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Bericht von der 4. Herbsttagung des Landesverband BDC|Berlin und der ANC Berlin

Im Rahmen der 4. Herbsttagung des BDC|Berlin wurde am 21.11.2018 ein durchaus aktuelles und brisantes Thema im Rahmen einer im wahrsten Sinne des Wortes grenzüberschreitenden Podiumsdiskussion erörtert. Die Teilnehmer der internationalen Podiumsdiskussion waren:

  • •Dr. med. Eva Grogro, Fachärztin für Viszeralchirurgie, Vivantes Klinikum Neukölln, 1,5 Jahre Dänemark
  • Dr. med. Andrea Caletti, Facharzt für Chirurgie, plastische Chirurgie, Zentrum für Brandverletzte, Unfallkrankenhaus Berlin, 3 Jahre in Italien
  • Lutz Koch, FRCS Ed., Consultant Orthopaedic Surgeon, Spire Elland Hospital, West Yorkshire (United Kingdom) seit 15 Jahren in England (via Zoom-Videokonferenz aus England)
  • Dr. med. Andreas Weskott, FA für Chirurgie und Viszeralchirurgie Jönköpings län (Schweden), seit 7 Jahren in Schweden (via Zoom-Videokonferenz aus Schweden)

Bei der von Dr. Ralph Lorenz (1. Vorsitzender des Landesverbandes BDC|Berlin) moderierten Veranstaltung gab er zunächst im Rahmen eines Einführungsreferates einen Überblick über die Situation in Deutschland zu diesem Thema. Entsprechend der Daten aus der Bundesärztekammer steigt der Anteil der ausländischen Ärzte in Deutschland seit ca. zehn bis 15 Jahren kontinuierlich an. 2017 ist der Anteil auf inzwischen 11,8 Prozent angewachsen [2]. Waren es in den 90er Jahren jährlich nur 1.000 Ärzte sind es im Jahr 2017 bereits weit über 4.000 Ärzte, die jährlich nach Deutschland kommen (Abb. 1).

Abb. 1: Entwicklung der ausländischen Ärzte in Deutschland (Quelle: Bundesärztekammer).

Die größte Zuwanderung kam 2017 aus Europa (66,8 %), gefolgt von Asien (22,7 %) und von Afrika (6,8 %). Die wenigsten kamen aus Amerika mit 3,2 %. Dabei kam der größte Zustrom im Jahr 2017 aus:

  • Syrien (+ 737)
  • Rumänien (+ 220)
  • Serbien (+ 177)
  • Ägypten (+ 177)
  • Ukraine (+ 149)
  • Russland (+ 134)

In der Gesamtheit kommt die größte Zahl ausländischer Ärzte in Deutschland derzeit aus:

  • Rumänien (4.505)
  • Syrien (3.632)
  • Griechenland (3.147)
  • Österreich (2.642)

Seit 2015 gibt es bundesweit verpflichtend einen Sprachtest für alle Ausländer, die in Deutschland arbeiten wollen. Laut Medienberichten gibt es dabei jedoch eine nicht unerhebliche Durchfallquote von bis zu 36 % (Sachsen-Anhalt 2017).

Der entgegengesetzte Strom der Abwanderung deutscher Ärzte wird seit 2005 durch die Bundeärztekammer statistisch erfasst. Die Zahlen stagnieren derzeit bzw. sind leicht rückläufig. Im Jahr 2017 sind insgesamt 1.965 Ärzte aus Deutschland abgewandert, wovon der Anteil deutscher Ärzte 59,3 % beträgt. Die derzeitigen Abwanderungszahlen liegen derzeit auf dem Niveau von 2003. Zu den beliebtesten Auswanderungsländern gehörten 2017 erwartungsgemäß die Schweiz (- 641), Österreich (- 268) und die USA (- 84).

Vor welchem Hintergrund findet der wechselseitige Abwanderungsstrom statt?

Beim Vergleich des Studiums und der Weiterbildung in verschiedenen europäischen Ländern fallen bereits erhebliche Unterschiede auf. In fast allen europäischen Ländern bestehen Zulassungsbeschränkungen zum Medizinstudium [1]. Bereits bei den Studiengebühren gibt es erhebliche Unterschiede. Während in einigen Ländern wie Frankreich, Griechenland und Deutschland seit 2015 keine Studiengebühren erhoben werden, gibt es andere Länder, die zum Teil erhebliche Studiengebühren (Großbritannien, Schweiz) erheben. In Griechenland korreliert die höchste Arbeitslosenquote an Ärzten in Europa mit der größten Abwanderung aus Griechenland ins Ausland. In Polen scheint das Studium komplett privat finanziert zu sein, sodass eine chirurgische Weiterbildung sogar als unbezahltes Volontariat möglich und üblich scheint. Das Modell des Common Trunks als Basisweiterbildung ist nur in einigen Ländern umgesetzt. In Deutschland besteht sichtlich ein einzigartiges chirurgisches Weiterbildungssystem mit insgesamt acht chirurgischen Säulen nach dem Common Trunk. Diese scheint in keinem weiteren europäischen Land zu bestehen. Die chirurgische Weiterbildung kann demnach zwischen vier und zehn Jahren betragen.

