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Wie gehen Chirurginnen und Chirurgen (der besseren Lesbarkeit halber, wird nachfolgend das männliche Geschlecht genutzt) mit ihrem eigenen und dem Nichtwissen anderer um? Auf welche Ressourcen greifen Chirurgen bevorzugt zurück, um ihr Nichtwissen zu überwinden? Können unterschiedliche Krankenhaustypen verschiedene Kooperationsformen zwischen den Chirurgen hervorrufen? Antworten auf diese und weitere Fragen werden mit Hilfe der Ergebnisse der bundesweiten Befragung gegeben, zu der der BDC im Frühjahr alle im Krankenhaus tätigen Chirurgen aufgerufen hatte. Es haben 2.614 der insgesamt 10.613 im Krankenhaus tätigen Chirurgen an dieser Befragung teilgenommen. In die Auswertung sind nach der Datenbereinigung 866 vollständig beendete Fragebögen eingeflossen.

Wir danken dem BDC sowie allen Chirurgen, die an der Befragung teilgenommen haben. Darüber hinaus danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung des Projekts „Welche Faktoren beeinflussen den Umgang mit Nichtwissen verschiedener ärztlicher Professionen in Krankenhäusern?“ (WI 3706/1-1).

In diesem Beitrag werden wir zunächst die vier Dimensionen des Nichtwissens und die gewählten Umgangsstrategien innerhalb der Facharztgruppe der Chirurgen untersuchen und dabei mögliche Unterschiede hinsichtlich der Krankenhaustypen (z. B. Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung vs. Universitätskliniken), der Hierarchieebenen (z. B. Assistenzärzte vs. Chefärzte) und zwischen den Geschlechtern (männlich vs. weiblich) berücksichtigen.

Nichtwissen – ein zu unrecht negativ assoziierter Begriff?

Wie wir im Beitrag zu den qualitativen Interviews gesehen haben (siehe auch Artikel ‚Nichtwissen im chirurgischen Krankenhausalltag’ in dieser Ausgabe) kann Nichtwissen dazu führen, dass Wissenslücken erkannt werden und wahrgenommenes Nichtwissen durchaus positive Effekte haben kann, indem bekanntes Nichtwissen als Lernchance genutzt wird. Daher haben wir zu Beginn der Befragung danach gefragt, welche Assoziationen der Begriff Nichtwissen auslöst. Bei nur 2,7 % der befragten Chirurgen löst dieser eine positive Assoziation aus, bei 65,2 % hingegen eine negative bis sehr negative Assoziation. Diese negative Grundeinstellung wurde im Hierarchiegefüge unterschiedlich bewertet. Die Statusgruppe der Fachärzte gibt, im Vergleich zu den anderen Statusgruppen (Chefärzte, Oberärzte, Assistenzärzte), mit 72,8 % eine signifikant negativere Einschätzung ab (s. Abb. 1).

Abb. 1: Negative bis sehr negative Assoziationen mit dem Begriff Nichtwissen (Angaben in Prozent)

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Geschlechtsspezifische Einflüsse auf die Assoziation des Begriffs Nichtwissen konnten ebenfalls nachgewiesen werden. So empfinden 70,4 % der Chirurginnen im Gegensatz zu 63,5 % ihrer männlichen Kollegen negative bis sehr negative Assoziationen. Diese ersten Ergebnisse zeigen, dass das Phänomen Nichtwissen vorwiegend als etwas Problematisches empfunden wird. Nachfolgend werden wir darauf eingehen, mit welchen Strategien Chirurgen dem Nichtwissen im Klinikalltag begegnen und diesem entgegensteuern.

Umgang mit bekanntem Nichtwissen – „Ich weiß, dass ich etwas nicht weiß“

Das Lernen im kollegialen Kreis ist eine der dominanten Strategien, mit der Chirurgen bekanntem Nichtwissen begegnen. Neben der Möglichkeit der kollegialen Rücksprache, zeigt die Abbildung 2 weitere Strategien, wie man sich beispielsweise auf eine Operation vorbereitet.

