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Nichtwissen im chirurgischen Krankenhausalltag

Was tun Sie, wenn Sie etwas nicht wissen? Mit dieser Eingangsfrage sind wir in die Interviews gestartet. Dabei wurde uns schnell klar, dass Nichtwissen keinesfalls nur mit einer negativen Bedeutung verbunden ist:

„Im Grunde überblickt man schon im Studium, dass man eigentlich alles gar nicht wissen kann. Man weiß von Anfang an, dass man einen Beruf ergreift, bei dem das Nichtwissen eigentlich lebenslang anhält. Wichtig ist, dass man die Motivation behält, sich weiter zu entwickeln“ (Chefarzt, Chirurgie 20: 894-898).

Aus der individuellen Perspektive der befragten Ärztinnen (der besseren Lesbarkeit halber, wird nachfolgend das männliche Geschlecht genutzt) und Ärzte ist vor allem der Erwerb der Fähigkeit und die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit entscheidend, um dem (un)bekannten Nichtwissen aktiv zu begegnen. Dazu gehört auch, das eigene Nichtwissen zu akzeptieren und mit den daraus resultierenden Unsicherheiten umzugehen. Ein Chefarzt der Anästhesie benutzte in diesem Zusammenhang die Metapher, dass angehende Ärzte nicht laufen, sondern schwimmen lernen müssen, d. h. sie müssen lernen, ein Ziel auch ohne festen Boden unter den Füßen zu erreichen. Doch welche Strategien nutzen Chirurgen in Krankenhäusern, um ihr eigenes oder fremdes Nichtwissen zu beheben? Während der Interviews wurde uns eine Vielzahl an Beispielen genannt, die in diesem Beitrag kurz vorgestellt werden sollen.

Wir danken allen Chirurginnen und Chirurgen, die uns ihre kostbare Zeit für ein Interview zur Verfügung gestellt haben. Darüber hinaus danken wir unseren studentischen Hilfskräften für die zuverlässige Transkription der Interviews. Ohne die Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft wäre die Realisierung des Projekts „Welche Faktoren beeinflussen den Umgang mit Nichtwissen verschiedener ärztlicher Professionen in Krankenhäusern?“ (WI 3706/1-1) nicht möglich gewesen.

Wen haben wir befragt?

Von April bis August 2011 wurden insgesamt 43 leitfadengestützte Experteninterviews mit Krankenhausärzten der vier Fachdisziplinen (Anästhesiologie, Chirurgie, Innere Medizin und Pathologie), auf verschiedenen Hierarchiestufen (Ärztliche Direktoren, Chef-, Ober-, Fach- und Assistenzärzte), in unterschiedlichen Krankenhaustypen in Bezug auf die Größe (Grund- und Regelversorgung, Schwerpunktversorgung, Maximalversorgung, Universitätsklinik) sowie unter Berücksichtigung der regionalen Verortung (ländlicher Raum vs. Ballungsgebiet) durchgeführt.

Im Sample stellen die Chefärzte die größte Gruppe dar. Die bewusste Überrepräsentanz dieser Statusgruppe liegt in der langjährigen (Berufs-)Erfahrung der Chefärzte begründet, sodass sie (retrospektive) Aussagen zu wichtigen Rahmenbedingungen einbringen konnten. Die Verteilung der Statusgruppen in Bezug auf das Geschlecht bildet in etwa das aktuelle Geschlechterverhältnis in Krankenhäusern ab (vgl. Wilkesmann 2009: 275).

Bis auf zwei Ausnahmen konnten alle Interviews digital aufgezeichnet werden. Während der Gespräche wurde den Interviewpartnern auch die Möglichkeit eingeräumt, die Aufnahme zu unterbrechen. Diese Option wurde trotz der sensiblen Thematik nur in einem Fall in Anspruch genommen. Insgesamt war die Bereitschaft, sich zu diesem Thema befragen zu lassen sehr groß, was sich in der Offenheit der Äußerungen aber auch in der uns gegenüber investierten Interviewdauer niedergeschlagen hat (z. B. Chefärzte Ø 53,69 Min. und Oberärzte Ø 64,91 Min.).

Ferner ist zu beobachten, dass Männer in höheren Positionen im Vergleich zu ihren weiblichen Kolleginnen längere Interviews gaben. Dieses Ergebnis ist insofern interessant, weil in einer vorherigen Studie zum Wissenstransfer im Krankenhaus (Wilkesmann 2009) ebenfalls ein signifikanter Geschlechterunterschied bei der Wissensweitergabe festgestellt wurde: Ärzte und männliche Pflegekräfte hatten – im Gegensatz zu ihren weiblichen Kolleginnen – eher das Gefühl, Wissen an andere weiterzugeben (Wilkesmann, 2009: 246).

Die vier Dimensionen des Nichtwissens

In den theoretischen Vorüberlegungen wurden in der Kombination eines psychologischen Ansatzes von Smithson (2008) und eines Ansatzes von Kerwin (1993) aus dem Kontext der Medizin ein Vier-Felder-Schema entwickelt (Wilkesmann 2010, s. Tab. 1). Die vier Dimensionen des Nichtwissens unterscheiden sich durch ihre Eigenschaft (bekannt oder unbekannt) und ihre Manifestation (Wissen oder Nichtwissen). Aus der Kombination ergeben sich folgende vier Dimensionen des Nichtwissens:

Manifestation
Wissen Nichtwissen
Eigenschaft bekannt BEKANNTES WISSEN
als scheinbares Nichtwissen
(Wissen, dass man anderen vorenthält)
BEKANNTES NICHTWISSEN
(Nichtwissen, von dem man weiß, dass man es nicht weiß)
unbekannt UNBEKANNTES WISSEN
(Wissen, von dem man nicht weiß, dass man es weiß)
UNBEKANNTES NICHTWISSEN
(Nichtwissen, von dem man (noch) nicht weiß, dass man es nicht weiß)

Im Rahmen der qualitativen Studie wurden für alle vier Dimensionen Beispiele und Umgangsstrategien gefunden. Für die insgesamt 34 Stunden Interviewmaterial wurden in den transkribierten Textdateien 1.569 Codes für verschiedene Umgangsstrategien mit Nichtwissen vergeben. Nachfolgend werden sowohl die vier Nichtwissensdimensionen, als auch die jeweils identifizierten Umgangsstrategien beschrieben und mit jeweils exemplarischen Interviewausschnitten kurz illustriert.

Bekanntes Nichtwissen – „Ich weiß, dass ich etwas nicht weiß“

Diese Dimension umfasst jenes Nichtwissen, das einer Person bekannt ist. Die Umgangsstrategien unterscheiden sich insofern, als dass das Nichtwissen das eigene oder ein fremdes Fachgebiet betreffen kann. Falls das Nichtwissen das eigene Fachgebiet betrifft, gibt es zumindest Anhaltspunkte, an denen man sich orientieren kann, um das Nichtwissen zu beheben. Die dominante Umgangsstrategie kann daher unter der Kategorie ‚Lernen’ subsumiert werden. Dies geschieht beispielsweise durch gezieltes Nachfragen, Beobachten von Kollegen, durch die Teilnahme an Fort- oder Weiterbildungen, oder durch die Nutzung klassischer und neuer Medien sowie durch die Zuhilfenahme (abteilungsinterner) Leitlinien und Algorithmen.

„Also mein Spruch auch meinen jüngeren Mitarbeitern gegenüber ist eben, man muss nicht alles wissen, man muss nur wissen wen man fragt. Und das heißt, die Idee zu haben: „Wer könnte jetzt mir weiter helfen?“ (Chefarzt, Chirurgie 09: 92-94).

„Dr. Google ist häufig eine große Hilfe. So gerade in Alltagssituationen. Zum Beispiel man wird ja irgendwann doch ein bisschen zum Fachidioten, wenn man sich eine Zeit lang nur noch mit bestimmten Krankheitsbildern auseinandersetzt und dann denke ich, das hast du im Studium gehört und was war das zur Hölle noch mal? Dann ist Google häufig einfach die schnellste Alternative zur Wissensauffrischung” (Assistenzärztin, Chirurgie 11: 73-77).

Unter den unterschiedlichen Fachgebieten wurde besonders in der Chirurgie deutlich, dass das aktive Beobachten von erfahrenen Kollegen während der OP eine wichtige Rolle spielt, wie die nächsten Interviewausschnitte zeigen:

„Aber das spezielle Operieren selbst, das habe ich, glaube ich, durch das Sehen gelernt. Also man lernt auch viel durch das Sehen. Wenn man genau guckt, wie er das jetzt macht“ (Assistenzärztin, Chirurgie 06: 334-336)

„Bei uns spielt das visuelle eine sehr, sehr große Rolle in der Chirurgie. Ein Unerfahrener, der nicht dieses visuelle Wissen hat, kann einen Leistenbruch oder einen Wiederholungsbruch nicht operieren“ (Oberärztin, Chirurgie 16: 94-106).

„Wir lernen ganz viel vom Zuschauen. Wir machen die großen Operationen zum Beispiel zu dritt. Da ist einer der operiert, ein Älterer assistiert und ein Dritter steht am Haken. Es kann ein Student im praktischen Jahr sein, oder ein jüngerer Assistent. Und dann muss man ab und zu den mal fragen, den Dritten: „Was mache ich denn hier gerade?“ – damit der nicht einschläft. Sie können sich vorstellen, dass man da mit den Gedanken ganz woanders sein, aber trotzdem Haken halten kann“ (Chefarzt, Chirurgie 09: 411-417).

Eine weitere Strategie, die unter das Lernen fällt, besteht darin, Kollegen zu fragen, sich selbst durch Literaturrecherchen (z. B. Internet, Printmedien) fortzubilden oder Kollegen anderer Krankenhäuser um Rat zu fragen. Diese Strategien werden auf allen Hierarchieebenen genutzt. Chef- und Oberärzte werden dabei oftmals mit komplizierten Problemen und spezielleren Fragen konfrontiert.

„Und wenn man jetzt ein fachliches eigenes Problem hat, kann man natürlich mal einen fragen, aber bei mir wird die Luft dann ein bisschen dünner und dann gucke ich nach. Es gibt auch seltenere Eingriffe und dann gucke ich mir vorher noch einmal an wie es geht. Also das ist nicht so, dass man eine Allmachtsphantasie hat, in den OP schwebt und dann sagt: „Okay, ich kriege dass jetzt schon irgendwie hin.” Also bei komplexeren Dingen guckt man auch noch einmal nach“ (Chefarzt, Chirurgie 08: 263-267).

Chirurgen, die noch unerfahren sind, gaben darüber hinaus an, sich gelegentlich mit erfahrenen Pflegekräften zu beraten. Wenn das bekannte Nichtwissen über die eigenen Fachgebietsgrenzen hinausgeht, wird vielfach die Kooperation mit Kollegen angrenzender Fachgebiete gesucht bzw. die Patienten werden an andere interne oder externe Experten delegiert oder abgegeben.

„Wir haben hier gerade eine 23-jährige Patientin mit so einer Krankheit, die angeboren ist. Das Bein ist größer als das andere, eine Gefäßmissbildung. Die kam hier am Freitag hin mit Verdacht auf Thrombose. Das haben wir duplexsonographisch ausgeschlossen. Gestern ist noch eine Untersuchung gemacht worden, um zu schauen, ob die Weichteile in Ordnung sind. Und ich komme nicht weiter. Sie hat weiterhin Schmerzen. Gerade habe ich mit den Angiologen, also Internisten, telefoniert und die werden morgen Konsiliare schicken” (Oberarzt, Chirurgie 14: 92-99).

Die Strategie der Delegation bzw. die Abgabe des Falles und des Konsiliarwesens geht einher mit der immer stärkeren Spezialisierung in der Medizin. Die Anwendung dieser Strategie ist im klassischen Sinn der Arbeitsteilung zu sehen. Auf diese Weise können sich Experten auf Teilbereiche konzentrieren und andere Bereiche anderen Experten überlassen. Allerdings wurde die immer weiter fortschreitende Spezialisierung in der Medizin von unseren Interviewpartnern auch kritisch hinterfragt. Zum einen wird mit 42 Facharztrichtungen in Deutschland ein immer stärker vertieftes Spezialwissen angehäuft, zum anderen beklagen die Interviewpartner, dass gerade jüngere Kollegen immer weniger Wissen über die Gesamtzusammenhänge haben.

Unbekanntes Wissen – „Ich weiß nicht, dass ich etwas weiß“

Unbekanntes Wissen umfasst jenes Wissen, welches in der Person so tief verankert ist, dass es der betreffenden Person nicht bewusst ist. Unbekanntes Wissen offenbart sich als Intuition, welche die elementarste Form der Erkenntnis ohne bewusste Wahrnehmung darstellt (Kruglanski/Gigerenzer 2011). Während der Interviews wurden uns verschiedene Situationen geschildert, wie unbekanntes Wissen in der Chirurgie als Bauchgefühl in Erscheinung treten kann. Ein Beispiel im Umgang mit Kindern zeigt, dass die Intuition bei der Einschätzung des Problems sehr hilfreich sein kann, weil Kinder verbal oft nicht richtig ausdrücken können, was ihnen genau fehlt.

