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Rezension: Referenz Orthopädie und Unfallchirurgie: Becken und Hüfte

Referenz Orthopädie und Unfallchirurgie: Becken und Hüfte
Tim Pohlemann
Paul Grützner, Reinhard Hoffmann, Maximilian Rudert
1. Auflage 2023
820 S., 784 Abb., Mixed Media ProductISBN 9783132435438
€ 299,99

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Kürzlich wurde die im Thieme Verlag erscheinende „Referenz-Reihe“ um den Band Orthopädie und Unfallchirurgie – Becken und Hüfte, herausgegeben von Grützner, Hoffmann und Rudert, ergänzt. Es ist neben den Themengebieten Knie und Wirbelsäule die dritte Referenzausgabe für das Fachgebiet Orthopädie und Unfallchirurgie. Mit einem Umfang von 820 Seiten und der Möglichkeit, eine internetbasierte Ausgabe zu nutzen, ist ein umfassendes Kompendium zu Verletzungen und muskuloskelettalen Erkrankungen in den anatomischen Regionen Becken und Hüfte entstanden. Die der Reihe typische hohe Standardisierung der Kapitel mit kurzen zusammenhängenden Textpassagen, vielen Stichworten und tabellarischen Aufzählungen, verbunden mit ausgewählt guter Bebilderung ergibt eine gute Lesbarkeit und Übersicht und vermeidet so elegant Stilbrüche.

Etwas gewöhnungsbedürftig ist die Grobgliederung in Krankheitsbilder (degenerative und rheumatische Erkrankungen, Beinlängendifferenzen, Verletzungen des Beckenrings, Verletzungen des Acetabulums, Verletzungen des Hüftgelenkes, Verletzungen des Femurs, Komplikationen bei Frakturen, Komplikationen bei Endoprothetik, Tumore und synovialen Erkrankungen) und abgesetzt davon Methoden (operative Zugänge, Spongiosagewinnung, Osteotomien, operative Therapien von Deformitäten und Hüftkopfnekrosen, perkutane Stabilisierungstechniken, Osteosynthesetechniken, Primärendoprothetik, Revisionsendopropthetik, Therapieverfahren bei periprothetischen Frakturen und periprothetischen Infektionen sowie Resektionen, Rekonstruktionen und Arthrodesen). Auch wenn dadurch eine systematische Betrachtung von Krankheitsbild, Differentialdiagnose, Indikationsstellung und Therapieverfahren erschwert wird, erleichtert eine derartige Gliederung die kurzfristige Orientierung im klinischen Alltag, wenn es um Fragen wie Operationsplanungen, Aufklärungen und Operationsdurchführungen, inklusive der notwendigen Zugänge geht. Die aus Online-Publikationen gewohnte selektive und sequentielle Gewinnung von Informationen wird damit auch in der Printform unterstützt.

Die Kapitel selbst sind alle gleichmäßig aufgebaut. Die Informationen werden stichwortartig abgehandelt, wesentliche Inhalte tabellarisch dargestellt, ergänzt durch gute, teilweise aus anderen Publikationen bekannte Grafiken und Fallbeispiele. Hervorhebungen in Merkkästen und Warnhinweise unterstützen eine gezielte und schnelle Informationsakquise. Jedes Kapitel wird mit einer repräsentativen, teilweise sehr aktuellen Literaturauswahl ergänzt und bietet somit die Möglichkeit einer vertiefenden Lektüre.

Zusammenfassend ist es den Herausgebern gelungen, einen aktuellen, sehr systematisch präsentierten Überblick über Krankheits- und Verletzungsbilder im Bereich des Beckens und der Hüfte zu geben und aktuelle Behandlungsstrategien stichpunktartig aufzuzeigen. Bei vorhandenen Grundkenntnissen ist dieses Werk sicherlich eine gute Ergänzung und ein verlässliches Repetitorium, um sich schnell einen Überblick zu verschaffen. Für den klinischen Alltag häufig notwendige Informationen lassen sich schnell und zielgerichtet rekapitulieren. Das Werk ist somit allen praktisch tätigen operativen Orthopäden/innen und Unfallchirurgen/innen zu empfehlen und auch für den erfahreneren Facharzt wird es in speziellen Fällen eine wertvolle Ergänzung darstellen. Von seiner Präsentationsform her kann es aber gerade im Bereich der komplexen Becken- und Acetabulumchirurgie ein intensives und detailliertes Eigenstudium nicht ersetzen. Die Onlinemöglichkeit bietet allerdings den großen Vorteil, auch im klinischen Alltag jederzeit kurzfristig valide Referenzinformationen zum Thema recherchieren zu können.

Rezensent:

Prof. Dr. med. Tim Pohlemann

Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie

UKS – Universitätsklinikum des Saarlandes

Homburg

[email protected]

Chirurgie+

Pohlemann T: Rezension: Referenz Orthopädie und Unfallchirurgie: Becken und Hüfte. Passion Chirurgie. 2023 September; 13(09): Artikel 04_06.

Weitere Rezensionen finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de), Rubrik Wissen | Aus-, Weiter- & Fortbildung | Rezensionen.

Aus der Nische für Spezialisten zur realen Bedrohung – penetrierendes Trauma und Kriegsverletzungen

Noch vor zehn Jahren waren Operationskurse zu lebensbedrohlichen, penetrierenden Stamm- und Extremitäten-Verletzungen eine Nische für interessierte Chirurginnen und Chirurgen aus großen Traumazentren, mit militärischem Hintergrund und vor einem humanitären Einsatz in Krisengebieten. Mit der Zunahme terroristischer Anschläge in Zentraleuropa bekam das Thema spätestens nach dem verheerenden Anschlag 2015 auf das Bataclan-Veranstaltungszentrum in Paris auch in Deutschland eine hohe Priorität. Der Bedarf an entsprechenden Fortbildungsangeboten wuchs und die verantwortlichen Arbeitsgemeinschaften der chirurgischen Fachgesellschaften, wie z. B. die AG Einsatz-, Katastrophen- und Taktische Chirurgie (EKTC) der DGU, die Chirurgische Arbeitsgemeinschaft Militär- und Notfallchirurgie (CAMIN) der Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie und die Kommission Katastrophenmedizin und Gefäßtraumatologie der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin entwickelten ihre eigenen, individuellen und teilweise schon lange bestehenden Fortbildungsformate weiter.

Von Seiten der DGU war schon 2008 das Format DSTC (Definitive Surgical Trauma Care) über die Internationale Fachgesellschaft IATSIC (International Association for Trauma Surgery and Intensive Care) für Deutschland lizensiert und etabliert worden. Nach ersten Kursen in Essen und Berlin wird dieses Format seit 2010 mindestens einmal jährlich in Homburg in Zusammenarbeit mit der AUC angeboten. Die DSTC-Kurse zeichnen sich durch eine hohe Praxisnähe mit realitätsnahen Übungen und hohem emotionalem Stress aus. Schwerpunkte sind dabei die Vermittlung praktischer akut lebensrettender, chirurgischer Fertigkeiten, die durch erfahrene nationale Instruktoren gemeinsam mit international ausgewiesene Experten aus Südafrika, Israel, den USA und anderen Ländern mit einem hohen Aufkommen penetrierender Verletzungen begleitet werden. Ziel ist es, die „Höhlenkompetenz“ der vorwiegend in der Behandlung von stumpfem Trauma geübten Unfallchirurginnen und -chirurgen aufrechtzuerhalten.

Da in den Fällen eines Massenanfalls von Verletzungen auch taktische Maßnahmen zum sinnvollen Einsatz der beschränkten Ressourcen eines Krankenhauses, besonders im Hinblick auf die zeitnahe Verfügbarkeit lebensrettender Sofortoperationen (Kenntnisse, Personal und Rahmenbedingungen) für den einzelnen Patienten lebensrettend sein können, muss auch dieser Aspekt speziell geschult werden. Da nach der Wiedervereinigung Deutschlands viele Aspekte des Zivilschutzes ersatzlos abgebaut wurden, wurde in Deutschland über viele Jahre der Notwendigkeit regelmäßiger Krankenhausalarmübungen nur eine geringe Priorität eingeräumt. Auch in der Aktualität der an sich flächendeckend geforderten Krankenhausalarmpläne gibt es regional unterschiedlich teilweise erhebliche Defizite. Da dieser Aspekt, im Gegensatz zu anderen Ländern, beispielsweise Frankreich, in Deutschland hoheitlich im Landesrecht verankert ist, entsteht ein heterogenes Bild mit teilweise erheblichen Unterschieden in der Durchsetzung entsprechender Vorschriften. Beispielweise sind in Berlin und Hamburg regelmäßige Realübungen für alle Häuser obligatorisch und Realität, während in anderen Regionen Deutschlands teilweise seit Jahren keinerlei Übungsaktivität zu verzeichnen ist.