Abb. 2: „Wenn Sie sich auf eine Operation vorbereiten, wie häufig wenden Sie welche Strategie an?“ (Ausprägung „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent, Mehrfachnennungen)

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Nahezu die Hälfte der Chirurgen gab an, dass sie zur Vorbereitung auf eine OP einzelne Schritte mit ihren Kollegen aus der Abteilung besprechen. Dabei fällt der hohe Wert der Chefärzte auf. Er ist darauf zurückzuführen, dass sie sich in einer solchen Situation vermutlich eher als Wissensgeber, denn als Wissensnehmer sehen. Dies deckt sich mit den Zustimmungswerten zum abgefragten Item „Ich zeige Kollegen bestimmte Vorgänge“. So gaben 67,2 % der Chefärzte und 79,2 % der Oberärzte an, dass sie oft bis sehr oft ihren Kollegen bestimmte Vorgänge zeigen würden, wohingegen der Wert zu den Assistenzärzten auf 33,1 % zurückgeht.

Zieht man für den Erwerb neuen Wissens ein weiteres Item hinzu, so gaben 62,7 % der befragten Assistenzärzte an, dass sie sich oft bis sehr oft Handlungsabläufe von Kollegen zeigen lassen. Dagegen lassen sich aufgrund der höheren Expertise nur 33,5 % der Fachärzte, 20,9 % der Oberärzte und 28,8 % der Chefärzte oft bis sehr oft etwas von Kollegen zeigen.

Gerade bei unerfahrenen Chirurgen zählen – neben dem aktiven Zeigen lassen – auch das Beobachten von Kollegen (Assistenzärzte 64,2 % im Vergleich dazu die Chefärzte 35,9 %) zu den erfolgversprechenden Strategien, bekanntes Nichtwissen zu beheben. Allerdings sind 56,8 % der Chefärzte, 55 % Oberärzte und 48,7 % Fachärzte der Meinung, dass die jungen Assistenzärzte mehr von ihnen lernen könnten.

Betrachtet man die letzten Angaben im Hinblick auf die einzelnen Krankenhaustypen, stimmen die Oberärzte und Chefärzte in Krankenhäusern der Maximalversorgung (Oberärzte 63,1 % und Chefärzte 64,4 %) und in Universitätskliniken (Oberärzte 60,1 % und Chefärzte 60 %) mit ihren Einschätzungen überein, dass junge Assistenzärzte mehr von ihnen lernen könnten. Auffällig ist außerdem, dass Assistenzärzte zur Klärung dringender Fragen von allen Hierarchiestufen am häufigsten den Kontakt zu externen Kollegen (s. Abb. 2) suchen, die sie vermutlich noch aus dem Studium kennen.

Eine weitere Strategie im Umgang mit bekanntem Nichtwissen besteht darin, andere Kollegen zur Hilfe zu holen. In unserer Studie wurde dabei zwischen akuten und nicht-akuten Fällen unterschieden, da durch die Aussagen in den Interviews unterschiedliche Prioritäten erwartet wurden. Exemplarisch hierfür ist das Zitat einer Fachärztin:

„Das ist so ein Abwägungsprozess. Wenn das jetzt nicht akut ist, dann ruft man sich noch jemanden dazu und versucht das zu klären, aber viele Sachen müssen ja auch nicht sofort geklärt werden“ (Fachärztin, Chirurgie 02: 84-87).

Der Unterschied zwischen akuten und nicht-akuten Fällen bestätigte sich in der repräsentativen Umfrage nicht.

Es zeigen sich aber hierarchisch bedingte Unterschiede: Chefärzte rufen – wie zu erwarten war – vor allem Ober- und Fachärzte zur Hilfe und geben ihre Fälle häufiger an diese Statusgruppen ab. Oberärzte bevorzugen die Hilfe von Assistenz- und Fachärzten. Die Fachärzte halten sich zunächst auch an das Hierarchiegefüge. Die zweite Wahl an Personen, die sie zur Hilfe rufen oder delegieren würden sind – entgegen unserer Annahmen – die Chefärzte, d. h. sie überspringen somit die Oberärzte. Ebenfalls fallen die Assistenzärzte aus dem Rahmen, denn sie suchen in erster Linie innerhalb ihrer Statusgruppe nach Hilfe und rufen als zweite Wahl ebenfalls nicht die Fach- bzw. Oberärzte, sondern ebenfalls bevorzugt Chefärzte zur Hilfe.

