Alle Artikel von Katrin Kammerer

Zentralisation der Gallengangatresie in Deutschland – Eine Initiative der DGKCH

Die Gallengangatresie (syn. Biliäre Atresie/engl. Biliary Atresia [BA]) ist eine seltene obstruktive Cholangiopathie der Neugeborenenperiode unklarer Ätiologie (Abb. 1), die innerhalb kürzester Zeit zu einer fortschreitenden Leberfibrose sowie -zirrhose führt. Trotz einer Inzidenz von knapp 1:19.000 in Deutschland, mit ca. 35 bis 40 neuen Diagnosen pro Jahr, macht die BA global immer noch die häufigste Ursache für eine Lebertransplantation im Kindesalter aus. Auch wenn basierend auf diesen Zahlen die Lebertransplantation unausweichlich erscheint, gilt der Anspruch möglichst vielen betroffenen Kindern diese zu ersparen oder die Transplantation zumindest hinauszuzögern. Dies gelingt in der Regel nur, wenn eine frühzeitige Diagnose gestellt wird. Diese sollte möglichst innerhalb der ersten 30 Lebenstage erfolgen und die Kasai-Portoenterostomie (KPE) in einem Zentrum mit der notwendigen Expertise durchgeführt werden. Bei der KPE wird die fibrotische Narbenplatte auf der Leberpforte scharf reseziert, mit der Hoffnung das darunter noch zahlreiche Gallenwegskanälchen offen liegen, über die eine biliäre Drainage erzielt werden kann. Der Eingriff, der nach Morio Kasai benannt wurde – einem in Sendai tätigen japanischen Chirurgen – wurde Ende der 50er-Jahren erstbeschrieben und hat für das ehemals unkorrigierbare Krankheitsbild der BA eine wichtige Option geschaffen. Über die letzten Jahrzehnte ist dieser Eingriff trotz zahlreicher beschriebener Modifikationen, einschließlich der minimalinvasiven Chirurgie, weitestgehend unverändert geblieben. Für knapp 30 % der Kinder kann dieser Eingriff ein langzeitiges Überleben mit der eigenen Leber bedeuten, doch bleibt für den Großteil der Kinder bei der Konstellation aus Cholestase, portaler Hypertension und Zirrhose letztlich nur die Option eines neuen Organs. Durch die Kombination aus der Kasai-Portoenterostomie und der Lebertransplantation erreichen wir in Deutschland ein Gesamtüberleben von knapp unter 90 %, womit wir im westeuropäischen und globalen Vergleich, nicht zuletzt aufgrund der Organknappheit und der damit einhergehenden Einschränkung des Transplantationspools, das Schlusslicht abbilden. Auch die deutschen Ergebnisse bezüglich des Überlebens mit Eigenleber nach Kasai-Portoenterostomie („successful Kasai“) zeigen im Vergleich zu den Daten aus Großbritannien, Frankreich und Japan noch deutliches Entwicklungspotenzial. Doch wo liegt das Problem in der Versorgung?

Zahl der behandelnden Kliniken

In mehreren europäischen Nationen wurde die Behandlung der Gallengangatresie zentralisiert. In den Niederlanden mit knapp 17,5 Millionen Einwohnern darf lediglich eine Klinik BA-Kinder behandeln, in Polen mit über 37 Millionen Einwohnern ist es wiederum eine Klinik, in Großbritannien mit über 67 Millionen Einwohnern sind es drei und in Deutschland mit knapp 82 Millionen Einwohnern waren es Anfang der 2000er-Jahre noch 29 Kliniken. Eine wiederholt durchgeführte Umfrage zeigte, dass es zwischen 2010 und 2014 weiterhin 21 behandelnde Kliniken für die Gallengangatresie in Deutschland gab, von denen die große Mehrheit weniger als eine Kasai-Portoenterostomie pro Jahr durchführte (Abb. 2). Im direkten Vergleich liegt in Großbritannien das Fünf-Jahres-Überleben mit Eigenleber bei 46 % und das Fünf-Jahres-Gesamtüberleben bei 90 %, während in Deutschland das Zwei-Jahres-Überleben mit Eigenleber bei knapp 30 % liegt und das Zwei-Jahres-Gesamtüberleben bei 88 %. In Finnland konnte das Zwei-Jahres-Überleben mit Eigenleber nach Kasai-Operation nach Zentralisation der Gallengangatresie-Versorgung von 38 % auf 78 % gesteigert werden. Mittlerweile wissen wir auch, dass nicht nur die Ergebnisse der Kasai-Portoenterostomie von der Expertise des Zentrums abhängig sind, sondern auch die Transplantationen davon beeinflusst werden. Eine multidisziplinäre Arbeitsgruppe aus der Kinderklinik in Bergamo konnte nämlich zeigen, dass eine Lebertransplantation nach einer Kasai-Operation aus einem Zentrum mit weniger als fünf Operationen pro Jahr, mit deutlich mehr Komplikationen assoziiert ist.