Abb. 1: Inaugurationsbesuch STS Kollig anlässlich des ersten durch das saarländische Sozialministerium geförderten Kombikurses TDSC/DTSC in Homburg

In dieser Situation erarbeitet die Gruppe um Benedikt Friemert aus dem Bundeswehrkrankenhaus Ulm mit dem TDSC Kurs (Terror and Disaster Surgical Care) ein sehr effektives Kursformat, in dem auf Basis einer „Stabsübung“ realitätsnah Planung und Umsetzung eines „Terror MANV“ interdisziplinär geübt werden kann. Beratungsangebote der AUC zur Krankenhausalarmplanung individueller Krankenhäuser und ganzer Traumanetzwerke vervollständigen das Angebot der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie.

Die Kursangebote der Arbeitsgruppe CAMIN der DGAV spricht besonders die Gruppe der erfahrenen Abdominal- und Viszeralchirurgen an. Hier geht es zunächst im Wesentlichen darum, an sich in den chirurgischen Fertigkeiten am Körperstamm geübten Allgemeinchirurginnen und -chirurgen das für die Behandlung des penetrierenden Stamm-Traumas notwendige, geänderte „Mindset“ zu vermitteln. Die Chirurgie heutzutage ist extrem weit entwickelt und definiert einen Großteil ihrer operativen Erfolge durch einen hohen Spezialisierungsgrad, der sich vorwiegend durch minimale Invasivität, umfassende OP-Planung und Elektivität des Eingriffs definiert. Im Gegensatz dazu sind penetrierende Stammverletzungen absolute Akutfälle, die schnelles Handeln trotz minimaler Diagnostikmöglichkeit und unter Zeitdruck erfordern. Eine sichere, unmittelbare Indikationsstellung ist für den Patienten vielfach lebensentscheidend. Das durch die CAMIN erarbeitete Tagesseminar zu diesem Thema vermittelt Grundlagen zur Entstehung penetrierender Verletzungen und behandelt allgemeine Grundregeln der chirurgischen Behandlung und Selbstorganisation in Terrorlagen. Zusätzlich wird fachspezifisch das der Akutlage angepasste chirurgische Vorgehen in den Körperhöhlen diskutiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass alle notwendigen chirurgisch-technischen Fertigkeiten an sich ja vorhanden sind.

Zur Vermittlung spezieller operativer Techniken wurde unter Akkreditierung des American College of Surgeons (ACT) durch die DGAV zusätzlich das ASSET-Format (Advanced Surgical Skills for Exposure in Trauma) etabliert. Eine große Auswahl von lebensrettenden Notfalloperationen wird unter Anleitung versierter nationaler und internationaler Instruktionen theoretisch und in anatomischen Präparationsübungen vermittelt.

Weitere fachgebietsgebundene Spezialangebote werden durch die Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie (DGC), die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC) und die Deutsche Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie) im Rahmen von Seminaren und Kursen angeboten.

Ende 2015 stieg der Druck, die Vorbereitungen für die Bewältigung terrorassoziierter Verletzungen zu intensivieren. Die Entscheidung einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen DGU und dem Sanitätsdienst der Bundeswehr war eine erste Grundlage, eine entsprechende Absichtserklärung wurde zum DGCH-Jahreskongress 2017 in München unterzeichnet. In den folgenden „Notfallkonferenzen“ wurden bundesweit und regional notwendige Strategien zur Umsetzung erweiterter Vorbereitungen auf Basis der Traumanetzwerke-DGU diskutiert und vorbereitet.

Im Saarland gelang es dem Autor in intensiven Gesprächen auf politischer Landesebene, die in Deutschland bestehende grundlegende Problematik der unterschiedlichen ministerialen Zuständigkeiten in terrorassoziierten medizinischen Lagen zu artikulieren und bewusst zu machen. Der präklinische Rettungsdienst untersteht den Innenministerien. Unter dem Eindruck der zunehmenden Terroranschläge wurden angepasste Verfahrensanweisungen zur schnellen Verteilung der verletzten Patienten in alle verfügbaren Krankenhäuser recht schnell erstellt. Eine Koordination mit den Krankenhäusern und besonders die Auswahl und Ertüchtigung geeigneter Krankenhäuser war in diesem Zug aber nicht möglich, da die Krankenhäuser in den Zuständigkeitsbereich der Sozialministerien fallen. Ein erfolgreiches Gesamtkonzept muss aber in diesen speziellen Lagen immer auf entsprechende und direkt verfügbare notfallchirurgische Fähigkeiten zurückgreifen können, um eine sofortige, kompetente Versorgung zu ermöglichen. Unter Führung des Innenministeriums des Saarlandes (STS Christian Seel) und Steuerung des Traumanetzwerkes Saar-Lor-Lux-Westpfalz wurde eine „Task-Force Terror Saar“ etabliert, die Vertreter der Ministerien und aller Behörden und Organisationen mit Sicherungsaufgaben (BOS) des Landes und angrenzender Regionen umfasste. Neben der systematischen Auswahl geeigneter Krankenhäuser des Traumanetzwerks wurde eine systematische Schulung des chirurgischen Personals nach Kriterien der taktischen Vorbereitung und chirurgischer Fähigkeiten vereinbart. Eine jährliche finanzielle Zuwendung von 50.000 Euro des Sozialministeriums ermöglichte die schnelle Umsetzung.

Abb. 2: Übungssituation TDSC Kurs Homburg 2016

In einem Auftaktkurs wurden 2017 zunächst 20 ausgewählte Teilnehmer spezifischer TNW-Kliniken in einem TDSC-Kurs taktisch und direkt anschließend in einem DASTC-Kurs in den spezifischen chirurgischen Fähigkeiten geschult. Zusätzlich erfolgte über das DGAV-Seminar eine ergänzende landesweite Unterweisung weiterer allgemeinchirurgisch tätiger Kolleginnen und Kollegen. In den allgemeinen Teil der Veranstaltung wurden zuständige Politiker und Verantwortliche der betroffenen Katastrophenbehörden eingeladen.

Es war damit möglich, sehr schnell einen landesweit konstanten Stamm von etwa 60 Chirurginnen und Chirurgen in den Kliniken des Traumanetzwerks zu schulen und in der Folge bis jetzt ausfallsicher und nachhaltig vorzuhalten.

Diese Aktivitäten wurden im November 2018 im Rahmen einer landesweiten Real-Übung zusammengeführt. Erstmalig wurde in Zusammenarbeit von Polizeikräften, Rettungsdienst und vier ausgewählten Krankenhäusern des Traumanetzwerks die Fähigkeiten zur übergreifenden Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten aus einer angenommenen „Terrorlage“ (terroristische Geiselnahmen in einem Schulgebäude) geübt und überprüft. Danach wurden regelmäßige weitere Krankenhausübungen durchgeführt, wobei die Aufgabe der Beobachter und Schiedsrichter den Kollegen der nicht beteiligten Krankenhäuser des Traumanetzwerks zukommt, um Erkenntnisse möglichst schnell in der Fläche in allen Häusern umsetzen zu können. Es war damit erstmalig gelungen, eine Fachgesellschaft in Form des Traumanetzwerks als offiziellen Ansprechpartner in hoheitlichen Aufgaben zu positionieren.

Weitere Aktivitäten im Saarland umfassten die Etablierung einer institutionellen Ansprechbarkeit über (??) durch die Rettungsleitstelle. Zentral gesteuerte SMS-Meldungen alarmieren im Bedarfsfall erfahrene Protagonisten des Netzwerks, um akut die koordinierende chirurgische Beratung in einem erweiterten landesweiten Krisenstab übernehmen zu können und den Kontakt zu weiteren Trauma-Netzwerken aufrechtzuhalten. Diese Aktivitäten waren letztendlich die Grundlage, um im Februar 2022 schnell eine bundesweite Vernetzung aller 54 Traumanetzwerke, der Bundeslandsprecher und aller eingeschlossenen Traumanetzwerk-Kliniken unter Koordination der DGU zu realisieren.

Abb. 3: Detailansicht Übungsmaterial

Basierend auf den Erfahrungen mit diesem „Pilotprojekt“ im Saarland war es sinnvoll, die etwas divergenten Schulungsmaßnahmen der einzelnen Fachgesellschaften zu harmonisieren, um sie in einem einheitlichen Konzept den zuständigen Behörden der verschiedenen Bundesländer anbieten zu können und damit eine sachlich unbegründete und in der Sache kontraproduktive Konkurrenzsituation zu vermeiden. Im Januar 2020 erfolgte daher unter dem Dach der DGCH die Harmonisierung der Kursangebote der chirurgischen Fachgesellschaften zusammen mit der DGAI.