Tab. 1: Vergleich des Studiums und der Weiterbildung in ausgewählten Ländern Europas [1]

D

CH

Austria

UK

F

Ita

Gr

NL

Pol

Studien-gebühren

Keine seit 2015

1000-8000 CHF/a

727 €/a

10.00 0€/ a

keine

850-1000 €/a

keine

1951 €/a

Privat finanziert

WB Dauer

6 J.

6 J.

6 J.

10 J.

4-5 J.

4-6 J.

6 J.

4 J.

6 J.

Common Trunk

+

+

+

+

Dr. Andrea Caletti, plastischer Chirurg aus dem Brandverletztenzentrum des Unfallkrankenhaus Berlin, berichtet, dass in Italien während der gesamten chirurgischen Weiterbildungszeit an allen Orten gleichermaßen ein Festgehalt von lediglich 1.700 Euro pro Monat gezahlt wird. Die Facharztweiterbildung ist grundsätzlich bis auf wenige Ausnahmen in universitärer Hand. Die Verteilung der Weiterbildungsstätten erfolgt nach einem festgelegten Leistungsprinzip im Land. Besonders herausragende Studenten haben die erste Wahl. Ärzte mit unterdurchschnittlichen Leistungen müssen am Ende das nehmen, was an Weiterbildungsstätten übrig bleibt. Die chirurgische Weiterbildung ist in der Regel nach spätestens sechs Jahren abgeschlossen. In Italien gibt es jedoch keine Facharztprüfung wie bei uns üblich.

Frau Dr. Eva Grogro, Fachärztin für Viszeralchirurgie aus dem Vivantes Klinikum Neukölln, berichtete über ihre anderthalbjährige Erfahrungen in Dänemark. Sie erlebte dort sehr wertschätzende und kollegiale Arbeitsbedingungen. Auch bezüglich der Sprache ist man es in Dänemark gewohnt, mit Ausländern zu kommunizieren, die nicht perfekt dänisch sprechen. Sie wurde dort rasch in das bestehende Team integriert. Besonderes Interesse fand die Tatsache, dass es in Dänemark keine Aufklärung gibt, wie wir es in unseren Kliniken und Praxen alltäglich kennen.

Beim Vergleich der Hierarchiestrukturen berichtete Lutz Koch, Unfallchirurg aus Berlin, der seit 15 Jahren in England lebt und arbeitet, dass in England ein Kollegialsystem besteht. In seiner Klinik in West Yorkshire arbeiten ca. 15 Consultants in der Regel fachspezialisiert. Der Job eines Klinikleiters scheint in England prinzipiell eher unbeliebt zu sein, da dieser meist nur noch administrative Aufgaben erfüllen muss und in der Regel patientenfern arbeitet. Dr. Andreas Weskott, früherer Chefarzt aus Berlin, berichtete aus Schweden über eine ähnliche Situation. Auch in Schweden scheint demnach ein Kollegialsystem mit Teamleitern zu bestehen, die in der Regel fachspezialisiert arbeiten. Der administrative Klinikleiter wird dort sogar nicht selten von Krankenschwestern besetzt. In beiden Ländern scheint die Karrieremöglichkeit somit tendenziell nachrangig zu sein, da es kein starres Hierarchiesystem gibt. Besteht möglicherweise auch ein Zusammenhang zwischen niedrigem Krankenstand der Mitarbeiter in den schwedischen Kliniken und einer höheren Wertschätzung ihrer Arbeit?

Die Verdienstmöglichkeiten waren in England schon vor Jahren sehr gut und mit 110.000 Pfund gegenüber deutschen Einkommensmöglichkeiten überdurchschnittlich. Viele Kollegen in England haben zudem neben ihrer angestellten Tätigkeit sichtlich eine private Praxis als Nebentätigkeit. Auch in Schweden sind die Verdienstmöglichkeiten trotz hoher Steuersätze gut, da es beispielsweise keinerlei Krankenversicherungsbeiträge gibt. Die Krankenversicherung ist in Schweden zu 100 % staatlich finanziert ohne Zuschüsse von Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Jeder Arztbesuch kostet in Schweden ca. 25 Euro, bei chronisch Kranken entfallen allerdings diese Gebühren.