Abb. 1: Phänotypische Erscheinungsbilder der Gallengangatresie sowie Theorien zu ihrem Hintergrund (Claus Petersen & Mark Davenport. Aetiology of biliary atresia: what is actually known? Orphanet Journal of Rare Diseases 2013; 8:128)

Vernetzung der Kliniken

In Frankreich wurde 2001 eine Beobachtungsstelle für die Gallengangatresie-Versorgung geschaffen. Obwohl das Behandlungssystem dezentralisiert verblieb, wurden Zusammenarbeiten zwischen den Zentren gefördert. Im Jahre 2005 folgte im nächsten Schritt eine Art Zertifizierung der Zentren zu Referenz-, Kompetenz- und weitere Zentren. Dokumentiert werden die französischen Versorgungsergebnisse in dem wohl detailliertesten Register für die Gallengangatresie in Europa, das die gesamte Versorgung der Kinder von der Erstvorstellung bis hin zur Kasai-Portoenterostomie und Lebertransplantation sowie der Nachsorge beinhaltet.

Die Vernetzung der französischen Zentren führte auch zu Anpassungen institutioneller Behandlungsprotokolle und im Resultat konnte über die Jahre dargestellt werden, dass sich die großen Unterschiede zwischen den Zentren mit hohen und niedrigen Patientenzahlen langsam anglichen. Trotz dieses erfolgreichen Konzeptes zeigten sich weiterhin bessere Kasai-Ergebnisse in Zentren mit hohen Patientenzahlen, während die Überlebensraten mit Eigenleber im Vergleich zum britischen System schlechter waren. Einen Austausch oder sogar eine Bewertung von Outcome-Daten der Kasai-Portoenterostomie gibt es in Deutschland nicht. Bei den präsentierten Zahlen zu Kasai-Ergebnissen sowie auch der Transplantationszahlen berufen wir uns auf publizierte Daten im Rahmen wissenschaftlicher Projekte mit Zentrumsbefragungen. Ein deutsches Register, wie es in Frankreich angewandt wird, existierte bisher nicht. Somit ist die Objektivität der Behandlungsqualität retrospektiv betrachtet nicht sehr belastbar.

Zentralisation in Deutschland

Während zahlreiche Versicherungsträger und Versorgungsstrukturen eine generelle Vorgabe zur Zentralisation der Gallengangatresie auf wenige Kliniken in Deutschland erschweren, gibt es immer mehr Bewegungen, in den Fachgesellschaften, Behandlungsempfehlungen vorzugeben. Diese Empfehlungen beruhen auf Kriterien, die einzelne Zentren erfüllen müssen, um als Gallengangatresie-Zentrum zertifiziert zu werden. Diese Kriterien wurden durch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) und die Gesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung e.V. (GPGE) vorgegeben und beinhalten eine kinderchirurgische Expertise in der hepatobiliären Chirurgie (mit mehr als fünf Kasai-Operationen im Jahr), Expertise in der pädiatrischen Hepatologie und das Vorhandensein eines pädiatrischen Lebertransplantationsprogramms (fünf bis zehn Lebertransplantationen im Jahr) sowie Erfahrung in der histopathologischen Begutachtung pädiatrischer Lebererkrankungen.