Mit der Umsetzung und Realisierung dieser Konzepte wurde im Konsens die Akademie der Unfallchirurgie (AUC) beauftragt, da langjährige, spezifische Erfahrungen vorhanden sind. Die angebotenen Kurse werden unter organisatorischer Verantwortung der AUC im Namen der beteiligten Fachgesellschaften durchgeführt. Trotz der lähmenden Rahmenbedingungen der Corona-Pandemie gelang es, in enger Absprache ein gemeinsames Curriculum der praktisch orientierten Kurse DSTC, ASSET zusammen mit dem anästhesiologischen Pendant DATC zu erarbeiten und im Frühjahr 2021 in einem Pilotkurs in Homburg erfolgreich auf den Weg zu bringen. Als Besonderheit können damit weltweit einmalig in einem Kursbesuch die international anerkannten Zertifikate der IATSIC und des American College of Surgeons erlangt werden. Im Frühjahr 2022 wurde ein erster vollständiger Kurs erfolgreich in Homburg abgehalten, ein weiterer Kurs in Berlin folgte im Herbst 2022 mit dem Schwerpunkt der Fortbildung der durch das Land Thüringen finanziell unterstützten Kolleginnen und Kollegen der dortigen Traumanetzwerke. In Homburg werden ab Frühjahr 2023 wieder regelmäßig zwei Kurse jährlich geplant.

Abb. 4: Impression der landesweit ersten integrierten Realübung „terrorassoziierte Geiselnahme in einer Schule“ im Saarland, November 2018

Als regionale Besonderheit besteht in Homburg zusätzlich eine seit Jahrzehnten aufrechterhaltene enge Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Landstuhl Regional Medical Center (LRMC). Ergänzende Kursangebote mit militärischem Fokus werden daher ergänzend ab Februar 2023 im dortigen Trainingszentrum in internationaler Zusammenarbeit angeboten.

Mit dem 24. Februar 2022 änderte sich die allgemeine politische Situation nochmals dramatisch. Die Notwendigkeit einer erweiterten zivil-militärischen Zusammenarbeit des Sanitätsdienstes der Bundeswehr und der chirurgischen Fachgesellschaften bestätigte sich schlagartig. Entsprechende Absichtserklärungen waren ja schon 2017 mit der DGU und 2021 mit der DGCH auf den Weg gebracht worden. Besonders der hohe Organisationsgrad und die gute Vernetzung der in 54 regionalen Traumanetzwerken verbundenen über 650 unfallchirurgischen Akutabteilungen ist dabei eine wichtige Komponente, um flexibel und regional unabhängig auf ggf. zu erwartende Bedrohungslagen reagieren zu können.

Durch die Beteiligung der Experten der Fachgesellschaften und der Bundeswehr gelang es, die Verteilung der aus der Ukraine zugeführten kriegsverletzten Patienten in dem während der Corona-Pandemie etablierten System der bundesweiten „Kleeblätter“ sehr effektiv und zielgerichtet zu gestalten.

2023 wird daher für die chirurgischen Fachgesellschaften weitere Aufgaben mit sich bringen. Neben dem traditionellen Zweck der Gestaltung des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts werden organisatorische Aufgaben, auch in der zivil-militärischen Zusammenarbeit, dazukommen. Nur in einer gemeinsamen Anstrengung wird es gelingen, die derzeit noch bestehenden Defizite in den chirurgischen und taktischen Fähigkeiten der beteiligten Kliniken auszugleichen und notwendige Vorbereitungen auf einen Massenanfall von Verletzten flächendeckend zu aktualisieren. In der sich für 2023 abzeichnenden prekären Finanzierungslage der deutschen Krankenhauslandschaft ist das sicherlich eine sehr herausfordernde Aufgabe!

Da diese Aufgaben der „Vorhaltung“ zusätzlich von den beteiligten Kliniken geleistet werden müssen, ist es an der Zeit, schnell und ernsthaft über alternative Finanzierungswege zu diskutieren. Es wäre sinnvoll, derartige Aufgaben und Fähigkeiten in den Aufgabenbereich des Bevölkerungsschutzes und der Zivilverteidigung zu verorten. Sich dabei in diesem Themenbereich auf die langjährige Erfahrung der chirurgischen Fachgesellschaften zu stützen, wäre ein politisch ungewöhnlicher, aber rational sicher sinnvoller Ansatz!

Pohlemann, T: Aus der Nische für Spezialisten zur realen Bedrohung – penetrierendes Trauma und Kriegsverletzungen. Passion Chirurgie. 2023 Januar/Februar; 13(01/02): Artikel 03_02.

Editorial: Chirurgische Versorgung in Kriegszeiten

Zur Ausgabe Chirurgische Versorgung in Kriegs-, Terror- und Katastrophensituationen 01/02/2023

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

trotz aller kritischen Betrachtung der aktuellen Gesundheitssysteme ist der langfristige Fortschritt in der Chirurgie weiterhin äußerst positiv zu beurteilen. Trotz alternder Bevölkerung steigen Überlebensraten und Lebensqualität nach Unfällen und bei tumor- und kardiovaskulären Erkrankungen beständig. Moderne interdisziplinäre, multimodale Therapieansätze sind sicherlich einer der Gründe, aber auch die Fortschritte in der chirurgisch-operativen Technik sind dabei keinesfalls zu vernachlässigen. Mit schnell weiterschreitender Spezialisierung innerhalb der Chirurgie, dem breiten Einzug minimalinvasiver OP-Techniken und hochelektiv vorbereiteten chirurgischen Eingriffen, ist für nahezu jedes Krankheitsbild individualisiert ein optimales Therapiekonzept verfügbar.

Die jetzt seit nahezu einem Jahr dramatisch geänderten politischen Rahmenbedingungen mit einem nicht für möglich gehaltenen weiträumigen Eroberungskrieg auf europäischem Boden haben aber auch im Gebiet der Chirurgie ein Umdenken nötig gemacht. Jetzt werden wieder ganz andere Qualitäten aktuell, die vielfach für schon überwunden angesehen wurden und kaum noch vorhanden sind. Noch vor wenigen Jahren war die „Einsatz- und Kriegschirurgie“ eher ein Nischenthema einzelner Arbeitsgruppen der Fachgesellschaften, in denen sich Militärchirurginnen und Chirurgen sowie in Hilfsorganisationen Tätige engagierten. Nachdem dieses Thema letztmalig 2012 in der Passion Chirurgie diskutiert wurde, ermöglichen die jetzt vorgelegten drei Beiträge einen informativen Überblick über die aktuellen Entwicklungen. Es ist dabei zu betonen, dass die geschilderten Anstrengungen zur Koordination der genannten Kurse und Lehrangebote ein Beweis der exzellenten Zusammenarbeit der chirurgischen und anästhesiologischen Fachgesellschaften und Berufsverbände darstellt. Eine Vielzahl von Individuen sind beteiligt und unterstützen diesen Weg teilweise seit Jahren intensiv und erfolgreich. Auch wenn sie in den Artikeln nicht namentlich erwähnt werden konnten, soll an dieser Stelle all denjenigen gedankt werden, die sich aktiv daran beteiligen, dass auch in Deutschland die erforderlichen akutchirurgischen Fähigkeiten in einem Ernstfall in ausreichender Qualität und Quantität zur Verfügung gestellt werden können!

Ein weiteres drängendes Thema wird in der Rubrik Panorama diskutiert: Trotz aller Bemühungen kommt das Thema Organspende in Deutschland nicht messbar voran. Eine Katastrophe für alle Patienten und Angehörigen, die derzeit in großer Zahl auf die lebensnotwendige Transplantation warten! Das Engagement darf nicht nachlassen, ggf. sind erneute politische Diskussionen nötig, um auch in Deutschland in diesem Thema dem Vergleich zu anderen europäischen Ländern standhalten zu können.

Sie sehen, die Themen gehen auch dieses Jahr nicht aus, und ich möchte an dieser Stelle dazu aufrufen, sich auch selbst aktiv einzubringen und auf allen Ebenen die Initiativen der Fachgesellschaften und des Berufsverbandes zu unterstützen.

Ich hoffe auf Ihr Interesse bei der Lektüre des aktuellen Heftes und verbleibe dem Wunsch für ein friedliches Jahr 2023

Ihr
Tim Pohlemann

Pohlemann T: Editorial: Chirurgische Versorgung in Kriegszeiten. Passion Chirurgie. 2023 Januar/Februar; 13(01/02): Artikel 01.

Präsidentenrede anlässlich des 134. DGCH-Kongresses 2017

Sehr verehrte Damen und Herren,liebe Kolleginnen und Kollegen,

Verantwortung, Vertrauen, Sicherheit – warum dieses Motto, was wollen Sie damit erreichen und warum gerade jetzt? Das waren häufige Fragen, die ich im bisherigen Präsidentenjahr in vielen Gesprächen beantworten musste.