Falls kein direkter Rückgriff auf die Kollegen notwendig und genügend Zeit vorhanden ist, wird häufig das eigenständige Aneignen von Wissen praktiziert. Assistenzärzte nutzen dabei am stärksten die Möglichkeit des Nachlesens (s. Abb. 2). Tabelle 1 zeigt die Nutzung der Ressourcen dem Status nach geordnet, wenn bekanntes Nichtwissen auftritt.

Tab. 1: Kreuztabelle Status der Befragten mit „Wenn ich nicht weiter weiß, dann nutze ich folgende Ressourcen.“ (Nennungen in Prozent)

Chefärzte
(n=162)
Oberärzte
(n=314)
Fachärzte
(n=213)
Assistenzärzte
(n=177)
Fachbücher 76,5 77,4 81,3 80,3
Fachzeitschriften 58,0** 61,8** 52,8** 31,1**
Englischsprachige Fachliteratur 44,7** 29,9** 22,5** 22,5**
Fachzeitschriften benachbarter Fachgebiete 37,9* 39,2* 31,5* 23,2*
Fachstandards 50,0* 64,6* 59,8* 59,3*
Abteilungsinterne Standards 32,9** 41,7** 54,9** 61,6**
Behandlungspfade 37,7 35,4 31,9 33,9
Checklisten 19,3** 16,3** 23,4** 37,9**
Algorithmen 24,7** 36,3** 25,4** 44,9**
SOPs 11,7 10,8 9,4 9,6
Arbeitsanweisungen 12,3** 9,9** 16,4** 32,2**
Online-Literaturdatenbanken 63,6** 66,2** 45,8** 33,3**
Google 37,7**
44,6** 50,2** 75,1**
Wikipedia 17,3** 21,0** 33,8** 46,1**
Apps 8,0** 12,7** 9,3** 31,1**
Cochrande Library 24,2** 21,0** 11,7** 6,8**
Fehlermeldesystem 10,5* 10,8* 6,6* 1,7*
Elektronische Patientenakten 15,4* 21,0* 24,4* 27,5*
Power-Point-Präsentation 8,6 8,9 10,3 11,9
Videos 11,5* 14,5* 8,3* 7,4*
Signifikanz: **p <,01; *p <,05

Interessanterweise gibt es einige geschlechtsspezifisch signifikante Unterschiede bei der Nutzung verschiedener Ressourcen: Chirurginnen nutzen häufiger Checklisten, abteilungsinterne Standards, Arbeitsanweisungen, Apps, elektronische Patientenakten, Google und Wikipedia als ihre männlichen Kollegen. Ihre männlichen Kollegen dagegen nutzen Online-Literaturdatenbanken, Cochrane Library und Fachzeitschriften signifikant häufiger.

Bei den Chef- und Oberärzten fällt auf, dass Printmedien immer noch eine dominante Rolle spielen, wohingegen die Nutzung von „neuen Medien“ (z. B. Google, Wikipedia) vor allem bei den Assistenzärzten großen Anklang findet. Trotzdem können wir keinen Generationeneffekt bei der Aufgeschlossenheit neuesten Technologien wie Smartphones oder Tablet-PC gegenüber feststellen.

Schaut man sich das Vorhandensein (IST) und die gewünschte Verbreitung (SOLL) von neuesten Medientechnologien an (s. Abb. 3), so zeigt sich, dass sich die Chirurgen hierarchieübergreifend einen besonders großen Nutzen von der Einführung von Tablet-PCs (z. B. iPads) zur Unterstützung von Visiten versprechen. Geschlechtsspezifische Differenzen oder Unterschiede hinsichtlich der einzelnen Krankenhaustypen zeigen sich im tatsächlichen Vorhandensein und der gewünschten Verfügbarkeit nicht.