Abb. 2: Versorgungsverteilung von 160 behandelten BA Kindern in Deutschland, zwischen 2010 und 2014, auf 21 Kliniken (Madadi-Sanjani et al. Zentralization of Biliary Atresia: Has Germany learned its lessons? Eur J Pediatr Surg 2022; 32:233-239)

Die DGKCH rief 2021 deshalb alle Leiter kinderchirurgischer Einrichtungen dazu auf, sich Partner in diesen empfohlenen Zentren zur Zusammenarbeit zu suchen und mit diesen konkrete Behandlungsschritte abzustimmen.

Aktuell erfüllen sechs Zentren bzw. Kooperationsverbünde diese Vorgaben, wobei Qualitätskontrollen wichtig sind, um zukünftig eine Re-Zertifizierung dieser Zentren vorzunehmen.

Register für die Gallengangatresie-Behandlung

Auch wenn es bisher in Deutschland keine systematischen Strukturen zur Qualitätskontrolle gibt, gewinnen Register immer mehr an Wichtigkeit, um genau diese durchzuführen. Dies ist nicht nur notwendig, um Daten zwischen Kliniken zu vergleichen, sondern auch um klinikinterne Verläufe und Veränderungen nachvollziehen zu können. Einen wichtigen Schritt gehen wir diesbezüglich mit dem EBAR, dem europäischen Register für Gallengangatresie. Diese Initiative der Europäischen Referenznetzwerke für seltene Lebererkrankungen (ERN RARE-LIVER) soll nicht nur zu einer besseren europäischen Vernetzung der deutschen Zentren führen, sondern ist auch als Qualitätskontrolle der deutschen Zentren im Rahmen der Zentralisations-Initiative gedacht. Die sechs deutschen Gallengangatresie-Zentren haben sich verpflichtet, ihre Ergebnis- und Nachsorge-Daten zur Kasai-Portoenterostomie in dieses Register einzupflegen. Eine erste Qualitätskontrolle ist jedoch aufgrund des Verlaufes der Gallengangatresie und der Notwendigkeit der zumindest Zwei-Jahres-Follow-up-Daten für die Auswertung erst in drei bis fünf Jahren möglich.

Europäisches Referenznetzwerk für seltene Lebererkrankungen (ERN RARE-LIVER)

Nicht zuletzt aufgrund des Registers ist die Beteiligung an den Aktivitäten des ERN RARE-LIVER Netzwerkes wichtig. Dieses Expertennetzwerk vereint der Anspruch, die Versorgung seltener Lebererkrankungen und somit auch der Gallengangatresie langfristig zu verbessern. Zusätzlich zu den Registeraktivitäten gibt es regelmäßige Fortbildungen, Austauschprogramme zwischen den Zentren und die Möglichkeiten, an wissenschaftlichen Projekten teilzunehmen. Diese wissenschaftlichen Projekte beinhalten zum Beispiel auch das Thema der adjuvanten Therapie nach Kasai-Portoenterostomie, wobei in der Studie zum Effekt von Inhibitoren des ilealen Gallesäuretransporters (IBAT) schon zahlreiche deutsche Leberzentren teilnehmen. Eingebettet in dieses Netzwerk, findet jährlich in Hamburg die Conference on Pediatric Liver Diseases (CPLD) statt, in dessen Rahmen neben der Gallengangatresie auch Entwicklungen in der Versorgung weiterer pädiatrischer Lebererkrankungen diskutiert werden und neben einer internationalen wissenschaftlichen Faculty vor allem deutsche Pädiater zur Teilnahme eingeladen sind.