Lassen Sie uns gemeinsam diese Fragen erörtern und versuchen zu erläutern, warum wir uns nicht nur in den nächsten Tagen intensiv mit den sogenannten Grundwerten der Chirurgie beschäftigen sollten und wie uns die DGCH in unseren gemeinsamen Zielen unterstützen könnte.

Ich konzentriere mich auf drei Themenbereiche:

1.Was sind Grundwerte in der Chirurgie und wie definieren wir sie?
2.Was erwarten wir konkret von Politik, Kostenträgern und Partnern?
3.Welche Rolle spielt die DGCH in diesem Prozess?

1. Was sind Grundwerte in der Chirurgie und wie definieren wir sie?

Was macht nun eine Chirurgin, einen Chirurgen aus? Auf den ersten Blick eine einfache Frage, erscheint das Berufsbild des Chirurgen doch klar definiert. Bei genauerer Betrachtung ist eine Definition allerdings vielschichtiger und viel komplizierter! Sind wir auf das Führen eines Skalpells reduziert, eine Definition, die die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin in einer kürzlich veröffentlichten Stellungnahme angewandt hat, oder ist es die besondere Form der Verantwortung dem Patienten gegenüber? Ist es unsere besondere Charakterstruktur und innere Einstellung – ich verweise nur auf die gerne in Arztserien verwendeten Klischees – oder ist es die Verpflichtung nicht nur akademisch verankerter Mediziner zu sein, sondern auch noch manuelles Geschick zu haben? Ist es Entscheidungsfreude, aber auch Entscheidungszwang, gerade in kompliziertesten Situationen unmittelbar Lösungen finden zu müssen? Ist es die Weisheit manche Dinge zu lassen oder aber die Gewissheit, dass wir letztendlich in vielen Fällen „verletzen“ müssen – und das teilweise in ganz erheblichen Maße – um hoffentlich eine Heilung zu erreichen?

Wahrscheinlich werden wird nur durch die Kombination verschiedener Eigenschaften, letztendlich aber eher durch ihre Summe beschreibbar!

Aus dem Gesagten wird aber ganz klar: Die Chirurgie ist besonders! Sie ist salopp gesagt eine „besondere Branche“ innerhalb der Medizin. Sie braucht auch sehr spezielle Mediziner, die sie ausüben können. Diese brauchen dafür auch ganz besondere Rahmenbedingungen, über die wir noch sprechen werden. Das betrifft grundsätzlich alle Bereiche der Chirurgie, ob überwiegend operativ oder auch konservativ, die chirurgische Denkweise, das chirurgische Herangehen an das klinische Problem ist die bindende Eigenschaft.

Besonderheiten in der Chirurgie: Arzt-Patienten-BEZIEHUNG

In diesem Zusammenhang ist zunächst die ganz besondere Arzt–Patienten-Beziehung zu nennen, eine Beziehung ohne „Hintertür“, unmittelbar und häufig ohne Ausweichmöglichkeit, weder für den Patienten, noch für den Chirurgen. Wir müssen definitionsgemäß oft „verletzen“. Der Patient weiß das, davor hat er Angst! Wir selbst hingegen müssen abwägen, ob die Therapieoption geeignet ist, ob der Patient geeignet ist, ob wir selbst geeignet sind und wo und wie eventuelle Lösungsmöglichkeiten bei der großen Vielzahl von erwarteten, aber auch viel häufiger, den möglichen, unerwarteten Komplikationen liegen. In diesem Spannungsfeld bewegt sich unser Verantwortungsbewusstsein, das kann uns niemand abnehmen und das soll uns auch niemand abnehmen! Dieses Verantwortungsbewusstsein ist die Grundlage des benötigten Vertrauensverhältnisses zum Patienten. Dieses Vertrauen ist extrem persönlich, ich möchte sogar sagen intim. Es entwickelt sich oft in wenigen Sekunden, wenn der erfahrene chirurgische Arzt auf den Patienten zugeht und der Dialog über einen anstehenden operativen Eingriff beginnt. Natürlich kann es dabei auch Störungen geben, aber im Regelfall verlässt sich der Patient darauf, dass genau dieser Chirurg ihn sicher durch die ihm vollkommen unbekannte Welt des Krankenhauses, des Operationssaals führt und den Überblick über alle, ihm in der Regel unbekannten, Beteiligten behält. Die Entwicklung dieser Eigenschaft wächst mit der Zeit, wir bezeichnen sie landläufig als Erfahrung. Rein formell als „Indikationsstellung“ bezeichnet, inkludiert dieser Prozess einen äußerst komplexen, intellektuellen Vorgang. Es ist eine hochindividuelle, patientenzentrierte Entscheidungsabwägung. Sie kann, von außen betrachtet, schnell, direkt und einfach aussehen, ist es aber nicht. Diese verantwortliche Abwägung ist ein wesentlicher Grundwert einer verantwortungsvollen Chirurgie und hat uns von Anbeginn begleitet. Daher waren wir auch über die öffentlichkeitswirksame Kampagne „Choosing wisely“ (Gemeinsam klug entscheiden) überrascht. Wir dachten, darauf müsste man an sich nicht explizit hinweisen müssen, die gemeinsame Entscheidungsbasis ist in der modernen Chirurgie Alltag! Für schwierige Situationen haben wir in vielfältigen Leitlinien Entscheidungshilfen gegeben.

Besonderheiten in der Chirurgie: der operative Eingriff und die perioperative Betreuung

Die Indikationsstellung, Operationsdurchführung und -nachsorge sind Spezifika in der operativen Medizin. Hierzu werden besondere Rahmenbedingungen benötigt. Die präoperative Risikoevaluation, Indikationsstellung, der Operationsbereich und die postoperativen Intensiv- oder Überwachungseinheiten sind zwischenzeitlich in Ausstattung und Prozessen recht gut definiert und zumindest von der Papierform her auskömmlich ausgestattet. Fehlt dort eine der benötigten Komponenten, macht sich das innerhalb kurzer Zeit durch Bettenschließungen, Operationsverschiebungen, Saalschließung und andere Kapazitätsengpässe bemerkbar. Neu für uns sind dagegen die Mangelsituationen im Bereich der Normalstationen. Diese Bereiche sind leider nicht gut definiert und unterliegen daher, wie alle anderen Normalstationen eines Krankenhauses, einem radikalen Sparkurs. Chirurgische Stationen wiesen aber aufgabenbedingt schon immer einen deutlich höheren Pflegeaufwand auf. Ich erinnere daran, es waren chirurgische Stationen aus denen sich die ersten Überwachungseinheiten und Intensivstationen entwickelt haben. Diesen besonderen Pflege- und Betreuungsaufwand gibt es aber noch immer, er ist heutzutage sogar noch höher, da sich Liegezeiten verkürzen, damit Patientenwechsel häufiger werden und der dramatische demographische Wandel inzwischen auf den Stationen angekommen ist. Darunter leidet die Chirurgie besonders. Der allgemeine Pflegeschlüssel Deutschlands ist nach aktuellen Untersuchungen im Europavergleich an die unterste Stelle gerückt. Bei der Betrachtung der Personalausstattung wird aber nur selten auf unsere spezifischen Bedürfnisse eingegangen. Ich nenne in diesem Punkt aber unsere Krankenhausverwaltungen. Im derzeitigen Vergütungssystem muss systembedingt jedes Jahr erneut gespart werden oder die Leistung erweitert werden, um zusätzliches Einkommen zu generieren und Abschläge zu kompensieren. Das führt natürlich auch innerhalb der Häuser zu unschönen Verteilungskämpfen um die Ressourcen. Der bisher von uns schablonenhaft geübte „chirurgische“ Lösungsansatz ist leider jetzt nicht mehr zielführend und inzwischen hinderlich. Steigt der Patientendruck, wird schneller gearbeitet, die ärztliche Versorgung auf den Stationen wird eingeschränkt und alle verfügbaren Kräfte in Operationsbereich und Ambulanz eingesetzt, um möglichst vielen Patienten gerecht zu werden. Die Überlastung auf den Normalstationen und das Komplikationsrisiko nimmt dadurch weiter zu, vielfältige wissenschaftliche Untersuchungen belegen diese Entwicklung. Reduziert man sich auf eine vernünftige Belegungsrate, müssen Patienten abgewiesen werden und die typischen Folgeeffekte sind Bettenschließungen, weiterer Personalabbau oder Patientenunzufriedenheit bei unzumutbaren Wartezeiten. Anders ist das z. B. in Skandinavien, wo lange Wartezeiten, teilweise über mehrere Monate für elektive Operationen, politisch begründet werden und gesellschaftlich akzeptiert sind.

