfer Verwaltungsgericht abgelehnt. Aus diesem Grunde scheinen die Beschlüsse weitestgehend rechtssicher zu sein, so dass sich Krankenhäuser nicht drauf verlassen sollten in späteren Rechtsinstanzen Leistungen zugesprochen zu bekommen, welche initial nicht erteilt wurden. Da zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels viele Verfahren noch nicht abschließend beschieden sind, muss hier der Verlauf zeigen, inwieweit Gerichte die Entscheidungen des MAGS am Ende widerrufen.

3.Beispiel Ösophaguschirurgie

Von 71 beantragenden Standorten erhielten 26 (37 %) die Genehmigung zur Durchführung von Ösophagusresektionen. Grundlage war die G-BA-Mindestmenge von 26 Eingriffen pro Jahr. Auffällig ist die ungleichmäßige regionale Verteilung: Alle vier beantragenden Essener Kliniken erhielten eine Zuteilung, während andere Regionen stark eingeschränkt wurden. Die Gründe für diese regionale Ungleichverteilung ist von außen nicht nachzuvollziehen. Interessant ist jedoch auch, dass alle Krankenhäuser zusammen in NRW ca. 2.400 Ösophagusresektionen beantragt haben. Im Jahr 2024 wurden ca. 1.100 Ösophagusresektionen in NRW durchgeführt, was zeigt, dass die Krankenhäuser eine massive „Überzeichnung“ der beantragten Leistungen durchgeführt haben. Dies wurde vom MAGS dahingehend korrigiert, dass insgesamt 1.229 Speiseröhrenresektionen auf die 26 Zentren verteilt wurden. Dies würde bei einer gleichmäßigen Verteilung knapp 50 Ösophagusresektionen pro Zentrum bedeuten, womit man es schaffen würde alle Zentren zu sogenannten high-volume Zentren aufzubauen. Inwieweit sich diese Verteilung in der Realität so zeigt, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschließend zu beurteilen. Da sich die Eingriffe aktuell schon in wenigen High-Volume-Zentren konzentrieren, ist von einer gleichförmigen Verteilung auf die verbleibenden Zentren wahrscheinlich nicht auszugehen.

4.Beispiel Leberchirurgie

Besonders restriktiv verlief die Zuteilung in der Leberchirurgie: Nur 29 von 113 Häusern dürfen anatomische Resektionen durchführen (Ablehnungsquote: 74 %). Grundlage waren 20 Eingriffe pro Jahr – analog zu DGAV-Zertifizierungsvorgaben. Auch hier zeigt sich, analog der Ösophaguschirurgie, eine regionale Ungleichmäßigkeit. Während in Essen drei Zentren zugelassen wurden, fehlen in Regionen wie Niederrhein oder Sauerland wohnortnahe Angebote, wodurch Patienten teils über 50 km Fahrstrecke in Kauf nehmen müssen. Auch hier sind ist die Entscheidungsgrundlage des MAGS von außen nicht nachzuvollziehen, die individuellen Gründe für oder wider einer Leistungserbringung wurden allen Krankenhäusern individuell zugestellt und sind nicht öffentlich einsehbar.

5.Beispiel kolorektale Chiurgie

Bei der Leistungsgruppe „tiefes Rektum“ zeigte sich eine Ablehnungsquote von 52 %. Dies betrifft auch Zentren welche eine DKG Zertifizertung als Darmzentrum vorweisen können. Den Autoren ist leider nicht in der Fläche bekannt, was die Gründe für ein Leistungsverbot dieser Zentren sind. Klar ist jedoch, dass in der Mehrheit die DKG Zertifikate bei fehlender Rektumchirurgie am Zentrum mit aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aufrechterhalten werden können. Ob es sich bei den Entscheidungen ausschließlich um regionale Effekte handelt oder andere tragende Gründe dahinterstehen, lässt sich nicht abschließend klären. Ebenso ist unklar, ob die Umstrukturierungen in Einklang mit den aktuell einführenden G-BA Mindestmengen für die kolorektale Chirurgie sind, d. h. ob alle Zentren, die aktuell den NRW LG-Zuschlag erhalten haben auch langfristig die G-BA Mindestmengen erreichen werden. Auch dies wird über die nächste Zeit abzuwarten werden.

Übertragbarkeit auf andere Bundesländer

Das Bundesland NRW ist das bevölkerungsreichste Bundesland in Deutschland. In der Region Rhein/Ruhr leben ca. 11 Millionen Menschen und die Region ist eine der am dichtesten besiedelten Landstriche in Europa. Dies muss bei der Planung über Übertragung des Konzeptes NRW auf andere Regionen in Deutschland berücksichtigt werden. Auch wenn sich durch die Umstrukturierung der Leistungserbringung Fahrzeiten für Patient*innen für einige Indikationen verlängert haben, ist die Krankenhausdichte im Bundesland nach wie vor hoch und die medizinische Versorgung innerhalb überschaubarer Fahrstrecken erreichbar.