Abb. 3: Die Autoren mit der in Niedersachsen etablierten Stuhlfarbenkarte nach der Veröffentlichung des G-BA-Beschlusses, diese in das gelbe Vorsorgeheft zu integrieren ( s. a. „Leber-Check für Babys“ als App für Android und Apple)

Zusammenfassung

Auch wenn wir uns sicher sind, dass eine Zentralisierung in Deutschland unausweichlich ist, um unsere Versorgungsergebnisse der Gallengangatresie in Zukunft zu verbessern und diese insbesondere anderen europäischen Nationen anzupassen, werden wir valide Versorgungsdaten erst in den nächsten Jahren gewinnen. Die Bereitschaft in der deutschen pädiatrischen sowie kinderchirurgischen Gesellschaft, die Versorgung auf eine limitierte Anzahl von Zentren zu beschränken, ist jedoch bereits ein wichtiges Zeichen und eine Anerkennung der aktuellen Problematik. Mit den zahlreichen Ansätzen zur Behandlungsverbesserung, der Überarbeitung der AWMF Leitlinien zur neonatalen Cholestase, der neulich in das Gelbe Vorsorgeheft eingefügten Stuhlfarbskala zur Früherkennung der Gallengangatresie (Abb. 3), der Zentralisation, dem EBAR Register sowie der multizentrischen Studien zur adjuvanten Therapie nach Kasai-Portoenterostomie erleben wir aktuell eine beeindruckende Bewegung, von der wir sicher sind, dass sie unsere Versorgung nachhaltig verbessern wird.

Korrespondierender Autor:

PD Dr. med. Omid Madadi-Sanjani

Klinik für Viszerale Transplantationschirurgie

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistr. 52

20251 Hamburg

o.madadi-sanjani@uke.de

Prof. Dr. med Claus J. Petersen

Kinderchirurg im Ruhestand

Chirurgie

Madadi-Sanjani O, Petersen C: Zentralisation der Gallengangatresie in Deutschland – Eine Initiative der DGKCH. Passion Chirurgie. 2024 Oktober; 14(10): Artikel 03_01.

Mehr Artikel zur Kinderchirurgie finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Kinderchirurgie.

Wie versorgen wir die Appendizitis in der Zukunft?

Die derzeitigen etablierten Methoden und Empfehlungen zur Therapie der akuten Appendizitis gehen auf Arbeiten zurück, die bereits mehr als 130 Jahre alt sind. Als sehr einflussreich gelten die Empfehlungen des amerikanischen Pathologen Reginald H. Fitz zur grundsätzlichen und raschen chirurgischen Entfernung des entzündeten Wurmfortsatzes, die immer noch das chirurgische Handeln bestimmen [1].

Wissenschaftliche Aktivitäten mit dem Gegenstand der akuten Appendizitis haben sich seither in erster Linie auf chirurgisch praktische Fragestellungen vor dem Hintergrund der allgemein akzeptierten und grundsätzlich angewendeten Methode der Appendektomie konzentriert. Auch wenn Erkenntnisse zu methodischen Aspekten wie der Anwendung von Drainagen, der intraabdominalen Spülung und dem Operationszeitpunkt eine große Anzahl untersuchter Patienten notwendig machen, existieren dahingehend mittlerweile tragfähige Empfehlungen [2]. Diese Erkenntnisse sind wichtig, denn sie bestimmen das derzeitige Handeln. Es handelt sich jedoch im Wesentlichen um Modifikationen des Bestehenden, sodass sich auf dieser Basis die zukünftige Behandlung der akuten Appendizitis möglicherweise nur unzureichend voraussagen lässt.

Neben den rein praktischen Aspekten der Behandlung der akuten Appendizitis existieren im Hintergrund drei Entwicklungen, die wahrscheinlich das zukünftige Handeln bestimmen werden:

  1. die Klärung der Pathophysiologie der akuten Appendizitis,
  2. Studien zur diagnostischen Anwendung von Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) und des maschinellen Lernens (ML) und
  3. Studien zur konservativen Therapie der akuten Appendizitis.