Besonderheiten in der Chirurgie: Chirurgie ist teuer!

Operationsbereiche sind normalerweise die teuersten und personalintensivsten Bereiche eines Krankenhauses. Unter dem derzeitigen ökonomischen Druck ist es verständlich, dass sie effektiv, optimal und möglichst lange über die Zeit betrieben werden sollen. Denn damit kann sich der Kostenfaktor Operationsbereich umkehren und im derzeitigen Finanzierungssystem ganz erheblich zum Einkommen der Häuser beitragen und sogar andere Bereiche querfinanzieren. Unter dem angesprochenen Aspekt der patientengerechten, individuellen Indikationsstellung ist von Seiten des verantwortlichen Chirurgen ein sehr hoher ethischer Standard zu fordern, um sich ggf. bestehenden Fehlanreizen konsequent zu widersetzen. Zwar hat auch der Krankenhausarzt natürlich Therapiefreiheit und ist nur gegenüber seinem ärztlichen Gewissen verantwortlich, nach derzeitiger Vertragslage müssen aber selbst Chefärzte in einem erheblichen Abhängigkeitsverhältnis arbeiten. Die zunehmende Zahl von Chefarztwechseln, auch in chirurgischen Kliniken, sollte aufhorchen lassen. Grundsätzlich zielführender für die Chirurgie wäre es, über zwangsläufig entstehende Anreize und Hindernisse im derzeitigen Finanzierungssystem nachzudenken, die sogenannten Fehlanreize. Ist es wirklich notwendig, alle Patienten einem Quotienten aus Diagnose und Prozedur zuzuordnen? Die Diagnose allein spielt nämlich nur in Kombination mit der „richtigen“ Prozedur eine „günstige“, finanziell definierte, Rolle. Kurz erläutert, beim altersbedingten Wirbelkörperbruch macht die Krankenhausbehandlung nur Sinn, wenn, zwar minimalinvasiv, aber doch operativ vorgegangen wird. Die gleichwertige konservative Behandlung ist zeitaufwändiger und schwieriger, insbesondere wenn ausreichende ambulante Versorgungsmöglichkeiten fehlen, die Familie ausfällt und die betroffene Patientin einfach zwei Wochen intensive Betreuung benötigt. Das Ergebnis wird das gleiche bleiben, nur ist eine Operation vermieden. Hier benötigt man einen starken Charakter, um standhaft zu bleiben!

Besonderheiten in der Chirurgie: Interdisziplinarität!

Die Chirurgie hat sich immer den fachgebietsübergreifenden Entwicklungen angepasst und war immer Vorreiter im „Technologietransfer“, um Fortschritte zu erzielen. Sie sieht sich daher auch heute noch als typisches, patientenbezogenes Schnittstellenfach. Da wir mit der Entscheidung zu einem operativen Eingriff eine extrem hohe Verantwortung tragen, ist es notwendig engen Kontakt zu allen Nachbargebieten zu halten, um im Sinne der Patienten eine optimale Entscheidung treffen zu können. Die Kenntnis von nichtoperativen Verfahren ist dabei selbstverständlich. Nur so kann die Beratung individuell erfolgen, eine Therapie in allen Facetten durchgeführt und gesteuert wird. Man stelle sich nur die Entwicklung der operativen Frakturbehandlung vor, wenn sich hier über die Jahre hinweg konkurrierende Systeme entwickelt hätten! Nicht vorstellbar, sogar lächerlich, werden Sie zurecht denken, aber es gibt eben Bestrebungen uns zu methodendefinierten Handwerkern zu „degradieren“. Daher ist auch dieser Aspekt eine wichtige und überlebenswichtige Komponente bei der Definition unserer chirurgischen Grundwerte zuzuordnen!

Besonderheiten in der Chirurgie: Ausbildung und Schulung

Wie lernt man Chirurgie? Die Besonderheit liegt in der Vielzahl der Inhalte, der Komponente der akademischen Medizin kombiniert mit manuellen Fähigkeiten, dem Fähigkeitserhalt, der Persönlichkeitsformung und der notwendigen Erfahrung. Das Erlernen dieses breiten Spektrums braucht Zeit, Zeit die mit und am Patienten verbracht wird sowie Zeit mit erfahrenen Kolleginnen und Kollegen. Der dazu verfügbare Zeitrahmen wird aber geringer und daher müssen wir auch in der Weiterbildung über spezifische Rahmenbedingungen für die Chirurgie sprechen. Zur Erlangung von Operationsfertigkeiten brauchen wir Repetitionen in relativ kurzen Zeitabschnitten, um die jungen Kolleginnen und Kollegen auf einen operativen Stand zu bringen, in dem sie sich selbstständig, zwar noch unter Anleitung, aber in den Grundfähigkeiten geschult, weiterentwickeln können. Ich vergleiche das gerne mit Piloten, die ja auch neben theoretischen Wissen von Erfahrung und fliegerischem Können abhängen. Nach intensivster Grundausbildung wird in der Berufsluftfahrt noch recht lange unter Anleitung geflogen, bis das erste komplett eigenverantwortliche Kommando übernommen werden kann. Die „Komplikationsraten“ in der Fliegerei sind inzwischen so niedrig, dass zur Komplikationsvermeidung auf Simulatoren ausgewichen wird. Hier kann repetitiv geübt werden. An derartigen Strategien arbeiten wir zwar, stehen aber noch ziemlich am Anfang und das „System Mensch“ ist dabei komplexer und überraschender! Das bedeutet aber, dass wir auf nicht absehbare Zeit noch an unseren traditionellen Strukturen zur Wissensvermittlung festhalten müssen. Die Komponente „Zeit am Patienten“ darf nicht signifikant durch Bürokratie und Arbeitszeitgesetzgebung beschnitten werden. Der Weg zur Chirurgin und zum Chirurgen sollte für uns innerhalb unserer, ich spreche hier provokativ, „Zunft“ bestimmbar bleiben. Stringente Konzepte mit Flexibilität und Bürokratieabbau fehlen hier und erschweren die Nachwuchswerbung zusätzlich.

Besonderheiten in der Chirurgie: Brauchen wir Vorbilder?

Wir brauchen sie und in vielen Gesprächen wurde mir bestätigt, dass die Berufsentscheidung Chirurg sich häufig an spezifischen Vorbildern orientiert hat. Wir brauchen also attraktive „Rollenbilder“. Ich darf zu meinem eigenen Werdegang abschweifen. Familiär war ich medizinisch vollkommen unbelastet und kann in dieser autobiographischen Einzelfallstudie damit als unverdächtig gelten. In den ersten Semestern wollte ich auf keinen Fall Chirurg werden, Unfallchirurg schon gar nicht, eher etwas mit „Forschung“ und „Medikamenten“ machen. Nach meinem Wechsel von Heidelberg nach Mannheim war ich von der zwar morgens ungünstig gelegenen, aber faszinierenden chirurgischen Hauptvorlesung von Trede sehr beeindruckt. Die Schönheit der praktischen Aspekte brachte mir danach das PJ-Tertial in der Klinik von Junghanns in Ludwigsburg näher und meine Entscheidung Chirurgie zu machen, war gefallen.

In Hannover trat ich 1983, mehr zufällig, als ausgesucht, in ein für damalige Verhältnisse sehr modern aufgestelltes chirurgisches Zentrum ein. Hier beindruckten mich Persönlichkeiten wie Georg Borst, Rudolf Pichlmayr und Harald Tscherne. Es war ein System, dass nicht nur Persönlichkeit schulte, sondern eine Struktur darstellte, die mit starken, hochspezialisierten Partnern in der interdisziplinären Zusammenarbeit an sich keine chirurgische Grenze anerkannte. Das war mein Rollenbild, das wollte ich können, solche Strukturen wollte ich auch aufbauen können. An dieser Stelle bedanke ich mich ausdrücklich bei meinen glücklicherweise noch anwesenden chirurgischen Lehrern für diese einmalige Chance und den weiter bestehenden Zusammenhalt!

Warum erzähle ich das aber? Das damalige Rollenbild war attraktiv: Hoher Spezialisierungsgrad, ein Zentrum starker Persönlichkeiten, die sich gegenseitig förderten, aber auch forderten, ein besonderer Rückhalt durch die Verwaltung und hohe Durchsetzungskraft gegen die Verwaltung. Chirurgie wurde geschätzt und für uns Assistenten hat sich unser Engagement langfristig immer gelohnt.

