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Juniausgabe der Passion Chirurgie veröffentlicht

Zur Juniausgabe 2025 | PASSION CHIRURGIE

Es ist Juni und damit Zeit für unsere Kongressnachlese 2025. Wer den DCK verpasst hat, kann sich gerne den Podcast „DCK Kompakt anhören, denn das Team von „Surgeon Talk“ fasst auch dieses Jahr die Topics kurzweilig zusammen.

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Viel Spaß beim Lesen,
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

Chirurgische Kompetenzen – eine Frage der Dienstzeit?

Die Geschicklichkeit und kognitiven Fähigkeiten von Chirurg:innen während eines Nachtdienstes – Eine qualitative Studie

In Deutschland haben ca. 40.000 Chirurg:innen zu jeder Dienstzeit technische und nicht-technische Kompetenzen nachzuweisen [1–5]. Das gilt auch für den Nachtdienst, der den zirkadianen Rhythmus beeinflusst und eine zirkadiane und homöostatische Einschlafbereitschaft bedingt [5–8]. Einige Studien sind bereits der Frage nachgegangen, inwieweit es zu Einschränkungen in der chirurgischen Leistung während eines Nachtdienstes kommt [9; 10]. Unter dem Einbezug von 134 Studien konnte ein kürzlich publizierter Review aufzeigen, dass heterogene Ergebnisse und methodische Mängel vorliegen [11]. Da die bisherigen Studien oftmals standardisierte Methoden verwendeten [11; 12], betrachtete diese Arbeit die nächtlichen chirurgischen Kompetenzen aus der subjektiven Perspektive von Berliner Klinik-Chirurg:innen. Ziel war es, eine technische (Geschicklichkeit) [2] und nicht-technische (kognitive Fähigkeit) Kompetenz [13] von den Beforschten bewerten zu lassen. Zudem wurden die Qualität der Nachtdienstarbeit, das Wohlbefinden und die Bewältigungsstrategien der Chirurg:innen erfasst.

Methodik

Aufgrund der bisher selten untersuchten, subjektiven Chirurg:innenperspektive bezüglich der chirurgischen Leistungen während eines Nachtdienstes [14; 15], wurde in der vorliegenden Studie ein exploratives, qualitatives Forschungsdesign gewählt. Diese Vorgehensweise ermöglichte ein tiefergehendes Verständnis zu den Sicht- und Handlungsweisen in der alltäglichen Lebenswelt der Beforschten [16]. Im Mai 2024 erfolgte die Rekrutierung der Stichprobe durch persönliche Ansprache in chirurgischen Abteilungen einer Klinik, die den Ansatz eines Gelegenheitssamplings verfolgte [16]. Für die Rekrutierung wurden eine Studieninformation sowie eine Datenschutzerklärung und ein Soziodemografie-Fragebogen versandt. In die Studie eingeschlossen wurden Chirurg:innen, die bei der Berliner Landesärztekammer gemeldet waren, ein Alter von 25 bis 50 Jahren aufwiesen, ausreichende verbale Kommunikationsfähigkeiten in deutscher oder englischer Sprache besaßen und entweder den Status eines/r Assistenzarztes/-ärztin oder eines/r Facharztes/-ärztin aufzeigten. Die Partizipation an der Studie war freiwillig und unabhängig von dem chirurgischen Fachgebiet, dem Geschlecht, dem sozioökonomischen Status und dem religiösen Hintergrund möglich. Ausgeschlossen wiederum wurden Chirurg:innen, die eine Sehschwierigkeit aufwiesen, die sich nicht durch das Tragen einer Brille oder von Kontaktlinsen korrigieren ließ. Weitere Ausschlusskriterien waren ein selbst berichteter Burn-out, eine psychische Erkrankung, ein empfundenes, eingeschränktes Wohlbefinden sowie ein Suchtverhalten.

Die Datenerhebung erfolgte anhand von problemzentrierten Interviews, die mithilfe eines thematisch orientierten Interview-Leitfadens absolviert wurden [16; 17]. Der Interview-Leitfaden wurde selbstständig angefertigt und umfasst vier Themen (Wohlbefinden, Geschicklichkeit, kognitive Fähigkeiten, Bewältigungsstrategien), mit jeweils verschiedenen Haupt- und Differenzierungsfragen [16]. Aufgrund der begrenzten Ressourcen der Bachelorarbeit wurde die Stichprobengröße vorab auf fünf Interviews festgelegt. Die Interviews wurden audioaufgezeichnet und anschließend wortwörtlich transkribiert sowie nach der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz ausgewertet [18]. Für die Darstellung der qualitativen Studie nutzten wir die Standards for Reporting Qualitative Research (SRQR) Checkliste [19] und arbeiteten nach den ethischen Grundsätzen der Deklaration von Helsinki [20], da für die Bachelorarbeit kein Ethikvotum vorgesehen war. Alle Schritte wurden federführend von ER (Bachelorstudentin Gesundheitswissenschaften) durchgeführt und durch VW (Gesundheitswissenschaftlerin) und MK (Gesundheitswissenschaftler) betreut.

Ergebnisse

Die fünf Einzelinterviews dauerten zwischen 18 und 42 Minuten. Die Studienpopulation bildete sich aus drei Männern und zwei Frauen, die ein Alter zwischen 30 und 41 Jahren aufwiesen. Die Befragten besaßen mindestens drei Jahre Berufserfahrung, die sie in der Allgemein-, Viszeral-, Thorax-, Unfallchirurgie oder Orthopädie erworben hatten, und gaben an, bis zu sechs Mal pro Monat einen Nachtdienst zu absolvieren.

Anhand eines inhaltsanalytisch induktiv-deduktiven Vorgehens [18] konnten 6 Haupt- und 17 Subkategorien identifiziert werden (siehe Abb.1). Durch die Gespräche konnte evaluiert werden, dass die handwerklichen Tätigkeiten in der Chirurgie mit Freude absolviert und Nachtdienste mit einer physiologischen Anstrengung assoziiert wurden. Chirurg:innen mussten Aufgaben an mehreren Orten ableisten und gegen die aufsteigende Müdigkeit zwischen 2:00 und 5:00 Uhr im Nachtdienst ankämpfen. In Bezug auf das eigene Wohlbefinden im Nachtdienst wurde von einem veränderten Stressgefühl im Vergleich zum Tagesdienst berichtet, wobei das Stressempfinden vom eigenen Erfahrungslevel sowie von dem zur Verfügung stehenden Hintergrunddienst abhängt.

Hinsichtlich der Geschicklichkeit wurde von einer reibungslosen Absolvierung handwerklicher Tätigkeiten berichtet, die mit der Arbeitsroutine und dem Ausblenden von umliegenden Reizen während der Arbeit begründet wurde. Ein Leistungsabfall und eine Lustlosigkeit wurden wiederum beim Assistieren am Operationstisch oder beim Nachgehen von monotonen Aufgaben wahrgenommen, wobei dieses Befinden durch die Generierung einer intrinsischen Motivation abgemildert wird. Über eine höhere Komplikationsrate während eines Nachtdienstes wurde nicht berichtet. Allerdings lässt sich nach den Interviewaussagen die Komplikationsrate aufgrund der hohen Anzahl an standardisierten Prozeduren sowie der mangelnden Rückverfolgung des Patient:innen-Zustandes wegen der fehlenden Nachbehandlung kaum bewerten. Zudem werden wegen des tageszeitenabhängigen Operationsprogramms hauptsächlich aufwendige Operationen nur am Tag und kleinere Eingriffe nur in der Nacht durchgeführt, was eine Vergleichbarkeit der Komplikationsrate zwischen den Diensten zusätzlich erschwert.

Kognitive Fähigkeiten, wie das Situationsbewusstsein und das Entscheidungsvermögen, wurden während einer Operation im Nachtdienst als uneingeschränkt bewertet. Insbesondere das Situationsbewusstsein in Bezug auf das Sammeln und Erfassen von Informationen erfolgte zeitnah und resultierte in einer leitlinien- und befundorientierten Entscheidungsfällung. Bei untypischen Fällen wurde zudem intuitiv nach Bauchgefühl entschieden, die eigene Erfahrung berücksichtigt und Rücksprache mit dem Hintergrunddienst gehalten. Kognitive Einschränkungen existierten jedoch außerhalb des Operationsaales und äußerten sich in Form von ineffizienten Arbeiten, was allerdings keine Nachteile auf die Vollständigkeit und Qualität der Arbeit hatte.

Abb. 1: Selbstständig generiertes induktives-deduktives Kategoriensystem mit 6 Hauptkategorien und 17 Subkategorien

Neben diesen Ergebnissen wurde ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl von den Befragten dargestellt, das mit einer Belastung verbunden war. Auf Fehlentscheidungen folgten oftmals Selbstvorwürfe und Gedankenspiralen, die nur selten mit Kolleg:innen besprochen wurden. Um den Nachtdienst dennoch zu meistern, wurde auf die Ressource der sozialen Unterstützung zurückgegriffen, indem beim Auftreten von Einsamkeitsgefühlen oder schwierigen Situationen Kontakt zum Klinikpersonal gesucht wurde. Neben dieser Ressource teilten die Befragten als Bewältigungsstrategien mit, vor Beginn des Nachtdienstes eine positive Einstellung einzunehmen, operative Eingriffe als eine zeitlich definierte Tätigkeit anzusehen und „aufputschende“ Konsummittel (Kaffee, Energydrinks, Süßigkeiten) zu verzehren sowie kurze Schlafpausen von maximal 15 Minuten zur Reduktion von Müdigkeitsanfällen zu integrieren.

Diskussion

Die Teilnehmer:innen dieser Studie berichteten neben der Freude an der handwerklichen Arbeit auch über ein starkes Müdigkeitsempfinden zwischen 2:00 und 5:00 Uhr während eines Nachtdienstes. Ähnliche Ergebnisse hinsichtlich der Müdigkeit zeigte eine frühere Studie auf, bei der eine signifikante Entwicklung der Müdigkeit zwischen 4:00 und 8:00 Uhr bei Chirurg:innen in Dänemark evaluiert wurde [9]. Dass dennoch in dieser Studie über eine reibungslose Durchführung von leichten, chirurgischen Aufgaben im Nachtdienst mitgeteilt wurde, kann mit dem zugrunde liegenden Automatismus bei chirurgisch psychomotorischen Fähigkeiten erklärt werden [11]. Wir konnten feststellen, dass sich jedoch die subjektive Leistungsfähigkeit reduziert, wenn nicht selbstständig operiert, sondern lediglich zugearbeitet wird. Eine geringe Leistung resultiert nach dem Yerkes-Dodson-Gesetz aus der unzureichenden Forderung eines Individuums und einem reduzierten Stresserleben [21; 22]. Unter der Berücksichtigung dieses Gesetzes kann die Leistungsbereitschaft durch die individuelle Wahrnehmung der Aufgabenschwierigkeit begründet werden [21; 22], die möglicherweise von den Chirurg:innen beim Assistieren am Operationstisch als zu gering eingeschätzt wird und mit wenig Stress assoziiert ist. Da die Interviewten sich über diesem Leistungsnachlass allerdings bewusst sind, motivieren sie sich nach eigenen Angaben selbst. Diese Aussagen belegen die Hypothese des im Jahr 2024 publizierten Reviews, dass positive Operationsergebnisse bei realen chirurgischen Eingriffen durch eine hohe Motivation von Chirurg:innen erzielt werden [11].

Eine höhere Fehlerrate, wie sie etwa in der Studie von Real Noval et al. (2022) bei übernächtigten Chirurg:innen evaluiert wurde [23], berichteten die in der vorliegenden Studie interviewten Chirurg:innen nicht. Jedoch wurde von einem tageszeitenabhängigen Operationsprogramm berichtet, bei dem vorwiegend komplikationsreiche Eingriffe am Tag erfolgen. Demnach kann die von den Befragten artikulierte (geringe) Fehlerquote zur nächtlichen Uhrzeit einerseits mit der Durchführung von einfachen operativen Eingriffen begründet werden. Andererseits kann diese Fehlerquote auf eine verzerrte Wahrnehmung der Fehlerkultur zurückgeführt werden [24]. Nach einer Ernst & Young-Studie haben Personen, die sich ausführenden Tätigkeiten widmen oder verantwortungsvolle Rollen einnehmen, große Schwierigkeiten, Fehler einzugestehen [24; 25]. Da die Befragten in dieser Studie ein hohes Verantwortungsgefühl wahrnehmen, ist davon auszugehen, dass die Interviewten eventuell Fehler nicht eingestehen möchten oder diese nicht mit ihren Kolleg:innen besprechen, wie sie selbst im Interview berichteten. Eine offene und gezielte Aussprache mit Vorgesetzten und Kolleg:innen bezüglich Fehlern scheint jedoch das Wohlbefinden von Mediziner:innen zu stärken, weshalb diese Thematik in Zukunft mehr Beachtung erhalten sollte [26].

Die kognitive Leistungsfähigkeit in Bezug auf das Situationsbewusstsein im Operationsaal wird von den Interviewten als hoch eingeschätzt. Die rasche Informationserfassung und hohe Aufmerksamkeitsbereitschaft während Operationen kann aufgrund der dargestellten Generierung einer intrinsischen Motivation mit der Signaldetektionstheorie legitimiert werden [27]. Denn nach dieser Theorie ist die Wahrnehmung von Reizen von der Erwartung, dem Erfahrungs- und Müdigkeitslevel sowie der Motivation abhängig [27]. Zudem hängt die Wachsamkeit eines Individuums auch von der Lichtwellenlänge in der Umgebung ab [28]. So kann beispielweise abends eine längere Belichtung von monochromatischem Licht bei 460 nm eine subjektive Wachsamkeit und verstärkte Suppression von Melatonin hervorrufen [28]. Da Operationssäle und anliegende Nebenräume mit weißem Licht ausgeleuchtet sind und durch die spektrale Zusammensetzung einen blauen Lichtanteil aufweisen [29; 30], könnte das schnelle Auffassungsvermögen im Operationssaal auch durch die Lichtverhältnisse erklärt werden.

Die von den Befragten dargestellte reduzierte Kognition außerhalb des Operationssaals ist in früheren Studien seltener eruiert worden [9; 10]. Allerdings decken sich die Ergebnisse bezüglich der Entscheidungsfindung mit den empirischen Befunden einer Studie, wonach 46 % der eingeschlossen Chirurg:innen eine intuitive Entscheidungsfindung anwenden [31]. Zudem können die bei schwierigen Situationen dargestellten Kontaktaufnahmen zum Hintergrunddienst und Klinikpersonal beim Vergleich mit vorherigen Ergebnissen als positiv erachtet werden, da sie zur Reduktion von fachlichen Unsicherheiten und zur Stärkung einer emotionalen Stabilität beitragen [26]. Auch die zur Milderung des Müdigkeitsempfinden artikulierte Absolvierung einer kurzen Schlafpause wurde bereits evaluiert und scheint sich positiv auf die subjektive Schläfrigkeit auszuwirken [32]. Der von den Befragten benannte Koffeinkonsum ist wiederum kritisch anzusehen, da koffeinhaltige Getränke mit einem Unruhegefühl einhergehen können, weshalb Alternativen mit günstigeren Nutzen-Risiko-Profilen zu empfehlen sind [33].

Die vorliegende Studie weist Stärken und Limitationen auf. Als eine der wenigen Studien betrachtete die vorliegende Arbeit die persönlichen Sichtweisen der Chirurg:innen in Bezug auf die Kompetenzen während eines Nachtdienstes. Die Vorgehensweise ermöglichte eine schnelle Informationserfassung und eine Klärung von fachspezifischen Fragen [16]. Die gute wissenschaftliche Praxis wurde durch den Einbezug von Leitlinien und Checklisten gewährt [19; 20]. Auch konnte durch die Beachtung der fünf Gütekriterien nach Mayring eine hohe Qualität der Arbeit ermöglicht werden [34]. Aufgrund der Vorgaben zur Bachelorarbeit und der Zeitlimitierung konnte das Gütekriterium „Triangulation“ nicht umgesetzt werden [34]. Ebenfalls limitierend anzumerken ist die Rekrutierungsmethode, bei der durch die persönliche Kontaktaufnahme möglicherweise nur interessierte Mediziner:innen in die Stichprobe miteingeschlossen wurden [16]. Obwohl die Vorabfestlegung der Stichprobengröße ebenso als limitierender Faktor angesehen werden muss, liefern die vorliegenden Interviews einen explorativen Einblick in das Forschungsfeld. Alle Schritte wurden mit VW & MK abgestimmt.

Schlussfolgerung

Angesichts der Erkenntnisse wird deutlich, dass die positiv-artikulierte chirurgische Leistung im Nachtdienst sowohl durch ein hohes Verantwortungsgefühl und eine innere Motivation als auch durch Bewältigungsstrategien und Mechanismen aufrechterhalten wird. Um die Freude der Chirurg:innen an der Ausübung ihrer praktischen Tätigkeiten langfristig zu erhalten, erscheint es relevant, gezielt an diesen Aspekten anzusetzen. Beispielweise könnte die Etablierung von Gesprächskreisen in Kliniken einen vertrauensvollen und fachlichen Austausch für das Personal ermöglichen. Auch sollten zukünftig die Erfahrungslevel der Chirurg:innen in der Schichtplangestaltung Beachtung erhalten und Alternativen zum Koffeinkonsum vorgeschlagen werden. Da in dieser Studie die Geschlechter nicht getrennt berücksichtigt wurden, ist es empfehlenswert, in zukünftigen Studien die Aussagen der männlichen und weiblichen Teilnehmer:innen differenzierter zu betrachten.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via passion_chirurgie@bdc.de.

Korrespondierende Autorin:

Elfie Reichenstein

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Corporate Member der Freien Universität Berlin und Humboldt-Universität zu Berlin

Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

elfie@reichenstein.net

Dr. Michael Köhler

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Corporate Member der Freien
Universität Berlin und Humboldt-
Universität zu Berlin

Institut für Gesundheits- und
Pflegewissenschaft

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

michael.koehler@charite.de

Vanessa Wenig

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Corporate Member der Freien Universität Berlin und Humboldt-Universität zu Berlin

Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

vanessa.wenig@charite.de

Panorama

Reichenstein E, Köhler M, Wenig V: Chirurgische Kompetenzen – eine Frage der Dienstzeit? Passion Chirurgie. 2025 Juni; 15(06/QII):
Artikel 09_01.

Panorama-Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Panorama.

CME-Artikel: Aktueller Stand der minimalinvasiven Viszeralchirurgie – Was hat bereits Einzug in den klinischen Alltag erhalten?

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Historische Hintergründe zur Laparoskopie

Die minimalinvasive Chirurgie (MIC) hat in den letzten Jahrzehnten einen revolutionären Wandel in der operativen Medizin eingeleitet. Einen bedeutenden Meilenstein stellt die Laparoskopie dar, deren Anfänge bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückreichen. Bereits 1901 führte der deutsche Internist Georg Kelling eine experimentelle Bauchspiegelung (Celioskopie) an einem Hund durch, bei der er die Bauchhöhle durch ein starres Endoskop inspizierte. 1910 unternahm der schwedische Internist Hans Christian Jacobaeus erste laparoskopische Versuche am Menschen. Die Entwicklung war jedoch lange Zeit durch technische Limitierungen und das Fehlen einer adäquaten Bildgebungstechnologie gehemmt.