Diese Entwicklungen sind inhaltlich stark miteinander verwoben, so müssen sich Methoden der KI mit dem Ziel der Diagnose der Appendizitis oder gar unterschiedlicher Ausprägungen der Entzündung notwendigerweise auf pathophysiologische Faktoren beziehen. Die konservative Therapie ist wiederum auf die eindeutige Diagnose der Appendizitis und sogar der Schweregrade angewiesen, was wieder zur Pathophysiologie zurückführt. In diesem Artikel sollen die genannten drei Entwicklungen, die bisher weitestgehend isoliert betrachtet wurden, anhand von prägnanten Beispielen im Zusammenhang dargestellt werden. Rein inhaltlich sind die Entwicklungen im Fluss, sodass sich daraus noch keine verlässlichen diagnostischen oder therapeutischen Strategien ableiten lassen. Die Zukunft der Behandlung der akuten Appendizitis zeichnet sich jedoch möglicherweise bereits ab.

Die konservative Behandlung der akuten Appendizitis

Im Zentrum der Überlegungen zur zukünftigen Behandlung der akuten Appendizitis stehen die verschiedenen therapeutischen Alternativen – insbesondere chirurgisch operativ vs. (antibiotisch) konservativ. Es gibt mittlerweile einige entsprechende Studien aus dem erwachsenenchirurgischen und kinderchirurgischen Bereich. Die erste kinderchirurgische prospektiv-randomisierte Studie, in der die antibiotisch-konservative Behandlung mit der etablierten chirurgischen Therapie verglichen wurde, wurde am Karolinska Universitätskrankenhaus in Stockholm durchgeführt [3]. Im Rahmen der Machbarkeitsstudie wurde eine limitierte Anzahl von 49 Kindern mit nicht-perforierender Appendizitis nach entsprechender bildgebender Diagnose mittels Sonographie oder Computertomographie (CT) für die entsprechenden Methoden randomisiert. Die Studie ist allerdings auch hinsichtlich der Probleme und insbesondere des Therapieversagens der konservativen Behandlung repräsentativ. So ergab eine Auswertung nach fünf Jahren ein Versagen der konservativen Therapie (entsprechend einer sekundären Appendektomie von primär konservativ behandelten Patienten) von 46 % (11 der 24 konservativ behandelten Patienten) [4]. Tatsächlich liegt die Quote des Therapieversagens in den verschiedenen insbesondere randomisiert-kontrollierten Studien bei 40 %, sodass derzeit keine entsprechende Empfehlung gegeben werden kann [5].

Im Zentrum steht die Frage, welche entzündlichen Entitäten für die konservative Therapie geeignet sind. Tatsächlich wurde die aktuell fehlende Möglichkeit der zuverlässigen präoperativen Differenzierung zwischen unkomplizierter und komplizierter Appendizitis als zentrales Hindernis für die konservative Therapie ausgemacht [5]. Hinsichtlich der Definition der Begriffe der unkomplizierten und komplizierten Inflammation tut sich ein weiteres Problem auf. So steht traditionell und aktuell immer die Perforation der Appendix – also der transmurale Substanzdefekt durch nekrotischen Gewebsuntergang – für die Definition der komplizierten Appendizitis im Vordergrund. Das ist insbesondere dahingehend verständlich, dass die Perforation häufig mit einem schlechteren Outcome mit Wundheilungsstörungen und Abszessen bis hin zur Sepsis und einer Mortalitätsrate von bis zu 5 % einhergeht [2].

Tatsächlich finden sich komplizierte Verläufe allerdings bereits gehäuft auf der Ebene der nicht perforierenden gangränösen Inflammation, die durch eine transmurale Nekrose ohne Substanzdefekt charakterisiert ist [6]. So ist die gangränöse Appendizitis klinisch durch eine gegenüber der unkomplizierten histopathologisch nicht nekrotisierenden phlegmonösen Entzündung durch eine höhere Rate an Komplikationen wie Wundinfektionen, Darmdysmotilität, Abszessbildungen und eine 6-fach erhöhte Mortalität gekennzeichnet [2, 6]. Die Vermutung liegt nahe, dass die Patient:innenstratifizierung für die konservative vs. chirurgische Behandlung auf dieser Ebene stattfinden sollte. Eine entsprechende Unterscheidung wurde bisher in keiner vergleichenden Therapiestudie zugrunde gelegt, was möglicherweise zu den hohen Versagensquoten in den konservativen Studienarmen geführt hat. Allerdings ist es derzeit mit keinem der etablierten klinischen, bildgebenden oder laborchemischen Verfahren möglich, phlegmonöse und gangränöse Appendizitis präoperativ zuverlässig zu unterscheiden. Dies kennzeichnet das aktuell noch grundsätzliche bestehende Problem der konservativen Behandlung.