Taugt aber auch heutzutage die Position eines Klinikdirektors, eines Chefarztes, oder auch des Praxisinhabers, kurz gesagt des eigenverantwortlich agierenden Chirurgen noch als Rollenbild? Vielfach habe ich da meine Zweifel! Zerrieben zwischen Mangelmanagement, Verwaltung, Bürokratisierung, Gesetzgebung und fallzahlbezogener Leistungsorientierung überwiegt vielerorts die Fremdbestimmung oder zumindest der Eindruck einer Fremdbestimmung. Die eigentliche Patientenbehandlung und Operationstätigkeit ist dabei nur noch eine kurze Periode der beruflichen Erfüllung im Tagesablauf, eingebettet in ein enges Korsett der fremdbestimmten Tätigkeiten.

Da erscheint es logisch, dass heute eher das Berufsziel eines „surgical consultant“ an Attraktivität gewinnt. Schnelle Hyperspezialisierung, schnellerer Zugang zu eigenständiger Operationsfähigkeit und baldige Tätigkeit an Operationszentren wird gerne als chirurgisches Berufsziel angegeben.

Sind solche Entwicklungen auch für Deutschland eine Lösung? Ich bezweifle das. Wir haben mit der möglichen Aufgabe unseres Systems der „Chirurgischen Schulen“ viel zu verlieren. Vor vier Wochen diskutierten wir dieses Problem mit dem Vorstand des Royal College of Surgeons of England. Trotz differenter, auf Consultants basierender Systeme, bestehen auch in England große Probleme Nachwuchs zu gewinnen, große Schwierigkeiten, die Consultants in eine flächendeckende Versorgung zu integrieren und ein im Vergleich zu Deutschland deutlich erschwerter und teilweise rationierter Zugang der Bevölkerung zu chirurgischen Leistungen. Die USA? Schnelle Spezialisierung, schnelle eigenverantwortliche Tätigkeit sind auch dort Merkmale. Auf den ersten Blick erscheint das attraktiv. Aus Patientensicht ist das aber nicht unkritisch. Die zu erwartende Leistung hängt wesentlich vom Erfahrungsgrad des sich selbstständig in seiner Spezialität weiterentwickelnden jungen Chirurgen nach einer „Fellowship“ ab. Der Zugang der Bevölkerung zu speziellen Leistungen ist deutlich stärker an das Einkommen gekoppelt als bei uns und das in Verbindung mit einem deutlich teureren Gesundheitssystem.

Das bedeutet, wir haben viel zu verlieren, wenn wir unkritisch und leichtfertig über chirurgische Weiterbildungscurricula und Organisationsformen entscheiden! Die Chirurgie hat auch hier besondere Anforderungen, die grundsätzlich auch von uns gestaltet werden müssen. Qualität und Sicherheit zu riskieren, um in fünf Jahren „Barfußchirurgen“ weiterzubilden, die dann in der unterversorgten Fläche ihre Erfahrungen sammeln, kann und darf nicht unser Ziel sein! Die chirurgischen Standards von Qualität und Sicherheit müssen überall in Deutschland gelten!

Ich komme zum nächsten Abschnitt:

2. Was erwarten wir nun konkret von Politik, Kostenträgern und Partnern?

Die Rahmenbedingungen für die Chirurgie müssen definiert und patientengerecht anpasst werden!

Chirurgische Stationen sind pflegeintensive Stationen, sie brauchen besondere Ausstattung und Berücksichtigung. Die demographische Entwicklung erhöht den Aufwand zusätzlich! Die notwendige perioperative pflegerische und ärztliche Betreuung muss einheitlich ausreichend berücksichtigt werden.

Die erforderlichen Rahmenbedingungen haben wir heute Morgen zusammen mit dem Berufsverband Pflege und dem Deutschen Pflegerat diskutiert und artikuliert.

Chirurgische Forschung ermöglichen!

Über den Bereich der chirurgischen Forschung habe ich bisher noch nicht gesprochen. Das hätte den Rahmen gesprengt und war auch ständiges Thema der letzten Jahre. Aber auch jetzt ist dieses Thema weiter hochaktuell und brisant. Wir wissen, dass chirurgische Sprunginnovationen, wie z. B. die Einführung endoskopischer Operationen, die operative Frakturbehandlung, Technologieintegration und anderes sich außerhalb der strukturellen Forschungsförderung entwickelt haben. Auch hierzu brauchen wir eine besondere Betrachtung der Forschung. Chirurgische Forschung braucht Raum und Zeit im Alltag. Fragestellungen entwickeln sich aus dem Patientenkontakt. Vorschläge zum „Chirurgischen Clinician Scientist“ haben wir heute in einer Sitzung formuliert und werden sie als Münchner Deklaration zu Papier bringen.

Wir wollen Qualität und Sicherheit in der perioperativen Chirurgie steigern!

In diesem Zusammenhang einen herzlichen Dank an die DGAI und ihre anwesenden Repräsentanten für die offenen und konstruktiven Gespräche! Wir brauchen einander und trotz aller Neckereien können wir nur gemeinsam agieren! Klare Aussagen zur ärztlichen Ausstattung von chirurgischen Stationen, MET und möglichen technischen Ergänzungen wurden diskutiert und auch in gemeinsamen Statements artikuliert.

Erhöhte Qualität und Sicherheit braucht aber zusätzliche Resourcen. Diese müssen sinnvoll eingesetzt werden und wir sind uns alle einig, dass zusätzliche Strukturen erst dann akzeptabel sind, wenn die ausreichende Grundausstattung chirurgischer Stationen gesichert ist.

Unsere Position zur Mindestmengendiskussion

Eine rein numerische Betrachtung der Mindestmenge ist unseres Erachtens zu kurz gegriffen. Wir alle wissen, dass höhere Fallzahlen die Expertise wachsen lassen und damit auch zu einer höheren Qualität beitragen können. Die Zertifizierungsangebote unserer Fachgesellschaften gehen da weiter und schließen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität ein. Muss gesteuert werden, brauchen wir Vorgaben. Andere Länder, und ich nenne hierbei exemplarisch unser Partnerland Niederlande, sind in dieser Beziehung schon deutlich weiter. Hier ist genau festgelegt, in welchem Zentrum, welche Art von Chirurgie angeboten werden soll und im Endeffekt auch nur angeboten werden darf. Das ist aber eine gesundheitspolitische Entscheidung, die auch politisch durchgesetzt wird. Derartiges würde uns sehr helfen, denn die Prinzipien der „freien Marktwirtschaft“ sind meiner Meinung nach im hochregulierten Gesundheitsmarkt nur bedingt tauglich.

Auch das Abrücken von einem flächendeckenden, wohnortnahen Versorgungsangebot muss gemeinsam vertreten werden und kann nicht am Unvermögen eines einzelnen Krankenhauses festgemacht werden, das die Mindestmenge nicht erreicht hat.

Es ist zu begrüßen, dass schon derzeit in hochspezialisierten Zentren einzelne Operationen hochfrequent und hochqualitativ angeboten werden. Diese Zentren arbeiten auch ökonomisch vorbildlich und werden als Positivbeispiele genannt. Für eine Standardsituation ist das eine, für alle Beteiligten, äußerst positive Situation.

Es kann aber auf der anderen Seite nicht angehen, dass sich eben diese Zentren aus der Notfall- und Komplikationsbehandlung heraushalten können und Problemsituationen wie komplizierte Verläufe, Komplikationen, Rezidive und Notfallvorstellungen von den Maximalversorgungszentren rund um die Uhr aufgefangen werden müssen. Diese können wiederum, wegen ihres auftragsgemäß sehr breiten Spektrums, die Mindestmengen für Standardoperationen gar nicht mehr erreichen und haben ökonomisch daher kaum noch Kompensationsmöglichkeiten. Hier bräuchte es Steuerung oder einen Ausgleich!

Sehr gerne würden wir auch gemeinsam mit den Kassen an den vorgelegten Routinedaten forschen und könnten sicherlich noch zusätzliche Expertise einbringen!

Wir Chirurgen stehen für Qualität und Sicherheit, wir sind auch bereit, notwendige Strukturänderungen mitzutragen. Dazu verlangen wir aber verlässliche Vorgaben, die gemeinsam von Politik und Kostenträgern den Beitragszahlern gegenüber vertreten werden müssen.

Erlauben Sie mir bitte in diesem Zusammenhang zwei grundlegende und ggf. auch provokative Fragen:

1.Ist es nötig, dass in einem als Solidarsystem angelegten Gesundheitssystem, das auch noch weltweit als herausragend anerkannt ist, der gerade erlebte Konkurrenzkampf zwischen den Krankenhäusern bewusst geschürt wird oder erlaubt der politische Sicherstellungsauftrag nicht auch andere Lösungen der Steuerung?