In den 1960er und 1970er Jahren trieb Kurt Semm, ein deutscher Gynäkologe, die Technik mit der Einführung der CO2-Insufflation des Bauchraums weiter voran und standardisierte die Anwendung der Laparoskopie, insbesondere bei gynäkologischen Eingriffen. Seine bedeutendste Leistung war jedoch die erste laparoskopische Appendektomie im Jahr 1980, die einen Paradigmenwechsel in der Chirurgie markierte.

Die Verbreitung der Laparoskopie in der Viszeralchirurgie nahm in den 1990er Jahren rasant zu, vor allem dank der Einführung von Videokameras, die den Chirurg:innen eine klare und vergrößerte Sicht auf das Operationsfeld ermöglichten. Insbesondere die laparoskopische Cholezystektomie setzte sich weltweit als Standardverfahren durch. In den folgenden Jahren kamen immer mehr Eingriffe hinzu, wie laparoskopische Hernienreparationen, Fundoplikationen und Darmresektionen. Diese Entwicklung stellte die Weichen für die moderne MIC, die sich heute durch kontinuierliche technologische Innovationen auszeichnet.

Advanced Energy: Dissektion und Blutstillung auf einem neuen Level

„Advanced Energy“-Technologien haben die Möglichkeiten zur sicheren Dissektion und Blutstillung revolutioniert. Jenseits klassischer mono- und bipolarer Koagulationsverfahren bieten moderne Geräte wie ultraschallbasierte und bipolare Versiegelungssysteme sowie radiofrequenzgestützte Instrumente eine präzise und effiziente Gewebehandhabung.

Durch hochfrequente Vibration von Ul­traschallskalpell-Systemen wird Gewebe gleichzeitig geschnitten und Gefäße bis zu einem Durchmesser von 7 mm sicher versiegelt. Diese Technologie minimiert thermische Schäden an umliegenden Strukturen und bietet eine schnelle und nahezu blutungsfreie Dissektion.

Die Weiterentwicklung dieser Technologien hat auch die Effizienz und Sicherheit in schwierigen Operationssituationen, wie bei der Dissektion in entzündlichem oder fibrotischem Gewebe, erheblich verbessert. Gleichzeitig sollen sie dazu beitragen, die Eingriffsdauer zu verkürzen und das postoperative Komplikationsrisiko zu verringern.

Zukünftige Innovationen könnten durch „Smart Feedback“-Systeme, die die Gewebebeschaffenheit in Echtzeit analysieren und die Energiezufuhr automatisch anpassen, die Gewebepräparation weiter optimieren.

Minimalinvasive Klammernaht: Präzision und Effizienz bei Anastomosen

Die Klammernaht hat sich als unverzichtbares Verfahren in der MIC etabliert, insbesondere bei der Anlage von Anastomosen in der GI-Chirurgie. Zwei zentrale Systeme sind die linearen Klammernahtgeräte, bekannt als GIA (Gastrointestinal Anastomosis), und die zirkulären Klammernahtgeräte.

GIA-Klammernahtgeräte werden hauptsächlich für die lineare Transsektion und Verschluss von Gewebe sowie für die Anlage von Seit-zu-Seit-Anastomosen verwendet. Sie ermöglichen präzise Gewebeschnitte mit gleichzeitiger Applikation von Klammern, was Blutungen minimiert, die Sicherheit erhöht und eine Kontamination des OP-Situs vermeidet. Zirkuläre Klammernahtgeräte hingegen kommen bei der Anlage von End-zu-End- oder End-zu-Seit-Anastomosen zum Einsatz, beispielsweise nach Dickdarmresektionen. Sie arbeiten mit einem zirkulären Mechanismus, der insbesondere bei Anastomosen im kleinen Becken sowie bei transhiataler und transthorakaler Anwendung von Vorteil ist, wo der Raum begrenzt ist.

Die Einführung von „Smart Stapling“-Technologien hat die Klammernaht weiter optimiert, indem Geräte mittels Sensoren Gewebedicke und -spannung in Echtzeit messen und die Klammerapplikation automatisch anpassen.

Die minimalinvasive Klammernaht kann durch diese fortschrittlichen Technologien Präzision, Sicherheit und Effizienz kombinieren und eine Schlüsselrolle bei der Weiterentwicklung der MIC spielen.

Abb. 1 a–c: a) Lineare Klammernahtgeräte wie sie in der offenen Chirurgie zur Anwendung kommen. b) Laparoskopisch einsetzbarer Smart Stapler mit visuellen und hörbaren Feedback zu unterschiedlichen Gewebestärken (kleiner grüner LED-Bildschirm am Ende des Geräts). Signia™ Powered stapler with Tri-Staple™ technology. c) Robotischer Smart Stapler bei der Transsektion des Pankreashalses i. R. der Linksresektion – schrittweise und dosierte Kompression des Gewebes während des Auslösens.

HD und UHD – Eine Bildqualität wie zu Hause auf dem Fernseher!

Die Einführung hochauflösender (HD) und ultra-hochauflösender (UHD) Bildgebungssysteme hat die Visualisierung in der MIC deutlich verbessert. UHD-Systeme liefern eine viermal höhere Auflösung im Vergleich zu HD, wodurch selbst feinste anatomische Strukturen und Gewebedetails sichtbar werden.

Insbesondere Gefäßstrukturen, Nervenbahnen und pathologische Veränderungen, die in herkömmlicher HD-Qualität weniger gut erkennbar sind, werden deutlich besser dargestellt. Diese Systeme verbessern nicht nur die Tiefenschärfe, sondern auch die Farbtreue, was die Identifikation von Gewebetypen erleichtert. Dadurch wird zum Beispiel die Beurteilung der Resektionsränder oder die Schonung empfindlicher Strukturen deutlich präziser.

Zudem profitieren moderne Bildgebungssysteme häufig von zusätzlichen Features wie HDR (High Dynamic Range), das Kontraste verstärkt und die Sichtbarkeit in schwierigen Lichtverhältnissen optimiert. Die Integration von 3D-Bildgebung in UHD-Systeme verbessert die Tiefenwahrnehmung zusätzlich.

Zukünftige Entwicklungen könnten UHD-Bildgebung mit künstlicher Intelligenz kombinieren, um Bildanalysen in Echtzeit zu liefern und damit die Entscheidungsfindung weiter zu unterstützen.

3D-Laparoskopie: Eine neue Dimension der Visualisierung

Die Einführung der 3D-Laparoskopie stellt eine weitere Verbesserung in der visuellen Unterstützung minimalinvasiver Eingriffe dar, indem eine verbesserte Tiefenwahrnehmung ermöglicht wird. Dies ist insbesondere bei komplexen Eingriffen von Vorteil, die eine hohe Präzision und komplexe Dissektionen erfordern. Die Technologie verbessert die Hand-Auge-Koordination, verkürzt die Lernkurve für angehende Chirurg:innen und reduziert die Eingriffsdauer sowie die Rate technischer Fehler. Studien haben gezeigt, dass die 3D-Laparoskopie zu einer besseren Ausführung und Präzision bei laparoskopischen Nähten, der Anlage von Anastomosen sowie der Tumorresektion führt.

Der 3D-Laparoskopie kommt die Rolle einer Brückentechnologie zu, da diese bei der roboterassistierten Chirurgie bereits standardmäßig zum Einsatz kommt. Die Zukunft der 3D-Laparoskopie könnte durch die Integration von Augmented Reality (AR) und künstlicher Intelligenz (KI) weiter verbessert werden. Erste Studien evaluieren den Einsatz von AR zur Projektion anatomischer Strukturen, die während der Operation nicht sichtbar sind, wie etwa Nerven oder Gefäße.

Indocyanin-Grün: Fluoreszenzbildgebung zur Optimierung der Operationssicherheit

Die Fluoreszenzbildgebung mit Indocyanin-Grün (ICG) hat sich als wertvolles Hilfsmittel in der MIC etabliert. ICG wird intravenös verabreicht und unter speziellem Licht sichtbar gemacht.

In der Leberchirurgie können die Durchblutung von Lebersegmenten, extrahepatische Gallenwege sowie primäre und sekundäre Tumoren visualisiert werden. In der GI-Chirurgie ermöglicht die ICG eine verbesserte Evaluation der Anastomosen in der Ösophagus- und kolorektalen Chirurgie. Dies kann dazu beitragen, das Risiko von Anastomoseninsuffizienzen zu minimieren, die eine der schwerwiegendsten Komplikationen nach gastrointestinalen EIngriffen darstellen. Bei malignen Befunden lässt sich der Lymphabfluss inkl. Wächterlymphknoten darstellen, was in der onkologischen Chirurgie hilfreich sein kann.

Ein weiteres Einsatzgebiet ist die Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenchirurgie, da mit dieser Methode Nebenschilddrüsen bzw. Nebenschilddrüsenadenome visualisiert werden können.

Robotische Chirurgie: Präzision durch Technologie

Die Robotik hat in der Chirurgie einen rasanten Aufstieg erlebt und gehört mittlerweile zu den modernsten Technologien in der MIC. Die aktuell eingesetzten robotischen Systeme ermöglichen Operateur:innen eine präzise, minimalinvasive Durchführung von Eingriffen mit einer Genauigkeit, die mit der konventionellen Laparoskopie nicht zu erreichen ist.

Robotische Systeme bieten mehrere wesentliche Vorteile: Neben einer Verbesserung der Ergonomie eliminieren sie das natürliche Zittern der Hand, bieten eine vergrößerte 3D-Darstellung des Operationsfeldes und ermöglichen Bewegungen mit Freiheitsgraden, die jenen des menschlichen Handgelenks ähnlich sind. Diese technischen Fähigkeiten sind besonders nützlich in der komplexen Viszeralchirurgie, etwa bei Operationen an der Bauchspeicheldrüse, bei komplexen Darmresektionen oder in der onkologischen Chirurgie.

Abb. 2: Nach endoskopischer submuköser ICG-Injektion in eine großkurvaturseitig gelegene Magenläsion (NET) (rot umrandet) präsentiert sich das Sentinel-Basin hingegen kleinkurvaturseitig (grün umrandet).

Abb. 3: Suchergebnisse zu robotischer Chirurgie auf Pubmed von 2000–2024: Die Ergebnisse zeigen, dass diese neue Technologie „gekommen ist, um zu bleiben”.

Die erhöhte Beweglichkeit der robotischen Instrumente erleichtert die Dissektion in engen Räumen. Dies ist beispielsweise bei tiefen Rektumresektionen im kleinen Becken von Vorteil, wo eine präzisere Dissektion das anatomiegerechte Operieren erleichtert und das Risiko von Nervenverletzungen minimieren kann, die postoperative Komplikationen wie Harn- und Sexualfunktionsstörungen nach sich ziehen können.

Abb. 4 a,b: Die intraoperative Anwendung von Ultraschallgeräten: a) in der offenen, b) in der minimalinvasiven Chirurgie.

Intraoperativer Ultraschall: Präzision durch Echtzeitbildgebung

Der intraoperative Ultraschall (IOUS) hat sich als unverzichtbares Werkzeug in der MIC etabliert, insbesondere bei komplexen Eingriffen wie der Leber- und Pankreaschirurgie. Durch die direkte Anwendung des Ultraschallkopfes auf das freigelegte Gewebe ermöglicht IOUS eine hochauflösende Echtzeitbildgebung, die präzise Informationen über die anatomische Lage und den Zustand von Organen und Geweben liefert.

Abb. 5 a,b: Zwei intraoperative Ultraschallbefunde: a) ein Pankreastumor mit Farbdoppler dargestellt, b) eine hyperechogene Lebermetastase mit dorsaler Schallauslöschung.

Ein bedeutender Vorteil des IOUS ist die Fähigkeit, Tumore, Metastasen oder Gefäßstrukturen zu detektieren, die mit herkömmlichen bildgebenden Verfahren während der Operation schwer zu identifizieren sind. So kann der Chirurg beispielsweise bei einer Leberresektion die genaue Lage und Ausdehnung von Läsionen bestimmen, was zu einer optimierten Planung und Durchführung der Resektion beiträgt.

Zukunftsperspektiven für den intraoperativen Ultraschall liegen in der Kombination mit anderen Technologien wie der 3D-Bildgebung oder der Integration in robotische Systeme.

Fazit: Der Fortschritt der minimalinvasiven Viszeralchirurgie

Die MIC hat durch technologische Innovationen eine beispiellose Entwicklung erfahren. Die Kombination von 3D-Laparoskopie, Fluoreszenzbildgebung, robotischer Chirurgie und intelligenten elektronischen Geräten hat die Präzision, Sicherheit und Effizienz operativer Eingriffe erheblich gesteigert. Diese Entwicklungen bieten neue Möglichkeiten, komplexe Eingriffe schonender und sicherer durchzuführen, was letztlich Komplikationen reduzieren soll und zu einer schnelleren Genesung der Patient:innen beiträgt.

Zukünftige Trends werden voraussichtlich durch die fortschreitende Integration von KI, Augmented Reality und weiteren smarten Technologien bestimmt sein, mit dem Ziel, den chirurgischen Workflow weiter zu verbessern. Trotz der hohen Anschaffungs- und teilweise auch Unterhaltskosten, sowie der Notwendigkeit, Chirurg:innen kontinuierlich an neuen Systemen zu schulen, wird erwartet, dass sich weiterhin jene Innovationen in der Breite durchsetzen, die dem Anwender (Chirurg:in) einen wahrnehmbaren Mehrwert bieten.

Literatur

[1] Liselotte Mettler (Hrsg.): Endoskopische Abdominalchirurgie in der Gynäkologie: mit 15 Tabellen. 2002, ISBN 3-7945-1965-5
[2] https://web.archive.org/web/20120204233729/http://www.onekiloclub.org/Kurt_Semm.htm
[3] Litynski GS. Kurt Semm and the fight against skepticism: endoscopic hemostasis, laparoscopic appendectomy, and Semm’s impact on the “laparoscopic revolution”. JSLS. 1998 Jul-Sep;2(3):309-13. PMID: 9876762; PMCID: PMC3015306.
[4] A systematic review and network meta-analysis comparing energy devices used in colorectal surgery. Tech Coloproctol. 2022 Jun;26(6):413-423. doi: 10.1007/s10151-022-02586-0. Epub 2022 Feb 7. PMID: 35132505.
[5] Comparison of perioperative outcomes between bipolar sealing, ultrasonic shears and a hybrid device during laparoscopic gastrectomy for early gastric cancer: a prospective, multicenter, randomized study. Gastric Cancer. 2023 May;26(3):438-450. doi: 10.1007/s10120-023-01365-6. Epub 2023 Feb 3. PMID: 36735157.
[6] 2D vs 3D laparoscopic right colectomy: A propensity score-matching comparison of personal experience with systematic review and meta-analysis. World J Gastrointest Surg. 2021 Jun 27;13(6):597-619. doi: 10.4240/wjgs.v13.i6.597. PMID: 34194617; PMCID: PMC8223707.
[7] The use of 3D laparoscopic imaging systems in surgery: EAES consensus development conference 2018. Surg Endosc. 2019 Oct;33(10):3251-3274. doi: 10.1007/s00464-018-06612-x. Epub 2018 Dec 4. PMID: 30515610.
[8] Intraoperative fluorescence imaging in different surgical fields: Consensus among 140 intercontinental experts. Surgery. 2022 Dec;172(6S):S54-S59. doi: 10.1016/j.surg.2022.07.025. PMID: 36427931.
[9] Indocyanine green (ICG) fluorescence guide for the use and indications in general surgery: recommendations based on the descriptive review of the literature and the analysis of experience. Cir Esp (Engl Ed). 2022 Sep;100(9):534-554. doi: 10.1016/j.cireng.2022.06.023. Epub 2022 Jun 11. PMID: 35700889.
[10] European Association for Endoscopic Surgery (EAES) consensus on Indocyanine Green (ICG) fluorescence-guided surgery. Surg Endosc. 2023 Mar;37(3):1629-1648. doi: 10.1007/s00464-023-09928-5. Epub 2023 Feb 13. PMID: 36781468; PMCID: PMC10017637.

 

Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. med. Alexander Novotny

Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie

Klinikum Freising

prof.novotny@klinikum-freising.de

Dr. med. Selim Oliver Koca

Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie

Klinikum Freising

kocas@klinikum-freising.de

Chirurgie

Novotny A, Koca SO: CME-Artikel: Aktueller Stand der minimalinvasiven Viszeralchirurgie – Was hat bereits Einzug in den klinischen Alltag erhalten? Passion Chirurgie. 2025 Juni; 15(06/QII): Artikel 03_01.

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Die Rolle der Chirurgie in der Versorgung chronischer Wunden

Das deutsche Gesundheitssystem steht in den nächsten Jahren vor immensen Herausforderungen. Die politisch gewünschte Zentralisierung und hieraus folgende Reduzierung stationärer Leistungserbringer sowie die Verschiebung von Behandlungen in den ambulanten Sektor wird auch für die Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden zu noch nicht absehbaren Verwerfungen und vermutlich auch zu einer Verschlechterung der Behandlungsqualität, der ohnehin oftmals bereits unterversorgten Patienten führen. Es ist zumindest nicht vollkommen abwegig in Frage zu stellen, ob die angestrebte Verbesserung der Versorgungsqualität mit den verabschiedeten Gesetzen zu erreichen sein wird. Auch wenn noch nicht absehbar ist welche konkreten Auswirkungen das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) auf die Krankenhauslandschaft haben wird, ist davon auszugehen, dass es einer erheblichen Anstrengung bedürfen wird, dem Zuwachs an Menschen mit chronischen Wunden flächendeckend und wohnortnah zukünftig gerecht zu werden.

Epidemiologie

Derzeit sind geschätzt mindestens 950.000 nicht heilende Wunden pro Jahr behandlungsbedürftig [1]. Aufgrund der altersbedingt zunehmenden Prävalenz verschiedener Wundentitäten, der Zunahme von Gefäßerkrankungen, metabolischem Syndrom und Diabetes mellitus, demographischen Effekten und der steigenden Lebenserwartung muss von einer weiteren Zunahme von Menschen mit chronischen Wunden ausgegangen werden, sofern nicht Maßnahmen zur Prävention und frühzeitigeren Behandlung ergriffen werden. Die sozioökonomischen Belastungen sind bereits jetzt immens und stellen mit ca. 8 Mrd. € jährlich die höchsten singulären Gesundheitsausgaben in Deutschland dar und wären bei rechtzeitiger Intervention und koordinierter Versorgung zu weiten Teilen vermeidbar [2, 3].