„Die Intuition ist vor allem bei jungen Patienten wichtig, d. h. es ist ganz oft so, dass allein wenn ich schon ein Kind sehe, dann schlage ich schon bestimmte Bahnen ein. Das ist etwas, das lernt man im Laufe der Zeit. Aber das merkt man schon auch bei den Assistenten, dass es manche Leute gibt, die das sehr gut einordnen können, und es gibt andere, die können das überhaupt nicht einordnen“ (Chefarzt, Chirurgie 04: 85-117).

Bei unbekanntem Wissen besteht zudem die Schwierigkeit, dass dieses von der Person häufig nicht selbst reflektiert werden kann. Diese verborgenen Fähigkeiten können aber unter Umständen von außen beobachtet werden und sich in sozialen Interaktionen, beispielsweise durch Hinterfragen, offenbaren. Ein Chirurg erzählte von einem Operationsverfahren, bei dem der Schnitt laut Lehrbuch an der Halsseite vorgenommen werden soll. Im Laufe der Jahre hatte er aber seine Operationstechnik verfeinert und den Schnitt mehr in Richtung Halsmitte verlegt. Erst dadurch, dass ihn jemand von außen auf den „vermeintlichen Fehler“ hinwies, wurde ihm der Unterschied bewusst:

„Man macht irgendetwas, das funktioniert gut, das wird einem gar nicht bewusst und dann kommt jemand von außen und sagt: „Das muss aber ganz anders sein!” Und dann überlegt man erst und versucht das zu erklären und manchmal kommt man da erst ganz mühsam dahinter, warum man es eigentlich so macht“ (Chefarzt, Chirurgie 20: 1167-1187).

Ein Großteil unserer Interviewpartner attestierte uns, dass die Entwicklung der intuitiven Fähigkeiten ein stetiger Lernprozess ist und mit zunehmender Berufserfahrung steigt. Dazu gehört auch, dass man lernt, seinem Bauchgefühl zu vertrauen und angeblich „harte“ Fakten aktiv hinterfragt.

Bekanntes Wissen – „Ich teile den anderen mein Wissen nicht mit“

Bekanntes Wissen tritt ebenfalls als Nichtwissen auf, indem vorhandenes Wissen mit anderen Personen aus verschiedenen Gründen nicht geteilt wird. In dieser Dimension spielen die Strategien Lehren, d. h. die gezielte Wissensweitergabe und das bewusste Zurückhalten von Wissen eine wichtige Rolle. Die Strategie Lehren wird vor allem von erfahrenen Experten gegenüber Novizen angewandt, um deren unbekanntes Nichtwissen zu beheben. Aus dem Blinkwinkel eines erfahrenen Arztes wird bekanntes Wissen aber auch gezielt zurückgehalten, um den anzulernenden Assistenten die Chance einzuräumen, sich Wissen durch eigene Erfahrungen anzueignen.

„Das hängt immer ein bisschen davon ab, was für Konsequenzen das hat. Wenn das nur Zeit kostet, wenn ich sehe, er macht jetzt irgendeinen Zugang nicht ganz richtig, dann ist es halt manchmal sinnvoller, er macht den Fehler einmal selbst, dass er sieht: Jetzt bin ich auf dem falschen Weg und sich hinterher fragt, wie kann ich es denn besser machen? Wenn er aber Gefahr läuft, etwas kaputt zu machen, einen Nerv zu verletzen, dann sollte man vorher eingreifen. Also es gibt bestimmte Komplikationen, die muss man nicht selber machen” (Chefarzt, Chirurgie 01: 118-123).

Die Strategie der bewussten Wissenszurückhaltung wird auch in Interaktionssituationen mit Patienten angewendet. Dabei geht es darum, welcher Grad an Informiertheit dem Patienten aus Sicht des Arztes zugemutet werden kann, sodass sie die Patienten nur selektiv an den eigenen Gedanken teilhaben lassen.

„Manchmal sind das so Fragen nach Prognosen, bei so Tumorerkrankungen. Das Problem ist, da weiß man es auch nicht so wirklich, aber man hat eine Statistik. Man weiß zum Beispiel von 100 Patienten überleben in den nächsten fünf Jahren fünf. Und wenn die Patienten dann fragen, wie lange sie noch haben, dann sage ich: „Ich kann es Ihnen nicht genau sagen“, weil ich es natürlich für den Einzelfall auch nicht wirklich weiß. Ich weiß es halt nur statistisch, aber ich würde niemals die Statistik hinlegen“ (Assistenzarzt, Chirurgie 10:141-151).

Darüber hinaus wird Wissen zurückgehalten, um sich die eigene Arbeit zu erleichtern. Dies geschieht sowohl innerhalb der Abteilung als auch zwischen den Facharztgruppen. In diesen Fällen wird Nichtwissen nur vorgetäuscht. Die Strategie besteht darin, Aufgaben und Arbeit an andere Personen abzugeben oder die Verantwortung (nach oben) zu delegieren.

„Wir hatten einen Assistenten, das war ganz interessant, der hat gerne nach oben delegiert, um sich das Leben leichter zu machen. Das merkt man natürlich irgendwann auch, dass dieses Nichtwissen vorgetäuschtes Nichtwissen ist. Oder es gibt so Fälle, wo jemand aus der Augenklinik angerufen hat und meinte der Patient hätte Schmerzen am After, da müsste jetzt der Chirurg kommen. Da haben wir gefragt: „Ja haben Sie denn mal geschaut, was der da hat?“ Da meinte der Kollege: „Ja, da schaue ich doch nicht drauf, ich bin Augenarzt“ (Oberarzt, Chirurgie 12: 616-634).

Die verschwimmenden Grenzen von Zuständigkeitsbereichen durch die bereits oben genannten Spezialisierungstendenzen führen aber auch dazu, dass sich Ärzte unter DRG-Bedingungen mittlerweile um Patientenfälle streiten.

Neben den bisher genannten Strategien enthält die Dimension des bekannten Wissens auch das Verschleiern von Fehlern, indem das Wissen darum bewusst zurückgehalten wird, weil man etwa rechtliche Konsequenzen fürchtet. Das bewusste Zurückhalten von Wissen wird aber auch von karriereorientierten Ärzten auf der mittleren Hierarchieebene aufgrund der begrenzten Zahl von leitenden Positionen angewendet. Dabei geht es vornehmlich darum, sich selbst zu profilieren oder den Eindruck der Unentbehrlichkeit zu hinterlassen.

Unbekanntes Nichtwissen – „Ich weiß nicht, dass ich etwas nicht weiß“

Das unbekannte Nichtwissen stellt das am schwierigsten zu erfassende Nichtwissen dar. Im Prinzip geht es darum, dass es Wissen gibt von dem man (noch) nicht weiß. Das unbekannte Nichtwissen ist in der Regel nur retrospektiv erkennbar. Dies geschieht beispielsweise durch das nachträgliche Erkennen von Fehleinschätzungen bei der Behandlung eines Patienten oder durch neue Erkenntnisse in der Medizin und kann auf diese Weise zu nachträglichen Lernprozessen führen. Hierzu gaben uns die Ärzte viele Beispiele, etwa die Entdeckung des Magengeschwüre verursachenden Bakteriums Helicobacter pylori und der damit verbundene Wegfall von Magenoperationen. Unbekanntes Nichtwissen kann aber auch durch regelmäßige Besuche von internen und externen Fort- und Weiterbildungen überwunden werden. Die möglichen Strategien, um das unbekannte Nichtwissen zu beheben, fallen daher ebenfalls unter die Kategorie Lernen.

„In unserem Spezialgebiet gibt es sehr viele Kongresse. Deshalb verteilen wir das innerhalb des Teams auf die einzelnen Leute. Es gibt gewisse Schwerpunkte innerhalb des Teams, wo bestimmte Leute die entscheidenden Kongresse und Fortbildungen besuchen, damit wieder neues Wissen reinkommt. Und wir besuchen eine Menge Kollegen vor Ort und wir haben auch Gastärzte. Wir schauen, wie sich was in einer Klinik entwickelt. Oder wir haben gehört, dass, die jetzt etwas Neues machen oder die eine neue Technik entwickelt haben. ” (Chefarzt, Chirurgie 04: 175-183).

Diese im Interviewausschnitt geschilderten Aspekte stellen gute Möglichkeiten dar, unbekanntes Nichtwissen zu überwinden (s. bekanntes Wissen).

Ausblick

Zunächst kann festgehalten werden, dass die am häufigsten genannten Strategien unter die Kategorie Lernen fallen. Die vier Dimensionen des Nichtwissens stellen keine starren Kategorien dar, sondern unterliegen ständigen Wandlungsprozessen. Weitere Strategien lassen sich den Kategorien Lehren und Delegieren bzw. Abgeben zuordnen. Das nachfolgende Schaubild zeigt die Zuordnung der erhobenen Strategien zu den vier Dimensionen.

Abb. 1: Umgangsstrategien mit Nichtwissen (Wilkesmann/Jang 2013: i.E.)

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In diesem kurzen Beitrag wurden die möglichen Einflussfaktoren auf den Umgang mit Nichtwissen nicht explizit behandelt. In den einzelnen Beispielen und Zitaten zeigt sich, dass ärztliches Handeln unterschiedlichen Einflussfaktoren auf der individuellen Ebene (z. B. Persönlichkeit), der organisationalen Ebene (z. B. Arbeitsteilung, Abteilungskultur) und der organisationsübergreifenden (z. B. DRG, Leitlinien und Algorithmen) Ebene unterliegen. Insbesondere bei der Betrachtung der hier aufgezeigten negativen Beispiele im Umgang mit Nichtwissen fällt auf, dass sie oft mit dem Fehlen wichtiger Rahmenbedingungen einhergehen.

Für einen positiven Umgang mit Nichtwissen wurden vor allem die Bereitstellung von Ressourcen in Form von Zeit und Zugangsmöglichkeiten (z. B. für Fortbildungen, Fachliteratur, Suchmaschinen) und eine positiv gelebte Führungs- und Fehlerkultur, die den gegenseitigen Wissens- und Nichtwissensaustausch fördert, genannt. Dabei ist das Zusammenspiel von unterschiedlichen Bedingungen eine wichtige Voraussetzung, um einen optimalen Umgang mit Nichtwissen zu sichern. Es reicht nicht aus, wenn eine vertrauensvolle Zusammenarbeit im Team funktioniert, aber im Zuge negativer organisationaler Rahmenbedingungen (z. B. Arbeitsverdichtung durch die Zunahme administrativer Tätigkeiten) keine bzw. nur wenig Zeit für individuelle und kollektive Lernprozesse bleibt.

Literatur

Kerwin, Ann (1993): None Too Solid: Medical Ignorance. In: Knowledge: Creation, Diffusion, Utilization, (15): 166-185.

Kruglanski, Arie W./Gigerenzer, Gerd (2011): Intuitive and deliberate judgments are based on common principles. In: Psychological Review 118 (1): 97-109.

Smithson, Mike (2008): The Many Faces and Masks of Uncertainty. In: Bammer, Gabriele/Smithson, Mike (Hrsg.): Uncertainty and Risk: Multidisciplinary Perspectives. London. Earthscan: 13-25.

Wilkesmann, Maximiliane (2009): Wissenstransfer im Krankenhaus. Strukturelle und institutionelle Voraussetzungen. Wiesbaden. Springer VS Verlag.

Wilkesmann, Maximiliane (2010): Der professionelle Umgang mit Nichtwissen. Einflussfaktoren auf der individuellen, organisationalen und organisationsübergreifenden Ebene. Discussion Paper 01-2010 des Zentrums für Weiterbildung der TU Dortmund.

Wilkesmann, Maximiliane/Jang, So Rim (2013): Führt Nichtwissen zu Unsicherheit in der Organisation Krankenhaus? Erscheint in: Apelt, Maja/Senge, Konstanze (Hrsg.): Organisation und Unsicherheit. Wiesbaden. Springer VS: i. E.

Wilkesmann M. / Jang S. R. Nichtwissen im chirurgischen Krankenhausalltag. Passion Chirurgie. 2013 März; 3(03): Artikel 02_01

Nichtwissen – ein vielfältig wahrgenommenes Phänomen in der Chirurgie

Wie gehen Chirurginnen und Chirurgen (der besseren Lesbarkeit halber, wird nachfolgend das männliche Geschlecht genutzt) mit ihrem eigenen und dem Nichtwissen anderer um? Auf welche Ressourcen greifen Chirurgen bevorzugt zurück, um ihr Nichtwissen zu überwinden? Können unterschiedliche Krankenhaustypen verschiedene Kooperationsformen zwischen den Chirurgen hervorrufen? Antworten auf diese und weitere Fragen werden mit Hilfe der Ergebnisse der bundesweiten Befragung gegeben, zu der der BDC im Frühjahr alle im Krankenhaus tätigen Chirurgen aufgerufen hatte. Es haben 2.614 der insgesamt 10.613 im Krankenhaus tätigen Chirurgen an dieser Befragung teilgenommen. In die Auswertung sind nach der Datenbereinigung 866 vollständig beendete Fragebögen eingeflossen.