Abb. 3: Tatsächliche und gewünschte Verfügbarkeit von neuesten Medien (Ausprägung „Ist“ = bereits vorhanden; „Soll“ = wird gefordert, Nennungen in Prozent)

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Vielleicht liegt der relativ starke Wunsch nach digitaler Unterstützung auch in der Tatsache begründet, dass 29,9 % der Chefärzte, 42,7 % der Oberärzte, 39,9 % der Fachärzte und sogar 46,4 % der Assistenzärzte angegeben haben, handschriftliche Einträge ihrer Kollegen oft bis sehr oft nicht entziffern zu können. Die Nutzung digitaler Medien zur Dokumentation patientenbezogener Daten würde allerdings eine Änderung der aktuellen Rechtssprechung voraussetzen.

Umgang mit unbekanntem Wissen – „Ich weiß nicht, dass ich etwas weiß“

Unbekanntes Wissen ist schwer von den Befragten selbst reflektierbar. Häufig kann dieses tief verankerte Wissen nur von außen beobachtet und hinterfragt werden. Aus diesem Grund haben wir die Dimension unbekanntes Wissen mit dem Begriff der Intuition abgefragt. Wenn schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen, gaben 39 % der befragten Chirurgen bei akuten Fällen und 33,7 % bei nicht akuten Fällen an, auf ihre Intuition zurückzugreifen. Die Analyse hat gezeigt, dass je stärker die Befragten unter Risiko und Informationsmangel arbeiten müssen, um so eher wird auf intuitive Handlungsmuster zurückgegriffen. Zudem gaben Chirurginnen häufiger als ihre männlichen Kollegen und Assistenzärzte höherer Hierarchiestufen an, intuitiv zu handeln. Die Spezialisierung innerhalb der Chirurgie und der Krankenhaustyp haben keinen signifikanten Einfluss darauf, ob man angibt, intuitiv zu handeln oder nicht.

Umgang mit bekanntem Wissen – „Ich teile den anderen mein Wissen nicht mit“

Bekanntes Wissen tritt immer dann auf, wenn Personen ihr Wissen gegenüber anderen Kollegen zurückhalten oder wenn Personen merken, dass ihr Gegenüber unbekanntes Nichtwissen hat, welches es zu überwinden gilt. Letztere Strategie wird im Sinne des kollegialen Lehrens häufig dann angewandt, wenn erfahrene Chirurgen wahrnehmen, dass unerfahrene Kollegen bestimmte Dinge (noch) nicht wissen. In diesem Zusammenhang war es interessant abzufragen, ob die Chirurgen selbst Wissen nur weitergeben, wenn eine Gegenleistung zu erwarten ist oder nicht. Nur 5,8 % der Chirurgen gaben an, dass sie oft bis sehr oft eine Gegenleistung erwarten, wenn sie Wissen weitergeben. Mehr als die Hälfte verlangt nie eine Gegenleistung für die Wissensweitergabe.

Zieht man weitere Items hinzu, was die sonstige Zurückhaltung von Wissen angeht, zeigt sich eine gewisse Ambivalenz im Antwortverhalten: Einerseits haben die Befragten eher selten das Gefühl, dass Kollegen ihr Wissen oft bis sehr oft aus strategischen Gründen zurückhalten (12,3 % Chefärzte, 16,6 % Oberärzte, 22,7 % Fachärzte und 28,2 % Assistenzärzte). Ebenso gaben über 95 % der Chef-, Ober- und Fachärzte und 83 % der Assistenzärzte an, dass sie – entgegen einiger Aussagen in den Interviews – keine beruflichen Nachteile erwarten, wenn sie ihr Wissen weitergeben. Insofern tritt diese negative Variante eher selten auf.

Diese Einschätzung ist unabhängig vom Krankenhaustyp (Uniklinik, Krankenhaus der Grund- & Regelversorgung, Krankenhaus der Schwerpunkt- & Maximalversorgung sowie Spezialkliniken) sowie der (Sub-)Spezialisierung des chirurgischen Fachbereichs. Andererseits hat ein Drittel der Befragten oft bis sehr oft angegeben, dass sie im Dienst mit Komplikationen konfrontiert wurden, die ihnen bei der Übergabe nicht mitgeteilt wurden. Abbildung 4 zeigt die Einschätzungen dieser Aussage im Hinblick auf die Hierarchie und die einzelnen Krankenhaustypen.

