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Liebe Kolleginnen und Kollegen,

bei der Konzeption des diesjährigen Bundeskongresses Chirurgie stand für mich die Besinnung auf die Wurzeln unseres ärztlich-chirurgischen Handelns, das patientenorientierte Arzt-Patientenverhältnis mit seiner intimen Mystik, erneut im Vordergrund. Die Artikel im Themenschwerpunkt des vorliegenden Heftes sind ausgewählte in schriftliche Form gebrachte Vorträge vom Kongress.

Kein Kostenträger, kein Krankenhausträger, kein Pharma- bzw. medizinisches Industrieunternehmen, aber auch keine Verwaltungsdirektion, keine KV oder KBV, keine Kammer und kein Politiker hat je einen Patienten gesund gemacht. Vielmehr sind diese Strukturen Dienstleister – zum Teil sehr wichtige Dienstleister und Partner, die sich tiefen Respekt und Wertschätzung verdient haben – aber eben Dienstleister und Partner für unabhängige freiberuflich agierende Ärzte, die sich dem Wohl ihrer Patienten verpflichtet fühlen.

Es gilt die Gesundheitsökonomie und die Gesundheitspolitik – welche sich zunehmend verselbstständigen und im Berliner Elfenbeinturm den Blick für jede Realität verloren haben, die sich darauf verlegt haben, Mängel und Defizite immer umfangreicher zu verwalten, statt zu beseitigen, die mit immer neuen populistischen Aktionen und Gesetzgebungen die tatsächlichen Akteure im Gesundheitswesen zunehmend reglementieren und kriminalisieren – wieder auf den Boden der Realität zu bringen. Dazu ist es aber notwendig, dass wir Ärzte und Chirurgen zusammen mit unseren Partnern nicht mehr nur reagieren, sondern agieren, indikationsbezogen Sektoren einreißend und auf der Basis eines vertrauensvollen Arzt-Patientenverhältnisses definieren, was für unsere Patienten notwendig ist. Selbstverständlich müssen wir dabei auch ökonomische Gegebenheiten berücksichtigen.

Entscheidend wird sein, dass wir Fachkompetenzen sowie berufspolitische Erfahrungen aller Sektoren und Fachbereiche nutzen, bündeln und auf Augenhöhe diskutieren – um dann mit einer Stimme zu sprechen. Ein hehres Ziel, welches u. a. der Präsident der DGCH Prof. Rudolf Häring bereits im Jahr 1990 in seiner Eröffnungsansprache zum Chirurgenkongress aus der Sicht eines Klinikers wie folgt formulierte: „Einer „Atomisierung“ in Subspezialitäten muss jedoch Einhalt geboten werden. Spezialisierung um jeden Preis spaltet die Chirurgie im Partikularitäten. Versuche der völligen Abgrenzung und Isolierung und der Kampf um die „Ressourcen“ sind unerträglich, sie vergiften die Klinikatmosphäre und enden in Misstrauen und Intoleranz. Diese Kleinstaaterei kann sich in vieler Hinsicht nachteilig auf den kranken Menschen auswirken. Die Einheit der Chirurgie ginge verloren. Aber nur die Einigkeit nach innen macht uns stark gegen viele Anfechtungen und Angriffe von außen.“

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Aus diesen Beweggründen habe ich das diesjährige Kongressthema gewählt: Notfälle in der Chirurgie. Kaum ein anderes Thema kann die Gemeinsamkeiten und die Vielfältigkeit der Chirurgie so gut widerspiegeln. Der Chirurg ist der Primärarzt bei Verletzungen und Schmerzen. Interdisziplinarität, spezielle Fachgebietskenntnisse und Teamwork mit gemeinsamen Handeln sind im Rahmen einer patientenorientierten chirurgischen Notfallversorgung unabdingbar. Der Kongress bietet Dank der Beteiligung der vielen Fach- und Berufsverbände mit zahlreichen Sitzungen, Kursen und Workshops einen praxisrelevanten Überblick über den aktuellen Stand der chirurgischen Notfallversorgung in Klinik und Praxis und zeigt Perspektiven auf.

Aber haben wir nicht auch einen Notfall Chirurgie? Das Umfeld der Chirurgie hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Die Schlagworte heißen Ökonomisierung, Hebung von Effizienzreserven, Kundenfreundlichkeit, Patientenströme, Morbiditäts- und Arbeitsverdichtung, Korruption, Hygienemängel, Ärztepfusch – um nur einige zu nennen. Die Erwartungen an Patientensicherheit, Arbeitsqualität und an die ärztliche Zuwendung steigen gerade in den chirurgischen Fächern erheblich an. Die Schere zwischen erwünschten Idealzustand und täglicher Realität geht immer weiter auseinander. Folgen sind Resignation, Aufgabe von Praxen bzw. Verkauf an MVZs, das Vergraben im OP-Saal, Unkollegialität und Überheblichkeit als vermeintlicher Selbstschutz bzw. als Ausdruck fachlichen und/oder menschlichen Unvermögens, letztendlich auch der viel beklagte Nachwuchsmangel. Wir stehen an einem Scheideweg.

Die Perspektive wäre aus meiner Sicht, wenn sich die Chirurgen, egal ob in Klinik, Universität oder Ambulanz, darauf besinnen würden, dass es einen Patienten gibt, der sich mit seinem Leiden in ihre Obhut begibt und sie berufen sind mit dem Ziel der Heilung, Linderung oder Bewahrung vor Sekundärschäden, den Kern des Leidens zu diagnostizieren, konservative und operative Behandlungsmöglichkeiten im Sinne des Patienten abzuwägen sowie eine adäquate chirurgische Therapie bis zur Genesung durchzuführen bzw. zu gewährleisten und sich nicht nur auf die operative Prozedur zu reduzieren bzw. reduzieren zu lassen. Diese Berufung setzt jedoch ärztliche, nicht unbedingt ökonomische, Freiberuflichkeit und Therapiefreiheit eng verbunden mit der fachlichen sowie ärztlich geprägten ökonomischen Definition wer-was-wo-wie behandelt voraus. Dies bedarf eines gewaltigen sektorenübergreifenden Arbeitsaufwandes in Kliniken, Praxen, Universitäten, Fachgesellschaften und Berufsverbänden sowie einer gemeinsamen Sprache, um die Identität und ärztliche Freiheit des Chirurgen gegen alle ökonomischen, juristischen und politischen Einflüsse zu verteidigen.

Packen wir es an! Es ist vielleicht unsere letzte Chance, die Chirurgie in ihrer Schönheit, Gemeinsam- und Vielfältigkeit, Komplexität und spezifischen Individualität zu bewahren und die Zukunft zu meistern.

Es würde mich freuen, wenn ich mit dem Bundeskongress Chirurgie in Nürnberg unter dem Motto „Gemeinsam Stark“ einen Fingerzeig in diese Richtung geben konnte.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Stephan Dittrich

S. Dittrich. Editorial: Bundeskongress Chirurgie 2015: Chirurgie in Not – Notfall Chirurgie. Passion Chirurgie. 2015 Mai; 5(05): Artikel 01.

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Dr. med. Stephan Dittrich

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