Wir danken dem BDC sowie allen Chirurgen, die an der Befragung teilgenommen haben. Darüber hinaus danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung des Projekts „Welche Faktoren beeinflussen den Umgang mit Nichtwissen verschiedener ärztlicher Professionen in Krankenhäusern?“ (WI 3706/1-1).

In diesem Beitrag werden wir zunächst die vier Dimensionen des Nichtwissens und die gewählten Umgangsstrategien innerhalb der Facharztgruppe der Chirurgen untersuchen und dabei mögliche Unterschiede hinsichtlich der Krankenhaustypen (z. B. Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung vs. Universitätskliniken), der Hierarchieebenen (z. B. Assistenzärzte vs. Chefärzte) und zwischen den Geschlechtern (männlich vs. weiblich) berücksichtigen.

Nichtwissen – ein zu unrecht negativ assoziierter Begriff?

Wie wir im Beitrag zu den qualitativen Interviews gesehen haben (siehe auch Artikel ‚Nichtwissen im chirurgischen Krankenhausalltag’ in dieser Ausgabe) kann Nichtwissen dazu führen, dass Wissenslücken erkannt werden und wahrgenommenes Nichtwissen durchaus positive Effekte haben kann, indem bekanntes Nichtwissen als Lernchance genutzt wird. Daher haben wir zu Beginn der Befragung danach gefragt, welche Assoziationen der Begriff Nichtwissen auslöst. Bei nur 2,7 % der befragten Chirurgen löst dieser eine positive Assoziation aus, bei 65,2 % hingegen eine negative bis sehr negative Assoziation. Diese negative Grundeinstellung wurde im Hierarchiegefüge unterschiedlich bewertet. Die Statusgruppe der Fachärzte gibt, im Vergleich zu den anderen Statusgruppen (Chefärzte, Oberärzte, Assistenzärzte), mit 72,8 % eine signifikant negativere Einschätzung ab (s. Abb. 1).

Abb. 1: Negative bis sehr negative Assoziationen mit dem Begriff Nichtwissen (Angaben in Prozent)

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Geschlechtsspezifische Einflüsse auf die Assoziation des Begriffs Nichtwissen konnten ebenfalls nachgewiesen werden. So empfinden 70,4 % der Chirurginnen im Gegensatz zu 63,5 % ihrer männlichen Kollegen negative bis sehr negative Assoziationen. Diese ersten Ergebnisse zeigen, dass das Phänomen Nichtwissen vorwiegend als etwas Problematisches empfunden wird. Nachfolgend werden wir darauf eingehen, mit welchen Strategien Chirurgen dem Nichtwissen im Klinikalltag begegnen und diesem entgegensteuern.

Umgang mit bekanntem Nichtwissen – „Ich weiß, dass ich etwas nicht weiß“

Das Lernen im kollegialen Kreis ist eine der dominanten Strategien, mit der Chirurgen bekanntem Nichtwissen begegnen. Neben der Möglichkeit der kollegialen Rücksprache, zeigt die Abbildung 2 weitere Strategien, wie man sich beispielsweise auf eine Operation vorbereitet.

Abb. 2: „Wenn Sie sich auf eine Operation vorbereiten, wie häufig wenden Sie welche Strategie an?“ (Ausprägung „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent, Mehrfachnennungen)

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Nahezu die Hälfte der Chirurgen gab an, dass sie zur Vorbereitung auf eine OP einzelne Schritte mit ihren Kollegen aus der Abteilung besprechen. Dabei fällt der hohe Wert der Chefärzte auf. Er ist darauf zurückzuführen, dass sie sich in einer solchen Situation vermutlich eher als Wissensgeber, denn als Wissensnehmer sehen. Dies deckt sich mit den Zustimmungswerten zum abgefragten Item „Ich zeige Kollegen bestimmte Vorgänge“. So gaben 67,2 % der Chefärzte und 79,2 % der Oberärzte an, dass sie oft bis sehr oft ihren Kollegen bestimmte Vorgänge zeigen würden, wohingegen der Wert zu den Assistenzärzten auf 33,1 % zurückgeht.

Zieht man für den Erwerb neuen Wissens ein weiteres Item hinzu, so gaben 62,7 % der befragten Assistenzärzte an, dass sie sich oft bis sehr oft Handlungsabläufe von Kollegen zeigen lassen. Dagegen lassen sich aufgrund der höheren Expertise nur 33,5 % der Fachärzte, 20,9 % der Oberärzte und 28,8 % der Chefärzte oft bis sehr oft etwas von Kollegen zeigen.

Gerade bei unerfahrenen Chirurgen zählen – neben dem aktiven Zeigen lassen – auch das Beobachten von Kollegen (Assistenzärzte 64,2 % im Vergleich dazu die Chefärzte 35,9 %) zu den erfolgversprechenden Strategien, bekanntes Nichtwissen zu beheben. Allerdings sind 56,8 % der Chefärzte, 55 % Oberärzte und 48,7 % Fachärzte der Meinung, dass die jungen Assistenzärzte mehr von ihnen lernen könnten.

Betrachtet man die letzten Angaben im Hinblick auf die einzelnen Krankenhaustypen, stimmen die Oberärzte und Chefärzte in Krankenhäusern der Maximalversorgung (Oberärzte 63,1 % und Chefärzte 64,4 %) und in Universitätskliniken (Oberärzte 60,1 % und Chefärzte 60 %) mit ihren Einschätzungen überein, dass junge Assistenzärzte mehr von ihnen lernen könnten. Auffällig ist außerdem, dass Assistenzärzte zur Klärung dringender Fragen von allen Hierarchiestufen am häufigsten den Kontakt zu externen Kollegen (s. Abb. 2) suchen, die sie vermutlich noch aus dem Studium kennen.

Eine weitere Strategie im Umgang mit bekanntem Nichtwissen besteht darin, andere Kollegen zur Hilfe zu holen. In unserer Studie wurde dabei zwischen akuten und nicht-akuten Fällen unterschieden, da durch die Aussagen in den Interviews unterschiedliche Prioritäten erwartet wurden. Exemplarisch hierfür ist das Zitat einer Fachärztin:

„Das ist so ein Abwägungsprozess. Wenn das jetzt nicht akut ist, dann ruft man sich noch jemanden dazu und versucht das zu klären, aber viele Sachen müssen ja auch nicht sofort geklärt werden“ (Fachärztin, Chirurgie 02: 84-87).

Der Unterschied zwischen akuten und nicht-akuten Fällen bestätigte sich in der repräsentativen Umfrage nicht.

Es zeigen sich aber hierarchisch bedingte Unterschiede: Chefärzte rufen – wie zu erwarten war – vor allem Ober- und Fachärzte zur Hilfe und geben ihre Fälle häufiger an diese Statusgruppen ab. Oberärzte bevorzugen die Hilfe von Assistenz- und Fachärzten. Die Fachärzte halten sich zunächst auch an das Hierarchiegefüge. Die zweite Wahl an Personen, die sie zur Hilfe rufen oder delegieren würden sind – entgegen unserer Annahmen – die Chefärzte, d. h. sie überspringen somit die Oberärzte. Ebenfalls fallen die Assistenzärzte aus dem Rahmen, denn sie suchen in erster Linie innerhalb ihrer Statusgruppe nach Hilfe und rufen als zweite Wahl ebenfalls nicht die Fach- bzw. Oberärzte, sondern ebenfalls bevorzugt Chefärzte zur Hilfe.

Falls kein direkter Rückgriff auf die Kollegen notwendig und genügend Zeit vorhanden ist, wird häufig das eigenständige Aneignen von Wissen praktiziert. Assistenzärzte nutzen dabei am stärksten die Möglichkeit des Nachlesens (s. Abb. 2). Tabelle 1 zeigt die Nutzung der Ressourcen dem Status nach geordnet, wenn bekanntes Nichtwissen auftritt.

Tab. 1: Kreuztabelle Status der Befragten mit „Wenn ich nicht weiter weiß, dann nutze ich folgende Ressourcen.“ (Nennungen in Prozent)

Chefärzte
(n=162)
Oberärzte
(n=314)
Fachärzte
(n=213)
Assistenzärzte
(n=177)
Fachbücher 76,5 77,4 81,3 80,3
Fachzeitschriften 58,0** 61,8** 52,8** 31,1**
Englischsprachige Fachliteratur 44,7** 29,9** 22,5** 22,5**
Fachzeitschriften benachbarter Fachgebiete 37,9* 39,2* 31,5* 23,2*
Fachstandards 50,0* 64,6* 59,8* 59,3*
Abteilungsinterne Standards 32,9** 41,7** 54,9** 61,6**
Behandlungspfade 37,7 35,4 31,9 33,9
Checklisten 19,3** 16,3** 23,4** 37,9**
Algorithmen 24,7** 36,3** 25,4** 44,9**
SOPs 11,7 10,8 9,4 9,6
Arbeitsanweisungen 12,3** 9,9** 16,4** 32,2**
Online-Literaturdatenbanken 63,6** 66,2** 45,8** 33,3**
Google 37,7**
44,6** 50,2** 75,1**
Wikipedia 17,3** 21,0** 33,8** 46,1**
Apps 8,0** 12,7** 9,3** 31,1**
Cochrande Library 24,2** 21,0** 11,7** 6,8**
Fehlermeldesystem 10,5* 10,8* 6,6* 1,7*
Elektronische Patientenakten 15,4* 21,0* 24,4* 27,5*
Power-Point-Präsentation 8,6 8,9 10,3 11,9
Videos 11,5* 14,5* 8,3* 7,4*
Signifikanz: **p <,01; *p <,05

Interessanterweise gibt es einige geschlechtsspezifisch signifikante Unterschiede bei der Nutzung verschiedener Ressourcen: Chirurginnen nutzen häufiger Checklisten, abteilungsinterne Standards, Arbeitsanweisungen, Apps, elektronische Patientenakten, Google und Wikipedia als ihre männlichen Kollegen. Ihre männlichen Kollegen dagegen nutzen Online-Literaturdatenbanken, Cochrane Library und Fachzeitschriften signifikant häufiger.

Bei den Chef- und Oberärzten fällt auf, dass Printmedien immer noch eine dominante Rolle spielen, wohingegen die Nutzung von „neuen Medien“ (z. B. Google, Wikipedia) vor allem bei den Assistenzärzten großen Anklang findet. Trotzdem können wir keinen Generationeneffekt bei der Aufgeschlossenheit neuesten Technologien wie Smartphones oder Tablet-PC gegenüber feststellen.

Schaut man sich das Vorhandensein (IST) und die gewünschte Verbreitung (SOLL) von neuesten Medientechnologien an (s. Abb. 3), so zeigt sich, dass sich die Chirurgen hierarchieübergreifend einen besonders großen Nutzen von der Einführung von Tablet-PCs (z. B. iPads) zur Unterstützung von Visiten versprechen. Geschlechtsspezifische Differenzen oder Unterschiede hinsichtlich der einzelnen Krankenhaustypen zeigen sich im tatsächlichen Vorhandensein und der gewünschten Verfügbarkeit nicht.

Abb. 3: Tatsächliche und gewünschte Verfügbarkeit von neuesten Medien (Ausprägung „Ist“ = bereits vorhanden; „Soll“ = wird gefordert, Nennungen in Prozent)

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Vielleicht liegt der relativ starke Wunsch nach digitaler Unterstützung auch in der Tatsache begründet, dass 29,9 % der Chefärzte, 42,7 % der Oberärzte, 39,9 % der Fachärzte und sogar 46,4 % der Assistenzärzte angegeben haben, handschriftliche Einträge ihrer Kollegen oft bis sehr oft nicht entziffern zu können. Die Nutzung digitaler Medien zur Dokumentation patientenbezogener Daten würde allerdings eine Änderung der aktuellen Rechtssprechung voraussetzen.

Umgang mit unbekanntem Wissen – „Ich weiß nicht, dass ich etwas weiß“

Unbekanntes Wissen ist schwer von den Befragten selbst reflektierbar. Häufig kann dieses tief verankerte Wissen nur von außen beobachtet und hinterfragt werden. Aus diesem Grund haben wir die Dimension unbekanntes Wissen mit dem Begriff der Intuition abgefragt. Wenn schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen, gaben 39 % der befragten Chirurgen bei akuten Fällen und 33,7 % bei nicht akuten Fällen an, auf ihre Intuition zurückzugreifen. Die Analyse hat gezeigt, dass je stärker die Befragten unter Risiko und Informationsmangel arbeiten müssen, um so eher wird auf intuitive Handlungsmuster zurückgegriffen. Zudem gaben Chirurginnen häufiger als ihre männlichen Kollegen und Assistenzärzte höherer Hierarchiestufen an, intuitiv zu handeln. Die Spezialisierung innerhalb der Chirurgie und der Krankenhaustyp haben keinen signifikanten Einfluss darauf, ob man angibt, intuitiv zu handeln oder nicht.