2.Macht es im Rahmen einer immer komplizierter werdenden Abrechnungssystematik wirklich Sinn, einerseits in den Krankenhäusern immer mehr hochqualifiziertes medizinisches Fachpersonal im Controlling und Performing einsetzen zu müssen, um den zeitaufwändigen Überprüfungen eines ebenfalls mit Fachkompetenz immer weiter „hochgerüsteten“ medizinischen Diensts der Krankenkassen standzuhalten, wenn uns auf den Stationen und in den Notaufnahmen dauerhaft qualifiziertes Personal fehlt, um unsere Patienten situationsgerecht und auch empathisch zu behandeln?

Sie müssen verstehen, dass genau diese Fragen immer dann von uns Chirurgen diskutiert werden, wenn es wieder einmal gilt Patienten zu beruhigen, weil Stationen geschlossen wurden, Operationen verschoben werden mussten, die Wartezeiten in den Notaufnahmen ausufern oder die notwendige aufwändige perioperative Betreuung nur noch unter höchster Anstrengung eines sowieso schon erschöpften Personals aufrechterhalten werden kann.

Wir erwarten Gehör in der Gestaltung der zukünftigen Musterweiterbildungsordnung!

Wir haben eine gemeinsame Weiterbildungskommission. Wir stehen für die flächendeckende Weiterbildung. Wir halten die Balance zwischen Spezialisierung und genereller Betätigung. Qualität richtet sich zwangsläufig mittelfristig immer am Spezialisten-Standard aus! Braucht es Spezialisten-Kenntnisse in Personalunion, können diese durch Doppel- und Dreifachqualifikation erworben werden, z. B. für die Einsatzchirurgie.

Die Notfallversorgung von Patienten!

Der intersektorale Streit muss aufhören und das möglichst schnell! Gegenseitige Vorwürfe führen bekanntermaßen zu nichts! Weder müssen Betten gefüllt werden, noch werden Patienten böswillig von Praxen ferngehalten. Die geänderte Grundeinstellung unserer heutigen Patienten muss zusätzlich berücksichtigt werden. Erwartet, und oft auch vorgegaukelt, wird die jederzeitige Verfügbarkeit von medizinischer Kompetenz und Leistungen. Von Seiten der Patienten wird dieser Anspruch häufig durch eine eigenen, erhöhten beruflichen Druck begründet und der generell schwindenden Akzeptanz von Wartezeiten und Mehrfachvorstellungen. Medizinische Leistungen erscheinen jederzeit und überall abrufbar, besonders in den immer geöffneten Notaufnahmen. Wie auch andere Waren und Leistungen im modernen Leben nahezu jederzeit verfügbar sind. Die erneute Einführung von Notfallgebühren könnte Steuerungsfunktion übernehmen. Ist dieser Patient allerdings erst einmal in der Notaufnahme angelangt, muss er ärztlich gesehen werden. Bei der derzeitigen Patientenfülle und geringen Personalausstattung ist die schnelle Behandlung der zuverlässigere Weg dem Patientenstrom Herr zu werden. Sektorenübergreifende, intelligente Strukturen würden allen Beteiligten helfen. Die derzeitigen Bestrebungen Zuschläge für den Betrieb leistungsfähiger Notaufnahmen zu gewähren gehen sicherlich in die richtige Richtung, werden aber kaum ausreichen, das Problem grundlegend zu lösen.

Die Wertigkeit der chirurgischen Leistung muss ausreichend honoriert werden

Die gerade beschriebenen hochkomplexen, erfahrungs- und wissensbasierten chirurgischen Entscheidungsabläufe, die außerordentliche Verantwortung, gepaart mit manueller Kunst, muss sich auch finanziell niederschlagen! Gerade in der Beratungsfunktion zur evtuellen Vermeidung unnützer Operationen liegt die Kunst! Diese essenzielle chirurgische Leistung ist bisher nicht oder nur am Rande berücksichtigt. Es ist nicht hinnehmbar, dass sowohl in der Gebührenordnung als auch im stationären Finanzierungssystem die Beträge für technische Leistungen und Zusatzleistungen oft ein Vielfaches der chirurgischen Kernleistung betragen.

Unser Problem: wie quantifizieren wir unsere Leistung? In Zeiteinheiten? Sicherlich nicht! In gewonnenen Lebensjahren? Auch das geht nicht! Andere Partner haben es da leichter, hier müssen wir als Chirurgen schnell vorankommen. Ansonsten ist in der ganzen Abrechnungssystematik die chirurgische Kernleistung als „all inclusive“ in einer allgemeinen Rechnungsspezifikation unter den Tisch gefallen!

Die Chirurgie als freier Beruf

Dieses Thema betrifft nicht nur uns! Aber insbesondere die gute und jederzeitige Zugänglichkeit zu chirurgischen Leistungen zu einem sehr annehmbaren Preis ist ein Erfolg einer immer noch relativ freien ärztlichen Tätigkeit. Andere Systeme, wie z. B. England oder Skandinavien, reglementieren und rationieren ärztliche Leistungen. Dort wird es von der Bevölkerung hingenommen. Wie das in Deutschland aussehen würde, wage ich nicht zu prognostizieren. Chirurgisch wird derzeit noch nicht „nach Vorschrift“ agiert, daher funktionieren die chirurgischen Einheiten im Großen und Ganzen – noch!

3. Welche Rolle spielt die DGCH in dieser Gemengelage?

DGCH 1872 bis 2017, 145 Jahre eine Erfolgsstory!

„Das wird sicher so weitergehen! Änderungen brauchen wir nicht und als Präsident bist du sowieso eine Eintagsfliege ohne Gestaltungsoption! Lass doch am besten alles wie es ist!“

Das wäre die eine Seite meiner Medaille. Auf der anderen Seite ertönt die allgemeine Kritik an der DGCH: „vollkommen verkrusteter Verein! überholt, nicht mehr zeitgemäß! In Traditionen erstickt!“

Ich möchte es dabei belassen. Aber auch innerhalb unserer Fachgesellschaften sind derartige Kommentare, ich möchte es mal freundlich als Lästereien bezeichnen, nicht gerade selten.

Warum stehe ich also hier? Weil ich auch einmal diese Plakette umhaben wollte, wie eine Trophäe, wie ein Sportabzeichen?

Sicher nicht und wer mich kennt, wird das auch bestätigen.

Ich persönlich glaube an das Potenzial der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. An die enorme Stärke der „Marke Chirurgie“, an unsere gemeinsamen Grundwerte, an die DGCH als Heimat unserer chirurgischen Identität, aber auch an den für uns alle zwischenzeitlich erlebbaren Mehrwert. Ich glaube aber auch an unsere Tradition.

Wieso Tradition? Genau betrachtet war die Tradition von heute ehemals auch eine Innovation, d. h. heutige Innovationen haben durchaus das Potenzial für morgige Traditionen.

Wir Chirurgen sind vom Grundsatz her Traditionalisten. Das müssen wir auch sein, denn chirurgischer Fortschritt ist immer auch risikobehaftet, für alle Beteiligten, besonders für den Patienten.

Nehmen wir das Beispiel Raumfahrt: für viele von Ihnen sicherlich ein überraschender Vergleich. Auch dort gibt es eine ähnliche Situation. Es gilt hier wie dort, keine unbeherrschbaren Risiken, keine Fehler, möglichst nur erprobte und bewährte Verfahren einzusetzen. Ganz ähnlich agieren wir! Wir müssen auf der sicheren Seite bleiben, das hat uns erfolgreich über lange Perioden getragen, aber auch etwas träge gemacht.

Jetzt sind wir aber erneut in einer Phase, in der wir uns erheblichen Anforderungen stellen müssen. Die Rahmenbedingungen für die Chirurgie stellen sich derzeit als besorgniserregend dar. Die Spezialisierung hat uns medizinisch gestärkt, politisch aber schwächer gemacht. Grundlegende Änderungen kann keine einzelne Fachgesellschaft erreichen, allenfalls individuelle Vorteile aushandeln. Grundlegende Änderungen gelingen nur gemeinsam. Dazu muss die DGCH aber ihre Struktur, ihre Aufgaben und ihre Zielrichtung anpassen.

„Dann sollen die mal machen“, höre ich häufig. Ist die DGCH wirklich ein abstraktes Gebilde? Weit gefehlt, Sie alle, die chirurgischen Fachgesellschaften, wir alle sind die DGCH! Die Fachgesellschaften stellen den Vorstand, sie entscheiden! Wir haben gemeinsam die Umsetzung einer Doppelmitgliedschaft beschlossen, d. h. die Aufnahme aller assoziierten Mitglieder als stimmberechtigte Einzelmitglieder in die DGCH. Das wird unsere gemeinsame Durchsetzungskraft stärken, wir haben leider schon viele Jahre durch die vorangegangene Strukturdiskussion verloren. Die Umsetzung wird mühsam sein und erfordert Mut und Überzeugungskraft. Ich bin aber überzeugt, dass ein Verband, der 25.000 chirurgische Meinungsführer vertritt, mehr politisches Gehör finden wird. Nur so kann es gelingen, unser Arbeitsumfeld wieder nach unseren Vorstellungen, patientengerecht und an unsere gewohnten Qualitäts- und Sicherheitsstandards angepasst, auszugestalten!