Abb. 4: „In meinem Dienst kommt es vor, dass ich mit Komplikationen konfrontiert werde, die mir bei der Übergabe nicht mitgeteilt wurden.“ (Nennungen „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Umgang mit unbekanntem Nichtwissen – „Ich weiß nicht, dass ich etwas nicht weiß“

Unbekanntes Nichtwissen kann unter Umständen von außen, d. h. von Fachkollegen beobachtet und kontrolliert bzw. hinterfragt werden (s. bekanntes Wissen). Dieses unbekannte Nichtwissen einzelner Chirurgen in Form von Fehleinschätzungen kann im Team korrigiert werden und zu individuellen Lernprozessen führen.

Abb. 5: „Wie häufig kommt es vor, dass…“ (Nennungen „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Ein Drittel der Befragten gibt an, dass sie Entscheidungen von Kollegen hinterfragen, weil sie zu einer anderen Einschätzung gekommen sind. Umgekehrt wird von den Befragten nur sehr selten zugegeben, dass sie selbst von Kollegen bezüglich ihrer Entscheidungen hinterfragt werden. Unterschiede zwischen den Krankenhaustypen gibt es nicht, wohl aber hinsichtlich des Geschlechts: Chirurginnen gaben mit 15,6 % im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen (10,2 %) am häufigsten an, dass ihre Entscheidungen oft bis sehr oft hinterfragt werden (s. Abb. 5).

Trotzdem bleibt die grundsätzliche Diskrepanz zwischen dem Hinterfragen von Kollegen und dem eigenen Empfinden, hinterfragt zu werden, offensichtlich. Hier stellt sich die Frage, ob die Kritik vonseiten der Kollegen tatsächlich nicht als solche wahrgenommen wird oder ein sozial erwünschtes Antwortverhalten vorliegt. In diesem Zusammenhang ist auch der Umgang mit Fehlern interessant. Während 36,6 % der männlichen Chirurgen oft bis sehr oft der Aussage „Es kommt vor, dass meine Kollegen häufig den Fehler bei anderen suchen, als bei sich selbst“ zustimmen, stimmen 46,4 % der Chirurginnen dieser Aussage oft bis sehr oft zu.

Während es zwischen den einzelnen Krankenhaustypen nur marginale Unterschiede existieren, gibt es diesbezüglich unterschiedliche Wahrnehmungen im Hierarchiegefüge: Etwas mehr als ein Drittel der Chefärzte (31,8 %) und Oberärzte (34,8 %) stimmen dieser Aussage zu. Bei den Fachärzten (45,6 %) und Assistenzärzten (44,9 %) ist es fast die Hälfte der Befragten, die dieser Aussage in hohem Maß beipflichtet.

Betrachtet man diese Dimension aus der individuellen Perspektive, kann sich unbekanntes Nichtwissen erst im Nachhinein offenbaren. Dies geschieht beispielsweise durch das nachträgliche Erkennen von Fehleinschätzungen bei der Behandlung eines Patienten, was im besten Fall zu nachträglichen Lernprozessen führt.

Unbekanntes Nichtwissen kann aber auch durch regelmäßige Besuche von Kongressen oder internen Fort- und Weiterbildungen überwunden werden. Dies bestätigen auch die Einschätzungen der befragten Chirurgen. Über 90 % geben an, dass die Aussage „Fortbildungen helfen uns, neues Wissen in unsere Abteilung zu bringen“ für sie zutrifft. Fortbildungen scheinen somit aus Sicht der Chirurgen ein gutes Instrument zu sein, sich neues Wissen anzueignen. Eine Fortbildung macht nur Sinn, wenn man sich in Bereichen fortbildet, die einem unbekannt oder zumindest nicht geläufig sind. 80,3 % der Chirurgen bilden sich genau zu diesen Themen gezielt fort, bei denen sie selbst wissen, dass sie dort Lücken haben. Die Fortbildung bringt dabei nicht nur dem Teilnehmer einen Wissenszuwachs, sondern auch die Kollegen profitieren davon. 59,2 % der befragten Chirurgen geben an, dass sie die Erfahrungen aus den Fortbildungen oft bis sehr oft gewinnbringend an ihre Kollegen weitergeben können. Nur wenige Berufsgruppen sind wie die Ärzte dazu verpflichtet, sich regelmäßig fortzubilden. Chirurgen, die in Teilzeit arbeiten, halten zu 57 % die Verpflichtung innerhalb von fünf Jahren 250 Weiterbildungspunkte bei der Ärztekammer nachzuweisen für sehr sinnvoll. Bei den in Vollzeit arbeitenden Kollegen fällt der Zustimmungsgrad mit 51,9 % etwas niedriger aus.