Umgang mit bekanntem Wissen – „Ich teile den anderen mein Wissen nicht mit“

Bekanntes Wissen tritt immer dann auf, wenn Personen ihr Wissen gegenüber anderen Kollegen zurückhalten oder wenn Personen merken, dass ihr Gegenüber unbekanntes Nichtwissen hat, welches es zu überwinden gilt. Letztere Strategie wird im Sinne des kollegialen Lehrens häufig dann angewandt, wenn erfahrene Chirurgen wahrnehmen, dass unerfahrene Kollegen bestimmte Dinge (noch) nicht wissen. In diesem Zusammenhang war es interessant abzufragen, ob die Chirurgen selbst Wissen nur weitergeben, wenn eine Gegenleistung zu erwarten ist oder nicht. Nur 5,8 % der Chirurgen gaben an, dass sie oft bis sehr oft eine Gegenleistung erwarten, wenn sie Wissen weitergeben. Mehr als die Hälfte verlangt nie eine Gegenleistung für die Wissensweitergabe.

Zieht man weitere Items hinzu, was die sonstige Zurückhaltung von Wissen angeht, zeigt sich eine gewisse Ambivalenz im Antwortverhalten: Einerseits haben die Befragten eher selten das Gefühl, dass Kollegen ihr Wissen oft bis sehr oft aus strategischen Gründen zurückhalten (12,3 % Chefärzte, 16,6 % Oberärzte, 22,7 % Fachärzte und 28,2 % Assistenzärzte). Ebenso gaben über 95 % der Chef-, Ober- und Fachärzte und 83 % der Assistenzärzte an, dass sie – entgegen einiger Aussagen in den Interviews – keine beruflichen Nachteile erwarten, wenn sie ihr Wissen weitergeben. Insofern tritt diese negative Variante eher selten auf.

Diese Einschätzung ist unabhängig vom Krankenhaustyp (Uniklinik, Krankenhaus der Grund- & Regelversorgung, Krankenhaus der Schwerpunkt- & Maximalversorgung sowie Spezialkliniken) sowie der (Sub-)Spezialisierung des chirurgischen Fachbereichs. Andererseits hat ein Drittel der Befragten oft bis sehr oft angegeben, dass sie im Dienst mit Komplikationen konfrontiert wurden, die ihnen bei der Übergabe nicht mitgeteilt wurden. Abbildung 4 zeigt die Einschätzungen dieser Aussage im Hinblick auf die Hierarchie und die einzelnen Krankenhaustypen.

Abb. 4: „In meinem Dienst kommt es vor, dass ich mit Komplikationen konfrontiert werde, die mir bei der Übergabe nicht mitgeteilt wurden.“ (Nennungen „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Umgang mit unbekanntem Nichtwissen – „Ich weiß nicht, dass ich etwas nicht weiß“

Unbekanntes Nichtwissen kann unter Umständen von außen, d. h. von Fachkollegen beobachtet und kontrolliert bzw. hinterfragt werden (s. bekanntes Wissen). Dieses unbekannte Nichtwissen einzelner Chirurgen in Form von Fehleinschätzungen kann im Team korrigiert werden und zu individuellen Lernprozessen führen.

Abb. 5: „Wie häufig kommt es vor, dass…“ (Nennungen „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Ein Drittel der Befragten gibt an, dass sie Entscheidungen von Kollegen hinterfragen, weil sie zu einer anderen Einschätzung gekommen sind. Umgekehrt wird von den Befragten nur sehr selten zugegeben, dass sie selbst von Kollegen bezüglich ihrer Entscheidungen hinterfragt werden. Unterschiede zwischen den Krankenhaustypen gibt es nicht, wohl aber hinsichtlich des Geschlechts: Chirurginnen gaben mit 15,6 % im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen (10,2 %) am häufigsten an, dass ihre Entscheidungen oft bis sehr oft hinterfragt werden (s. Abb. 5).

Trotzdem bleibt die grundsätzliche Diskrepanz zwischen dem Hinterfragen von Kollegen und dem eigenen Empfinden, hinterfragt zu werden, offensichtlich. Hier stellt sich die Frage, ob die Kritik vonseiten der Kollegen tatsächlich nicht als solche wahrgenommen wird oder ein sozial erwünschtes Antwortverhalten vorliegt. In diesem Zusammenhang ist auch der Umgang mit Fehlern interessant. Während 36,6 % der männlichen Chirurgen oft bis sehr oft der Aussage „Es kommt vor, dass meine Kollegen häufig den Fehler bei anderen suchen, als bei sich selbst“ zustimmen, stimmen 46,4 % der Chirurginnen dieser Aussage oft bis sehr oft zu.

Während es zwischen den einzelnen Krankenhaustypen nur marginale Unterschiede existieren, gibt es diesbezüglich unterschiedliche Wahrnehmungen im Hierarchiegefüge: Etwas mehr als ein Drittel der Chefärzte (31,8 %) und Oberärzte (34,8 %) stimmen dieser Aussage zu. Bei den Fachärzten (45,6 %) und Assistenzärzten (44,9 %) ist es fast die Hälfte der Befragten, die dieser Aussage in hohem Maß beipflichtet.

Betrachtet man diese Dimension aus der individuellen Perspektive, kann sich unbekanntes Nichtwissen erst im Nachhinein offenbaren. Dies geschieht beispielsweise durch das nachträgliche Erkennen von Fehleinschätzungen bei der Behandlung eines Patienten, was im besten Fall zu nachträglichen Lernprozessen führt.

Unbekanntes Nichtwissen kann aber auch durch regelmäßige Besuche von Kongressen oder internen Fort- und Weiterbildungen überwunden werden. Dies bestätigen auch die Einschätzungen der befragten Chirurgen. Über 90 % geben an, dass die Aussage „Fortbildungen helfen uns, neues Wissen in unsere Abteilung zu bringen“ für sie zutrifft. Fortbildungen scheinen somit aus Sicht der Chirurgen ein gutes Instrument zu sein, sich neues Wissen anzueignen. Eine Fortbildung macht nur Sinn, wenn man sich in Bereichen fortbildet, die einem unbekannt oder zumindest nicht geläufig sind. 80,3 % der Chirurgen bilden sich genau zu diesen Themen gezielt fort, bei denen sie selbst wissen, dass sie dort Lücken haben. Die Fortbildung bringt dabei nicht nur dem Teilnehmer einen Wissenszuwachs, sondern auch die Kollegen profitieren davon. 59,2 % der befragten Chirurgen geben an, dass sie die Erfahrungen aus den Fortbildungen oft bis sehr oft gewinnbringend an ihre Kollegen weitergeben können. Nur wenige Berufsgruppen sind wie die Ärzte dazu verpflichtet, sich regelmäßig fortzubilden. Chirurgen, die in Teilzeit arbeiten, halten zu 57 % die Verpflichtung innerhalb von fünf Jahren 250 Weiterbildungspunkte bei der Ärztekammer nachzuweisen für sehr sinnvoll. Bei den in Vollzeit arbeitenden Kollegen fällt der Zustimmungsgrad mit 51,9 % etwas niedriger aus.

Struktur und Kultur

Von organisationaler Seite können Rahmenbedingungen geschaffen werden, die dem Aufkommen von Nichtwissen entgegensteuern können: Zum einen greift das Krankenhaus zur Koordination auf eine hochgradige Arbeitsteilung und auf ein stark ausgeprägtes Hierarchiesystem zurück. Sowohl die Arbeitsteilung, als auch das Hierarchiegefüge dienen als Backup-System. Zum anderen gibt es etablierte Strukturen, wie Besprechungen, Einträge in Patientenakten oder die Einführung von Checklisten, die dazu beitragen, dass so wenig Wissen wie möglich verloren geht bzw. möglichst wenig Nichtwissen bei den Akteuren entsteht. Tabelle 2 zeigt, dass die Organisationsgröße einen Einfluss auf das Vorhandensein solcher Strukturen im Bereich der Chirurgie hat.

Tab. 2: „Gibt es in Ihrer Abteilung…“ (Nennungen in Prozent)

Krankenhaustyp Grund- und Regelversorgung Schwerpunktversorgung Maximalversorgung Universitätsklinik sonstige Krankenhäuser
Qualitätszirkel 49,7 64,1 71,3 58,0 48,9
Zertifizierte
Abteilung
59,4 84,4 85,1 76,6 62,2
CIRS 39,5 70,0 66,7 68,0 50,0
Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen 49,0 73,1 79,7 88,0 60,9
Supervision 15,6 31,2 35,7 41,2 15,6

Qualitätszirkel werden überdurchschnittlich an Krankenhäusern der Maximal- und Schwerpunktversorgung durchgeführt. Mit 49 % ist das vierteljährliche Treffen am häufigsten vertreten, monatliche Treffen sind mit 27,3 % ebenfalls relativ häufig genannt worden. Die Treffen werden von der Mehrzahl (70,6 %) der Chirurgen aber keinesfalls als lästige Pflicht empfunden (8 %) – im Gegenteil fast die Hälfte (48 %) der Teilnehmer an solchen Qualitätszirkeln geben an, dass die Teilnahme die Behandlungen in der Abteilung verbessert. Für einen guten Umgang mit (Beinahe-) Fehlern wurden in letzter Zeit Critical Incident Reporting Systems (CIRS) eingeführt, damit kritische Behandlungsverläufe dokumentiert und Behandlungs- und Reaktionsmöglichkeiten aufgezeigt werden können. CIRS sind an Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung mit 39,5 % im Vergleich zu den anderen Krankenhaustypen eher selten vorhanden.

Neben diesen formalen Strukturen des Wissensaustauschs ist der Vergleich des Status mit der Frage, dass in den Pausen auch durchaus fachlich wichtige Dinge besprochen werden, interessant: Fachärzte (49,3 %) und Assistenzärzte (53,9 %) besprechen seltener fachlich relevante Dinge in ihren Pausen, als dies Oberärzte (66,3 %) oder Chefärzte (66,9 %) oft bis sehr oft tun.

Eine gute Organisationsstruktur impliziert weder ein reibungslos funktionierendes Krankenhaus, noch einen guten Umgang mit Nichtwissen. Mindestens ebenso wichtig ist die gelebte Organisationskultur, damit beispielsweise Fehlermeldesysteme überhaupt akzeptiert und mit Leben gefüllt werden.

Abb. 6: „In meiner Abteilung werden Fehler als Lernchance begriffen.“ (Nennungen „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Die Zustimmung zur Aussage, dass Fehler als Lernchance begriffen werden, nimmt im Hierarchiegefüge deutlich ab (s. Abb. 6). Betrachtet man die Zustimmung im Hinblick auf die unterschiedlichen Krankenhaustypen, so ist mit 71,1 % der höchste Wert bei den Krankenhäusern der Maximalversorgung zu verzeichnen und der geringste Zustimmungswert mit 60,5 % bei den Chirurgen, die in Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung beschäftigt sind. Wie es zu diesen Wahrnehmungsunterschieden kommt, werden wir in weiteren Interviews mit Chirurgen näher untersuchen.

Weitere strukturelle und kulturelle Aspekte werden in einem fachübergreifenden Beitrag dieser Sonderausgabe thematisiert.

Fazit

Diese ersten Ergebnisse der Studie zeigen, dass das Phänomen Nichtwissen vorwiegend als etwas Problematisches von den befragten Chirurgen empfunden wird. Die Einschätzung zu bestimmten Themenbereichen zeigt, dass sich die Sicht auf das Nichtwissen im Laufe der Zeit durch Sozialisationsprozesse vom Assistenzarzt zum Chefarzt wandeln. Erfahrene Ärzte akzeptieren Nichtwissen eher und zeigen mehr Bereitschaft, Nichtwissen als Chance bzw. Herausforderung zu sehen. Ein guter Umgang mit Nichtwissen lässt sich also im Laufe der Berufspraxis erlernen.

Die deskriptive Auswertung zeigt weiter, dass die gewählten Umgangsstrategien mit Nichtwissen nicht nur eine individuelle Vorgehensweise darstellen. So lassen sich Gemeinsamkeiten und typische Vorgehensweisen verschiedenen Gruppen zuweisen. Das Überwinden von bekanntem Wissen wird ebenfalls unterschiedlich vorgenommen. Fachbücher werden mehrheitlich von den Chirurgen genutzt. Auf Online-Literaturdatenbanken und englischsprachige Fachliteratur wird eher von höheren Hierarchiestufen zurückgegriffen, wohingegen Google und Wikipedia vermehrt von Assistenz- und Fachärzten genutzt wird. Dennoch herrscht ein klarer Trend, dass die Nutzung „Neue Medien“ hierarchieübergreifend an Bedeutung gewinnen.

Darüber hinaus bieten Krankenhäuser der Schwerpunktversorgung, Universitätskliniken und Krankenhäuser der Maximalversorgung aufgrund ihrer Größe eine größere Vielzahl an strukturellen Möglichkeiten (z. B. Supervision, Qualitätszirkel, CIRS, Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen), um den unterschiedlichen Arten des Nichtwissens zu begegnen.

Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass Chirurgen erfolgreich Routinen und Prozesse entwickeln, um verschiedenen Nichtwissensdimensionen aktiv zu begegnen. Aus unserer Sicht ist es wichtig, die unterschiedlichen Dimensionen und die Dynamik des Nichtwissens zu begreifen. Denn ein gewisses Maß an gefühltem Nichtwissen fördert die individuelle Lernbereitschaft sowie kollektive Lernprozesse. Nichtwissen kann somit als Anreiz und Chance gesehen werden, eingeschliffene Routinen zu hinterfragen und neugierig auf Neues zu bleiben. Es liegt in der Natur des Wissens, dass neues Wissen das Nichtwissen vergrößert – allerdings auf einem anderen Niveau.

So schließen wir diesen Beitrag mit den Worten des Konfuzius: „Wissen, was man weiß, und wissen, was man nicht weiß, das ist wahres Wissen“.

Wilkesmann M. / Roesner B. / Jang S. R. Nichtwissen – ein vielfältig wahrgenommenes Phänomen in der Chirurgie. Passion Chirurgie. 2013 März; 3(03): Artikel 02_02.

Editorial: Dem Nichtwissen auf der Spur

„Dieses Nichtwissen und Unvermögen, das kommt praktisch nicht vor – bei Chirurgen schon gar nicht.“
(Interviewpartner Nr. 20, Chefarzt der Chirurgie)

Spiegelt dieses Zitat die Wirklichkeit der Chirurginnen und Chirurgen (der besseren Lesbarkeit halber, wird nachfolgend das männliche Geschlecht genutzt) wider? In der Regel wird Nichtwissen nur selten angesprochen, weil es (nicht nur) unter den Medizinern ein äußerst sensibles Thema ist. Bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch schnell fest, dass Ärzte zwar über enormes Fachwissen verfügen, aber tagtäglich Entscheidungen unter der Bedingung unvollständiger Informationen treffen und daher Strategien entwickeln müssen, mit ihrem eigenen und dem Nichtwissen ihrer Kollegen umzugehen. Aber wie gehen Ärzte im Krankenhaus mit ihrem Nichtwissen um? Wovon hängen die gewählten Strategien ab? Die Beantwortung genau dieser Fragen steht im Mittelpunkt unseres Forschungsprojekts, das derzeit von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird.

Neben dem ironisch gemeinten Eingangszitat wurde uns in den 43 Interviews, die wir mit Krankenhausärzten durchgeführt haben, deutlich gemacht, dass der Anspruch, als Arzt alles wissen zu wollen, erstens nicht realistisch ist und zweitens das von der Gesellschaft zugewiesene Bild von den (Halb-)Göttern in Weiß nicht (mehr) den eigenen Vorstellungen entspricht. Dennoch haben uns viele der interviewten Ärzte auf die teilweise starren strukturellen Bedingungen und Prozesse im Krankenhausalltag hingewiesen. Gerade junge Ärzte werden mit historisch gewachsenen Strukturen konfrontiert, die einem „Trägheitsmoment“ unterliegen, und nur schwer veränderbar sind [3]. So meinte der oben zitierte Chefarzt direkt zu Beginn unseres Interviews:

“Das erste Mal ist mir das aufgefallen, als ich als frisch gebackener Arzt auf meiner ersten Station war. Wenn man frisch von der Uni kommt, kennt man sich mit manchen Grundlagen schon wieder besser aus, als jemand, der seit zehn Jahren nur sein Fach macht. Und wenn ich dann Dinge geändert haben wollte, sagten die Schwestern immer: Das haben wir noch nie so gemacht. Ich habe dann verzweifelt versucht ihnen zu erklären, warum es so viel besser ist und lief natürlich immer wieder vor die Wand. Ich habe das damals überhaupt nicht kapiert!“

Das Zitat zeigt auch, dass sich neues Wissen im Krankenhausalltag aufgrund von Beharrungstendenzen als unüberwindbare Ignoranz offenbaren kann. Nichtwissen umfasst somit mehr als die reine Abwesenheit von Wissen. Vielmehr kann Nichtwissen in vier verschiedene Dimensionen [1] (siehe auch Artikel ‚Nichtwissen im chirurgischen Krankenhausalltag’ in dieser Ausgabe) unterteilt werden, die – nebenbei bemerkt – nicht immer mit einer negativen Konnotation verbunden sind:

  1. Nichtwissen, von dem man weiß, dass man es nicht weiß (bekanntes Nichtwissen);
  2. Nichtwissen, von dem man (noch) nicht weiß, dass man es nicht weiß (unbekanntes Nichtwissen);
  3. Wissen, von dem man nicht weiß, dass man es weiß (unbekanntes Wissen) und schließlich
  4. Wissen, das man anderen vorenthält oder nicht akzeptiert (bekanntes Wissen als scheinbares Nichtwissen). Nichtwissen ist somit nicht gleich Nichtwissen!

Im Rahmen des Projekts wurden nicht nur unterschiedliche Dimensionen des Nichtwissens und deren jeweiligen Umgangsstrategien erforscht, sondern zusätzlich auch organisationale Bedingungen und Prozesse im Krankenhaus genauer betrachtet, um mögliche Unterschiede aufzudecken. Mit Hilfe der Facharztverbände wurden im Frühjahr 2012 alle im Krankenhaus tätigen Verbandsmitglieder der Chirurgie, der Anästhesiologie, Inneren Medizin und Pathologie zu einer Online-Befragung eingeladen.

An dieser Stelle möchten wir uns beim BDC für die Unterstützung herzlich bedanken. Gleiches gilt für alle Chirurgen, die den Fragebogen vollständig ausgefüllt haben. Die Ergebnisse dieser ersten umfangreichen Erhebung werden in diesem Schwerpunktheft vorgestellt.

Literatur

[1] St. Pierre, Michael/Hofinger, Gesine/Buerschaper Cornelius (2011): Notfallmanagement. Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin. Springer Verlag. Berlin Heidelberg.

[2] Wilkesmann, Maximiliane (2010): Der professionelle Umgang mit Nichtwissen. Einflussfaktoren auf der individuellen, organisationalen und organisationsübergreifenden Ebene. Discussion Paper 01-2010 des Zentrums für Weiterbildung der TU Dortmund.

[3] vgl. St. Pierre et al. 2011: 239

Wilkesmann M. / Jang S. R. / Roesner B. Dem Nichtwissen auf der Spur. Passion Chirurgie. 2013 März; 3(03): Artikel 01.

Fachspezifische Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Umgang mit Nichtwissen

Chirurgie und Anästhesiologie im Vergleich

Im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts haben wir nicht nur die unterschiedlichen Dimensionen des Nichtwissens, sondern zusätzlich auch organisationale Bedingungen genauer betrachtet, um Fachunterschiede im Umgang mit Nichtwissen aufzudecken. Datenbasis bilden die im Krankenhaus tätigen Facharztgruppen, die mit Hilfe der Facharztverbände der Chirurgie (BDC), der Anästhesiologie (BDA und DGAI), der Inneren Medizin (BDI) sowie der Pathologie (BDP) im Frühjahr 2012 zu einer Online-Befragung eingeladen wurden. In diesem Beitrag werden beispielhaft einige Ergebnisse des Vergleichs zwischen den Facharztgruppen Chirurgie und Anästhesiologie vorgestellt.

Warum „nur“ ein Vergleich mit den Anästhesisten?

Die Antwort auf diese Frage ist in den unterschiedlichen Rücklaufquoten begründet. Tabelle 1 zeigt die Rücklaufzahlen der einzelnen Facharztgruppen.

Tab. 1: Rücklaufquoten der Befragung nach Facharztgruppen sortiert

Facharztgruppe Anzahl (gesamt)* Rücklauf brutto Rücklauf netto
Anästhesie 16.692 3.105 (18,6 %) 1.732 (10,4 %)
Chirurgie 10.613 2.614 (24,6 %) 866 (8,2 %)
Pathologie 1.072 394 (36,8 %) 110 (10,3 %)
Innere Medizin 11.812 572 (4,8 %) 145 (0,1 %)

Die Angabe „Anzahl gesamt“ gibt die bundesweite Anzahl der im Krankenhaus tätigen Ärzte der jeweiligen Facharztgruppen (vgl. Bundesamt für Statistik 2012) an. Die Bruttorücklaufquote bildet die Aufrufe der Befragung ab wohingegen in der Nettorücklaufquote nur die vollständig beendeten Fragebögen enthalten sind. Letztere sind in die Auswertungen eingeflossen. Die durchschnittliche Nettorücklaufquote betrug etwa 10 %.

Bei den Internisten fällt auf, dass der Rücklauf mit 0,1 % sehr gering ausgefallen ist. Für niedrige Responsequoten werden in der Literatur (z. B. Schnell 2012) verschiedene Gründe angeführt, etwa zu kurze Feldphasen, fehlende Nachfassaktionen oder Desinteresse am Thema. Die ersten beiden Gründe können wir ausschließen, da der Rücklauf bei den Internisten trotz verstärkter Nachfassaktionen und einer (im Vergleich zu den anderen Facharztgruppen) mehr als doppelt so langen Feldphase nicht erhöht werden konnte.

Es fällt weiterhin auf, dass insgesamt nur 572 Ärztinnen und Ärzte der Inneren Medizin den Online Fragebogen (vgl. Bruttorücklauf) überhaupt aufgerufen haben. Eine Non-Response Analyse, bei der wir geschaut haben, ob im Datensatz Verzerrungen von bestimmten Gruppen vorliegen (z. B. verstärkte Beteiligung von Oberärzten oder Assistenzärzten, Männern oder Frauen, Ärzte bestimmter Krankenhaustypen), ergab bis auf eine minimale Überrepräsentanz von Chef- und Oberärzten keine Auffälligkeiten. Momentan suchen wir nach weiteren potenziellen Gründen und Erklärungsmöglichkeiten für die starke Zurückhaltung der Internisten bei unserer Befragung. In diesem Sinne müssen auch wir im Forscherteam mit bekannten Nichtwissen umgehen.

Betrachtet man die absoluten Zahlen der vollständig ausgefüllten Fragebögen, liegt es auf der Hand, dass nur ein Vergleich der beiden Facharztgruppen Anästhesie (n=1.732) und Chirurgie (n=866) sinnvoll ist. Darüber hinaus ist der Vergleich zwischen diesen beiden Facharztgruppen durch die relativ enge Zusammenarbeit im Krankenhausalltag besonders interessant.

Inwiefern unterscheiden sich Chirurgen von den Anästhesisten?

Bei der Befragung haben wir in der Anfangssequenz alle Teilnehmer danach gefragt, durch welche drei Merkmale sich das eigene Fachgebiet besonders auszeichnet (Abb. 1). In beiden Facharztgruppen werden am häufigsten „ständige Herausforderungen“ als besonderes Merkmal genannt. Während für die Anästhesisten die „Reaktionsschnelligkeit“ am zweit häufigsten gewählt wurde, steht für die Chirurgen der „körperliche Einsatz“ hier im Vordergrund. Chirurgen schätzen darüber hinaus die „Kreativität“ und das „hohe Ansehen“ ihres Faches.

Abb. 1: Besonderheiten der Fächer im Vergleich (max. drei Nennungen, Angaben in Prozent)

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Darüber hinaus geben Anästhesisten zu gut einem Drittel an, dass sich ihr Fach durch geregelte Arbeitszeiten auszeichnet. Insbesondere die im Vorfeld interviewten Chirurgen berichteten von der Schwierigkeit, die offizielle Arbeitszeitregelung einzuhalten, die seit 2004 gilt. Grundlage für die neue Arbeitszeitregelung bildet die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus den Jahren 2000 und 2003, aus der hervorgeht, dass die gesamte Zeit eines Bereitschaftsdienstes im Krankenhaus als Arbeitszeit anzurechnen ist. Die neue Arbeitszeitregelung hat unter anderem dazu geführt, dass mehr ärztliches Personal in den Krankenhäusern eingestellt werden musste. In den Interviews wurden wir auch auf die Konsequenzen dieser neuen Arbeitszeitregelung aufmerksam gemacht. So meinte beispielsweise ein Chefarzt der Chirurgie:

„Wir haben durch das aktuelle Arbeitszeitmodell natürlich auch ein gewisses Problem, weil wir eine Art Schichtdienst machen. Die Leute, die nachmittags arbeiten, die sind natürlich morgens und auch in der mittäglichen Röntgenbesprechung nicht dabei…Früher war es ja so, dass man ja 24 Stunden Dienst hatte und dann musste man natürlich auch für seinen eigenen Quatsch von morgens auch gerade stehen…Das ist ja durch dieses Arbeitszeitmodell auch so, dass man zwar eine Zeit lang auf der Station ist, aber dann eben eine Woche Spätdienst, eine Woche Nachtdienst und eine Woche nicht im Dienst ist. Man ist also drei Wochen aus dem Stationsalltag raus und fängt dann wieder von vorne an“ (Chefarzt, Chirurgie 08: 55-108).

