01.03.2021 Panorama
Nonsensus in der Behandlung proximaler Humerusfrakturen?

Eine unkontrollierte, verblindete, vergleichende Verhaltensanalyse zwischen Homo chirurgicus accidentus und Macaca sylvanus
Proximale Humerusfrakturen (PHF) sind häufig und machen etwa 6 Prozent aller Frakturen des Erwachsenen aus. Schätzungsweise 70 Prozent dieser Frakturen treten nach dem 60. Lebensjahr auf mit einer Inzidenzspitze jenseits des 80. Lebensjahres [1]. Obwohl die proximale Humerusfraktur zu den häufigsten Frakturen mit steigender Inzidenz gehört, erlaubt die aktuelle Datenlage keine Empfehlung eines standardisierten, evidenzbasierten Behandlungsschemas.
Wenngleich bekannt ist, dass der Großteil dieser Frakturen (etwa 75 Prozent) konservativ mit akzeptablem funktionellem Ergebnis behandelt werden kann, unterstreichen internationale genauso wie nationale Unterschiede in der Behandlungsmodalität mit Operationsraten weit über 25 Prozent in einigen Institutionen nicht nur ein unklares und uneinheitliches Therapieregime, sondern auch den fehlenden Konsens in der Behandlung dieser häufigen Verletzung [1–3].
So konnte anhand einer großen Stichprobenanalyse von Daten des öffentlichen und bundesstaatlichen US-amerikanischen Krankenversicherers Medicare gezeigt werden, dass es zwischen 1999 bis 2005 zu einem relativen Anstieg der operativen Prozeduren bei geriatrischen Patienten um 25 Prozent kam, ohne dass man einen entsprechenden Anstieg in der Inzidenz dieser Patientengruppe ermitteln konnte. Ferner konnten die Autoren signifikante regionale Unterschiede in der operativen Versorgungsrate beobachten (0-68%), die nicht mit regionalen Inzidenzunterschieden gerechtfertigt werden konnte. Die Autoren der Studie sahen den mangelnden wissenschaftlichen Konsens in der Behandlung dieser Frakturen als wesentliche Ursache für die erhebliche Variabilität in der Versorgungsrate und zogen Vergleiche mit der nahezu bundesweit einheitlichen Versorgung der hüftgelenknahen Femurfraktur, bei der ein vergleichsweise stärkerer Konsens hinsichtlich der Behandlungsmodalität herrschen würde [4, 5].
Für die Bundesrepublik ergibt sich gemäß einer aktuellen Versorgungs- und Trendanalyse aus den Zahlen des Statistischen Bundesamtes, dass die operative Versorgungsrate zwischen 2007 bis 2016 um 38,8 Prozent bei einer Gesamtzahl von 642.556 stationär behandelten Fällen gestiegen ist [6]. Führendes Verfahren sei dabei mit 49% die winkelstabile Plattenosteosynthese, gefolgt von der Marknagelosteosynthese (20%), der Teilprothese (7,5%), Kirschner-Draht Fixierung (6,4%) und der inversen Schulterprothese (5,6%).
Fast 70 Prozent aller operativen Prozeduren seien dabei an geriatrischen Patienten durchgeführt worden ungeachtet dessen, dass eine Reihe von randomisierten Studien und Metaanalysen bisher keine Überlegenheit der operativen gegenüber einer konservativen Therapie belegen konnten, insbesondere beim am häufigsten betroffenen geriatrischen Patienten [3, 6-11]. Während erst kürzlich eine weiterhin stetig hohe Gesamtkomplikationsrate von über 40 Prozent und Revisionsraten von 12 Prozent für die Plattenosteosynthese beschrieben wurde, ist dieses OP-Verfahren, welches in der Bundesrepublik über 70 Prozent aller operativen Prozeduren ausmacht, bereits lange zuvor als unabhängiger Risikofaktor für stationäre Begleitkomplikationen sowie erhöhter Mortalität des geriatrischen Patienten im Gegensatz zur konservativen Therapie identifiziert worden [12–14].
Doch es gibt in dieser als aussichtslos erscheinenden Versorgungslage durchaus noch Hoffnung. Tief im Thüringer Becken zwischen den Bundsandstein-Formationen der Windleite und den bewaldeten Muschelkalk-Höhenzügen der Hainleite haust eine vielversprechende Spezies in einem der größten Freilaufgehege Europas: der Berberaffe (Macaca sylvanus) (Abbildung 1). Neben der menschlichen Spezies die einzige freilebende Primatenart in Europa und neben geriatrischen Patienten*innen mit proximaler Humerusfraktur wahrscheinlich eine der am stärksten bedrohten Spezies der Welt.
Abb. 1: Macaca sylvanus und Homo chirurgicus accidentus in einem wissenschaftlichen Diskurs über die Prinzipien der proximalen Humerusfraktur.