Struktur und Kultur

Von organisationaler Seite können Rahmenbedingungen geschaffen werden, die dem Aufkommen von Nichtwissen entgegensteuern können: Zum einen greift das Krankenhaus zur Koordination auf eine hochgradige Arbeitsteilung und auf ein stark ausgeprägtes Hierarchiesystem zurück. Sowohl die Arbeitsteilung, als auch das Hierarchiegefüge dienen als Backup-System. Zum anderen gibt es etablierte Strukturen, wie Besprechungen, Einträge in Patientenakten oder die Einführung von Checklisten, die dazu beitragen, dass so wenig Wissen wie möglich verloren geht bzw. möglichst wenig Nichtwissen bei den Akteuren entsteht. Tabelle 2 zeigt, dass die Organisationsgröße einen Einfluss auf das Vorhandensein solcher Strukturen im Bereich der Chirurgie hat.

Tab. 2: „Gibt es in Ihrer Abteilung…“ (Nennungen in Prozent)

Krankenhaustyp Grund- und Regelversorgung Schwerpunktversorgung Maximalversorgung Universitätsklinik sonstige Krankenhäuser
Qualitätszirkel 49,7 64,1 71,3 58,0 48,9
Zertifizierte
Abteilung
59,4 84,4 85,1 76,6 62,2
CIRS 39,5 70,0 66,7 68,0 50,0
Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen 49,0 73,1 79,7 88,0 60,9
Supervision 15,6 31,2 35,7 41,2 15,6

Qualitätszirkel werden überdurchschnittlich an Krankenhäusern der Maximal- und Schwerpunktversorgung durchgeführt. Mit 49 % ist das vierteljährliche Treffen am häufigsten vertreten, monatliche Treffen sind mit 27,3 % ebenfalls relativ häufig genannt worden. Die Treffen werden von der Mehrzahl (70,6 %) der Chirurgen aber keinesfalls als lästige Pflicht empfunden (8 %) – im Gegenteil fast die Hälfte (48 %) der Teilnehmer an solchen Qualitätszirkeln geben an, dass die Teilnahme die Behandlungen in der Abteilung verbessert. Für einen guten Umgang mit (Beinahe-) Fehlern wurden in letzter Zeit Critical Incident Reporting Systems (CIRS) eingeführt, damit kritische Behandlungsverläufe dokumentiert und Behandlungs- und Reaktionsmöglichkeiten aufgezeigt werden können. CIRS sind an Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung mit 39,5 % im Vergleich zu den anderen Krankenhaustypen eher selten vorhanden.

Neben diesen formalen Strukturen des Wissensaustauschs ist der Vergleich des Status mit der Frage, dass in den Pausen auch durchaus fachlich wichtige Dinge besprochen werden, interessant: Fachärzte (49,3 %) und Assistenzärzte (53,9 %) besprechen seltener fachlich relevante Dinge in ihren Pausen, als dies Oberärzte (66,3 %) oder Chefärzte (66,9 %) oft bis sehr oft tun.

Eine gute Organisationsstruktur impliziert weder ein reibungslos funktionierendes Krankenhaus, noch einen guten Umgang mit Nichtwissen. Mindestens ebenso wichtig ist die gelebte Organisationskultur, damit beispielsweise Fehlermeldesysteme überhaupt akzeptiert und mit Leben gefüllt werden.