Für 72,6 % der Chirurgen ist es gegenüber 45,1 % der Anästhesisten im Durchschnitt oft bis sehr oft schwierig, die offiziellen Arbeitszeitenregelungen einzuhalten. Insgesamt sehen Assistenzärzte beider Facharztgruppen, die im Prinzip nicht unter der „alten“ Regelung gearbeitet haben, die aktuelle Arbeitszeitregelung als weniger problematisch an, als ihre Kollegen (Abb. 2).

Abb. 2: Einhaltung der offiziellen Arbeitszeitregelung nach Hierarchiestufe (Ausprägung „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Die Unterschiede hinsichtlich der Facharztzugehörigkeit bleiben auch bestehen, wenn wir zwischen verschiedenen Krankenhaustypen differenzieren. So fällt es 81,8 % der Chirurgen und 53,2 % der Anästhesisten an Universitätskliniken schwer, die offizielle Arbeitszeitregelung einzuhalten.

„Kennen Sie eine Berufsgruppe, die 16 bis 18 Stunden durcharbeitet? Das sind wir. Ich halte das für einen absoluten Wahnsinn. Ich weiß auch nicht, wie das geändert werden soll. Aber ich sage den Chirurgen immer: „Es gibt Sachen, die sofort operiert werden müssen, aber es gibt Sachen, die man morgen machen kann.“ Da antworten die Chirurgen meistens: „Nein, das muss aber heute unbedingt operiert werden.” Dann sag ich denen: „Du hast doch schon 14 Stunden gearbeitet” und die Chirurgen antworten dann so: „Ja, das ist doch kein Problem.” Darauf ich: „Stell dir mal vor, du steigst in ein Flugzeug und willst nach New York fliegen. Das Flugzeug geht auf die Startbahn und dann begrüßt der Kapitän die Passagiere: „Guten Tag, mein Name ist Andreas Schulz und bin erfahrener Flugkapitän. Ich bin gerade von New York hierhin geflogen, bin aber noch fit wie ein Turnschuh und werde wieder zurück fliegen.“ Was meinen Sie was passiert? Alle stehen auf, alle Passagiere, da gibt es eine Revolte. Aber das machen wir nicht. Die Anästhesisten machen auch den gleichen Fehler. Ich sage auch meinem Chef, dass wir das ändern müssen. Das geht so nicht. Ich habe früher Dienste gemacht, die gingen von Freitagmorgens 7:30 Uhr bis Montag 16:00 Uhr, durchgehend. Und jetzt fragen Sie die alte Garde, die so was noch gemacht hat. Und die sind alle stolz darauf und meinen „Ja, wir konnten alles gut!” Wenn Sie mich fragen – ich bin nicht stolz darauf“ (Oberarzt, Anästhesie 03: 366-384).

Zum einen scheint man nach wie vor als besonders angesehen zu gelten, wenn man Überstunden leistet. Zum anderen wird die Erbringung der Leistungen der Anästhesisten im Gegensatz zur Leistungserbringung der Chirurgen in den Kodierrichtlinien der DRG nicht separat erfasst. So könnte man meinen, dass vor allem die Chirurgen seit Einführung der DRG eine Arbeitsverdichtung wahrnehmen. Es zeigt sich aber, dass sowohl 89 % der Chirurgen als auch 86,7 % der Anästhesisten in unserer Studie über eine starke Arbeitsverdichtung seit Einführung der DRG beklagen. Mit 92,9 % liegt der höchste Zustimmungswert bei den Chefärzten der Anästhesie im Gegensatz zu 90,1 % bei den Chefärzten der Chirurgie.

Ein objektiver Vergleich dieser wahrgenommenen Veränderung ist leider nicht möglich, da uns keine Vergleichsdaten für die Zeit vor der Einführung vorliegen. Aktuell schätzen jedenfalls 65,5 % der Chirurgen und 59,9 % der Anästhesisten, dass die Budgetierung die adäquate Behandlung der Patienten verhindere. Insgesamt vermuten wir, dass die DRG-bedingten Vorgaben, bestimmte Facharztgruppen dazu zwingen, auf erhöhte Umsätze zu achten, deren Erfüllung wiederum in Konkurrenz zu anderen Vorgaben (z. B. Arbeitszeiten, Fortbildungen) stehen.

Schaut man sich die wahrgenommenen Auswirkungen der Arbeitszeitregelung genauer an, so schätzen die Chirurgen im Gegensatz zu den Anästhesisten die Auswirkungen dieser auf verschiedene interne Prozesse viel gravierender ein. Fast die Hälfte der Chef-, Ober- und Fachärzte der Chirurgie sind der Meinung, dass durch die Arbeitszeitregelung der Informationsaustausch im Arbeitsablauf eingeschränkt wird (Abb. 3). Dies ist insofern interessant, weil für leitende Angestellte die neue Arbeitszeitregelung nicht gilt. Doch selbst bei den Chefärzten der Anästhesie liegt der höchste Zustimmungswert bei „nur“ 40 %. Die Chirurgen scheinen über weniger Alternativen für den Informationsaustausch im Arbeitsablauf zu verfügen als die Anästhesisten.

Abb. 3: Aktuelle Arbeitszeitregelung und Informationsaustausch (Ausprägung „stimme zu“ bis „stimme voll und ganz zu“, Angaben in Prozent)

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Für die Chirurgen hat die aktuelle Arbeitszeitregelung nicht nur Auswirkungen auf den Informationsaustausch, sondern auch auf die fachärztliche Ausbildung (Abb. 4). Chef- und Oberärzte stimmten zu über 70 % voll und ganz zu, dass sich durch die Änderung die fachärztliche Ausbildung verlängert. Vergleicht man diese Aussage zwischen den Facharztgruppen, so zeigt sich ebenfalls ein interessanter Unterschied: Die Assistenzärzte der Chirurgie geben zu 39,6 % an, dass sich durch die aktuelle Arbeitszeitregelung die fachärztliche Ausbildung verlängert. Bei den Assistenzärzten der Anästhesie fällt der Zustimmungsgrad mit 13,6 % deutlich geringer aus.

Abb. 4: Aktuelle Arbeitszeitregelung und fachärztliche Ausbildung (Ausprägung „stimme zu“ bis „stimme voll und ganz zu“, Angaben in Prozent)

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Strategien im Umgang mit Nichtwissen im Krankenhaus

Innerhalb der Abteilungen und der Krankenhäuser haben Chirurgen und Anästhesisten zahlreiche Möglichkeiten, dem Phänomen Nichtwissen zu begegnen. Nachfolgend werden die Ergebnisse zu den Austauschmöglichkeiten zwischen den Kollegen, mit den Kollegen angrenzender Fachgebiete und mit den Pflegekräften sowie das Fortbildungsverhalten beider Facharztgruppen vorgestellt.

Der Austausch zwischen Kollegen

In den qualitativen Interviews hat sich herausgestellt, dass eine positiv gelebte Abteilungs- und Krankenhauskultur einen guten Umgang mit (Nicht-) Wissen fördert (z. B. die wahrgenommene Unterstützung von Kollegen oder die Zufriedenheit mit der kollegialen Zusammenarbeit). In unserer Studie haben wir uns weniger auf die gelebte Krankenhauskultur, sondern auf die Kultur innerhalb der Abteilungen konzentriert, weil der direkte Kontakt zu den Kollegen direkte Konsequenzen auf den Umgang mit eigenem und fremdem Nichtwissen hat.

Die Ergebnisse der quantitativen Befragung zeigen in beiden Fachgebieten eine sehr positiv wahrgenommene Abteilungskultur. Der Vergleich zwischen den Krankenhaustypen weist auf keinen nennenswerten Unterschied hin. Darüber hinaus gibt es interessanterweise weniger Unterschiede in Bezug auf die Fachzugehörigkeit, sondern eher geschlechtsspezifische Unterschiede. In beiden Fachgebieten haben Ärztinnen weniger als ihre männlichen Kollegen das Gefühl, dass sie sich gegenseitig unterstützen (Abb. 5).

Abb. 5: „In unserer Abteilung unterstützen wir uns gegenseitig“ (Ausprägung „stimme zu“ bis „stimme voll und ganz zu“, Angaben in Prozent)

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Der Vergleich zwischen den Statusgruppen und zwischen den Fachgebieten zeigt weiterhin, dass die Assistenzärzte der Chirurgie mit 68,4 % am wenigsten dieser Aussage zugestimmt haben. Vor allem die Chefärzte beider Fachgebiete zeigen die höchste Zustimmung (Anästhesie 95 % und Chirurgie 94 %), so dass sich die Frage stellt, ob dieser starke Unterschied auf das Phänomen der sozialen Erwünschtheit fällt. Dieses Phänomen betrifft auch die Einschätzungen, wenn es um den Umgang mit Fehlern innerhalb der Abteilungen geht. Chefärzte beider Facharztrichtungen haben das Gefühl, dass in ihrer Abteilung Fehler als Lernchance betrachtet werden (s. Abb. 6). Hier scheint es ebenfalls so zu sein, dass ein guter Umgang mit Fehlern von den Chefärzten gewünscht wird, dies jedoch in den Hierarchiestufen darunter nicht in gleicher Art und Weise wahrgenommen wird.

Abb. 6: Umgang mit Fehlern nach Hierarchie (Ausprägung „stimme zu“ bis „stimme voll und ganz zu“, Angaben in Prozent)

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Auch hier zeigen sich leichte geschlechtsspezifische und krankenhaustypische Unterschiede: Die männlichen Chirurgen (66,5 %) gaben dabei am häufigsten an, dass Fehler als Lernchance begriffen werden (Chirurginnen 54,6 %, Anästhesisten 49,2 % und Anästhesistinnen 53,3 %,).

Der Austausch zwischen angrenzenden Fachgebieten

Die Wissensweitergabe an angrenzende Fachgebiete („Ich gebe Kollegen angrenzender Fachgebiete oft fachliche Hinweise“) zeigt interessante Unterschiede hinsichtlich der Krankenhaustypen (Abb. 7). Tendenziell geben Anästhesisten Kollegen der angrenzenden Fachgebiete weniger fachliche Hinweise, je größer das Krankenhaus (Universitätskliniken und Krankenhäuser der Maximalversorgung) ist. Bei den Chirurgen verhält es sich umkehrt. Je größer das Krankenhaus ist, desto häufiger geben sie fachliche Hinweise an Kollegen der angrenzenden Fachgebiete.

Abb. 7: „Ich gebe Kollegen angrenzender Fachgebiete oft fachliche Hinweise.“ (Ausprägung „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Eine eindeutige Differenz nach Geschlechtern konnte nur bei den Anästhesisten (Anästhesisten 52 % und Anästhesistinnen 45 %) festgestellt werden. Zwar geben auch Chirurginnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen weniger Wissen weiter, aber sie unterscheiden sich nicht nennenswert voneinander (Chirurgen 57 % und Chirurginnen 56 %).

Betrachtet man das Item „Ich bekomme von Kollegen angrenzender Fachgebiete oft fachliche Hinweise“ nach Statuszugehörigkeit, so wird eine Differenz zwischen den Fachgebieten sichtbar (Abb. 8). Bei den Anästhesisten scheint der Status einen Einfluss zu haben, denn 33 % der Chefärzte gaben an, dass sie öfter fachliche Hinweise bekommen als die Assistenzärzte (20 %). Eine solche Tendenz wird bei den Chirurgen nicht ersichtlich. 48 % Oberärzte und 46 % Assistenzärzte der Chirurgie haben angegeben, dass sie von Kollegen angrenzender Fachgebiete oft bis sehr oft fachliche Hinweise bekommen. Vor allem die Assistenzärzte der Chirurgie (46 %) haben im Vergleich zu den Assistenzärzten der Anästhesie (20 %) sehr stark dieser Aussage zugestimmt.

Abb. 8: „Ich bekomme von Kollegen angrenzender Fachgebiete oft fachliche Hinweise.“ (Ausprägung „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Einen nennenswerten Unterschied zwischen den Geschlechtern konnte nur bei den Chirurgen festgestellt werden: 51 % der Chirurginnen haben eher das Gefühl, fachliche Hinweise von Kollegen angrenzender Fachgebiete zu erhalten als ihre männlichen Kollegen (Chirurgen 44 %). Anästhesisten haben tendenziell viel weniger dieser Aussage zugestimmt, als ihre Kollegen aus der Chirurgie.

Der Austausch mit Pflegekräften

Im Krankenhausalltag gehört laut Aussagen unserer Interviewpartner auch der regelmäßige Austausch mit den Pflegekräften dazu. Aus diesem Grund wurden in der Befragung Items aufgenommen, die den Austausch mit den Pflegekräften abfragen. Vor allem unerfahrene Ärzte (Anästhesie 63 % und Chirurgie 40 %) erhalten hin und wieder fachliche Hinweise von Pflegekräften (Abb. 9) bzw. bitten sie um Rat (Anästhesie 65 % und Chirurgie 30 %).