Der überwiegenden Zahl chronischer Wunden liegt eine Erkrankung des Gefäßsystems oder eine mechanische Druckbelastung (diabetisches Fußsyndrom und Dekubitus) zugrunde. Eine dauerhafte Abheilung ist auch bei Einsatz moderner Lokaltherapeutika ohne suffiziente Kausaltherapie nicht zu erzielen. Aus diesem Umstand resultiert die Notwendigkeit einer zeitnahen Diagnostik, an erster Stelle die Erhebung des arteriellen und venösen Gefäßstatus. Gefäßchirurg:innen und Gefäßmediziner:innen kommt eine Schlüsselrolle in Diagnostik und (Kausal-) Therapie chronischer Wunden zu. In der oftmals fehlenden Abklärung und langwierigen Behandlungsversuchen ohne adäquate Kausaltherapie liegt einer der Hauptgründe für die hohen Behandlungskosten und fehlende Abheilung.

Status quo

Trotz vielfältiger Bemühungen in den vergangenen Jahrzehnten, Angehörige medizinischer Assistenzberufe mit weitreichenden Kompetenzen auszustatten (u. a. Heil- und Hilfsmittel-Versorgungs-Gesetz (HHVG), Häusliche Krankenpflege-Richtlinie (HKP-RL)) und deren Qualifikation durch entsprechende Weiterbildungen zu verbessern, wird die therapeutische und wirtschaftliche Verantwortung auch in Zukunft eine ärztliche Aufgabe bleiben. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, sich dem Krankheitsbild chronische Wunde mit verstärktem Interesse zu widmen und Behandlungskompetenzen zu erwerben.

Die Therapie chronischer Wunden ist komplex, zeitaufwändig und mit einem hohen Ressourceneinsatz verbunden. Es bedarf regelhaft einer interdisziplinären und koordinierten interprofessionellen Zusammenarbeit zwischen Arzt und Pflege. Trotz erheblichen finanziellen Aufwendungen sind Wundpatienten überwiegend alles andere als optimal versorgt. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Entscheidend erscheint der Umstand, dass es insbesondere an der Koordination der zahlreichen Akteure (Arzt, ambulanter Pflegedienst, Facharzt, Sanitätshaus, Wundmanager, Orthopädietechnik, Podologe) scheitert.

Nach wie vor kommen als obsolet angesehene Produkte in der Lokaltherapie zum Einsatz und werden benötigte Hilfsmittel, beispielsweise Materialien zur Kompressionstherapie oder Druckentlastung, nicht verordnet. Hausärzte und auch Fachärzte sind mit der Behandlung von Wundpatienten häufig überfordert. Der überwiegend fehlende Nutzennachweis der allermeisten zugelassenen Verbandsprodukte erschwert die Erstellung von evidenzbasierten Handlungsempfehlungen, sodass auch die aktualisierte S3 LL zur Lokaltherapie chronischer Wunden vielfach wage bleibt und lediglich good clinical practice (GCP) Empfehlungen aussprechen kann [4].

Der nachvollziehbare, seit Jahren seitens der meisten Hersteller ignorierte Auftrag des Gesetzgebers, einen Nutzennachweis durch qualitativ hochwertige Studien zu erbringen, hat zu einer Änderung der Arzneimittel-Richtlinie für Wundprodukte geführt (AM-RL Va, Gruppe 3. Sonstige Produkte). Von der Verordnungs- und somit auch Erstattungsfähigkeit sollen demnach zukünftig alle Produkte ausgeschlossen werden, die eine zusätzliche pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung in der Wunde entfalten und keinen Nutzungsnachweis im Rahmen qualitativ hochwertiger Studien erbracht haben. Auch wenn die Übergangsfrist zur Erstattungsfähigkeit nun nochmal bis zum 02. Dezember 2025 verlängert wurde, steht zu befürchten, dass hierdurch eine Verschlechterung der Wundversorgung im ambulanten Bereich resultieren wird. Insbesondere für die Lokaltherapie von kritisch kolonisierten oder infizierten Wunden werden viele Produkte, die bis dato in derartigen Situationen zum Einsatz kamen, zukünftig nicht mehr zur Verfügung stehen, u. a. wirkstoffhaltige, nicht formstabile Hydrogele, silberhaltige und auch antiseptikahaltige Wundauflagen. Stark bezweifelt werden darf, dass die Medizinproduktehersteller zeitnah bis zum Ablauf der (schon mehrfach verlängerten) Übergangsfrist qualitativ den Forderungen des IQWIG entsprechende RCTs vorlegen werden, um den geforderten medizinischen Nutzennachweis ihrer Produkte zu erbringen [5].

Ein erheblicher Teil der immensen finanziellen Aufwendungen ließe sich durch präventive Maßnahmen sowie entsprechende Verbesserungen, insbesondere durch eine frühzeitigere Diagnostik und Kausaltherapie, reduzieren.

Fehlender Nutzennachweis und mangelhafte Evidenz für Lokaltherapeutika, die unzureichende Koordination unter den Leistungserbringern, unzureichende, zu späte Abklärung und unterlassene Kausaltherapie sind nur einige Aspekte, an denen es bei der medizinischen Versorgung von nahezu einer Millionen Wundpatient:innen in Deutschland mangelt. Ein erheblicher Teil der immensen finanziellen Aufwendungen ließe sich durch präventive Maßnahmen sowie entsprechende Verbesserungen, insbesondere durch eine frühzeitigere Diagnostik und Kausaltherapie, reduzieren. Ein weiterer Grund für die unzureichende Behandlungsqualität liegt nicht zuletzt in der schlechten sowohl ärztlichen und insbesondere auch pflegerischen Vergütung vor allem im ambulanten Sektor, aber auch mangelndem ärztlichem Fachwissen und Interesse.

Maßnahmen zur Verbesserung der Behandlung von Menschen mit chronischen Wunden

Dem optimierten Ressourceneinsatz von Personal, Material bei gleichzeitiger Effizienzsteigerung mit dem Ziel einer optimierten Behandlungsqualität kommt in Zukunft noch größere Bedeutung zu. Einer wachsenden Zahl an versorgungsbedürftigen Wundpatienten stehen eine immer geringere Zahl an Fachkräften, reduzierte finanzielle Ressourcen und stationäre Behandlungseinrichtungen gegenüber. Diesen Herausforderungen wird sich nicht alleine mittels gesetzgeberischer Aktivitäten begegnen lassen. Es bedarf zahlreicher Maßnahmen, um die Behandlung effizienter zu gestalten und die Kosten pro Wundpatient zu reduzieren:

1. Zeitnahe und frühzeitigere Diagnostik

Die Kausaltherapie der zugrundeliegenden Ursache ist die entscheidende therapeutische Maßnahme, um Behandlungsdauer und -kosten maßgeblich zu reduzieren. Dies setzt eine zeitnahe (fachärztliche- gefäßmedizinische) Diagnostik voraus. Chronische Wunden sollen frühestmöglich, spätestens bei unter phasengerechter Lokaltherapie mehr als 6 Wochen ausbleibender Heilungstendenz einem in der Wundbehandlung und Gefäßdiagnostik erfahrenen (Fach-) Arzt vorgestellt werden. Die Abklärung erfolgt nach der sogenannten ABCDE-Regel (A = Anamnese, B = Bakterien, C = Clinical examination, D = Durchblutung, E = Extras, z. B. Histologie, Labordiagnostik) [6].

ABCDE-Regel [6]
A = Anamnese
B = Bakterien
C = Clinical examination
D = Durchblutung
E = Extras, z. B. Histologie,
Labordiagnostik

2. Suffiziente Kausaltherapie

Ohne Behandlung der zugrunde liegenden Ursache wird die Abheilung einer chronischen Wunde nicht zu erzielen sein. In mehr als der Hälfte der Fälle ist eine Erkrankung des venösen und/oder arteriellen Gefäßsystems für die Entstehung einer chronischen Wunde ursächlich. Bei venös bedingten Ulzerationen ist eine suffiziente Kompressionstherapie mittels Mehrlagenkompressionsverbänden oder medizinischen Kompressionsstrümpfen unverzichtbar. Fakultativ kommen chirurgische Maßnahmen zur Verbesserung der venösen Hämodynamik und Ausschaltung eines venösen Refluxes in Betracht. Bei arteriellen Durchblutungsstörungen ist eine interventionelle oder operative Revaskularisation obligat. Bei druckbedingten Läsionen (Decubitus oder dem neuropathischen diabetischen Fußsyndrom) sind grundsätzlich Maßnahmen zur effektiven (inneren) Druckentlastung (z. B. durch Verordnung geeigneter Hilfsmittel, Lagerungsorthesen, Interimsschuhe oder orthopädischer Maßschuhe) und fakultativ operative Maßnahmen zur Defektdeckung und insbesondere zur Rezidivprophylaxe erforderlich.

3. Phasengerechte Wundbehandlung

Die Lokaltherapie soll phasengerecht erfolgen. Hierzu stehen eine Vielzahl an Wundauflagen und -produkten zu Verfügung. Sogenannte sonstige Produkte nach AM-RL Anlage VA Gruppe 3 sind nach wie vor im Rahmen der Übergangsfrist bis zum 02.12.2025 erstattungs- und verordnungsfähig! Hierunter fallen sämtliche Produkte, die durch eine zusätzliche pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkweise die Wundheilung aktiv beeinflussen. Als obsolet angesehene Produkte (z. B. Farbstoffe, Lebensmittel) haben keinen Stellenwert mehr in der Lokaltherapie chronischer Wunden. Wie zukünftig, nach Auslaufen der Übergangsfrist kritisch kolonisierte oder infizierte Wunden ambulant lokal antiinfektiös therapiert werden sollen, ist unklar. Es steht zu befürchten, dass (noch) häufiger systemisch Antibiotika verordnet werden und Patienten vermehrt zur stationären Behandlung eingewiesen werden. Eine regelmäßige periodische aktive Wundreinigung, im Bedarfsfall ein (regelmäßiges) Wunddebridement zur Entfernung von Nekrosen und Biofilm ist eine unerlässliche Maßnahme, die im ambulanten Sektor lediglich sporadisch durchgeführt wird. Ein mechanisches oder auch scharfes Debridement bis an intakte Strukturen ist prinzipiell eine auf die Pflege delegierbare Tätigkeit, sofern die jeweilige Person über eine ausreichende Kompetenz verfügt. Dies zu beurteilen, obliegt dem behandelnden Arzt. Ein chirurgisches Debridement bis in intakte Strukturen hinein ist dahingegen eine obligat ärztliche Tätigkeit.

4. Patienten- und Angehörigenschulung

Patientenberatung und Patientenedukation sind Strategien, die darauf zielen, die Selbststeuerungsfähigkeit zu verbessern. Die Schulung von Patienten und Angehörigen ist explizit durch den GB-A in der HKP- Richtlinie gefordert und dient der Entwicklung von Eigenkompetenzen, beispielsweise zur Optimierung einer Druckentlastung oder zum Erkennen und Vermeiden von wundheilungshemmenden Einflussfaktoren. Vor allem bei chronischen Krankheiten unterstützen sie Betroffene dabei, das Leben eigenverantwortlich zu bewältigen und aktiv am Heilungsprozess zu partizipieren [7].

5. Verbesserung der Schnittstellen zwischen stationärem und ambulantem Sektor

Die Vermeidung von Versorgungsbrüchen zwischen dem stationären und ambulanten Sektor ist von erheblicher Bedeutung. Oftmals scheitert eine frühzeitigere Entlassung aus der stationären Behandlung an einer fehlenden kompetenten ambulanten Weiterbehandlung. Regelmäßige, periodische mechanische Wundreinigungen finden mangels Zeit, adäquater Vergütung, ausreichender Qualifikation sowie Unsicherheiten hinsichtlich der Übertragbarkeit derartiger Maßnahmen nicht statt und sind einer der Gründe für eine erneute Verschlechterung der Wundverhältnisse. Unbegründete Therapiewechsel (z. B. wg. fehlender Produktkenntnisse, persönlicher Vorlieben) nach Entlassung aus der stationären Behandlung sollten vermieden werden. Die Versorgung mit entsprechendem Verbandmaterial muss an der Schnittstelle bis zur Folgeverordnung gewährleistet werden.

6. Erweiterung der Handlungskompetenzen in der Pflege

Die HKP-Richtlinie vom 17.09.2020 stärkt die Rolle besonders qualifizierter Pflegefachkräfte in der Behandlung chronischer Wunden [8]. Die Wundversorgung ist durch Nr. 31 a Bestandteil der HKP-Richtlinie geworden und soll demnach nur noch von Leistungserbringern erfolgen, die durch entsprechende Qualifikationsmaßnahmen (für die fachliche Leitung 168 Unterrichtseinheiten, für wundversorgende Pflegekräfte 84 Unterrichtseinheiten) entsprechende Kenntnisse und Fertigkeiten erworben haben. Grundsätzlich sind diese Maßnahmen sinnvoll und wünschenswert. Die flächendeckende Umsetzung scheitert aber bislang an hohen Kosten für die Qualifikationsmaßnahmen, fehlendem Fachpersonal, um Freistellungen hierzu zu ermöglichen sowie bürokratischen Hürden. Darüber hinaus müssen die sogenannten spezialisierten Leistungserbringer nach § 132a Abs. 4 SGB V Versorgungsverträge mit den Kostenträgern abschließen, deren Eckpunkte bislang nicht einheitlich geregelt sind. Das Ziel, eine qualitativ hochwertigere, interprofessionelle ambulante Versorgungsstruktur zu schaffen ist trotz der bisherigen Bemühungen des Gesetzgebers bislang nicht erzielt worden. Gleichzeitig erfordern die Umwälzungen, die das KHVVG u.a. durch eine Reduktion stationärer Kapazitäten mit sich bringen wird, eine rasche Optimierung ambulanter Versorgungsstrukturen.

7. Niedrigschwelliger Informationsaustausch zwischen den Leistungserbringern

Eine für alle in der Behandlung involvierten Akteure einsehbare schriftliche und fotografische digitale Dokumentation des Behandlungsverlaufs sowie sämtlicher Verordnungen (z. B. Wundauflagen, Hilfsmittel, Physiotherapie, MLD etc.) ist für eine koordinierte Behandlung unerlässlich. Ein Projekt, welches die Versorgungskontinuität unterstützen soll, ist das MIO (Medizinisches Informationsobjekt) Überleitungsbogen Chronische Wunde, welches seit mehreren Jahren durch die Forschungsgruppe Informatik im Gesundheitswesen der Hochschule Osnabrück entwickelt wird. Mithilfe eines elektronischen Wundberichts sollen der behandelnden Person über Sektorengrenzen hinweg alle behandlungsrelevanten Informationen unmittelbar zur Verfügung gestellt werden. So soll eine lückenlose Dokumentation ebenso wie die Behandlungskontinuität sichergestellt werden. In der Praxis ist dies noch nicht implementiert. Es wäre wünschenswert, wenn die Anbieter von KIS-Systemen verpflichtet würden, einen derartigen bundeseinheitlichen Überleitungsbogen automatisch aus den Daten zu generieren und zur Verfügung zu stellen.

8. Regionale Kompetenzzentren für Menschen mit chronischen Wunden

Zukünftig soll die Versorgung chronischer und schwer heilender Wunden vorrangig im Haushalt des Patienten oder außerhalb der Häuslichkeit durch spezialisierte Einrichtungen bzw. Leistungserbringer erbracht werden (HKP-RL § 1 Abs. 3, Nr. 31a Wundversorgung einer chronischen und schwer heilenden Wunde) [8]. Die konkrete Ausgestaltung und Überwindung der bürokratischen Hemmnisse, Regelung der Kompetenzen und (wirtschaftlichen) Verantwortlichkeiten bleibt den Protagonisten überlassen. Insbesondere sind nach § 132a Abs. 4 SGV V Versorgungsverträge mit den Krankenkassen zu verhandeln und abzuschließen, um zukünftig chronische Wunden behandeln zu dürfen. Verbindliche Vorgaben, Musterverträge und konkrete Gestaltungsvorgaben hierzu sind bislang nicht vorhanden.

Im ambulanten Sektor haben sich die bisherigen Versorgungsstrukturen für die Versorgung chronischer Wunden überwiegend als ineffizient erwiesen. Die Behandlung von Menschen mit chronischen Wunden erfordert eine koordinierte berufsgruppenübergreifende und interdisziplinäre Zusammenarbeit (z. B. Gefäßchirurgie, Dermatologie, Diabetologie, Angiologie, Podologie, Orthopädietechnik, Wundmanagement, Pflege). Erforderlich sind wohnortnahe, regionale Kompetenzzentren, an denen die erforderlichen Kompetenzen gebündelt und aufeinander abgestimmt an einem Ort zu Verfügung gestellt werden. Einzelne regionale Projekte, z. B. über IV Verträge, haben nachweisen können, dass durch eine koordinierte Behandlung Kosten reduziert und gleichzeitig eine höhere Zahl an Wunden schneller zur Abheilung gebracht werden können [9].

9. Stärkung ärztlicher Kompetenzen in der Wundbehandlung

Unabhängig aller organisatorischer Unzulänglichkeiten bleibt eine besondere Herausforderung die oftmals lückenhafte ärztliche Kompetenz in der Behandlung chronischer Wunden. Das ärztliche Interesse und insbesondere auch das Interesse von Chirurg:innen an dem Thema ist überschaubar. Wünschenswert wäre eine Zusatzweiterbildung „Spezielle Wundbehandlung“. Nicht nur Fachärzte und -ärztinnen für Gefäßchirurgie und Dermatologie sollten über grundlegende Kenntnisse hinsichtlich Basisdiagnostik und Lokaltherapie verfügen. Je früher schon in den Hausarztpraxen eine chronische Wunde diagnostiziert wird, umso rascher können weitere spezialisierte fachärztliche Untersuchungen veranlasst und die notwendige Kausaltherapie eingeleitet werden. Dies verbessert die Aussicht auf eine Abheilung der Wunde und eine kürzere Behandlungsdauer. Entsprechende Handlungsempfehlungen für verschiedene ärztliche Kompetenzlevel sind entwickelt [10]. Die Vergütung sollte auch für ärztliche Leistungen abhängig vom Kompetenzlevel erfolgen, um entsprechende Anreize zum Erwerb entsprechender Zusatzqualifikationen zu schaffen (z. B. ICW Wundexperte, Zusatzweiterbildung etc.). Gleichzeitig ist zu fordern, dass Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Regressforderungen bei nachgewiesener Qualifikation begrenzt oder abgeschafft werden.

Fazit

Zusammenfassend bedarf es erheblicher Anstrengungen, um dem Anspruch einer qualitativ besseren Versorgung einer wachsenden Zahl von Menschen mit chronischen Wunden in unserem Gesundheitssystem zukünftig gerecht zu werden. Dies ist und bleibt eine interprofessionelle, aber insbesondere auch ärztliche Aufgabe. Wir Chirurg:innen sind in besonderem Maße gefordert, einen maßgeblichen Beitrag hierzu zu leisten und nachfolgende Ärztegenerationen im Rahmen der Facharztausbildung für das Thema zu gewinnen und hinreichend zu qualifizieren.