Dies ist jedoch nicht für alle Regionen in gleicher Weise übertragbar. Insbesondere für spärlich besiedelte Landstriche in Deutschland (z. B. Teile in Mecklenburg-Vorpommern) würde eine 1:1 Übertragung des NRW Konzepts zu massiven Verlängerungen von Fahrstrecken führen, teilweise können Leistungen im Land gar nicht mehr abgebildet werden. Dies kann in einer Simulation für thoraxchirurgische Eingriff in Mecklenburg-Vorpommern gezeigt werden, wo möglicherweise eine Leistungsbündelung an die Universitätsklinika in Rostock und Greifswald nicht ausreichen würde, um die NRW Strukturvorgaben zu erfüllen.

Qualitätsaspekte

Der NRW-Plan setzt Qualität aktuell allein über Fallzahlen gleich. Zwar korreliert Volumen mit Ergebnisqualität, jedoch fehlen bislang begleitende Outcome-Analysen und eine zentrale Evaluation der Reform.

Offen ist zudem, ob alle Patient:innen mit relevanten Diagnosen tatsächlich in die zugelassenen Zentren gelangen. Hier braucht es verlässliche Zuweisungsstrukturen, um zu vermeiden, dass potenziell geeignete Fälle außerhalb spezialisierter Häuser behandelt werden.

WEITERBILDUNG

Der Krankenhausplan NRW wird weitreichende Auswirkungen auf die chirurgische Weiterbildung im Land haben. Durch den Wegfall bestimmter Leistungsgruppen verändern sich an vielen Standorten die Möglichkeiten der Weiterbildung grundlegend. Besonders betroffen ist die Weiterbildung in der speziellen Viszeralchirurgie, während die fachärztliche Weiterbildung in der allgemeinen Viszeralchirurgie weniger stark eingeschränkt wird.

Die Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe haben bereits alle Weiterbildungsbefugten aufgefordert, Stellungnahmen zur Sicherstellung der Inhalte ihrer Befugnisse abzugeben. Unstrittig ist, dass die fachärztliche Ausbildung an vielen Einrichtungen in der bisherigen Form nicht fortgeführt werden kann. Die Weiterbildung in der speziellen Viszeralchirurgie muss an die neuen Rahmenbedingungen angepasst werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass – angestoßen durch die Bundesärztekammer – neue Weiterbildungsinhalte definiert werden.

Darüber hinaus werden Kliniken ihre Weiterbildung künftig vermehrt in kooperativen Strukturen anbieten müssen. Für Weiterbildungsassistentinnen und -assistenten bedeutet dies, dass sie – mit wenigen Ausnahmen – ihre gesamte Weiterbildung nicht mehr an einer einzigen Klinik absolvieren können. Die notwendigen Rahmenbedingungen dafür, insbesondere Finanzierung und Organisation, sind derzeit jedoch noch ungeklärt.

Standorte, die Leistungsgruppen verloren haben, befürchten zudem erhebliche Reputationsverluste bei der Rekrutierung ärztlichen Nachwuchses in einem ohnehin stark kompetitiven Umfeld. Um hier schnell Klarheit zu schaffen, ist eine verbindliche Abstimmung zwischen Ärztekammern und Gesetzgebern dringend erforderlich. Nur so können Unsicherheiten in der Weiterbildungsordnung zeitnah beseitigt werden.

Fazit

Die Umsetzung des NRW-Krankenhausplans markiert einen historischen Einschnitt in der stationären Versorgung. Positiv ist die konsequente Orientierung an Fallzahlen und die damit verbundene Bündelung komplexer Eingriffe.

Kritisch bleibt jedoch:

  • die geringe finanzielle Unterstützung für die Umstrukturierung,
  • regionale Ungleichheiten in der Zuteilung und
  • das Fehlen von systematischen Outcome-Daten.

Prof. Dr. med. Florian Gebauer

Direktor des Chirurgischen Zentrums

Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und onkologische Chirurgie

Helios Universitätsklinikum Wuppertal

Lehrstuhl für Chirurgie II an der Universität Witten/Herdecke

flogebauer@gmail.com

Prof. Dr. med. Daniel Vallböhmer

Leiter BDC-Themen-Referat „Krankenhausstrukturen, sektorenübergreifende Versorgung und Nachhaltigkeit“

Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie

Evangelisches Klinikum Niederrhein gGmbH

daniel.vallboehmer@evkln.de

Chirurgie

Gebauer F, Vallböhmer D: Umsetzung des Krankenhausplans in NRW – Lehren für die Chirurgie. Passion Chirurgie. 2025 Oktober; 15(10): Artikel 03_0X.

Mehr zur Krankenhausreform lesen Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Politik.