Abb. 9: „Ich bekomme hin und wieder fachliche Hinweise von Seiten erfahrener Pflegekräfte.“ (Ausprägung „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Je höher der Status im Hierarchiegefüge ist, desto weniger wird diesen Aussagen zugestimmt. Die Betrachtung nach Geschlechtern ergab darüber hinaus, dass innerhalb der Anästhesie beide gleich oft fachliche Hinweise von Pflegekräften erhalten (Anästhesisten 49 % und Anästhesistinnen 50 %). Zwar haben die Chirurgen tendenziell weniger der Aussage zugestimmt, jedoch ist die Differenz nach Geschlechtern bei den Chirurgen deutlicher ausgefallen, denn Chirurginnen haben eher das Gefühl (40 %) fachliche Hinweise von Pflegekräften zu erhalten als ihre männlichen Kollegen (35 %). Anästhesisten, die an Universitätskliniken beschäftigt sind, stimmten im Vergleich zu den übrigen Krankenhaustypen am häufigsten dieser Aussage zu (Grund- und Regelversorgung 47,1 %, Schwerpunktversorgung 51,1 %, Maximalversorgung 47 % und Universitätsklinik 55,6 %). Bei den Chirurgen zeigt sich ein ähnliches Bild (Grund- und Regelversorgung 34 %, Schwerpunktversorgung 37 %, Maximalversorgung 42 % und Universitätsklinik 50 %).

Der Austausch mit Patienten

Nichtwissen kann nicht nur im kollegialen Kreis beobachtet werden, sondern auch in der Interaktion mit den Patienten. Die Folgen des demographischen Wandels unserer Gesellschaft sind in den sich ändernden Patientenstrukturen zu finden. Beide Facharztgruppen gaben gleichermaßen an, dass heutzutage vermehrt ältere – meist multimorbide – Patienten (Chirurgie 87,7 %, Anästhesie 94,6 %) mit langen Medikamentenlisten (Chirurgie 82,6 %, Anästhesie 92,3 %) versorgt werden müssen.

Abb. 10: „Nichtwissensursachen von Patienten“ (Ausprägung „stimme zu“ bis „stimme voll und ganz zu“, Angaben in Prozent)

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Den Ärzten bereiten Patienten, die sich durch eigene Recherchen (z. B. Internet) selbst verunsichern weniger häufig Probleme, als Patienten, die aufgrund sprachlicher oder kognitiver Defizite nicht in der Lage sind, Informationen aufzunehmen. Der Aufwand, Patienten mit Informationen zu versorgen ist in den letzten Jahren gestiegen, gleichzeitig bleibt beispielsweise durch kaufmännische Vorgaben immer weniger Zeit, sich den Patienten in Form von Gesprächen ausreichend zu widmen. Zudem wird der Anteil an „fachfremden“ Arbeiten als sehr hoch eingeschätzt. 83,2 % der Chirurgen und 62,4 % der Anästhesisten stimmen der Aussage „Der Anteil an administrativen Arbeiten ist sehr hoch“ voll und ganz zu.

Fortbildungen zur Überwindung von Nichtwissen

Fortbildungen stellen ein bewährtes Mittel zur Überwindung unterschiedlicher Formen des Nichtwissens dar. Wenn man seine Wissenslücken kennt, kann man mit Hilfe von Fortbildungen gezielt diese Wissenslücke schließen und dem bekannten Nichtwissen entgegenwirken. Fortbildungen können aber auch unbekanntes Nichtwissen aufdecken und in neues Wissen umwandeln. Es zeigt sich, dass sich die befragten Ärzte der Wichtigkeit von Fortbildungen sehr bewusst sind: 90,1 % der Chirurgen und 90,6 % der Anästhesisten stimmen der Aussage „Fortbildungen helfen uns, neues Wissen in unsere Abteilung zu bringen“ zu. Hierbei stimmen weibliche Anästhesisten mit 91,7 % eher der Aussage zu, als es ihre männlichen Kollegen mit 89,8 % tun. Dieser geschlechtsspezifische Effekt konnte bei den Chirurgen jedoch nicht nachgewiesen werden. Des Weiteren zeigt sich ein Effekt hinsichtlich des Krankenhaustyps: Chirurgen, die an Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung und Krankenhäusern der Maximalversorgung tätig sind, sehen mehr Potential im Wissenszuwachs, als dies bei ihren Kollegen an den Universitätskliniken und an Krankenhäusern der Schwerpunktversorgung der Fall ist.

Abb. 11: Wirkung von Fortbildungen (Ausprägung „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Ein Unterschied lässt sich auch in der Aussage „Meine Erfahrungen aus den Fortbildungen kann ich oft gewinnbringend an meine Kollegen aus meiner Abteilung weitergeben“ erkennen. Dieser Aussage stimmten 59,2 % der Chirurgen oft bis sehr oft zu (Anästhesisten 41,5 %). In diesem Zusammenhang konnte bei beiden Fachbereichen auch ein geschlechtsspezifischer Einfluss aufgezeigt werden, so stimmten männliche Chirurgen (60,8 %) und Anästhesisten (45,7 %) eher als weiblichen Chirurgen (54,2 %) und Anästhesisten (34,6 %) der Aussage zu, dass sie Erfahrungen aus den Fortbildungen oft bis sehr oft gewinnbringend an ihre Kollegen aus ihrer Abteilung weitergeben können (Abb. 11).

Uns hat darüber hinaus interessiert, wie die Befragten zur Weiterbildungspflicht eingestellt sind. Etwas mehr als die Hälfte der Chirurgen und der Anästhesisten finden die Verpflichtung, 250 Weiterbildungspunkte innerhalb von fünf Jahren nachweisen zu müssen, fachlich sinnvoll. Auch der Aufwand, der für den Erwerb der 250 Punkte geleistet werden muss, wird vom Großteil der befragten Ärzte als angemessen empfunden. So geben nur 31,1 % der Chirurgen und 30,5 % der Anästhesisten an, dass der Aufwand und der Nutzen der vermittelten Inhalte in keinem Verhältnis stehe. Es zeigt sich, dass Fortbildungen grundsätzlich als sinnvoll erachtet werden und die Verpflichtung, diese bei der Ärztekammer nachzuweisen von der Mehrheit der befragten Ärzte nicht als Problem angesehen wird.

Wie schon erwähnt dient der Besuch von Fortbildungen dazu, Wissenslücken effizient zu schließen. 80 % der Anästhesisten sowie 80 % der Chirurgen gaben an, dass sie sich gezielt zu Themen fortbilden, bei denen sie wissen, eine Wissenslücke zu haben. Im Fachbereich der Anästhesie konnte im Geschlechtervergleich eine höhere Zustimmung bei den Frauen (82,2 %), als bei den Männern (78,9 %) festgestellt werden. In der Chirurgie konnte dieser geschlechtsspezifische Effekt jedoch nicht nachgewiesen werden. Weiter zeigt sich, dass Chirurgen an Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung sowie an Krankenhäusern der Schwerpunktversorgung dieser Aussage eher zugestimmt haben, als Chirurgen an den anderen Krankenhaustypen. Bei der weiteren Analyse dieses Aspektes hat sich ein sehr interessanter fachübergreifender Sachverhalt aufgetan. Es gibt eine deutliche Diskrepanz zwischen den Chefärzten und den übrigen Hierarchiestufen in Bezug auf die Wahrnehmung, ob man gezielt zu Fortbildungen vom Vorgesetzten (Chefarzt) geschickt wird bzw. ob der Vorgesetzte seine Mitarbeiter gezielt zu Fortbildungen schickt.

Abb. 12: „Ich schicke meine Mitarbeiter gezielt zu Fortbildungen“ und „Ich werde von meinem Vorgesetzten gezielt zu Fortbildungen geschickt“ (Nennungen „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Die Chefärzte beider Facharztgruppen gaben zu 85 % an, dass sie der Meinung sind, ihre Mitarbeiter gezielt zu Fortbildungen zu schicken (vgl. Abb. 12). Jedoch nehmen dies nur 30,4 % der Ober-, Fach- und Assistenzärzte der Chirurgie und 15,8 % der Ober-, Fach- und Assistenzärzte der Anästhesie so wahr. Für diese Diskrepanz gibt es aus unserer Sicht zwei Erklärungsmöglichkeiten: Erstens, die Mitarbeiter werden von den Chefärzten gezielt zu Fortbildungen geschickt, empfinden dies aber nicht so. Die zweite Erklärungsmöglichkeit besteht darin, dass die Mitarbeiter größtenteils (doch) nicht gezielt zu Fortbildungen geschickt werden. Letztere Erklärung lässt auf den Effekt der sozialen Erwünschtheit schließen (s.o.), der sich zum Teil mit den Ergebnissen unserer qualitativen Vorstudie deckt. Darüber hinaus zeigte die Vorstudie, dass unsere Interviewpartner als Hinderungsgrund für den Besuch von Fortbildungen, die mangelnde Freistellung durch den Vorgesetzten angaben. Eine nähere Untersuchung der Hinderungsgründen an Fortbildungen nicht teilzunehmen hat beim Vergleich der beiden Fachdisziplinen interessante Unterschiede zu Tage geführt (s. Abb. 13).

Abb. 13: Hinderungsgründe für den Besuch von Fortbildungen (Mehrfachnennung, Nennungen „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Auf dem ersten Blick fällt auf, dass Chirurgen den Hinderungsgrund „keine Freistellung“ im Vergleich zu den Anästhesisten mit 20 % viel seltener angeben. Dies deckt sich auch mit der Aussage, dass man die Möglichkeit hat, fachliche Fortbildungen während der regulären Arbeitszeit zu besuchen. Hierbei geben die Chirurgen mit 46,2 % an, dass sie dies oft bis sehr oft nutzen, bei den Anästhesisten sind es hingegen nur 31,5 %. Es zeigt sich, dass den Chirurgen scheinbar eher die Möglichkeit eingeräumt wird, sich während der Arbeitszeit fortzubilden und Anästhesisten eher ihre Freizeit hierfür in Anspruch nehmen müssen. Der Hauptgrund wird von beiden Fachdisziplinen mit ca. 78 % jedoch im Zeitmangel gesehen. Ein weiterer Aspekt ist der Faktor Kosten. Es geben ca. 39 % der Ärzte zu hohe Kosten als Hinderungsgrund an, hinzu kommt die Aussage, dass Fortbildungen zu teuer sind. Zu allgemeine bzw. zu spezielle Fortbildungsangebote werden hingegen nicht als Hinderungsgrund gesehen.

Tabelle 2: Hinderungsgründe für Fortbildungen nach Krankenhaustyp geordnet (Mehrfachantworten, Nennungen „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

Grund- und Regelversorgung Schwerpunkt-
versorgung
Maximal-
versorgung
Universitätsklinik sonstige
Krankenhäuser
Gesamt
Chir. Anä. Chir. Anä. Chir. Anä. Chir. Anä. Chir. Anä. Chir. Anä.
Zeitmangel 78,5 % 77,0 % 77,6 % 78,9 % 83,9 % 79,1 % 84,0 % 73,1 % 62,2 % 75,5 % 78,6 % 77,1 %
keine Kostenüber-
nahme durch das Krankenhaus
34,4 % 34,4 % 34,9 % 37,2 % 47,6 % 44,4 % 54,0 % 63,0 % 48,9 % 34,2 % 38,6 % 41,8 %
Fortbildungen sind zu teuer 34,4 % 42,1 % 34,9 % 37,9 % 47,6 % 39,4 % 54,0 % 35,5 % 48,9 % 44,1 % 46,1 % 39,6 %
keine Freistellung durch Vorgesetzten 47,9 % 33,2 % 47,5 % 46,3 % 42,0 % 51,6 % 30,0 % 69,0 % 53,3 % 44,1 % 20,7 % 46,7 %
Unübersicht-
lichkeit der Angebote
24,9 % 16,1 % 14,3 % 18,3 % 16,8 % 14,1 % 34,0 % 8,0 % 15,6 % 16,2 % 20,5 % 14,9 %
Angebote sind zu speziell 2,8 % 3,6 % 5,0 % 3,2 % 4,2 % 2,3 % 2,0 % 1,0 % 2,2 % 0,0 % 3,6 % 2,6 %
Angebote sind zu allgemein gehalten 4,6 % 5,5 % 4,6 % 5,5 % 9,1 % 4,2 % 2,0 % 2,3 % 17,4 % 7,3 % 5,9 % 4,9 %
zu hoher Aufwand bei geringem Nutzen 27,9 % 28,3 % 28,7 % 22,2 % 24,5 % 19,6 % 16,0 % 9,6 % 19,6 % 26,4 % 26,4 % 21,9 %

Betrachtet man die Tabelle 2, so lassen sich zahlreiche interessante Unterschiede nach Krankenhaustypen aufzeigen. Die markantesten Differenzen sind, dass an Universitätskliniken ein größeres Problem mit der Kostenübernahme der Fortbildungen besteht und bei den Chirurgen häufig auch der Zeitmangel als Hinderungsgrund angesehen wird. Betrachtet man weiterhin die Universitätskliniken, so zeigt sich im Bereich der Freistellung durch den Vorgesetzten und der Unübersichtlichkeit über die Angebote gerade dort ein relevanter Unterschied zwischen den beiden Fachdisziplinen.