Literatur

[1]   Augustin M, Hagenström K. Epidemiologie chronischer Wunden in Deutschland. In: Karl T, Storck M. Ärztliches Wundmanagement im interprofessionellen Team. Springer Verlag. ISBD 978-3-662-67123-8
[2]   Augustin M, Rustenbach SJ, Debus S, Grams L et al.(2011) Quality of care in chronic leg ulcer in the community. Dermatology 222(4):321–329
[3]   Herberger K, Rustenbach SJ, Grams L, Muenter KC Schaefer E, Augustin M (2012) Quality of care for leg ulcers in the metropolitan area of hamburg. J Eur Acad Dermatol Venerol 26(4):495–502
[4]   Lokaltherapie schwerheilender und/oder chronischer Wunden aufgrund von peripherer arterielle Verschlusskrankheit, Diabetes mellitus oder chronischer venöser Insuffizienz. AWMF Register Nr. 091/001 Version 2.2 Stand 31.10.2023
[5]   Wissenschaftliche Ausarbeitung zu klinischen Studien im Therapiegebiet Wundbehandlung. Vorläufiger Rapid Report. Projekt: A24-61 Version 1.0 Stand 07.01.2025]
[6]   Dissemond J. ABCDE-Regel der Diagnostik chronischer Wunden. J Dtsch Dermatol Ges. 2017 Jul;15(7):732–734. doi: 10.1111/ddg.13273_g. PMID: 28677178.
[7]   Schaeffer, D. (2024). Patientenberatung/Patientenedukation. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i087-3.0
[8]   HKP Richtlinie. https://www.g-ba.de/downloads/62-492-3275/HKP-RL_2021-11-19_2022-07-21_iK-2023-10-31.pdf
[9]   Schmidt, M. Der Einfluss des Apothekers auf die Therapie chronischer Wunden https://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2010/0754/pdf/dms.pdf
[10] Storck M, Dissemond J, Gerber V, Augustin M, Expertenrat Strukturentwicklung Wundmanagement (2019) Kompetenzlevel in der Wundbehandlung. Empfehlungen zur Verbesserung der Versorgungsstruktur für Menschen mit chronischen Wunden in Deutschland. Gefässchirurgie 24: 388–398

Dr. med. Thomas Karl

Direktor

Zentrum für Gefäßchirurgie und Endovascularchirurgie

SLK Kliniken Heilbronn GmbH

thomas.karl@slk-kliniken.de

Chirurgie

Karl T: Die Rolle der Chirurgie in der Versorgung chronischer Wunden. Passion Chirurgie. 2025 Mai; 15(05): Artikel 03_01.

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Was benötigen spezialisierte Leistungserbringer zur Behandlung schwer heilender und chronischer Wunden von Chirurg:innen für eine gute Zusammenarbeit

Wunden haben immer eine Ursache. Sie sind Folge eines Ereignisses oder Symptom einer Erkrankung. Interne Faktoren, wie zum Beispiel Erkrankungen der Atemwege, des Verdauungs-, Herz-Kreislauf-, des Immunsystems oder Funktionsverlust der Haut können zusätzlich die physiologischen Mechanismen der Wundheilung stören. Aus dieser Tatsache leitet sich folgerichtig die Erkenntnis ab, dass ohne eine erfolgreiche Behandlung der Wundursache sowie der Behandlung beeinflussender Begleiterkrankungen eine Wunde nicht abheilen kann.

Neben den medizinischen Herausforderungen können schwer heilende Wunden bei den Betroffenen zu erheblichen physischen, psychischen und sozialen Belastungen führen. Am häufigsten sind hier Schmerzen, Mobilitätsverlust, hohe Exsudatmengen, Geruch und daraus resultierend ein Verlust sozialer Teilhabe zu nennen. [1]

Erschwerend können externe Faktoren, wie beengte, unhygienische Wohnsituationen, mangelnde finanzielle Ressourcen, unzureichende sanitäre Ausstattung oder mangelnde Selbstfürsorge hinzukommen. Aus all diesen Aspekten ergibt sich ein individuelles Risikoprofil, welches die Komplexität und den Umfang des jeweiligen Behandlungspfades beeinflusst.

Daraus lässt sich ableiten, dass die Behandlung schwer heilender und chronischer Wunden einer interdisziplinären und interprofessionellen Versorgungsstruktur bedarf.

Um alle heilungsfördernden Aspekte strukturiert und zielorientiert zu verzahnen bedarf es einer vertrauensvollen, vernetzten, interdisziplinären und interprofessionellen Versorgung durch Leistungserbringer mit spezialisierter Fachexpertise. Dazu zählen die Berufsgruppen Ärzte/Ärztinnen, Pflegefachpersonen, Podolog:innen, Physiotherapeut: innen, etc.

Die Zusammenarbeit stützt sich dabei auf:

  1. eine strukturierte, umfassende ärztliche Anamnese und Diagnostik zur Ermittlung der Wundursache und beeinflussender Nebenerkrankungen sowie deren Therapien, Differentialdiagnostik.
  2. eine strukturierte, umfassende pflegerische Anamnese zur Ermittlung von Wundheilung beeinflussenden Faktoren mit Bezug auf die psychosoziale Lebenssituation, Hygiene, Lebensqualität und Selbstpflegekompetenz.
  3. die Beurteilung der individuellen Risiken für die Wundheilung und die Erarbeitung von darauf basierenden Therapiezielen unter Beachtung der Patientenpräferenzen.
  4. eine evidenzbasierte Therapieplanung und fachgerechte Umsetzung.
  5. die Edukation zu krankheitsspezifischen Risikofaktoren, Umgang mit der Erkrankung im Alltag, Wundheilungsfördernder Maßnahmen, sowie der notwendigen psychosozialen Unterstützung und Hilfe zur Bewältigung individueller Probleme im Zusammenhang mit der Erkrankung.
  6. eine digital gestützte, gemeinsame, vollständige, plausible und evaluierbare Dokumentation der aktuellen Wundsituation, sowie der Maßnahmen zur Therapiezielerreichung.
  7. eine regelhafte Evaluation der Therapie und deren bedarfsgerechte Anpassung.
  8. eine strukturierte Überleitung zwischen den Sektoren, die geplante Nachsorge und ggf. dem Einleiten rehabilitativer Maßnahmen.

Grundlage interdisziplinärer Zusammenarbeit

Bis 2017 war die ambulante pflegerische Wundversorgung auf Verbandwechsel durch ambulante Pflegedienste, mit nicht besonders spezialisierten Pflegekräften, ausschließlich in der Häuslichkeit der Betroffenen reduziert.

Für Patient:innen, mit großflächigen und tiefen Wunden, freiliegenden Knochen, Sehnen, Organen, sowie immunsupprimierenden Erkrankungen, birgt die Behandlung durch unzureichend qualifiziertes Personal, in einer hygienisch nicht kontrollierbaren häuslichen Umgebung ein erhöhtes Risiko für Wundheilungsstörungen und progrediente Infektionsverläufe bis hin zur Sepsis / SIRS.

Im April 2017 wurde in § 37 SGB V ein neuer Abs. 7 hinzugefügt, der die Versorgung, chronischer und schwer heilender Wunden außerhalb der Häuslichkeit möglich macht. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bekam den Auftrag, die Versorgung von schwer heilenden und chronischen Wunden in der Häusliche Krankenpflege-Richtlinie zu regeln. Im Dezember 2019 trat die G-BA-Richtlinie über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege in Kraft, dazu wurde die Leistungsposition 31a „Wundversorgung einer chronischen und schwer heilenden Wunde“ eingeführt. Im Januar 2022 folgte die Rahmenempfehlung (nach § 132a Abs 1 SGB V) zur Versorgung Häuslicher Krankenpflege, die in § 6 die Anforderungen an spezialisierten Leistungserbringern, zur Versorgung von schwer heilenden und chronischen Wunden innerhalb und außerhalb der Häuslichkeit regelt.

In seiner Pressemitteilung zur HKP-Richtlinie schreibt der G-BA, dass für die Versorgung von chronischen und schwer heilenden Wunden eine besondere pflegefachliche Kompetenz von sehr großer Bedeutung ist und durch einen spezialisierten Leistungserbringer mit dahingehend qualifizierten Pflegefachkräften erfolgen soll. Kann die Versorgung der chronischen und schwer heilenden Wunde aufgrund der Komplexität der Wundversorgung oder den Gegebenheiten in der Häuslichkeit voraussichtlich nicht im Haushalt der oder des Versicherten erfolgen, soll die Wundversorgung durch spezialisierte Einrichtungen außerhalb der Häuslichkeit erfolgen. [2]

Die Versorgung schwer heilender und chronischer Wunden durch einen spezialisierten Leistungserbringer verfolgt das Ziel, eine bedarfsgerechte, flächendeckende und gut erreichbare medizinische Versorgung sicherzustellen. Dies kann nur gelingen in einer engen Kooperation mit niedergelassen Chirurgen, insbesondere mit dem Schwerpunkt Gefäßchirurgie.

Die grundlegenden Strukturen für eine interdisziplinäre, ergänzende und vertrauensvolle Zusammenarbeit im ambulanten Versorgungssetting sind damit geschaffen.

Was wird für eine erfolgreiche Zusammenarbeit benötigt

1.Schneller Zugang zu Diagnostik

Zügige Diagnosestellung der wundbedingenden Erkrankung ist Grundvoraussetzung für jedwede Therapie und Versorgungsplanung.

2.Gemeinsame Entscheidungsfindung zu den leitlinienbasierten Therapiemaßnahmen unter Einbezug der pflegefachlichen Kompetenzen und Patientenpräferenzen

Wesentlicher Aspekt dieses Punktes ist die ärztliche Aufklärung zu Nutzen und Schaden einzelner Therapieoptionen als Grundlage für eine Therapieeinleitung und -umsetzung. Darüber hinaus bedarf es eines, mit den Patient:innen erarbeiteten Pflegeplans zur Verbesserung der Lebensqualität, Förderung der Selbständigkeit und Sicherung des Therapieerfolges. Die Verordnung notwendiger Arznei-, Heil- und Hilfsmittel erfolgt auf Grundlage von Leitlinienempfehlungen und pflegefachlicher Expertise. Die Auswahl von Verbandmitteln soll indikationsbezogen, zielorientiert und in angemessenen Verbrauchsmengen erfolgen.

3. Direkter Arztkontakt bei Komplikationen

Bei auftretenden Komplikationen soll innerhalb 24 Stunden ein Arztkontakt möglich sein.

4. Zeitnahe Evaluation eingeleiteter Maßnahmen

Anhand von Zielerreichungsparametern, wie beispielsweise:

  • Verbesserung des ABI bei PAVK,
  • Störungsfreier Wundheilungsverlauf,
  • Entfernung von avitalem Gewebe und Detritus,
  • Verkleinerung der Wundfläche,
  • Reduktion von Schmerz,
  • Reduktion von Risikofaktoren, wie Übergewicht, Raucherentwöhnung, Ernährungsumstellung, durch pflegefachliche Patientenedukation.

5. Debridement

Ist eine mechanische Wundreinigung nicht ausreichend, z. B. bei sichtbarem avitalem Gewebe, oder therapieresistenten Infektionen sollte zeitnah ein chirurgisches Debridement durchgeführt werden. Das Debridement beschreibt dabei eine radikale Abtragung bis in das gesunde Gewebe.

6. Zeitnahe Differentialdiagnostik

Kommt es nach sechs Wochen leitliniengerechter Behandlung nicht zu sichtbaren Verbesserungen der Wundheilung, oder der Grunderkrankung, sollten weitere differenzialdiagnostische Maßnahmen, z. B. histologische und/oder mikrobiologische Probeentnahmen erwogen werden.

7. Spezielle Interventionen

  • Niederdruck Wundtherapie
  • Plastisch chirurgische Deckung
  • Hautersatzverfahren
  • andere adjuvante Maßnahmen auf der Grundlage von Leitlinienempfehlungen aus dem AWMF Register

Diskussion

Die für eine spezialisierte Wundbehandlung benötigten Ressourcen sind stark kontextabhängig und variieren vor allem mit Blick auf die verschiedenen Risikoprofile der Patient:innen. Die Risikoprofile sind abhängig von der Kombination der bei den Patienten vorliegenden Risikofaktoren, welche die Wundheilung beeinflussen. (3)

Im Wundzentrum müssen Ressourcen für die hohe Qualifikation der Pflegefachpersonen, zur direkte Patientenversorgung, für Koordinationsleistungen, sowie ein hohes Maß an Hygienemanagement vorgehalten werden.

Zur direkten Patientenversorgung gehören unter anderem lokaltherapeutische Maßnahmen wie Wundreinigung, Wundabdeckung, dermatokurative- und protektive Maßnahmen, eine sichere Risikoerkennung, Kompetenz zur Patientenedukation, die Umsetzung konservativer kausaltherapeutischer Maßnahmen, wie z. B. Kompressionstherapie und die Evaluationskompetenz zum Therapieverlauf sowie eingesetzte Hilfsmittel und adjuvante Maßnahmen.

Je nach Risikoprofil unterscheidet sich die Intensität der einzusetzenden Ressourcen. [3] Dem muss bei der Quantifizierung von ärztlichen und pflegerischen Vergütungssätzen Rechnung getragen werden. Im ambulanten Honorarsystem der Ärzte ist die Wundbehandlung einzelverrichtungsbezogen angelegt und als Mischkalkulation bewertet. Die Verschiedenartigkeit der Risiken wird hierdurch aktuell noch zu wenig berücksichtigt.

Gute Zusammenarbeit zwischen Wundzentren und Chirurg:innen bedeutet gemeinsame Versorgungsziele in einem interprofessionellen Versorgungsverbund umzusetzen.

Literatur

[1]   Deutsche Gesellschaft für Wundheilung und Wundbehandlung e. V. (DGfW) (Hrsg.) (2023). Lokaltherapie schwerheilender und/oder chronischer Wunden aufgrund von peripherer arterieller Verschlusskrankheit, Diabetes mellitus oder chronisch venöser Insuffizienz. Version 2.2. Stand 31.10.2023. AWMF-Register-Nr.: 091-001
[2]   https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/804/
[3]   Laag, et. al., Die Zeit schürt alle Wunden, G+S 6/2018, DOI: 10.5771/1611-5821-2018-6-52

Falk Goedecke

Leiter spezialisierte pflegerische Wundbehandlung und Wissenschaft

WZ-WundZentren GmbH

falk.goedecke@wundzentren.de

Chirurgie

Goedecke F: Was benötigen spezialisierte Leistungserbringer zur Behandlung schwerheilender und chronischer Wunden von Chirurg:innen für eine gute Zusammenarbeit. Passion Chirurgie. 2025 Mai; 15(05): Artikel 03_02.

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Das Schädel-Hirn-Trauma im Kindes- und Jugendalter

Schädel-Hirn-Traumata (SHT) im Kindesalter gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern, die im kinder(neuro-)chirurgischen Alltag vorkommen. Die rasche und richtige klinische Einschätzung der Gefährdung, die resultierende Diagnostik und die ggf. notwendige chirurgische Therapie sind der Schlüssel zu einer zeitgerechten Behandlung mit dem bestmöglichen Outcome. Darüber hinaus gehören Aufklärung und Prävention zu den interdisziplinären Aufgaben im Umgang mit diesem Krankheitsbild. Im Folgenden werden die Diagnostik und Therapie des SHT vorgestellt. Als weiterführende Literatur sei bereits an dieser Stelle auf die S2k Leitlinie „SHT im Kindes-und Jugendalter“ verwiesen.

Klinische Einteilung

Das Schädel-Hirn-Trauma ist definiert als Verletzung des Schädels mit einer Verletzung des Gehirns. Klinische Anzeichen für eine Hirnschädigung können z. B. Erbrechen, Bewusstlosigkeit, eine Amnesie oder Wesensveränderung, aber auch Krampfanfälle sein. Die orientierende Einteilung erfolgt anhand der Glasgow Coma Scale bzw. der ihrer Adaptation für Kinder, wobei hier insbesondere die eingeschränkte verbale Antwort kleiner Kinder berücksichtigt wird. Bei Adoleszenten kann die GCS für Erwachsene angewendet werden (s. Tabelle 1–3).

Tab. 1: Glasgow Coma Scale (GCS) bei Erwachsenen

Punkte

Motorische Antwort

Verbale Antwort

Augenöffnen

6

Aufforderungsbefolgen

5

gezielte Schmerzabwehr

adäquat, orientiert

4

ungezielte Schmerzabwehr

desorientiert

spontan

3

Beugesynergismen

einzelne Worte

auf Ansprache

2

Strecksynergismen

lautieren, unverständlich

auf Schmerzreiz

1

keine Bewegung

keine Lautäußerung

kein Augenöffnen

Tab. 2: Glasgow Coma Scale (GCS) bei Kindern

Punkte

Motorische Antwort

Verbale Antwort

Augenöffnen

6

spontan, gezielt

5

wegziehen bei Berührung

lächelt, reagiert auf Töne, verfolgt Objekte, interagiert

4

wegziehen bei Schmerz

weint, kann beruhigt werden, keine adäquate Interaktion

spontan

3

Flektion bei Schmerzreiz (Dekortikation)

teilweise nicht zu beruhigen, jammernd

auf Ansprache

2

Extension bei Schmerzreiz (Dezerebration)

nicht zu beruhigen, agitiert

auf Schmerz

1

keine Bewegung

keine Antwort

kein

Tab. 3: Schweregradeinteilung nach Glasgow Coma Scale (GCS)

Schweregrad des SHT

GCS

leichtes SHT

15-14

mittelschweres SHT

13-9

schweres SHT

8-3

Epidemiologie

Das schwere Schädel-Hirn-Trauma ist nicht nur verantwortlich für ca. 90 % der tödlichen Unfallfolgen, sondern bleibt auch weltweit die häufigste Todesursache insgesamt im Kindes- und Jugendalter
[1, 2].

Für stationär behandelte SHTs wurde im Jahr 2015 durch das statistische Bundesamt eine Inzidenz von ca. 650/100.000 Kindern < 15 Jahren erfasst. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle handelt es sich um leichte SHT (91–97,3 %), der Anteil an mittelgradigen (1,7–4 %) und schweren SHT (1,0–5 %) ist dementsprechend niedrig. Die Mortalität beträgt insgesamt 0,5 %, beim schweren SHT jedoch bis über 15 % [3]. Während Kleinkinder häufig durch Stürze betroffen sind, dominieren im Schul- und Jugendalter Fahrrad-, Sport- und Verkehrsunfälle sowie Freizeitverletzungen. Jungen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Mädchen.

Diagnostik

Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma (SHT) bei Kindern stellt eine potenziell lebensbedrohliche Situation dar und erfordert eine rasche und zielgerichtete Diagnostik und Therapie. Die klinische Untersuchung folgt dem ABCDE-Schema gemäß den Empfehlungen des Advanced Paediatric Life Support (APLS) [4] und sollte mit einer sorgfältigen neurologischen Untersuchung (Pupillenweite und -reaktion, Reflexstatus und Muskeltonus) sowie der Suche nach Begleitverletzungen ergänzt werden.

Wichtige Warnsymptome sind: Persistierende Bewusstseinsveränderungen, anhaltendes Erbrechen, fokalneurologische Defizite, Zeichen erhöhten Hirndrucks (Pupillendifferenz, Bradykardie, Hypertonie).