Dieser Weg ist steinig und ein Ende ist noch nicht absehbar. Er verlangt große Anstrengung und Kompromissfähigkeit. Natürlich brauchen wir dabei auch eine Mehrwertdiskussion. Aber Mehrwert ist nicht alles. Es geht um eine Idee, es geht um unsere Identität!

Von daher auch ein eindringlicher Appell an alle Beteiligten: Wir brauchen eine starke chirurgische Vertretung, wir brauchen die DGCH als Marke! Beteiligen Sie sich, arbeiten Sie mit, gestalten Sie mit an den neuen Strukturen! Erste Erfolge z. B. in Richtung der Neugestaltung der Musterweiterbildungsordnung und erreichte Lösungen bei der Definition von Fachgebietsgrenzen zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Sie sehen die DGCH bewegt sich, zwar nicht blitzschnell, aber konsequent und stetig, an die Erfordernisse angepasst und überlegt, chirurgisch eben. Und das im Alter von 145 Jahren!

Über die notwendigen Satzungsänderungen werden wir in der Mitgliederversammlung beraten. Ich bitte um Ihre Zustimmung. Sie machen den Weg frei für die Neuausrichtung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.

Im nächsten Schritt ist es an den tragenden Fachgesellschaften, die notwendigen internen Diskussionen konsequent zu führen und die entsprechenden Satzungsergänzungen von Ihren Mitgliedern tragen zu lassen. Zögerliches Vorgehen ist dabei sicherlich nicht angezeigt, taktieren schadet uns allen und einen fraglich besseren „Deal“ wird es auf absehbare Zeit nicht geben!

Dies wird nicht in einem oder zwei Jahren zu schaffen sein. Präsidenten sind wichtig, aber es sind die vorhandenen Strukturen, die uns durch schwierige Zeiten getragen haben. Die neu angepassten Strukturen werden uns in die Zukunft tragen! Konvent der Generalsekretäre, Gruppentreffen der Schatzmeister, neue Projektgruppen für Doppelmitgliedschaft und Kongressentwicklung, alles trägt zur Stärkung bei!

Besinnen wir uns auf unsere Grundwerte, besinnen wir uns auf unsere Stärken. Wir Chirurgen sind von Haus aus Teamplayer, in kaum einem Beruf arbeitet man so eng zusammen. Leben wir das auch zwischen unseren Spezialitäten, schätzen wir unsere gegenseitige Arbeit, ergänzen wir uns und bringen wir alle Kompetenzen und Kräfte zum Nutzen der Gesamtheit und der uns anvertrauten Patienten ein!

In einer derartigen Ausrichtung wird die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie unsere Heimat bleiben und uns allen gemeinsam als starke Marke dienen.

Die Chirurgie, unsere Chirurgie, ein wunderschöner und von uns allen geschätzter Bereich der Medizin, aber auch ein sehr spezieller Bereich, eine besondere Branche eben, sollte uns diese gemeinsame Anstrengung wert sein!

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Was erwartet uns nun die nächsten Tage? Die angesprochenen Themen werden uns natürlich weiter beschäftigen. Es gibt thematisch einige Neuerungen, beachten Sie dazu bitte das Programm!

Besuchen Sie unsere Aktionsfläche „Junge Chirurgie“. Sie dient dem Austausch zwischen Nachwuchs und ihnen als gestandene Chirurginnen und Chirurgen, eine Innovation, die hoffentlich auch zur Tradition wird!

Unterstützen Sie den Organspendelauf! Beteiligen Sie sich, spenden Sie, helfen Sie! 10.000 Patienten warten auf ein neues Organ, viele werden sterben. Die Etablierung eines neuen „Netzwerkes Spenderfamilien“ wird sicher ein wichtiger und notwendiger Schritt für eine höhere Spendenbereitschaft.

Ich danke an dieser Stelle schon allen Partnern und explizit auch den Industriepartnern unseres Kongresses. Ihr Interesse und die Akzeptanz unserer Bestrebungen machen dieses wichtige Forum zum Erkenntnisgewinn erst möglich! Der Kongress soll attraktiv bleiben, wir wollen wachsen! Das spannende Gebiet der Chirurgie ist es sicher wert, dass wir in dieser Beziehung alle in eine Richtung agieren.

Ich danke allen, die mich in den anstrengenden Tagen unterstützt haben und noch unterstützen, meinen Mitarbeitern und ganz besonders natürlich meiner Frau. Liebe Inga, ohne Deine Geduld und Hilfe könnte ich hier nicht stehen!

Uns allen wünsche ich anregende Tage und fruchtbare Diskussionen!

Mehr erfahren über den Chirurgenkongress 2017

Pohlemann T. Präsidentenrede anlässlich des 134. DGCH-Kongresses 2017. Passion Chirurgie. 2017 Mai, 7(05): Artikel 06_01.

Gemeinsam stark

Sehr geehrte Frau Kollegin,
sehr geehrter Herr Kollege,

ähnlich dem so häufig angeführten Vergleich von „des Kaisers neuen Kleidern“ erhalten Sie heute die erste Ausgabe der gemeinsamen Mitgliederzeitung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie und dem Berufsverband der Deutscher Chirurgen als weiteren Hinweis für die Umsetzung der angestrebten Einheit der deutschen Chirurgie. Bemühungen um mehr Gemeinsamkeiten in unserem Fachgebiet bei Wahrung der individuellen Eigenständigkeit bestehen seit langem, ließen sich allerdings nur schwierig realisieren; teilweise auch mitbedingt durch eher enttäuschende Ergebnisse von sogenannten Tiefeninterviews mit Vertretern der wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Berufsverbänden aus dem Jahre 2013.

Gerade aber bei Berücksichtigung der in den Satzungen vorgegebenen Zielsetzungen mit Förderung und Koordination der wissenschaftlichen Tätigkeiten aller in Deutschland tätigen Chirurgen bzw. bei Erhalt und Weiterentwicklung einer leistungsfähigen Chirurgie die Belange aller Chirurgen zu wahren und zu fördern, erscheint es mehr als sinnvoll, wenn die wissenschaftlichen Fachgesellschaften und die entsprechenden Berufsverbände in vielen Belangen gemeinsam agieren. Nur so kann das zweifelsfrei vorhandene Potenzial der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie als eine der ältesten wissenschaftlichen Gesellschaften weltweit und das des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen als Europas größter Chirurgenverband auch wirklich genutzt wird. Unter dem Aspekt „together everybody achieves more“ könnte es mit Teamgeist gelingen, mehr Gehör und Aufmerksamkeit bei der zunehmenden Zahl von Selbstverwaltungsorganen und politischen Entscheidungsträgern zu finden. In der derzeitigen gesundheits- und berufspolitischen Situation in unserem Lande kann man in der Tat nur gemeinsam stark auftreten, um sich auch etwaige Einflussmöglichkeiten zu eröffnen.

Herausforderungen hierzu gibt es genügend und exemplarisch seien nur die Novellierungen der Musterweiterbildungsordnung und der Gebührenordnung für Ärzte, Definition von Qualitätsparametern bei entsprechend geplanter Vergütung, das Krankenhausstruktur – oder Antikorruptionsgesetz genannt. Im Bereich der Weiterbildungsordnung ist es nun bereits gelungen, eine einstimmige Empfehlung an die zuständige Kommission der Bundesärztekammer abzugeben. Der Weg zur weiteren Akzeptanz gemeinsamer Beschlüsse von Fachgesellschaften und Berufsverbänden wird sicherlich nicht einfach sein, aber erste Schritte zeichnen sich ab, wie die Präsidialgespräche mit der Bundesärztekammer zum jeweiligen Jahresbeginn oder Einladungen an die offiziellen Vertreter der Fachgesellschaften und Berufsverbände aus dem Bundesministerium für Gesundheit zur aktiven Teilnahme an verschiedenen Veranstaltungen.

Im Sinne der engeren Kooperation ist mittlerweile auch eine gemeinsame Pressestelle eingerichtet worden. Dabei entstand auch die gemeinsam herausgegebene Zeitschrift für unsere Mitglieder, deren Probeexemplar im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie eine durchaus positive Resonanz gefunden hat. Machen Sie sich also ein Bild über die „neuen Kleider“ unserer Mitgliederzeitschrift, wobei die Herausgeber sich über ihre Anmerkungen, kritische Stellungnahmen und konstruktive Anregungen freuen würden.

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest im Kreise Ihrer Familie und einen guten Rutsch ins neue Jahr.