Die Unfallchirurgische Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover hat in einer aktuellen Studie eine vergleichende Verhaltensanalyse durchgeführt, um herauszufinden, ob diese vielversprechende Spezies in der Behandlung von PHFen möglicherweise eine bessere Interrater-Reliabilität aufweist als eine Gruppe von Experten und somit künftig als wertvolle Hilfe in Therapie-Entscheidungsprozesse mit eingebunden werden könnte.
Hierfür wurden in einer anonymen Online-Umfrage freiwillige Experten auf dem Gebiet der oberen Extremität aus den USA und Deutschland zu neun willkürlich ausgewählten Fällen von PHFen befragt. Unter anderem sollte neben der empfohlenen Therapie (konservativ vs. operativ) die bestmögliche OP-Methode bestimmt sowie darüber hinaus das Outcome nach konservativer Therapie geschätzt werden. Selbiges wurde in einem der größten Affen-Freilaufgehege Europas an einer Gruppe anonymer Berberaffen unter anderem mit Hilfe von validierten und international anerkannten Ratingskalen (Abbildung 2) sowie als Poster ausgedruckten Bildgebungen (Röntgen, CT) mit Eckdaten der Patienten durchgeführt. Eine gleichmäßig dosierte Melange aus Sultaninen, Erdnüssen und kalifornischen Walnüssen diente dabei als sogenanntes „environmental enrichment“ in den Ratingskalen, um die Präferenzen in der Primatengruppe zu beurteilen. Ermittelt wurde letztlich die Fleiss‘ Kappa als statistisches Maß für die Stärke der Einigkeit (Interrater-Reliabilität) in den beiden Gruppen.
Abb. 2: Eine der in dieser Verhaltensanalyse verwendeten validierten und international anerkannten Ratingskalen.
Während die Primaten eine unterlegene Interrater-Reliabilität in der Frage nach der empfohlenen Therapie (konservativ vs. operativ) aufwiesen, schnitten sie für die am häufigsten betroffene Patientengruppe (Alter > 65 Jahre) in der Frage nach empfohlener Therapie sowie bestmöglicher OP-Methode genauso schlecht ab wie die Expertengruppe. In der Outcome-Prädiktion konnten die Primaten hingegen tendenziell akkuratere Vorhersagen treffen. Nichtsdestotrotz ist zu erwähnen, dass diese Ergebnisse deutlichen Limitationen unterlagen. So mussten die Autoren in der Primatengruppe bei einigen Teilnehmern schwerwiegende Interessenskonflikte beobachten, die die Reliabilität dieser Spezies in Frage stellt (Abbildung 3). Ferner stellte sich rückblickend die gleichmäßig dosierte Melange aus Sultaninen, Erdnüssen und kalifornischen Walnüssen als „environmental enrichment“ als eine unglückliche Wahl der Autoren heraus, da diese unterschiedlich stark von den Primaten präferiert wurden und deshalb die Ergebnisse einem erheblichen Selektionsbias unterlagen.
Abb. 3 a, b, c: Ein Seniorprimat mit schwerwiegenden Interessenskonflikten übt ein Bias auf einen Studienteilnehmer aus, weshalb sich dieser vermutlich für ein schwächeres Outcome entscheidet.
Ob diese Spezies tatsächlich künftig als wertvolle Hilfe in Therapie-Entscheidungsprozesse bei proximalen Humerusfrakturen mit eingebunden werden sollte, kann diese Verhaltensanalyse nicht abschließend klären. Weitere Studien sind hierfür erforderlich.
Das gesamte Ergebnis wie auch der weitere Inhalt dieser Studie ist in der Christmas Edition des British Medical Journal (BMJ) als Open-Access-Artikel veröffentlicht worden und kostenlos online auf der Seite www.bmj.com oder über https://dx.doi.org/10.1136/bmj.m4429 einsehbar.
Literatur
[1] Jawa, A. and D. Burnikel, Treatment of Proximal Humeral Fractures: A Critical Analysis Review. JBJS Rev, 2016. 4(1).
[2] Rikli, D., et al., High rate of maintaining self-dependence and low complication rate with a new treatment algorithm for proximal humeral fractures in the elderly population. J Shoulder Elbow Surg, 2020. 29(6): p. 1127-1135.
[3] Burkhart, K.J., et al., The treatment of proximal humeral fracture in adults. Dtsch Arztebl Int, 2013. 110(35-36): p. 591-7.
[4] Hawi, N., et al., [Proximal humeral fractures-Where do we stand today? : Comments on the “Proximal fracture of the humerus evaluation by randomization (PROFHER)” study]. Chirurg, 2018. 89(10): p. 832-836.
[5] Bell, J.E., et al., Trends and variation in incidence, surgical treatment, and repeat surgery of proximal humeral fractures in the elderly. J Bone Joint Surg Am, 2011. 93(2): p. 121-31.
[6] Klug, A., et al., Trends in surgical management of proximal humeral fractures in adults: a nationwide study of records in Germany from 2007 to 2016. Arch Orthop Trauma Surg, 2019. 139(12): p. 1713-1721.