Bildgebende Diagnostik

In Abhängigkeit der Schwere des Traumas muss eine bildgebende Diagnostik des Schädels und ggf. der Wirbelsäule erfolgen. Die Indikation zur kranialen Bildgebung richtet sich nach klinischer Einschätzung anhand validierter Scores wie z. B. dem PECARN-Algorithmus [5].

Absolute Indikationen zur sofortigen Durchführung eines CTs oder FAST-MRT sind:

  • GCS ≤ 13
  • Fokal-neurologische Ausfälle
  • Hinweise auf Schädelbasisfraktur (z. B. Liquorrhoe, Monokel- oder Brillenhämatom)
  • anhaltender Bewusstseinsverlust oder Verschlechterung des Zustands

Beim leichten SHT steht im Kindesalter die stationäre Aufnahme zur engmaschigen neurologischen Überwachung im Vordergrund. Eine primäre Bildgebung ist unter diesen Maßnahmen hier nicht erforderlich. Bei ausreichendem Verdachtsmoment kann beim leichten SHT eine dringliche MRT-Diagnostik erfolgen, insbesondere auch zur Beurteilung eines diffusen axonalen Schadens.

Therapie

Die Therapie richtet sich nach dem Schweregrad des Traumas:

  • Leichtes SHT: Symptomatische Therapie, Überwachung (s. auch Tabelle 4)
  • Mittleres SHT: Stationäre Überwachung, neurologische Verlaufskontrollen, ggf. intensivmedizinische Maßnahmen, ggf. neurochirurgische Intervention
  • Schweres SHT: Intensivmedizinische Therapie, Hirndruckmonitoring, ggf. neurochirurgische Intervention (Kraniotomie, externe Ventrikeldrainage).

Die intensivmedizinische Betreuung umfasst Maßnahmen zur Senkung des intrakraniellen Drucks (z. B. osmotherapeutische Maßnahmen mit Mannitol oder hypertoner Kochsalzlösung) und zur Sicherstellung der zerebralen Perfusion. Wichtig zu bedenken ist, dass es bei der Behandlung des schweren SHT um die Verhinderung sekundärer Hirnschäden geht, da die beim Unfall eingetretene Hirnschädigung nicht mehr reversibel ist.

Chirurgische Therapie

Eine operative Intervention ist beim schwerem SHT oft lebensrettend. Zu den absoluten Indikationen gehören: Akute intrakranielle Blutungen (Sub- oder Epiduralhämatom > 30 ml oder mit Mittellinienverlagerung oder klinischer Verschlechterung), Einklemmungssyndrom (Ein- oder beidseitige Pupillenerweiterung, fehlende Lichtreaktion, Koma), imprimierende Schädelkalottenfrakturen > 5 mm sowie ein therapierefraktärer, persistierend erhöhter intrakranieller Druck (> 20 mmHg).

Für alle o. g. Indikationen gilt: prospektive, altersadjustierte Daten zu Blutungsvolumina, Mittellinienverlagerung oder anderen objektivierbaren Parametern existieren nicht. Die klinische Einschätzung des Kindes ist also maßgeblich für die operative Therapie. Der zentrale Unterschied der kindlichen SHTs zu denen Erwachsener ist die Dynamik: Kinder besitzen kaum intrakranielle Reserveräume. Die Hirnventrikel sind noch schmal, Atrophien sind physiologischerweise nicht vorhanden. Gemäß der Monro-Kellie-Doktrin bedeutet das einen schnelleren Anstieg des intrakraniellen Druckes bei kleinen Volumenverschiebungen, also bei Blutungen oder traumatischem Hirnödem. Bei Verdacht auf eine der oben genannten klinischen oder bildgebenden Zeichen ist die schnelle Entscheidung und zügige Durchführung einer operativen Entlastung daher oft lebensrettend.

Tab. 4: Maßnahmen im Rahmen der stationären Überwachung nach [2, 3]

stationäre überwachung

Monitoring

überwachungsintervall ab Aufnahme

– keine audiovisuellen Reize

– gelockerte Bettruhe

– GCS
– Pupillenreaktion

– Pulsoxymetrie

stündlich

1–6 h

3-stündlich

7–24 h

2-mal pro Schicht

25–48 h

Indikation Bildgebung

– GCS-Abfall um 2 bis 3 Punkte

– rezidivierendes Erbrechen (>3- bis 5-mal)

– anhaltendes Erbrechen >6 h nach Trauma

– fokal-neurologische Störungen

– Krampfanfall

Prognose und Nachsorge

Die Prognose ist abhängig von der Schwere des Traumas. Während leichte SHT meist folgenlos ausheilen, können schwere SHT zu bleibenden neurologischen und kognitiven Defiziten führen. Eine frühzeitige rehabilitative Betreuung ist entscheidend für die langfristige Lebensqualität der betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Non-accidental injury

Eine besondere Untergruppe bildet das frühkindliche Schädeltrauma im Rahmen einer Kindesmisshandlung. Insbesondere bei Kindern unter zwei Jahren und bei unklarem Unfallmechanismus bedarf es eines hohen Grads an Misstrauen um Fälle von Kindesmisshandlung zu identifizieren. Verdächtig sind hier Schädelfrakturen, retinale Einblutungen ebenso wie subdurale Hämatome und intrakranielle Blutungen unterschiedlichen Alters, welche sich insb. im MRT gut nachweisen lassen. Diesbezüglich verweisen wir an dieser Stelle auf die entsprechenden Leitlinien [6].

Das chronische Schädel-Hirn-Trauma im Kindesalter

Abseits der schweren Schädel-Hirn-Traumata hat sich insbesondere in jüngerer Vergangenheit der Fokus auf wiederholte Schädelprellungen und leichte SHTs gerichtet. Die Symptomatik eines leichten Kopfanpralls bleibt zumeist mild und die Eltern unbesorgt. Doch auch unkomplizierte Verläufe können bei genauerem Hinsehen Langzeitfolgen auf die geistige Entwicklung haben: Mittlerweile konnte der negative Einfluss auch scheinbar unbedeutender Verletzungen auf die geistigen Fähigkeiten der betroffenen Kinder gezeigt werden, so auf die verbale Intelligenz [7], emotionale Kontrolle, oder auch Kurzzeitgedächtnis und andere exekutive Funktionen [8]. Zusammen mit den Erkenntnissen aus dem Erwachsenensport hat dies zu einem Paradigmenwechsel bei der Beurteilung vermeintlich milder, chronischer Traumata, wie z. B. im Sport durch Stürze oder regelhafte Vorgänge wie z. B. Kopfbälle geführt [9].

Prinzipiell ist zur Erfassung, Diagnose und Therapie gerade leichter Traumata und Ihrer Folgen eine ausführliche Untersuchung und Dokumentation notwendig. Die Darstellung geistiger Defizite ist bei jungen Menschen in Ihrer Entwicklung besonders anspruchsvoll. Ein standardisierter Prozess hierfür existiert bis dato noch nicht. Gerade für den Bereich Sport existiert mit dem Child SCAT 6 (Sport Concussion Assessment Tool) ein altersgerechtes Item zur Erfassung latenter SHTs, der zumindest eine Beurteilung hinsichtlich der Rückkehr zum Sport ermöglicht [10].

Die Abwägung zwischen den Risiken verschiedener Sportarten und den möglichen Folgen obliegt letztlich den Eltern. Als Behandler ist aber die Aufklärung, die damit verbundene Prävention und nicht zuletzt die systematische Erfassung unsere Aufgabe. Dies kann durch eine enge Zusammenarbeit mit Vereinen, z. B. in der Ausbildung von Jugendtrainer/innen wie auch die Beratung der Eltern nach vermeintlichen Bagatelltraumata geschehen. Die politische Diskussion mit dem Deutschen Fußballbund (DFB) und Vertreter/innen der Ärzt/innenschaft ist dabei hochaktuell: Mit dem Beginn der Saison 2024/2025 setzt der DFB in der fußballerischen Ausbildung auf Spiel- und Trainingsformen, die Kopfbälle bei unter 18-jährigen reduzieren sollen. Ärztinnen und Ärzte fordern jedoch weiterreichende Regelungen, u. a. ein Kopfballverbot in Spielen und Trainings der unter 12-jährigen. Angesichts der o. g. Datenlage können wir uns den Forderungen nur anschließen und ermuntern, die Frage nach vermeidbaren Schädelhirntraumata auch in Verbänden anderer Sportarten zu diskutieren.

Fazit

Das SHT im Kindes- und Jugendalter erfordert ein multidisziplinäres Management, um mögliche Langzeitfolgen zu minimieren. Eine optimierte präklinische und klinische Versorgung sowie die Entwicklung standardisierter Behandlungsleitlinien sind essenziell, um die Prognose dieser vulnerablen Patientengruppe zu verbessern. Durch verstärkte Präventionsmaßnahmen kann zudem das Risiko wiederholter Kopfverletzungen signifikant reduziert werden.

Fallbeispiel: Mittleres SHT?

Wir berichten über einen 5-jährigen Jungen, der als PKW-Insasse im Rahmen eines Verkehrsunfalles einen Kopfanprall erlitt. Äußerlich zeigte sich eine links frontale Prellmarke. Die Übergabe im Schockraum beinhaltete folgende Eckpunkte: A: nicht intubiert, B: spontan atmend, C: kreislaufstabil ohne Katecholamine, D: nicht kontaktfähig, Minderbewegung links (sic!), in den Massenbewegungen der oberen und unteren Extremität. Äußerlich keine weiteren Verletzungsfolgen.

Die Befunde konnten in der klinischen Untersuchung bestätigt werden. Die Pupillen waren eng und lichtreagibel. Der Junge antwortete nicht auf Fragen, lautierte auf Schmerzreiz und öffnete auf Schmerzreiz die Augen. Ein Aufforderungsbefolgen bestand nicht, eine dezidierte Kraftprüfung war nicht möglich. Die Extremitäten wurden teils spontan gezielt bewegt, jedoch nicht auf Aufforderung. Links deutlich weniger. Im interdisziplinären Setting wurde bei sofortiger Verfügbarkeit eine MRT des Schädels (s. Abb. 1A–B) und der Halswirbelsäule durchgeführt.

Abb. 1: T1-gewichtete axiale Aufnahme des Neurokraniums im Rahmen der Schockraumversorgung. Es zeigt sich eine links frontale Kontusionsblutung bei darüber liegender frontaler Fraktur (A) sowie eine deutliche Mittelinienverlagerung (B). Eine Verletzung der HWS konnte bildgebend ausgeschlossen werden (nicht gezeigt).

Es erfolgte die sofortige Übernahme in den Operationssaal und Dekompression mittels Hemikraniektomie. Die Aufwachreaktion erfolgte über mehrere Tage. In der postoperativen Verlaufsbildgebung zeigte sich ein regelrechter postoperativer Situs. Nach abgeschlossener Rehabilitation konnte die Reimplantation des Knochenfragmentes durchgeführt werden (s. Abb. 2 C–D).

Abb. 2: Postoperative Verlaufsbildgebung. C: T2-gewichtete postoperative Aufnahem mit links frontaler, residueller Kontusionsblutung. Die Schädelkalotte der linken Seite wurde großflächig entfernt. D: T1-gewichtete Darstellung der vollständig rückläufigen Mittellinienverlagerung.

Bei vollständiger Wachheit zeigte sich keine Minderbewegung der linken Seite mehr. Nach einer Rekonvaleszenzphase mit regelmäßiger Physiotherapie wurde der Junge am 14. postoperativen Tag in die rehabilitative Weiterbehandlung entlassen. Ein fokal neurologisches Defizit lag nicht vor. Nach Abschluss der Rehabilitation erfolgte die Reimplantation des Knochenfragmentes (s. Abb. 3 E–F).

Abb. 3: E: T2-gewichtete Darstellung vor Reimplantation des Knochenfragmentes. F: T2-gewichtete axiale Bildgebung nach Reimplantation des Knochenfragmentes mit mittelständigem Interhemisphärenspalt.

Key Points

  • Formal liegt ein mittelgradiges SHT (GCS 9–10) vor (Augenöffnen: 2 Punkte, Motorische Antwort: 5–6 Punkte, Verbale Antwort: 2 Punkte)
  • Eine Dekompensation der im MRT zu unterstellenden Drucksymptomatik (Mittellinienverlagerung!) geht bei Kindern deutlich schneller vonstatten. Eine rasche, präemptive Entlastung sollte daher wie in diesem Fall trotz des formal nur mittelgradigen SHT notfallmäßig erfolgen.
  • Bei neurologischen Defiziten, die durch das Verletzungsmuster nicht zu erklären sind, sollte eine sofortige bildgebende und ggf. elektrophysiologische Abklärung erfolgen.
  • Schädelfrakturen, die im Bereich der großen Hirnvenen liegen, bergen das Risiko eines massiven Blutverlustes beim Heben der Fraktur oder des Knochenfragmentes.

Wie im obigen Fallbeispiel illustriert, erfolgt die Einteilung des SHT gemäß der neurologischen Einschätzung. Die tatsächliche Schwere der Gehirnverletzung kann dazu in scheinbarem Widerspruch stehen. Eine rasche operative Therapie kann lebensrettend sein und erhält neurologische Funktion.

Literatur

[1]   Global, regional, and national burden of traumatic brain injury and spinal cord injury, 1990–2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016. Lancet Neurol. 2019; 18:56–87. Epub 2018/11/26. doi: 10.1016/S1474-4422(18)30415-0 PMID: 30497965.
[2]   Lacher M, Hoffmann F, Mayer S, editors. Kinderchirurgie für Pädiater. Blickdiagnosen, ambulantes Management, postoperative Betreuung. Berlin, Heidelberg: Springer; 2020.
[3]   Lichte P, Andruszkow H, Kappe M, Horst K, Pishnamaz M, Hildebrand F, et al. Increased in-hospital mortality following severe head injury in young children: results from a nationwide trauma registry. Eur J Med Res. 2015; 20:65. Epub 2015/08/14. doi: 10.1186/s40001-015-0159-8 PMID: 26272597.
[4]   Samuels MA, Wieteska S, editors. Advanced paediatric life support. The practical approach to emergencies. Chichester, West Sussex, UK: BMJ Books; 2016.
[5]   Kuppermann N, Holmes JF, Dayan PS, Hoyle JD, Atabaki SM, Holubkov R, et al. Identification of children at very low risk of clinically-important brain injuries after head trauma: a prospective cohort study. Lancet. 2009; 374:1160–70. Epub 2009/09/14. doi: 10.1016/S0140-6736(09)61558-0 PMID: 19758692.
[6]   Blesken, M., Franke, I., Freiberg, J., Kraft. AWMF S3+ Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung. unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie), Langfassung 1.0. AWMF-Registernummer: 027-069. Available from: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/027-069.
[7]   Cermak CA, Scratch SE, Reed NP, Kakonge L, Beal DS. Effects of Pediatric Traumatic Brain Injury on Verbal IQ: A Systematic Review and Meta-Analysis. J Int Neuropsychol Soc. 2022; 28:1091–103. Epub 2021/11/26. doi: 10.1017/S1355617721001296 PMID: 34823632.
[8]   Keenan HT, Clark AE, Holubkov R, Cox CS, Ewing-Cobbs L. Trajectories of Children’s Executive Function After Traumatic Brain Injury. JAMA Netw Open. 2021; 4:e212624. Epub 2021/03/01. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2021.2624 PMID: 33739432.
[9]   Coulter IC, Forsyth RJ. Paediatric traumatic brain injury. Curr Opin Pediatr. 2019; 31:769–74. doi: 10.1097/MOP.0000000000000820 PMID: 31693586.
[10] Davis GA, Echemendia RJ, Ahmed OH, Anderson V, Blauwet C, Brett BL, et al. Child SCAT6. Br J Sports Med. 2023; 57:636–47. doi: 10.1136/bjsports-2023-106982. PMID: 37316212.

Korrespondierender Autor:

Dr. med. Florian Wilhelmy

Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie

Universitätsklinikum Leipzig

florian.wilhelmy@medizin.uni-leipzig.de

PD Dr. med. habil. Peter Zimmermann

Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie

Universitätsklinikum Leipzig

Dr. med. Oliver Deffaa

Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie

Universitätsklinikum Leipzig

Chirurgie

Wilhelmy F, Zimmermann P, Deffaa O: Das Schädel-Hirn-Trauma im Kindes- und Jugendalter. Passion Chirurgie. 2025 Mai; 15(05): Artikel 03_05.

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BDC-Praxistest und Kommentar: Bedeutung von Zertifikaten im Gesundheitswesen – für Zentren, Gesundheitspolitik und chirurgisch Tätige

Anfang Januar 2025 hat das Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) bekanntgegeben, dass die Zertifikate der DGAV e.V. in den Bundes-Klinik-Atlas (B-K-A) des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) aufgenommen werden. Damit ist aus Sicht der Zentren und aus Sicht der DGAV e.V. ein wichtiger Meilenstein erreicht, der die Türen für weitere Schritte öffnet: in den Zentren vor Ort, aber auch auf politischer Ebene für die Expertinnen und Experten, die sich in der DGAV e.V. engagieren und Kriterien für die Qualität der allgemein- und viszeralchirurgischen Behandlung definieren. Im Folgenden werden die sich ergebenden Möglichkeiten beschrieben und in die aktuellen politischen Entwicklungen u. a. des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes (KHVVG) eingeordnet.

Zertifizierte Zentren der DGAV e.V.

Seit 2008 werden durch die Arbeitsgemeinschaften der DGAV e.V. in Zusammenarbeit mit weiteren Fachdisziplinen und -gesellschaften, Kriterien für Zentren in der Allgemein- und Viszeralchirurgie definiert und das Erfüllen der Kriterien in Zertifizierungsaudits vor Ort überprüft. Ziel des Zertifizierungssystems ist es, eine bestmögliche Behandlung der Patientinnen und Patienten bei allgemein- und viszeralchirurgischen Erkrankungen zu gewährleisten. Dazu gehört, die Qualität der Behandlung mit Umsetzung eines PDCA-Zyklus zu analysieren und wenn nötig, zu verbessern. Die obligate Dokumentation in die StuDoQ-Register ermöglicht die Beantwortung von wissenschaftlichen Fragestellungen [1] und soll für Versorgungsforschungsprojekte in den zertifizierten Zentren genutzt werden. Ende 2024 waren 437 Zentren in 11 Zertifizierungsbereichen zertifiziert [2].

Die positive Bewertung des Zertifizierungssystems der DGAV e.V. mit nachfolgender Aufnahme in den B-K-A ist das Ergebnis der Anwendung von Kriterien für „Aussagekräftige Zertifikate und Gütesiegel“ durch das IQTIG. Diese Kriterien stehen am Ende eines langen politischen Prozesses, der erstmals mit dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD im Jahr 2013 angestoßen wurde.