Die Dienstbelastung scheint sowohl in Schweden als auch in Großbritannien deutlich geringer zu sein als vergleichsweise in Deutschland. In England wird in der Regel im Dienst tatsächlich nur bei vital bedrohlichen Situationen nachts operiert. Selbst eine frische Unterschenkelfraktur wird normalerweise zunächst nur ruhiggestellt und am nächsten Tag im Tages-OP-Programm definitiv operativ versorgt.

Dr. Weskott berichtete auch darüber, dass in schwedischen Krankenhäusern ein elektronisches Zeiterfassungssystem besteht. Nach seiner Einschätzung gehen schwedische Ärzte damit grundsätzlich sehr achtsam um und ein Missbrauch scheint tendenziell eher ausgeschlossen zu sein.

In Schweden besteht seit Jahren ein nahezu papierfreier Arbeitsalltag. Patientenakten existieren lediglich elektronisch. Die Schwester auf Station ist dann nur noch mit einem Tablet unterwegs. Für nahezu alles gibt es in Schweden spezielle Teams, sodass die ärztliche Tätigkeit auf die Kernkompetenz beschränkt ist. Verwaltungsaufgaben werden dort auch in der Regel vollständig delegiert. Auch in England scheint man sehr effektiv den Arbeitsalltag über spezialisierte Teams zu gestalten, wie Herr Koch berichtete.

England ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland. Viele Schwestern und Ärzte kommen dabei aus afrikanischen Ländern, vor allem aus Südafrika, aber auch aus Indien und Pakistan. In Schweden und Dänemark ist man es ebenso seit Jahrzehnten gewohnt, ausländische Kollegen zu haben. Nach Dr. Weskotts Eindruck scheinen auch in Schweden ebenso wie in Deutschland die meisten ausländischen Ärzte aus Rumänien zu kommen. In Schweden gibt es offenbar professionelle Agenturen, sogenannte Rekrutierungsgesellschaften, die für Ausländer Arbeitsplätze vorwiegend in skandinavischen Ländern vermitteln. Die ca. zehnfachen Verdienst- und Einkommensmöglichkeiten in Schweden und die deutlich bessere soziale Absicherung bieten dabei eine starke Verlockung.

Zusammenfassend ist der Tenor der Teilnehmer der Podiumsdiskussion:

  1. Die Work-Life-Balance scheint in vielen europäischen Ländern besser zu sein als in Deutschland.
  2. Die alltägliche Arbeits- und Dienstbelastung ist offenbar in anderen europäischen Ländern geringer als in Deutschland.
  3. Aufgehobene Hierarchiestrukturen im Sinne eines Consultant-Modells, wie sie in vielen europäischen Ländern inzwischen üblich sind, führen durchaus zu einer höheren Zufriedenheit bei den Chirurgen und werden auch vom Patienten geschätzt.

An dieser Stelle sei eine recht politische Frage gestattet: Wie sieht die medizinische Versorgung nach Weggang der Ärzte aus Ländern wie beispielsweise Rumänien aus? Besteht nicht bereits jetzt dort eine eklatante Unterversorgung? Das Thema „Brain Drain“, der Weggang der Akademiker aus geringer entwickelten und vermögenden Ländern, wurde bisher vorwiegend nur für Afrika diskutiert, sichtlich scheint es aber inzwischen ein innereuropäisches Problem zu werden. Bei aller in Deutschland geschätzten Internationalisierung und Globalisierung muss man sich am Ende fragen, welche Mitverantwortung haben wir für dieses globale und auch europäische Ungleichgewicht?

Literatur

[1] Seifert J et al. Chirurgische Aus- und Weiterbildung bei uns und unseren Nachbarn Passion Chirurgie 04/2017

[2] www.bundesärztekammer.de (Zugriff 20.11.2018)

Lorenz R, Grogro E, Caletti A, Koch L, Weskott A: Chirurgie ohne Grenzen: Ausländische Chirurgen in Deutschland – Deutsche Chirurgen im Ausland. Passion Chirurgie. 2019 Januar, 9(01): Artikel 03_02.

Autoren des Artikels

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Dr. med. Ralph Lorenz

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Dr. med. Eva Grogro

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Lutz Koch, FRCS Ed. Lutz Koch

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Dr. med. Andreas Weskott

Facharzt für Chirurgie und ViszeralchirurgieJönköpings län, Schweden
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