[7] Beks, R.B., et al., Operative versus nonoperative treatment of proximal humeral fractures: a systematic review, meta-analysis, and comparison of observational studies and randomized controlled trials. J Shoulder Elbow Surg, 2018. 27(8): p. 1526-1534.
[8] Lopiz, Y., et al., Reverse shoulder arthroplasty versus nonoperative treatment for 3- or 4-part proximal humeral fractures in elderly patients: a prospective randomized controlled trial. J Shoulder Elbow Surg, 2019. 28(12): p. 2259-2271.
[9] Olerud, P., et al., Internal fixation versus nonoperative treatment of displaced 3-part proximal humeral fractures in elderly patients: a randomized controlled trial. J Shoulder Elbow Surg, 2011. 20(5): p. 747-55.
[10] Rangan, A., et al., Surgical vs nonsurgical treatment of adults with displaced fractures of the proximal humerus: the PROFHER randomized clinical trial. Jama, 2015. 313(10): p. 1037-47.
[11] Du, S., et al., Interventions for Treating 3- or 4-part proximal humeral fractures in elderly patient: A network meta-analysis of randomized controlled trials. Int J Surg, 2017. 48: p. 240-246.
[12] Barlow, J.D., et al., Locking plate fixation of proximal humerus fractures in patients older than 60 years continues to be associated with a high complication rate. J Shoulder Elbow Surg, 2020. 29(8): p. 1689-1694.
[13] Klug, A., et al., Complications after surgical treatment of proximal humerus fractures in the elderly-an analysis of complication patterns and risk factors for reverse shoulder arthroplasty and angular-stable plating. J Shoulder Elbow Surg, 2019. 28(9): p. 1674-1684.
[14] Neuhaus, V., et al., Treatment choice affects inpatient adverse events and mortality in older aged inpatients with an isolated fracture of the proximal humerus. J Shoulder Elbow Surg, 2014. 23(6): p. 800-6.
Razaeian S, Krettek C, Hawi N: Nonsensus in der Behandlung proximaler Humerusfrakturen? Passion Chirurgie. 2021 März; 11(03): Artikel 09_01.
Autoren des Artikels

Sam Razaeian
Medizinische Hochschule HannoverUnfallchirurgische KlinikCarl-Neuberg-Straße 130625Hannover kontaktieren
Prof. Dr. med. Christian Krettek
DirektorKlinik für UnfallchirurgieMedizinische Hochschule Hannover (MHH)Carl-Neuberg-Str. 130625Hannover kontaktieren
Prof. Dr. med. Nael Hawi
Medizinische Hochschule Hannover (MHH)Weitere aktuelle Artikel
01.12.2021 Aus-, Weiter- & Fortbildung
Einladung zum DCK 2022
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Pflegekräfte, Studierenden und Partner aus der Industrie, hiermit möchte ich Sie im Namen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zum 139. Kongress unserer Gesellschaft nach Leipzig (06. bis 08. April 2022) sehr herzlich einladen.
01.12.2021 Panorama
Fachkräftegewinnung in der Chirurgie
Deutsche Kliniken suchen Chirurginnen und Chirurgen. Aus dem Ausland kommende Ärzte finden es sehr attraktiv, in Deutschland in der Chirurgie zu arbeiten. Sehr begehrt ist auch die Möglichkeit, sich in Deutschland zum Facharzt für Chirurgie ausbilden zu lassen. Die gesundheitliche Versorgung ist auf höchstem Niveau, die Kompetenz von leitenden Chirurg/innen in der Ausbildung unbestritten. Ist es also einfach, sich aus dem Ausland kommend in einer deutschen Klinik zu bewerben und in der Chirurgie zu starten?
02.11.2021 Akademie aktuell
BDC|Akademie veröffentlicht Jahresprogramm 2022
Die Deutsche Akademie für Chirurgische Fort- und Weiterbildung des BDC bietet auch für das Jahr 2022 wieder ein umfassendes Programm an und lädt alle Interessierten herzlich zur Teilnahme an den vielfältigen Veranstaltungen ein.
01.11.2021 Panorama
Medical care in Kunduz, Afghanistan: Making it work
Die Kämpfe in der Stadt Kundus im Nordosten Afghanistans endeten am 8. August 2021. Während des Konflikts haben die Médecins Sans Frontières (MSF) ihr Büro in ein temporäres Traumazentrum umfunktioniert, um verwundete Menschen zu behandeln. Dieses Zentrum wurde geschlossen und am 16. August wurden die Patienten in das fast fertige Kundus Trauma Zentrum verlegt, das MSF seit 2018 erbaut. Die Menschen vor Ort brauchen weiterhin medizinische Hilfe. Ein Arzt in Team von MSF Kundus, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte, beschreibt seine Erlebnisse während der Kämpfe und wie seine Arbeit aussieht.
Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!
Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.