Politische Grundlagen für die Entwicklung von Kriterien für Zertifikate

In dem Koalitionsvertrag war für das neu zu gründende IQTIG vorgesehen, dass es u. a. „eine online einsehbare Vergleichsliste erstellen und führen und die Vielzahl von Zertifikaten [in Krankenhäusern] bewerten und einordnen“ solle [3]. Dieser Auftrag ist dementsprechend auch seit 2014 im SGB V als Aufgabe des IQTIG beschrieben (§ 137a Abs. 3 Satz 7) und der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat in seiner Qualitätsmanagement-Richtlinie von 2015 bereits darauf hingewiesen, dass „sobald Gütekriterien […] beschlossen sind, […] Zertifikate und Gütesiegel, die diesen Gütekriterien genügen, von den Krankenhäusern, Vertragsarzt- und Vertragszahnarztpraxen zum Nachweis der Einhaltung der QM-Verpflichtung [nach § 135a SGB V] herangezogen werden können“ [4].

Interessanterweise gerieten diese sinnvollen Ideen, nämlich zum einen das IQTIG mit einer Bewertung von Zertifikaten zu beauftragen und die Zertifikate dann zum Nachweis der Erfüllung von Anforderungen in G-BA-Richtlinien, Gesetzen o. ä. zu verwenden, zunächst aus dem Fokus: 2020 wurde das IQTIG durch den G-BA beauftragt, Kriterien zur Bewertung von Zertifikaten in der Gesundheitsversorgung zu erarbeiten und „diese für Patientinnen und Patienten verständlich, leicht anwendbar und nachvollziehbar [darzustellen]. In der vom G-BA […] beschlossenen Beauftragung des IQTIG [wurde] klargestellt, dass eine Bewertung einzelner Zertifikate und Qualitätssiegel nicht Teil des Auftrags ist“ [5].

Damit waren die ursprünglichen Absichten für die Entwicklung von Kriterien nicht mehr Teil der Aufgabe und fast erwartungsgemäß kam das IQTIG in seinem Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass eine selbstständige Anwendung der entwickelten Kriterien für die Beurteilung von Zertifikaten durch Betroffene letztlich kaum möglich sei, weil Fachwissen notwendig wäre, das nicht als gegeben vorausgesetzt werden könne. Zudem stehe der zeitliche Aufwand für das Durchführen einer Bewertung durch Betroffene in keinem Verhältnis zu ihrem Informationsbedürfnis [6]. Als notwendige Weiterentwicklung empfahl das IQTIG dann auch folgerichtig die standardisierte Bewertung von Zertifikaten durch eine unabhängige Stelle.

Erfreulicherweise hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach diesen Vorschlag im März 2024 mit dem Krankenhaustransparenzgesetz (KHTG) aufgegriffen. Das Gesetz sieht vor, dass die Qualität des Leistungsgeschehens in den Krankenhäusern in einem Transparenzverzeichnis (Bundes-Klinik-Atlas (B-K-A)) veröffentlicht wird. Dazu gehört u. a. der Nachweis, ob am Krankenhausstandort aussagekräftige Zertifikate vorliegen, also Zertifikate, die die oben genannten Bewertungskriterien des IQTIG erfüllen (§ 135d Abs 3 Satz 5 SGB V).

Der B-K-A ging im Mai 2024 an den Start und enthielt zunächst die Zertifikate, die bereits in der Weißen Liste, die ihre Arbeit Ende März 2024 eingestellt hatte, ausgewiesen waren. Die erste Prüfungsrunde durch das IQTIG, in der auch die Zertifikate der Weißen Liste offiziell bewertet wurden, haben 13 Zertifikatherausgeber mit zusammen 57 Zertifikaten bestanden (Stand: 12.02.2025 [7]). Die Zertifikate der DGAV e.V. sind Teil der ausgezeichneten Gütesiegel und bekommen damit ihre Aussagekraft und Wertigkeit durch eine unabhängige Stelle bestätigt.

Was ergibt sich aus der Aufnahme der Zertifikate in den Bundes-Klinik-Atlas?

Neben der positiven Aussage über den grundsätzlichen Aufbau und die Umsetzung des Zertifizierungssystems der DGAV e.V., bedeutet die Aufnahme in den B-K-A natürlich auch eine vermehrte Sichtbarkeit für die ausgewiesenen Zentren.

Die hohe Qualität, die die klinisch Tätigen in den Zentren erreichen, kann durch Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen eingeschätzt werden und hilft diesen, informierte Entscheidungen über den Ort ihrer Behandlung zu treffen und sich für, aber auch gegen Leistungserbringende zu entscheiden.

Darüber hinaus sieht das KHVVG vor, dass aussagekräftige Zertifikate, also die Zertifikate, die in den B-K-A aufgenommen wurden, durch den Medizinischen Dienst (MD) genutzt werden können, um das Erfüllen der Qualitätskriterien in den Leistungsgruppen zu prüfen (§ 275a SGB V). Das KHVVG greift damit sinnvollerweise die oben beschriebene Idee der QM-Richtlinie des G-BA von 2015 wieder auf, weitet sie aus und trägt damit sehr praktisch zu dem unbedingt benötigten Bürokratieabbau und der Entlastung der Zentren und des MD bei. Doppelt und dreifach Ein- und Angaben sollen vermieden und der aufwandsarme Nachweis mit Hilfe aussagekräftiger Zertifikate gefördert werden.

Damit die Zertifikate durch den MD berücksichtigt werden können, ist es notwendig, die Zertifikate bzw. ihre Inhalte in die Leistungsgruppen (LG) zu integrieren. Vorbild dafür ist die Aufnahme der „Zertifizierung als Brustzentrum NRW“ in die „Sonstigen Struktur- und Prozesskriterien“ der Leistungsgruppe „Senologie“ bei der Krankenhausplanung NRW [8]. Das Zertifikat „Brustkrebszentrum NRW“ ist wie die DGAV-Zertifikate auch, im B-K-A genannt, so dass man hier einen sehr guten Ausgangspunkt für ein analoges Verfahren hat, um alle im B-K-A aufgeführten Zertifikate in die LG aufzunehmen. Dieses Vorgehen wird zudem durch die Begründungen des Gesetzgebers für die Einführung des Transparenzgesetzes in Verbindung mit der Krankenhausreform bekräftigt: eine qualitativ hochwertige und für Patientinnen und Patienten sichere medizinische Versorgung soll sichtbar gemacht, gefordert und gefördert werden. Daraus ergibt sich notwendigerweise, dass die Inhalte der Zertifikate, die im B-K-A als qualitativ hochwertig ausgewiesen sind, eben auch Teil der LG des KHVVG sind (Abb. 1).

Abb. 1: Zusammenwirken von Zertifikat, Transparenzverzeichnis und Krankenhausreform

Bisher sind 65 LG, davon fünf viszeralchirurgische LG und eine LG Allgemein Chirurgie und nur wenige Qualitätskriterien im KHVVG beschrieben, das am 12.12.2024 in Kraft getreten ist [9]. Mit dem neuen § 135e SGB V „Mindestanforderungen an die Qualität der Krankenhausbehandlung“ ist jedoch bereits vorgesehen, dass das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) einen Ausschuss einrichtet, der u. a. die Aufgabe hat, genau diese Qualitätskriterien der LG festzulegen. Die Inhalte der Rechtsverordnung, die der Ausschuss im Sinne von Empfehlungen definieren soll, sollen bis zum 31.3.2025 mit Wirkung zum 01.01.2027 erlassen werden. Dafür haben sich die Mitglieder des Ausschusses, also der Spitzenverband Bund der Krankenkassen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, die Bundesärztekammer, die Hochschulmedizin, die Berufsorganisationen der Pflegeberufe und in beratender Funktion die Patientenorganisationen und der MD am 28.01.2025 zu einer Auftaktsitzung getroffen.

Der § 135e SGB V ist die einzige Stelle im KHVVG, die es den wissenschaftlichen Fachgesellschaften in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) ermöglicht, sich an der Definition „Was macht eine qualitativ hochwertige Versorgung aus?“ zu beteiligen und ihre Expertise einzubringen. Bedauerlicherweise ist die im Referentenentwurf (15.04.2024) noch verpflichtend vorgesehene Einholung eines Vorschlags der AWMF für die Weiterentwicklung der LG und Qualitätskriterien im weiteren Verlauf in eine „kann“-Formulierung („kann der Ausschuss hierzu zunächst einen Vorschlag der [AWMF] einholen“) abgeschwächt worden. Ungeachtet dessen hat die AWMF den Vorschlag eingegeben, als ständiger Gast an den Sitzungen des Ausschusses teilzunehmen und Expertinnen und Experten bei spezifischen Fragstellungen vorschlagen zu können. Die DGAV e.V. ist Mitglied in der „Ad hoc Kommission Versorgungsstrukturen“ der AWMF und bringt unter anderem an dieser Stelle ihre Vorschläge für die Weiterentwicklung der LG und Qualitätskriterien auf Grundlage des Zertifizierungssystems der DGAV ein.

Zusammenfassung und Ausblick

Mit der Aufnahme des Zertifikates der DGAV e.V. in den BKA ergeben sich Möglichkeiten, die durch Zentren, gesundheitspolitische Institutionen und Expertinnen und Experten der DGAV genutzt werden können und sollen:

  • Die hochwertige Behandlung durch zertifizierte Zentren der DGAV wird (nicht nur) für Patientinnen und Patienten sichtbar und gibt ihnen eine Entscheidungshilfe.
  • Die Zertifikate des B-K-A sollen durch den Medizinischen Dienst für den Nachweis der Erfüllung von Qualitätskriterien in LG genutzt werden können.
  • Für die nachhaltige Abbildung im B-K-A, wird das Zertifizierungssystem der DGAV kontinuierlich weiterentwickelt (z. B Initiierung von Zertifizierungskomitees mit Aktualisierung der Kriterien und der StuDoQ-Register uwm.) und bietet damit den chirurgisch Tätigen in der DGAV die Möglichkeit, ihre Expertise in die Weiterentwicklung einzubringen.
  • Gesundheitspolitische Aktivitäten werden auf verschiedenen Ebenen u.a. mit Eingaben für die Weiterentwicklung der Qualitätskriterien durch die DGAV unterstützt.

Die aktuellen gesundheitspolitischen Entwicklungen zeigen, dass qualitativ hochwertige Zertifikate im Gesundheitssystem eine zunehmende Bedeutung haben. Damit steigen die Anforderungen an die Expertinnen und Experten wissenschaftlicher Fachgesellschaften, aber es bietet sich gleichzeitig auch die Möglichkeit der gemeinsamen innovativen Weiterentwicklung allgemein- und viszeralchirurgischer Inhalte.

Literatur

[1]   Publikationen mit StuDoQ-Daten: http://www.dgav.de/studoq/ueber-studoq/publikationen.html
[2]   Informationen über das Zertifizierungssystem der DGAV e.V.: http://www.dgav.de/zertifizierung.html
[3]   Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, https://www.bundestag.de/resource/blob/194886/696f36f795961df200fb27fb6803d83e/koalitionsvertrag-data.pdf (Zugriff am 18.02.2025)
[4]   Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Qualitätsmanagement-Richtlinie, https://www.g-ba.de/downloads/40-268-3574/2015-12-17_QM-RL_Erstfassung_TrG.pdf (Zugriff am 18.02.2025)
[5]   Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Freigabe der Berichte Entwicklung von Kriterien zur Bewertung von Zertifikaten und Qualitätssiegeln. Bericht zu Teil A sowie Abschlussbericht zu Teil B zur Veröffentlichung, https://www.g-ba.de/downloads/39-261-6399/2023-12-21_Freigabe-IQTIG-Bericht_Zertifikate-Qualitaetssiegel.pdf (Zugriff am 18.02.2025)
[6]   Kriterien zur Bewertung der Aussagekraft von Zertifikaten und Qualitätssiegeln
[7]   Abschlussbericht zu Teil B: Kriterienentwicklung, https://iqtig.org/downloads/berichte/2022/IQTIG_Kriterien-Zertifikate-Qualitaetssiegel_Abschlussbericht-Teil-B_2022-09-30.pdf
[8]   IQTIG, Aussagekräftige Zertifikate und Siegel: Übersicht, https://iqtig.org/qs-instrumente/bundes-klinik-atlas/zertifikaten-und-siegel/aussagekraeftige-zertifikate-und-siegel-uebersicht/ (Zugriff am 18.02.2025)
[9]   Übersicht über die Qualitätskriterien für die Krh-Planung in NRW, https://www.mags.nrw/system/files/media/document/file/uebersichtstabelle_ueber_die_qualitaetskriterien.pdf (Zugriff am 18.02.2025)
[10] Bundesministerium für Gesundheit. Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/detail/krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz-khvvg.html (Zugriff am 18.02.2025)

Kommentar: Less is more

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Eine zentrale Handlungsvorgabe aller in den aktuellen Tagen inaugurierten Regierungen und Konzernleitungen ist der Abbau von Bürokratie. Und so treten auch die aktuellen Reformgesetze im Gesundheitswesen an. Less is more! Das wäre zu schön, aber natürlich ist alles wieder mal nicht so einfach. Ganz konträr und ganz ungebremst entwickeln sich im System nämlich die Kurse in der Qualitätssicherung. Die immer umfangreicheren Vorgaben vertiefen sich im ruinösen Wettbewerb der verschiedenen Anbieter in immer kleinere Details um nur ja den Unterschied zu treffen. Das ist zermürbend und ermattend. Deshalb hat so mancher bei der Durchsicht der Kriterien für die Leistungszuteilung im Krankenhaus und den neuen Mindestzahlen schon frohlockt. Wer braucht ein Zertifikat, wenn die Zahlen erfüllt und die Zuteilungen erfolgt sind? Schade, schade, Schokolade – weit gefehlt. Der Verwaltungskrake hat immer noch ein Ass im Ärmel. Nämlich den Bundes-Klinik-Atlas! Dieser erratisch zusammengestolperte Thesaurus wird jetzt auch um chirurgische Zertifikate ergänzt. Es bleibt unklar, ob das nicht doch die hübschen Embleme der Auditoren als das diskreditiert, was viele Kritiker schon immer behaupten: ein Instrument des Wettbewerbs. Nein, nein, wir sind nicht gegen Zertifizierungen, wir sind für gute. Gute Zertifikate repräsentieren – gerne schlank – gute Qualität. Aber ob man dafür im B-K-A auftauchen muss? Nicht jede Botschaft gewinnt im trivialen Gewand. Less ist dann doch more.

Viele Grüße
Prof. Dr. med. C. J. Krones und Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

 

Korrespondierende Autorin:

PD Dr. med. Simone Wesselmann, MBA

Geschäftsführerin

Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) e.V.

wesselmann@dgav.de

Prof. Dr. med. Waldemar Uhl

Präsident der DGAV e.V.

Direktor der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie

Katholisches Klinikum Bochum

St. Josef-Hospital

Prof. Dr. med. Jörg Kalff

Generalsekretär der DGAV e.V.

Direktor der Klinik und Poliklinik für Allgemein-, Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie

Universitätsklinikum Bonn (UKB)

Gesundheitspolitik

Wesselmann S, Uhl W, Kalff J: BDC-Praxistest: Bedeutung von Zertifikaten im Gesundheitswesen – für Zentren, Gesundheitspolitik und chirurgisch Tätige. Passion Chirurgie. 2025 Mai; 15(05): Artikel 05_01.

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Rolle der Weiterbildung in der Krankenhausreform

Herausforderungen und Lösungen

Die ärztliche Weiterbildung stellt nach dem Studium der Humanmedizin den entscheidenden Abschnitt in der ärztlichen Bildungssystematik dar. Damit wird eine fachärztliche Kompetenz mit entsprechenden Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten erlangt, die den weiteren beruflichen Weg prägt. In Deutschland obliegt die ärztliche Weiterbildung der jeweiligen Landesärztekammer als Körperschaft des öffentlichen Rechts, gesetzlich verankert in den Heilberufe- und Kammergesetzen. In diesen ist für Kammern die Aufgabe festgelegt, die Weiterbildung der Kammermitglieder in einer Weiterbildungsordnung zu regeln sowie Grundsätze der Weiterbildung und Weiterbildungsbezeichnungen im Hinblick auf die wissenschaftliche Entwicklung und einer angemessenen Versorgung der Bevölkerung zu bestimmen.

Anders als in anderen Ländern beginnt in Deutschland die ärztliche Weiterbildung nach erfolgreichem Abschluss des Studiums und Erlangung der Approbation. Damit verbunden ist die Erlaubnis, ärztliche Heilkunde vollumfänglich ausüben zu dürfen. Sie ist gekennzeichnet durch ein möglichst direktes Verhältnis eines von der Landesärztekammer damit hoheitlich beauftragten Weiterbildungsbefugten mit einem Weiterzubildenden an einer zugelassenen Weiterbildungsstätte mit einer vorgeschriebenen Mindestweiterbildungszeit, die nach europäischem und deutschem Recht grundsätzlich hauptberuflich und ganztätig erfolgt. In dieser Zeit werden definierte Weiterbildungsinhalte erworben, nach deren Erlangung sowie Absolvierung der Mindestweiterbildungszeit eine halbstündige Prüfung vor einem Prüfungsausschuss einer Landesärztekammer abgelegt wird. Nach erfolgreicher Prüfung wird eine entsprechende Urkunde für die Facharzt-, Schwerpunkt- oder Zusatz-Weiterbildung überreicht, die erlangte Weiterbildungsqualifikation ist ankündigungsfähig und führbar.

Die genannten Vorgaben werden in der jeweiligen Weiterbildungsordnung der Landesärztekammer hinterlegt, die auf einer (Muster-)Weiterbildungsordnung beruht. Diese wird auf Bundesärztekammerebene zusammen mit allen Landesärztekammern unter Einbezug der entsprechenden Fachgesellschaften und Berufsverbänden erarbeitet und von einem Deutschen Ärztetag verabschiedet. Rechtlich bindend sind nur die Weiterbildungsordnungen der Landesärztekammern, diese können Unterschiede aufweisen. Die aktuelle (Muster-)Weiterbildungsordnung von 2018 hat den Gedanken der kompetenzbasierten Weiterbildung mit den kognitiven und Methodenkompetenzen auf der einen Seite und den Handlungskompetenzen auf der anderen Seite umgesetzt. Während zuvor maximale Weiterbildungszeiten im ambulanten Bereich definiert waren, sind jetzt nur Mindestweiterbildungszeiten im stationären Bereich hinterlegt. Bei den meisten Gebieten, auch in der Chirurgie, gibt es keine Differenzierungen – die Kompetenzen werden dort erworben, wo entsprechende Leistungen durchgeführt werden. Die Dokumentation des Kompetenzerwerbs erfolgt jetzt über ein elektronisches Logbuch.

Die Herausforderungen in der ärztlichen Weiterbildung sind vielfältig, exemplarisch dargestellt im Gebiet Chirurgie. Es sind viele Inhalte definiert, die auch als Handlungskompetenz erworben werden müssen, also selbstständig vom Weiterzubildenden durchgeführt werden müssen. Bei zunehmender Komplexität und Spezialisierung wird es immer schwieriger, diese Kompetenzen zu erlangen. Hinzu kommt, dass nicht mehr alle Weiterbildungsinhalte an einer Weiterbildungsstätte angeboten werden können, so werden bestimmte Eingriffe zunehmend nur noch ambulant durchgeführt. Die Weiterbildungszeiten in Deutschland sind meistens länger als die in der Berufsanerkennungsrichtlinie der Europäischen Union festgeschriebenen Mindestdauern. Dieser Umstand in Verbindung mit der zunehmenden Teilzeittätigkeit von Ärztinnen und Ärzten verlängert die Weiterbildungszeiten und verzögert damit den Erwerb der Facharztkompetenz. Notwendige vorbereitende Skill-Labs sind nicht flächendeckend vorhanden, anvertraubare professionelle Tätigkeiten kaum definiert. Dagegen ist es zu einer zunehmenden Arbeitszeitverdichtung und zu vermehrten bürokratischen Tätigkeiten gekommen. Diese kosten Zeit, die für die Weiterbildung nicht zur Verfügung steht. Umfragen zeigen eine steigende Unzufriedenheit der Weiterzubildenden mit ihrer Weiterbildung, aber auch der Weiterbildungsbefugten.