Abb. 6: „In meiner Abteilung werden Fehler als Lernchance begriffen.“ (Nennungen „oft“ bis „sehr oft“, Angaben in Prozent)

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Die Zustimmung zur Aussage, dass Fehler als Lernchance begriffen werden, nimmt im Hierarchiegefüge deutlich ab (s. Abb. 6). Betrachtet man die Zustimmung im Hinblick auf die unterschiedlichen Krankenhaustypen, so ist mit 71,1 % der höchste Wert bei den Krankenhäusern der Maximalversorgung zu verzeichnen und der geringste Zustimmungswert mit 60,5 % bei den Chirurgen, die in Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung beschäftigt sind. Wie es zu diesen Wahrnehmungsunterschieden kommt, werden wir in weiteren Interviews mit Chirurgen näher untersuchen.

Weitere strukturelle und kulturelle Aspekte werden in einem fachübergreifenden Beitrag dieser Sonderausgabe thematisiert.

Fazit

Diese ersten Ergebnisse der Studie zeigen, dass das Phänomen Nichtwissen vorwiegend als etwas Problematisches von den befragten Chirurgen empfunden wird. Die Einschätzung zu bestimmten Themenbereichen zeigt, dass sich die Sicht auf das Nichtwissen im Laufe der Zeit durch Sozialisationsprozesse vom Assistenzarzt zum Chefarzt wandeln. Erfahrene Ärzte akzeptieren Nichtwissen eher und zeigen mehr Bereitschaft, Nichtwissen als Chance bzw. Herausforderung zu sehen. Ein guter Umgang mit Nichtwissen lässt sich also im Laufe der Berufspraxis erlernen.

Die deskriptive Auswertung zeigt weiter, dass die gewählten Umgangsstrategien mit Nichtwissen nicht nur eine individuelle Vorgehensweise darstellen. So lassen sich Gemeinsamkeiten und typische Vorgehensweisen verschiedenen Gruppen zuweisen. Das Überwinden von bekanntem Wissen wird ebenfalls unterschiedlich vorgenommen. Fachbücher werden mehrheitlich von den Chirurgen genutzt. Auf Online-Literaturdatenbanken und englischsprachige Fachliteratur wird eher von höheren Hierarchiestufen zurückgegriffen, wohingegen Google und Wikipedia vermehrt von Assistenz- und Fachärzten genutzt wird. Dennoch herrscht ein klarer Trend, dass die Nutzung „Neue Medien“ hierarchieübergreifend an Bedeutung gewinnen.

Darüber hinaus bieten Krankenhäuser der Schwerpunktversorgung, Universitätskliniken und Krankenhäuser der Maximalversorgung aufgrund ihrer Größe eine größere Vielzahl an strukturellen Möglichkeiten (z. B. Supervision, Qualitätszirkel, CIRS, Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen), um den unterschiedlichen Arten des Nichtwissens zu begegnen.

Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass Chirurgen erfolgreich Routinen und Prozesse entwickeln, um verschiedenen Nichtwissensdimensionen aktiv zu begegnen. Aus unserer Sicht ist es wichtig, die unterschiedlichen Dimensionen und die Dynamik des Nichtwissens zu begreifen. Denn ein gewisses Maß an gefühltem Nichtwissen fördert die individuelle Lernbereitschaft sowie kollektive Lernprozesse. Nichtwissen kann somit als Anreiz und Chance gesehen werden, eingeschliffene Routinen zu hinterfragen und neugierig auf Neues zu bleiben. Es liegt in der Natur des Wissens, dass neues Wissen das Nichtwissen vergrößert – allerdings auf einem anderen Niveau.

So schließen wir diesen Beitrag mit den Worten des Konfuzius: „Wissen, was man weiß, und wissen, was man nicht weiß, das ist wahres Wissen“.

Wilkesmann M. / Roesner B. / Jang S. R. Nichtwissen – ein vielfältig wahrgenommenes Phänomen in der Chirurgie. Passion Chirurgie. 2013 März; 3(03): Artikel 02_02.

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Prof. Dr. Maximiliane Wilkesmann

Juniorprofessur SoziologieWirtschafts- und Sozialwissenschaftliche FakultätTechnische Universität DortmundOtto-Hahn-Str. 644221Dortmund kontaktieren
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Björn Roesner

Wissenschaftlicher MitarbeiterWirtschafts- und Sozialwissenschaftliche FakultätTechnische Universität DortmundOtto-Hahn-Str. 644221Dortmund kontaktieren
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