Fazit

In unserer vergleichenden Studie konnten wir aufzeigen, dass Chirurgen und Anästhesisten sich in vielen Dingen und Einschätzungen ähneln, etwa in der Charakterisierung ihres jeweiligen Fachs, das sich in erster Linie durch ständige Herausforderungen auszeichnet. Fachübergreifend herrscht in den Abteilungen und im Tagesgeschäft überwiegend ein guter und unterstützender Umgang miteinander. Fortbildungen sind aus Sicht der befragten Ärzte eine gute Möglichkeit bekanntem und unbekanntem Nichtwissen zu begegnen. Neben einigen fachübergreifenden Ähnlichkeiten gibt es interessante Unterschiede im Hinblick auf das Hierarchiegefüge. So sind Chefärzte beider Facharztgruppen gegenüber ihren Ober-, Fach- und Assistenzärzten eher der Meinung, dass in den Abteilungen Fehler als Lernchance begriffen werden.

Ein weiterer markanter und hierarchiebedingter Unterschied besteht in der diskrepanten Wahrnehmung der Chefärzte und der Wahrnehmung der Mitarbeiter. Exemplarisch hierfür kann die Einschätzung des Lernens aus Fehlern oder die Wahrnehmung gezielt angeordneter Fortbildungen gesehen werden. Geschlechtsspezifische Unterschiede haben sich ebenfalls gezeigt: In beiden Facharztbereichen haben Ärztinnen weniger als ihre männlichen Kollegen das Gefühl, dass man sich innerhalb der Abteilung gegenseitig unterstützt oder man Erfahrungen von Fortbildungen gewinnbringend an Kollegen aus der Abteilung weitergeben kann.

Darüber hinaus konnten verschiedene fachspezifische Unterschiede sowie Unterschiede zwischen den Krankenhaustypen nachgewiesen werden. Anästhesisten geben Kollegen der angrenzenden Fachgebiete weniger fachliche Hinweise, je größer das Krankenhaus ist. Bei den Chirurgen verhält es sich umkehrt. Je größer das Krankenhaus ist, desto häufiger geben sie fachliche Hinweise an Kollegen der angrenzenden Fachgebiete.

Eine weitere fachspezifische Differenz konnte auch in Bezug auf das Thema Fortbildung festgestellt werden. Die fehlende Freistellung für die Teilnahme an Fortbildungen ist für die Anästhesisten häufiger ein Hinderungsgrund als für die Chirurgen. Die Hinderungsgründe sind zudem an Universitätskliniken oftmals stärker ausgeprägt, wobei auch hier fachspezifische Unterschiede gezeigt werden konnten.

Der Faktor Zeit spielt nicht nur beim Thema Fortbildungen eine wichtige Rolle, sondern auch im Arbeitsalltag selbst. Fachübergreifend wurde sowohl bei der Analyse der Interviews, als auch bei der Auswertung der Online-Befragung deutlich, dass Zeit inzwischen eine noch knappere Ressource geworden ist. Dies zeigt zum einen die wahrgenommene Arbeitsverdichtung seit der Einführung der DRG. Zum anderen erfordert die Versorgung älterer, meist multimorbider Patienten als Folge des demographischen Wandels mehr Zeit. Diese zu leistenden Aufgaben zum Wohl der Patienten spiegeln sich jedoch nicht in den kaufmännischen Vorgaben (z. B. hohe DRG-Erlöse, leistungsabhängige Vergütung) wider.

Ein guter Umgang mit Nichtwissen kann weder von oben angeordnet, noch direkt gesteuert werden. Es erfordert vielmehr ein vertrauensvolles Miteinander sowie Rahmenbedingungen (z. B. in Form von zeitlichen Ressourcen), um aus Nichtwissen Wissen zu machen.

Literatur

Schnell, Rainer (2012): Survey-Interviews. Standardisierte Befragungen in den Sozialwissenschaften. Wiesbaden.

Wilkesmann M. / Roesner B. / Jang S. R. Fachspezifische Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Umgang mit Nichtwissen: Chirurgie und Anästhesiologie im Vergleich. Passion Chirurgie. 2013 März; 3(03): Artikel 02_03.

Dem Umgang mit Nichtwissen auf der Spur

Wie gehen Chirurginnen und Chirurgen mit Nichtwissen um? Welche Faktoren behindern bzw. fördern einen guten Umgang mit Nichtwissen?

Genau diese Fragen werden seit März 2012 von den beiden Sozialwissenschaftlerinnen Prof. Dr. Maximiliane Wilkesmann und Dipl. Soz.-Wiss. So Rim Jang von der TU Dortmund in einem Projekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird, erforscht.

Während in der jüngsten Vergangenheit hauptsächlich zum Thema Wissen debattiert wurde, stellt die Erforschung des Umgangs mit Nichtwissen nach wie vor einen blinden Fleck dar. Die beiden Forscherinnen interessiert dabei besonders, wie Ärztinnen und Ärzte mit ihrem Nichtwissen umgehen und von welchen Faktoren der Umgang abhängt. Die Berufsgruppe der Ärztinnen und Ärzte eignet sich besonders gut, Umgangstrategien mit Nichtwissen näher zu erforschen, da sie durch die universitäre Ausbildung und ihre besondere Berufspraxis – im Gegensatz zu vielen anderen Berufsgruppen – sehr viel Wissen besitzen. Darüber hinaus zeigt die Behandlungspraxis, dass ärztliches Handeln immer wieder an bestimmte Wissensgrenzen gerät. Nichtwissen ist dabei keinesfalls mit einer negativen Bedeutung verbunden, denn der Umgang mit Nichtwissen ist auch ein wichtiger Motor des wissenschaftlichen Fortschritts. Einerseits sucht man häufig nach neuen Wirkstoffen oder Therapiekonzepten, die noch nicht verfügbar sind, um bestimmte Krankheiten zu heilen. Andererseits führt manchmal der wissenschaftliche Fortschritt in der Medizin zu neuen Therapiekonzepten, mit denen sich zwar bestimmte Krankheiten heilen lassen, diese aber wiederum mit unbekannten Nebenwirkungen verbunden sind. Kurzum: Neues Wissen produziert immer auch neues Nichtwissen.

Da die beiden Forscherinnen mit diesem Projekt Grundlagenforschung betreiben und Neuland betreten, haben sie von April bis August letzten Jahres zunächst mit 43 Ärztinnen und Ärzten Interviews durchgeführt. Im Fokus standen zum einen Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher Fachdisziplinen mit ihren arbeitsorganisatorischen Besonderheiten (Chirurgie, Anästhesiologie, Innere Medizin und Pathologie). Zum anderen wurde bei den Interviews darauf geachtet, dass Personen aus unterschiedlichen Hierarchieebenen und verschiedenen Krankenhaustypen interviewt wurden. Auf Grundlage dieser Daten wurde in den letzten Monaten Fragen für eine deutschlandweite Online-Befragung entwickelt, um auf diese Weise verallgemeinerbare Aussagen zu Umgangsstrategien von Ärztinnen und Ärzten in Krankenhäusern mit Nichtwissen und deren Einflussfaktoren treffen zu können.

Das DFG-Forschungsprojekt wird sowohl vom BDC, als auch von den Berufsverbänden der anderen Facharztgruppen (Berufsverband Deutscher Anästhesisten e.V., Berufsverband Deutscher Internisten e.V. und dem Bundesverband Deutscher Pathologen e.V.) aktiv unterstützt.

Es wird an dieser Stelle schon einmal darauf hingewiesen, dass alle Angaben nach den DFG-Standards guter wissenschaftlicher Praxis streng vertraulich behandelt werden und das Erkenntnisinteresse ausschließlich in Gruppenvergleichen liegt (z. B. nach Geschlecht, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Hierarchieebene, Beschäftigung in einem bestimmten Krankenhaustyp), so dass Rückschlüsse auf einzelne Personen nicht interessieren.

Ziel ist es, mit Hilfe der Ergebnisse mögliche Optimierungsbereiche von organisatorischer Seite aufzudecken. Darüber hinaus werden die Ergebnisse wichtige verbandspolitische Rückschlüsse für einen positiven Umgang mit Nichtwissen in der Organisation Krankenhaus ermöglichen. Umso wichtiger ist es, dass Sie die Erforschung des Umgangs mit Nichtwissen mit Ihrer Teilnahme unterstützen.

Erste vergleichende Ergebnisse der Studie werden schon im Sommer dieses Jahres über die fachärztlichen Publikationsmedien vorgestellt.

Wilkesmann M. / Jang S. R. Dem Umgang mit Nichtwissen auf der Spur. Passion Chirurgie. 2012 Februar; 2(02): Artikel 03_02.

Dem Umgang mit Nichtwissen auf der Spur

Wie gehen Chirurginnen und Chirurgen mit Nichtwissen um? Welche Faktoren behindern bzw. fördern einen guten Umgang mit Nichtwissen?

Genau diese Fragen werden seit März 2012 von den beiden Sozialwissenschaftlerinnen Prof. Dr. Maximiliane Wilkesmann und Dipl. Soz.-Wiss. So Rim Jang von der TU Dortmund in einem Projekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird, erforscht.

Während in der jüngsten Vergangenheit hauptsächlich zum Thema Wissen debattiert wurde, stellt die Erforschung des Umgangs mit Nichtwissen nach wie vor einen blinden Fleck dar. Die beiden Forscherinnen interessiert dabei besonders, wie Ärztinnen und Ärzte mit ihrem Nichtwissen umgehen und von welchen Faktoren der Umgang abhängt. Die Berufsgruppe der Ärztinnen und Ärzte eignet sich besonders gut, Umgangstrategien mit Nichtwissen näher zu erforschen, da sie durch die universitäre Ausbildung und ihre besondere Berufspraxis – im Gegensatz zu vielen anderen Berufsgruppen – sehr viel Wissen besitzen. Darüber hinaus zeigt die Behandlungspraxis, dass ärztliches Handeln immer wieder an bestimmte Wissensgrenzen gerät. Nichtwissen ist dabei keinesfalls mit einer negativen Bedeutung verbunden, denn der Umgang mit Nichtwissen ist auch ein wichtiger Motor des wissenschaftlichen Fortschritts. Einerseits sucht man häufig nach neuen Wirkstoffen oder Therapiekonzepten, die noch nicht verfügbar sind, um bestimmte Krankheiten zu heilen. Andererseits führt manchmal der wissenschaftliche Fortschritt in der Medizin zu neuen Therapiekonzepten, mit denen sich zwar bestimmte Krankheiten heilen lassen, diese aber wiederum mit unbekannten Nebenwirkungen verbunden sind. Kurzum: Neues Wissen produziert immer auch neues Nichtwissen.

Da die beiden Forscherinnen mit diesem Projekt Grundlagenforschung betreiben und Neuland betreten, haben sie von April bis August letzten Jahres zunächst mit 43 Ärztinnen und Ärzten Interviews durchgeführt. Im Fokus standen zum einen Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher Fachdisziplinen mit ihren arbeitsorganisatorischen Besonderheiten (Chirurgie, Anästhesiologie, Innere Medizin und Pathologie). Zum anderen wurde bei den Interviews darauf geachtet, dass Personen aus unterschiedlichen Hierarchieebenen und verschiedenen Krankenhaustypen interviewt wurden. Auf Grundlage dieser Daten wurde in den letzten Monaten Fragen für eine deutschlandweite Online-Befragung entwickelt, um auf diese Weise verallgemeinerbare Aussagen zu Umgangsstrategien von Ärztinnen und Ärzten in Krankenhäusern mit Nichtwissen und deren Einflussfaktoren treffen zu können.

Das DFG-Forschungsprojekt wird sowohl vom BDC, als auch von den Berufsverbänden der anderen Facharztgruppen (Berufsverband Deutscher Anästhesisten e.V., Berufsverband Deutscher Internisten e.V. und dem Bundesverband Deutscher Pathologen e.V.) aktiv unterstützt.

Es wird an dieser Stelle schon einmal darauf hingewiesen, dass alle Angaben nach den DFG-Standards guter wissenschaftlicher Praxis streng vertraulich behandelt werden und das Erkenntnisinteresse ausschließlich in Gruppenvergleichen liegt (z. B. nach Geschlecht, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Hierarchieebene, Beschäftigung in einem bestimmten Krankenhaustyp), so dass Rückschlüsse auf einzelne Personen nicht interessieren.

Ziel ist es, mit Hilfe der Ergebnisse mögliche Optimierungsbereiche von organisatorischer Seite aufzudecken. Darüber hinaus werden die Ergebnisse wichtige verbandspolitische Rückschlüsse für einen positiven Umgang mit Nichtwissen in der Organisation Krankenhaus ermöglichen. Umso wichtiger ist es, dass Sie die Erforschung des Umgangs mit Nichtwissen mit Ihrer Teilnahme unterstützen.

Erste vergleichende Ergebnisse der Studie werden schon im Sommer dieses Jahres über die fachärztlichen Publikationsmedien vorgestellt.

Wilkesmann M. / Jang S. R. Dem Umgang mit Nichtwissen auf der Spur. Passion Chirurgie. 2012 Februar; 2(02): Artikel 03_02.