Die Krankenhausreform akzentuiert mit dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz diese Herausforderungen noch zusätzlich mit ihren 65 Leistungsgruppen, davon allein 28 mit direktem Bezug zum Gebiet Chirurgie samt Transplantationsmedizin, da in diesen Leistungsgruppen als personelle Ausstattung eine Qualifikation aus dem Gebiet Chirurgie festgeschrieben ist. Die im Gesetz genannten Mindestvoraussetzungen inklusive weiterer Auswahlkriterien und der personellen Ausstattung mit Qualifikationen und Verfügbarkeit erschweren die ärztliche Weiterbildung. Stationär zu erlangende Inhalte können nicht mehr in allen Krankenhäusern vermittelt werden, da die Kriterien der einzelnen chirurgischen Leistungsgruppen nicht mehr erfüllt werden können und landesplanerisch nicht mehr diesen Krankenhäusern zugeordnet werden. Das wird insbesondere den Umfang der chirurgischen Weiterbildungsbefugnisse in Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung betreffen, die meistens nur die Leistungsgruppe 14 „Allgemeine Chirurgie“ erhalten werden. Auch größere Krankenhäuser werden ihr chirurgisches Leistungsspektrum anpassen müssen, da bestimmte, jetzt dort noch durchgeführte Leistungen und Operationen nicht mehr abgebildet werden können. Das wird bei vielen chirurgischen Facharztkompetenzen zu einer Reduktion der Befugnisumfänge führen, was vermehrte Rotationen für Weiterzubildende bedingt. Da diese Inhalte zukünftig nur in definierten, planerisch festgelegten Krankenhäusern zu erlangen sind, muss ein Wechsel für den Erwerb genau dieser Inhalte dorthin erfolgen. Das wird zu einer Engpasssituation führen, zumal Weiterzubildende sich in das neue Krankenhaus einarbeiten und die ärztliche Leitung bzw. die Weiterbildungsbefugten sich erst eine Übersicht über die vorhandenen Kompetenzen der neuen Mitarbeitenden verschaffen müssen. Eine vom Bundesgesetzgeber angestrebte deutliche Ausweitung der Leistungsgruppen würde diese Problematik noch verschärfen. So richtig die Konzentration von spezialisierten Leistungen in entsprechende Zentren aus verschiedenen Gründen ist, wird es perspektivisch zu vermehrten Wechseln der Weiterbildungsstätten und eher zu einer Verlängerung der Weiterbildungszeit führen. Als Folge wird der Facharztstatus erst später erreicht. Damit werden diese Qualifikationen dem ambulanten Bereich im System der gesetzlichen Krankenversicherung und dem stationären Bereich zur Deckung der geforderten personellen Ausstattung in den Leistungsgruppen mit zeitlicher Verzögerung zur Verfügung stehen.

Was sind mögliche Lösungsansätze für diese Herausforderungen? Aus Sicht der ärztlichen Weiterbildungssystematik und der Ärztekammern können folgende fünf Antworten diskutiert werden:

  1. Kritische Überprüfung, ob die Mindestweiterbildungszeiten reduziert werden können, zumal bei vielen Weiterbildungen, so auch im Gebiet Chirurgie, 12 Monate auch in anderen Gebieten erfolgen können und in der eigentlichen Facharztkompetenz nur 48 Monate zusätzlich zu dem jeweils halben Jahr Intensivmedizin und Notfallaufnahme abgeleistet werden müssen.
  2. Kritische Überprüfung der Inhalte, insbesondere der Handlungskompetenzen. Ausgangspunkt dafür ist die Frage, was eine Fachärztin bzw. ein Facharzt nach erfolgter Facharztprüfung beherrschen muss, um sich im ambulanten Bereich niederzulassen oder im stationären Bereich Rufdienste übernehmen zu können. Nicht alle Spezialitäten können bei dem rasant wachsenden medizinischen Fortschritt und Möglichkeiten in einer Facharztweiterbildung vermittelt werden und sind erst nach Erlangung des Facharztstatus im Rahmen der fachärztlichen Tätigkeit in einer entsprechenden Abteilung zu erlernen. Dies lässt sich an folgendem Beispiel aus der viszeralchirurgischen Weiterbildung verdeutlichen: in der (Muster-)Weiterbildungsordnung werden 30 Eingriffe am Kolon, 3 Magenteilresektionen, 3 Leberwedgeresektionen, 10 Enddarmoperationen sowie 80 erste Assistenzen bei Eingriffen höherer Schwierigkeitsgrade, z.B. Pankreasresektionen, Gastrektomien und Rektumresektionen gefordert. Diese Handlungskompetenzen sind allenfalls in bestimmten größeren Krankenhäusern oder spezialisierten Abteilungen vermittelbar. Hier ist zu hinterfragen, ob nicht eine kognitive und Methodenkompetenz ausreichend ist bzw. auf solche Inhalte verzichtet werden könnte. Die Zusatzweiterbildung Spezielle Viszeralchirurgie, die zukünftig ein Schwerpunkt zum Facharzt für Viszeralchirurgie werden soll, kann nicht mehr alle Spezialitäten der operativen Eingriffe des oberen und unteren Gastrointestinaltraktes und des hepatobiliären Systems abdecken, sondern benötigt einen jeweiligen modularen Aufbau, auch unter Einbezug der endokrinen Chirurgie.
  3. Schaffung von erleichterten Rotationsmöglichkeiten und von Weiterbildungsverbünden. Schon jetzt sind Rotationen in großen Krankenhäusern nicht einfach zu organisieren. Da diese zukünftig zunehmen werden, sind weiterbildungstechnische, organisatorische und arbeitsrechtliche Maßnahmen notwendig, um diese Wechsel zu erleichtern oder sogar als Kriterium für die Zuordnung von bestimmten Leistungsgruppen aufzunehmen. In der Weiterbildungsordnung ist dies bereits hinterlegt, da eine Befugnis mehreren Ärztinnen und Ärzten an einer oder mehreren Weiterbildungsstätten gemeinsam erteilt werden kann. Ein festgelegter Gesamtablauf der Weiterbildung als ein organisierter und von der Landesärztekammer genehmigter Zusammenschluss von mehreren Weiterbildungsbefugten, welche unterschiedliche Weiterbildungsinhalte an einer oder mehreren Weiterbildungsstätten unter Berücksichtigung regionaler Aspekte beinhalten, ist eine Lösung. Dabei ist arbeitsrechtlich noch die Arbeitnehmerüberlassung zu klären, sofern es nicht nur einen Arbeitgeber im Rahmen dieses Gesamtweiterbildungskonzeptes gibt. Jeder Arbeitgeberwechsel bei Rotationen ist mit erhöhtem bürokratischen Aufwand versehen, was zu vermeiden ist.
  4. Gegenfinanzierung des Aufwandes für die Weiterbildung. Das umfasst die Aufwendungen für die Weiterbildung als solche, also für die eingesetzten personellen Ressourcen, für Anleitung, zeitliche Aspekte, den erhöhten organisatorischen Aufwand sowie Simulationstrainings und Skill-Labs in der Anschaffung und Nutzung. Außerdem muss auch im ambulanten Bereich die Bezahlung der ärztlichen Tätigkeit von Weiterzubildenden geregelt werden, da Weiterbildung in diesem Bereich zunimmt. Es ist zu überlegen, ob ambulante Eingriffe am Krankenhaus, die von Ärztinnen und Ärzte im Rahmen ihrer Weiterbildung durchgeführt werden, außerhalb des ambulanten Budgets gesondert gegenfinanziert werden.
  5. Neben der fachärztlichen personellen Ausstattung ist eine ärztliche Personalbedarfsbemessung einzuführen. Diese spiegelt den ärztlichen Gesamtbedarf einer Abteilung wider und stellt die patienten- und aufgabengerechte ärztliche Personalausstattung sicher. Dies wird wesentlich zu einer Verbesserung der Weiterbildungssituation beitragen, da mehr Zeit für Weiterbildung vorhanden sein wird. Ein weiterer Aspekt dabei könnte eine Verringerung der Teilzeittätigkeit von Ärztinnen und Ärzten sein, falls mit einer besseren Personalausstattung geplante Arbeitszeiten verlässlich eingehalten werden. Darüber hinaus können qualifizierte, auch akademisierte Gesundheitsberufe im ärztlichen Bereich Entlastung bewirken und damit Ressourcen für die Weiterbildung schaffen.

Die Lösungen auf die skizzierten Herausforderungen können nur gemeinsam umgesetzt werden. Dazu bedarf es einer engen Zusammenarbeit zwischen Ärztekammern, den jeweiligen Fachgesellschaften und Berufsverbänden. Diese findet zurzeit im Rahmen der Weiterentwicklung der (Muster-)Weiterbildungsordnung statt unter Einbezug der sich weiterbildenden Ärztinnen und Ärzte der jeweiligen Fachgruppe, da es diese am meisten betrifft. Nachfolgend sind auch die weiteren Akteure im deutschen Gesundheitswesen, die Politik und die Gesellschaft gefragt. Eine qualitativ hochwertige und quantitativ ausreichende ärztliche Versorgung in Deutschland auf Facharztniveau ist nur zukunftssicher, wenn eine gute ärztliche Weiterbildung erfolgt und eine wertschätzende Weiterbildungskultur gelebt wird.

DHG-Hernientage Herniamed Studientreffen

online, 15. – 16. Mai 2025

Hernienoperationen zählen zu den weltweit häufigsten allgemeinchirurgischen Eingriffen, die für viele Chirurginnen und Chirurgen zum Alltag gehören. BDC-Mitglieder und Mitglieder der Deutschen Herniengesellschaft (DHG) erhalten die reduzierte Teilnahmegebühr. Den Einwahl-Link zum Webinar erhalten Sie am Freitag vor dem Webinar per E-Mail.

Informationen und Anmeldung…

BDC|Akademie

Prof. Dr. med. Henrik Herrmann

Präsident Ärztekammer Schleswig-Holstein

Bismarckalle 8-12

23795 Bad Segeberg

Henrik.Herrmann@aeksh.de

Chirurgie

Herrmann H: Rolle der Weiterbildung in der Krankenhausreform. Passion Chirurgie.
2025 April; 15(04): Artikel 03_04.

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Krankenhausplanung und -finanzierung anhand von Leistungsgruppen – wird nun alles besser?

Eine Analyse zum Systemstart in NRW am 01.04.2025

Krankenhausplanung ist eine Teamleistung. Das auf Leistungsgruppen basierende Planungsverfahren in NRW wurde in einem mehrjährigen Prozess durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW unter einer intensiven Beteiligung des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft NRW, der Verbände der Krankenkassen, der kommunalen Spitzenverbände, der Ärztekammern in NRW, der Pflegekammer NRW, der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen, der Katholischen Kirche, der Evangelischen Landeskirche, des Verbandes der privaten Krankenversicherung, der Landschaftsverbände in NRW und der Psychotherapeutenkammer NRW entwickelt. Neben einer hohen zweistelligen Anzahl von Gremiensitzungen durch die oben genannten Institutionen und ergänzenden schriftlichen Abstimmungen, wurden in regelmäßigen Abständen umfangreiche Auswirkungsanalysen unter Zuhilfenahme des Datensatzes nach § 21 KHEntgG, detaillierter Strukturdaten zu allen Krankenhausstandorten in NRW und Statistiken der Ärztekammern in NRW zu den Fachärztinnen/Fachärzten durchgeführt sowie die medizinischen Fachgesellschaften in einem Stellungnahmeverfahren angehört. Dieses partizipative und datenbasierte Vorgehen war und ist die Grundlage für einen gemeinschaftlich getragenen und im April 2022 veröffentlichten „Krankenhausplan Nordrhein-Westfalen 2022. Die Strukturen müssen für die Menschen da sein, nicht die Menschen für die Strukturen!“.

Die insgesamt 60 somatischen und vier psychiatrisch-psychosomatischen Leistungsgruppen ermöglichen einen evolutionären und unbürokratischen Systemumstieg in NRW, weg von einer Bettenplanung hin zu einer Leistungsgruppensystematik, die den regionalen Versorgungsbedarf der Bevölkerung sowie landeseinheitliche Qualitätskriterien sorgfältig und angemessen berücksichtigt. Der hiermit einhergehende Transformationsprozess soll qualitätsgesicherte und etablierte Versorgungsstrukturen bewahren und dort, wo Verbesserungspotentiale bestehen, zu strukturierten Veränderungen führen.

Die Auswahl der Leistungsgruppen orientierte sich an der jeweiligen Behandlungsschwere, der Behandlungshäufigkeit und dem hiermit einhergehenden strukturellen und finanziellen Ressourcenbedarf. Im Ergebnis konnten sich die Prozessbeteiligten auf die dringlichsten stationären Versorgungsaufgaben in NRW verständigen und diese in Leistungsgruppen überführen. Die für jede Leistungsgruppe definierten Qualitätsmerkmale verfolgen nicht den Ansatz einer allumfassenden Abbildung von der initialen Diagnostik bis hin zur idealerweise vollständigen Genesung/Heilung der Patientinnen und Patienten, sondern fokussieren sich auf die jeweiligen stationären Kernprozesse.

Die Definition der Leistungsgruppen, das heißt die Beschreibung der leistungsgruppenspezifischen Patientenkollektive führte zu einer realitätsnahen Balance aus allgemeinen und spezifischen Leistungsgruppen. Die Leistungsgruppen der „Allgemeinen Inneren Medizin“, der „Allgemeinen Chirurgie“ und die anderen allgemeinen Leistungsgruppen ergeben sich aus den Weiterbildungsordnungen für Ärztinnen und Ärzte der Ärztekammern in NRW. Spezifische Leistungsgruppen richten sich nach den Operationen- und Prozedurenschlüsseln nach § 301 SGB V, der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems der Weltgesundheitsorganisation und anderen geeigneten Merkmalen (zum Beispiel das Alter der Patientinnen und Patienten). In diesem Zusammenhang waren die Versorgungsqualität, der Erhalt der ärztlichen und pflegerischen Aus- und Weiterbildung, die Mobilität der Mitarbeitenden sowie die Wirtschaftlichkeit, aber auch die Erkenntnis einer mangelnden Abgrenzbarkeit zahlreicher Behandlungsfälle (unter anderem welcher Fall gehört in die Leistungsgruppe „Allgemeine Innere Medizin“ oder in die Leistungsgruppe „komplexe Gastroenterologie“, welcher Fall gehört in die Leistungsgruppe „Allgemeine Chirurgie“ oder in die Leistungsgruppe „Kinder- und Jugendchirurgie“) und die Pseudo-Genauigkeit einer strengen Fallzuteilung über OPS- und ICD-Kodes handlungsleitend.

Die Versorgungspartner in NRW waren und sind sich einig, dass zunächst die 60 somatischen und vier psychiatrisch-psychosomatischen Leistungsgruppen in regionalen Planungsverfahren in einem größtmöglichen Konsens eingeführt und deren Wirkung auf die Versorgung zeitnah evaluiert werden sollen. In diesem Zusammenhang können bedarfsnotwendige und nicht zeitlich befristete Ausnahmen zur Anwendung kommen. Ein starres, theoretisch-algorithmisches Verfahren würde eine passgenaue Ausrichtung der Versorgungsstrukturen an die regionalen Bedarfe und Möglichkeiten verhindern. Die im Rahmen der konkreten Umsetzung des Krankenhausplans gewonnenen Erkenntnisse sollen für eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Leistungsgruppen im Sinne eines „Lernenden Systems“ genutzt werden. Auch hierbei soll nicht das abstrakte Ziel einer möglichst kleinteiligen und hochdifferenzierten Systementwicklung, die an einer Maximierung der Anzahl der Leistungsgruppen orientiert ist, angestrebt werden, sondern versorgungsnotwendige Entwicklungen im Vordergrund stehen.

Die Planungsverfahren wurden mittlerweile mit dem Versand der Feststellungsbescheide am 16.12.2024 beendet. Der Systemstart ist auf den 01.04.2025 datiert. Für zehn Leistungsgruppen (EPU/Ablation, Interventionelle Kardiologie, Kardiale Devices, Bauchaortenaneurysma, Carotis operativ/interventionell, Endoprothetik Hüfte, Endoprothetik Knie, Wirbelsäuleneingriffe, Bariatrische Chirurgie, Stroke Unit) besteht eine Übergangsfrist bis zum 31.12.2025.

Relevante Abweichungen von diesem Vorgehen führen zu nicht kalkulierbaren Risiken für die stationären Versorgungsstrukturen in den Bundesländern, da diese weder mit den in den Bundesländern Versorgungsverantwortung tragenden Institutionen abgestimmt sind noch diesbezüglich aussagekräftige und umfassende Auswirkungsanalysen vorliegen.

Eine deutliche Veränderung der Leistungsgruppen-Systematik aus NRW ergibt sich aus den unrealistischen Anforderungen des KHVVG an die Anzahl der Fachärztinnen/Fachärzte in den jeweiligen Leistungsgruppen, geänderten Mindestmerkmalen der NRW-Leistungsgruppen, fünf ergänzenden Leistungsgruppen, deren Sinnhaftigkeit sich nicht unmittelbar erschließt, den sogenannten onkochirurgischen Fallkonstellationen (Indikationsbereiche) und den Mindestvorhaltezahlen des KHVVG.

Die beiden letztgenannten Instrumente können als eine neue Form der Mindestmengen, die üblicherweise in einem streng reglementierten und wissenschaftlich fundierten Verfahren beim Gemeinsamen Bundesausschuss entwickelt werden oder als verdeckte zusätzliche Leistungsgruppen, die sich ausschließlich an der Fallzahl orientieren, verstanden werden. Das Ziel ist eine Zwangsverlagerung dieser Behandlungsfälle durch eine finanzielle Sanktionierung (Unterschreitung der Grenzzahl der onkochirurgischen Indikationsbereiche = Verlust der Rest-DRG, Unterschreitung der LG-spezifischen Mindestvorhaltezahlen = Verlust der Vorhaltefinanzierung). Das KHVVG liefert keinerlei wissenschaftliche Begründung für dieses Vorgehen, das erheblich in die Planungshoheit der Bundesländer eingreift.

Unabhängig von den kurz skizierten medizinisch-inhaltlichen und methodischen Kritikpunkten am KHVVG, ist dieses vollkommen ungeeignet, die finanziellen Herausforderungen der Krankenhäuser kurz- bis mittelfristig zu lösen. Eine Brückenfinanzierung zum Ausgleich der inflationsbedingten Defizite der Krankenhäuser ist unverändert von einer elementaren Bedeutung. Parallel hierzu muss das System der Betriebskostenfinanzierung der Krankenhäuser vollständig überdacht und reformiert werden. Die Vorhaltefinanzierung des KHVVG führt zu keiner Existenzsicherung insbesondere kleiner Krankenhäuser, geht bei einer Fallzahlsteigerung bei größeren Einrichtungen zunächst mit einem Erlösverlust einher, ersetzt nicht die DRGs, stellt einen erneuten Aufwuchs erheblicher bürokratischer Lasten dar und setzt zusätzliche Fehlanreize [1]. Im Ergebnis handelt es sich bei der Vorhaltefinanzierung des KHVVG um eine fallzahlabhängige Finanzierungsform, die zudem noch hochkomplex und hochbürokratisch ausgestaltet ist.

Insofern sollten stattdessen für eine Übergangszeit aktuell bereits existierende fallzahlunabhängige Finanzierungsformen über eine Anhebung bereits bestehender Zuschlagssysteme (z. B. „Notfallstufenzuschläge“, „Sicherstellungszuschläge-Regelungen“, „Zentrumszuschläge“) erwogen und parallel hierzu durch die Selbstverwaltungspartner eine grundlegende Anpassung der Betriebskostenfinanzierung erarbeitet werden. Ziel sollte dabei eine deutlich fallzahlunabhängiger als bislang ausgestaltete Finanzierung apparativer und personeller Ausstattungen für die Patientenversorgung sein. Der regelmäßige Liquiditätsfluss an die Krankenhäuser unabhängig vom tatsächlichen Fallabrechnungs- und Fallüberprüfungsgeschehen, z. B. in Form fallunabhängiger Abschlagszahlungen auf das Krankenhausbudget, sollte ebenfalls in den Blick genommen werden. Dies würde im Übrigen auch zur Krisenresilienz der Krankenhäuser beitragen (Fallzahleinbruch in der Corona-Pandemie). Wichtig ist bei alledem, dass eine Anpassung der Betriebskostenfinanzierung in der praktischen Umsetzung einfach zu handhaben ist und keine neuen Bürokratie- und Meldepflichten ausgelöst werden.

Neben einer dringend notwendigen Reformierung der Betriebskostenfinanzierung durch den Bund besteht weiterhin eine nicht ausreichende Investitionskostenfinanzierung durch die Bundesländer. Die Länder haben dies erkannt und streben eine Erhöhung dieser zweiten Säule der Krankenhausfinanzierung an. Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang angeführt werden, dass die Investitionsmittel in NRW in den letzten Jahren erhöht wurden. So stellt das Land NRW konkret zur Umsetzung des neuen Krankenhausplans bis zum Jahr 2030 insgesamt 2,5 Mrd. Euro zur Verfügung.

Schlussendlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass die immer weiter steigenden Bürokratielasten einen entscheidenden Kostenfaktor im Gesundheitssystem darstellen. Trotz zahlreicher Ankündigungen des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG), durch das KHVVG maßgeblich zu einem Bürokratieabbau beizutragen, ist bedauerlicherweise das Gegenteil der Fall. Die 55 konkreten Vorschläge der Deutschen Krankenhausgesellschaft zu einer Entbürokratisierung der stationären Versorgung fanden leider keine Berücksichtigung durch das BMG und müssen zwingend durch eine neue Bundesregierung aufgegriffen und umgesetzt werden [2].

Literatur

[1]   Hansis E., Dahnke H. (2024) Datenbasierte Folgenabschätzung Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG), https://www.vebeto.de/khvvg, letzter Aufruf am 07.01.2025
[2]   Deutsche Krankenhausgesellschaft (2024) Drei verlorene Stunden für die Patientenversorgung – Bürokratie frisst Zeit und verschärft das Fachkräfteproblem, https://www.dkgev.de/dkg/presse/details/drei-verlorene-stunden-fuer-die-patientenversorgung-buerokratie-frisst-zeit-und-verschaerft-das-fachkraefteproblem/, letzter Aufruf am 07.01.2025

Peter-Johann May

Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen e. V.

Düsseldorf

pmay@kgnw.de

Chirurgie

May PJ: Krankenhausplanung und -finanzierung anhand von Leistungsgruppen – wird nun alles besser? Passion Chirurgie. 2025 April; 15(04): Artikel 03_05.

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Fachkräftemangel – ein nationenübergreifendes Problem

Gedanken aus der Schweiz

In der Schweiz leben um die (rund) 9 Millionen Einwohner, also die Hälfte des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Deutschlands, Nordrhein-Westfalen. Deutschland ist in jeder Hinsicht mit Abstand der wichtigste Partner der Schweiz. 70 % der Schweizerinnen und Schweizer sprechen deutsch und haben somit die gleiche Sprache und Kultur. Gegen 340.000 deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger leben dauerhaft in der Schweiz. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz ist das Gesundheitswesen föderalistisch strukturiert (Bundesländer, beziehungsweise Kantone). Gemäß Umfragen besteht vermehrt der Wunsch nach Teilzeitarbeit, der Leistungsdruck in den Spitälern steigt, viele Kliniken haben offene Stellen [1]. Zahlreiche Ärztinnen und Ärzte der Baby-Boomer-Generation erreichen das Rentenalter und ziehen sich aus dem aktiven Berufsleben zurück. In den vergangenen Jahren sind Gesetze in Kraft getreten, die eine Reduktion der Arbeitszeit verlangen, was den Fachkräftemangel akzentuiert. Durch die Reduktion der Arbeitszeit wird die Ausbildung in chirurgischen Fächern nicht gerade erleichtert. Wie sollen die Facharztkandidatinnen und -kandidaten in der üblichen Weiterbildungszeit noch genügend operative Routine erlangen? Die Ausbildungsdauer nimmt tendenziell zu.

Status quo

Die zu lösenden Probleme sind nebst ungebremstem Kostenanstieg hauptsächlich zunehmender Fachkräftemangel, also in beiden Ländern fast identisch. Dennoch gibt es einige gewichtige Unterschiede.

In der Schweiz sind ungefähr 40.000 Ärztinnen und Ärzte tätig, wovon 40 % ihr Medizinstudium im Ausland absolviert haben, die Hälfte davon in Deutschland. Ohne „Support“ unserer Nachbarländer müsste in der medizinischen Versorgung in der Schweiz der Notstand ausgerufen werden. Im Jahr 2040 sollen nach Schätzungen 5.000 Ärztinnen und Ärzte fehlen. Endlich reagiert die Schweizer Politik und will die Medizinstudienplätze markant erhöhen. Unlängst hat das eidgenössische Parlament in Bern die Abschaffung der umstrittenen Eignungsprüfung (eine Art Numerus clausus) beschlossen, an welcher mehr als die Hälfte der Kandidatinnen und Kandidaten für das Medizinstudium scheiterten. Wie viele dennoch geeignete Studentinnen und Studenten in den vergangenen Jahren an diesem Examen hängen geblieben sind, bleibt für immer ein Geheimnis.

Vom Beginn des Studiums dauert es mindestens 12 Jahre bis die Facharztausbildung abgeschlossen ist und die neuen Kolleginnen und Kollegen einigermaßen eigenverantwortlich handeln können. Kurzfristig sind die Anstrengungen, mehr Studentinnen und Studenten zum Medizinstudium zu animieren keine Option.

Als kurzfristig wirksame Maßnahme bleibt lediglich der Versuch, ausgebildete Ärztinnen und Ärzte vom Ausstieg aus der Medizin abzuhalten. Präzise Zahlen existieren nicht. Es wird vermutet, dass bis zu 30 % im Verlaufe der Jahre vorzeitig der Medizin den Rücken kehren. Die Gründe mögen vielfältig sein: Frauen, die aus familiären Gründen ausscheiden, weil vielerorts keine geeigneten Teilzeitmodelle angeboten werden, sowie jüngere Kolleginnen und Kollegen, die sich infolge allseits anerkanntem Bürokratiewahnsinn enttäuscht abwenden, weil sie mehr Zeit vor dem Computer verbringen als im Kontakt mit Patientinnen und Patienten. Allgemein akzeptiertes Anliegen unter Spitalärztinnen und Spitalärzten ist der dringende Wunsch, die ausgeuferte Bürokratie zu straffen.

Mentoringprojekt

Die Ausbildung auf Assistenzarztniveau in der Schweiz gilt offiziell als gut. Gemäß den jährlichen Umfragen von der FMH (Foederatio Medicorum Helveticorum, entspricht der Deutschen Bundesärztekammer) und dem Schweizerischen Institut für Weiter- und Fortbildung (SIWF) schließt die Globalbeurteilung von 648 ausgewerteten Fragebögen für das Fach Chirurgie im Jahr 2023 mit der Note 4.5 ab (6 wäre die beste Note). Verbesserungspotential ist also sicherlich vorhanden. Das SIWF ist ein Tochterunternehmen der FMH. Es ist verantwortlich und zuständig für die Facharztausbildung und erteilt die entsprechenden Diplome [2].

Ziel einer guten Ausbildung ist die Vermittlung von Kompetenzen. Gute Ausbildung hängt wesentlich von Mentorinnen und Mentoren ab. Eine Möglichkeit, die bis heute noch wenig praktiziert wird, ist der Teilzeiteinsatz von emeritierten Chefärztinnen und Chefärzten in der Notfallstation.

Schweizweit sind gemäß offizieller Statistik 1.226 Assistenzärztinnenstellen und Assistenzarztstellen für chirurgische Disziplinen verfügbar. Diese sind mit 648 Facharztanwärterinnen und -anwärtern besetzt, 434 übrigens mit Diplom aus einem EU-Staat [2]. Schweizer Randregionen bekunden oft Mühe, die verfügbaren Stellen zu belegen. Mit Mentoring-Projekten kann das Interesse und die Freude junger Leute am Beruf nachweislich gefördert werden. Im Spital Samedan, einem Regionalspital der erweiterten Grundversorgung im peripher gelegenen Engadin, einer bekannten und sowohl im Winter als auch im Sommer gut frequentierten alpinen Tourismusregion, sind zwei der Autoren (HPS, PB), beides pensionierte Chefärzte, je einmal monatlich für ein verlängertes Wochenende im chirurgischen Notfall tätig und decken somit etwaige Tage ab. Es ist unser Ehrgeiz, jede Patientin/jeden Patienten, die/der in die chirurgische Notfallstation eingeliefert wird oder sich als „walk-in-patient“ vorstellt, mit der zuständigen Assistentin/dem zuständigen Assistenten interaktiv zu beurteilen, die Diagnostik abzuschließen und Therapievorschläge zu erarbeiten. Kleinere Eingriffe, teilweise auch solche in Narkose, wie Wundversorgungen, Repositionen von luxierten Gelenken sowie Einlage von Thoraxdrainagen, werden zusammen oder unter Aufsicht vorgenommen. Durch diese enge Betreuung nach dem Prinzip des „Clinical Reasoning“ wird nicht nur die klinische Ausbildung deutlich verbessert, sondern auch Qualität und Effizienz im Betrieb [3–7]. Zudem wird das Pflegefachpersonal und das ärztliche Kader entlastet, was in einem Tourismusort wie Samedan mit teilweise extremen Spitzenbelastungen sehr erwünscht ist. Wir bemühen uns zudem, der Empfehlung von Hauke Lang, dem ehemaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu folgen: „Die beste Investition in die nächste chirurgische Generation ist die Lehre, die für das Fach begeistert. Es muss gelingen, junge Menschen für die Chirurgie zu faszinieren, nicht nur verbal, sondern durch Begleitung im Alltag.“ Die pensionierten Chefärzte sind ausschließlich für die Notfallstation zuständig. Sie haben keine anderen Aufgaben, sind also nicht dauernd auf Visite, in der Sprechstunde oder im OP und schwer erreichbar. Im Weiteren erteilen sie interaktive Fortbildungen und beantworten gerne die zahlreichen Fragen, welche die meist jungen, noch unerfahrenen Kolleginnen gen haben.

Aus Sicht des amtierenden Chefarztes ist es eine Herausforderung, eine chirurgische Klinik in einer attraktiven Tourismusregion zu führen. Die Personaleinsatzplanung wird durch erhebliche saison- und wetterbdingte Schwankungen erschwert. In einem Tal mit 20.000 permanenten Einwohnerinnen und Einwohnern tummeln sich plötzlich 120.000 Personen, die oft sportlichen Aktivitäten frönen.

Unser Mentoringprojekt wird allseits geschätzt. Es wurde 2024 vom Schweizerischen Institut für Weiter- und Fortbildung (SIWF) mit einem Award für besonders gute Weiterbildung ausgezeichnet. Solche Projekte eignen sich vor allem für Regionalspitäler, die etwa für die Hälfte der medizinischen Versorgung in der Schweiz verantwortlich sind. Die großen Kliniken brauchen solche Projekte eher nicht, weil sie genügend Manpower haben. Die optimierte Weiterbildung durch dieses Mentoringprojekt hat sich herumgesprochen, da auch in den Medien darüber berichtet wurde. Das hat dazu geführt, dass die Anzahl Bewerbungen um Assistentinnen- und Assistentenstellen, insbesondere durch ehemalige Unterassistentinnen und -assistenten (entspricht dem praktischen Jahr PJ) an der Klinik für Chirurgie in Samedan deutlich angestiegen ist.

Es gäbe wohl genügend Mentorinnen und Mentoren

Zahlreiche Ärztinnen und Ärzte sind nach dem in der Schweiz mit 65 Jahren üblichen Eintritt ins Rentenalter nicht ausgebrannt und wären wohl gewillt und bereit, sich in Mentoringprojekten zu engagieren.

Besonders wichtig ist unseres Erachtens die Begleitung von Universitätsabgängerinnen und -abgängern, um ihnen den Übergang vom Studium zu selbstverantwortlichem Arbeiten zu erleichtern [8]. Unser Feedback deutet klar darauf hin, dass die jungen Kolleginnen und Kollegen ihren Notfalldienst bei unserer Präsenz und steten Verfügbarkeit vollkommen stressfrei bewältigen können. Unsere persönliche langjährige Erfahrung deckt sich mit den Resultaten einer nicht repräsentativen Umfrage unter den neun Assistentinnen und Assistenten der Chirurgischen Klinik am Spital Samedan. Die junge Generation ist hochmotiviert und bereit, bei Patientinnen und Patienten vollen Einsatz zu leisten. Teilzeitarbeit ist derzeit noch keine Option, käme allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt für Frauen mit familiären Verpflichtungen in Frage oder könnte sehr erwünscht sein.

In grauen Vorzeiten hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass Frauen für die chirurgischen Fächer eher nicht geeignet sind. Dies haben glücklicherweise begabte Chirurginnen längst widerlegt. Wir sind geneigt, zu diesem Gerücht den früheren deutschen Staatsmann Helmut Schmidt zu zitieren, der einmal (allerdings in anderem Zusammenhang) gesagt haben soll: „Das ist so falsch, dass nicht einmal das Gegenteil davon richtig ist“.

Sollten alle geplanten und gestarteten Maßnahmen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels scheitern, kann die Schweiz das tun, was sich bei Eishockey- und Fussballteams bewährt hat, wenn die eigene Nachwuchsabteilung nicht genügend Kaderspieler oder -spielerinnen hergibt: Auf dem Transfermarkt mit hohen Löhnen Spieler von anderen Clubs abwerben. Die Schweizer Spitallandschaft müsste attraktivere Arbeitsbedingungen, insbesondere für Frauen, schaffen und hohe Löhne zahlen. Dadurch ließen sich weiterhin Ärztinnen und Ärzte aus unseren Nachbarländern dazu animieren, in die Schweiz zu ziehen. Das ist nicht gerade ein freundnachbarliches Verhalten, aber möglicherweise zielführend. Mit diesen Methoden könnte das berühmte Merkel Zitat „wir schaffen das“ Gültigkeit erlangen.

Fazit

Der drohende Fachkräftemangel in chirurgischen Fächern nimmt sehr konkrete Formen an und wird sich in naher Zukunft noch drastisch verschärfen, weil die Babyboomer-Generation sich nach und nach aus dem aktiven Berufsleben zurückzieht. Die Nachwuchsförderung hat nicht rechtzeitig eingesetzt und nimmt bei nun erkanntem Problem mindestens 12 bis 15 Jahre in Anspruch, sodass die Schweiz über einen längeren Zeitraum dringend auf „freundnachbarliche Hilfe“ angewiesen bleibt. Als kurzfristige Option bleibt einzig der Versuch, aktive Ärztinnen und Ärzte vom Ausstieg aus der Medizin abzuhalten. Eine in kleinem Rahmen erprobte Möglichkeit ist der Teilzeiteinsatz von emeritierten Chefärztinnen und Chefärzten, beispielsweise in Notfallstationen, um junge Kolleginnen und Kollegen für die schönen und sehr befriedigenden chirurgischen Fächer zu begeistern.

Literatur

[1]   Rudert M, Ruchholtz S, Blätzinger M, Schädel-Höpfner M, Böcker W, Pennig D. Wie steht es um unseren Nachwuchs? Stellensituation in O und U für das Jahr 2023. Orthopädie und Unfallchirurgie 2023; 13: 22-23
[2]   https://www.siwf.ch/weiterbildungsstaetten/umfrage-assistenzaerzte.cfm
[3]   Biegger P, Conti M, Jäggi Chr, Schmitt H, Simmen H.P. Regionalspital geht neue Wege. SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG 2023;104(3):38-40
[4]   Guerra A, Biegger P. La formazione medica necessita miglioramenti? Se si, come? Esperienza all’Ospedale Regionale di Bellinzona e Valli. Tribuna medica ticinese 86 Novembre-Dicembre 2021
[5]   Biegger P. Überlegungen und Praxis in der Ausbildung der Humanmedizin SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG 2018;99(51–52):1843–1846
[6]   Biegger P. Braucht die medizinische Ausbildung einen Paradigmenwechsel? SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG 2016;97(21):764–766
[7]   Bowen JL. Educational strategies to promote clinical diagnostic reasoning. NEJM 355; 21:2217-2229
[8]   Luchsinger L, Berthold A, Bauerc W, Brodmann Maederd M, Siegrist M. Vom Studium in den Alltag als Arzt und Ärztin in Weiterbildung. SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG 2021;102(29–30):944–947

Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. Hans-Peter Simmen

Professor emeritus für Chirurgie Universität Zürich

Ehemaliger Direktor der Klinik für Unfallchirurgie

Universitätsspital Zürich

Via Veglia 38

CH-7503 Samedan

hans-peter.simmen@uzh.ch

Paul Biegger

Ehemaliger Chefarzt

Reparto di Chirurgia

Ospedale La Carità

CH-6900 Locarno

Michel Conti

Chefarzt

Klinik für Chirurgie

Spital Oberengadin

CH-7503 Samedan

Panorama

Simmen HP, Conti M, Biegger P: Fachkräftemangel – ein nationenübergreifendes Problem. Gedanken aus der Schweiz.
Passion Chirurgie. 2025 April; 15(04):
Artikel 09.

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