Die konservative Therapie hat derzeit noch kein Fundament im Sinne einer geklärten Pathophysiologie, die eine Patient:innenstratifizierung auf Basis sinnvoller und präoperativ sicher differenzierbarer Krankheitsentitäten möglich macht.

Die Pathophysiologie der akuten Appendizitis

Auch wenn aktuell noch keine abschließend geklärte Pathophysiologie der akuten Appendizitis angeboten werden kann, scheinen dahingehend tatsächlich unterschiedliche Voraussetzungen für die phlegmonöse und die gangränöse/perforierende Entzündung vorzuliegen.

So konnte speziell im Falle einer gangränösen Entzündung die schwedische Arbeitsgruppe um Andersson eine signifikant erhöhte Sekretion von Zytokinen nachweisen, welche mit einer Typ1-T-Helferzellen (Th1) und Th17-vermittelten Immunreaktion einhergehen [7, 8]. Das von Th17-Zellen freigesetzte Interleukin (IL-)17 ist ein stark wirksames proinflammatorisches Zytokin und mit der Rekrutierung von Neutrophilen Granulozyten in entzündetes Gewebe assoziiert [9, 10]. Überdies wurden erhöhte IL-17-Werte bereits mit E.-coli-Infektionen in Verbindung gebracht, was wiederum das am häufigsten nachweisbare bakterielle Pathogen bei der kindlichen Appendizitis darstellt [10]. Umgekehrt haben appendektomierte Patient:innen ein signifikant niedrigeres Risiko eine chronisch entzündliche Darmerkrankung zu entwickeln. Ursächlich dafür wird eine Suppression der Th-17-vermittelten Immunantwort angenommen [11]. Hinweise für eine Th2-abhängige Immunantwort im Falle der phlegmonösen Appendizitis korrespondieren mit dem Nachweis einer im Vergleich zeitlich stabil im Mittel signifikant höheren Zahl an eosinophilen Granulozyten [7, 12, 13].

Unabhängig davon gibt es deutliche Hinweise für eine virale Genese der akuten Appendizitis [14–16]. Dies stellt nicht unbedingt einen Widerspruch zu der Beobachtung Th1- und Th2-abhängiger Immunmechanismen dar, da gerade virale Infektionen einen entsprechenden Shift verursachen können [17].

Für praktische Fragen hinsichtlich der zukünftigen Versorgung der akuten Appendizitis ist unabhängig von der genauen Pathophysiologie die Feststellung wichtig, dass es sehr wahrscheinlich Formen der Entzündung gibt, die unterschiedlich – konservativ oder operativ – behandelt werden können. Die Herausforderung besteht nun in der zuverlässigen Unterscheidung für eine sichere therapeutische Zuordnung. Hier bieten sich Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) und insbesondere des maschinellen Lernens (ML) an, um auf der Basis umfangreicher Daten und komplexer Zusammenhänge sogenannte Biomarkersignaturen zu erstellen, die als die kleinstmögliche Kombination entsprechender Parameter mit der größtmöglichen differenzierenden Aussagekraft definiert sind.

Die diagnostische Anwendung künstlicher Intelligenz

Beispielhaft sollen zwei Studien erwähnt werden, die das Ziel hatten, im Sinne einer Machbarkeitsuntersuchung Biomarkersignaturen zur Differenzierung von phlegmonöser und gangränöser/perforierender Appendizis auf Basis unterschiedlicher Daten zu erstellen und zu überprüfen. So wurden Methoden des ML auf Blutbildparameter, C-reaktives Protein und sonographisch gemessene Appendixdurchmesser angewendet. Die erstelle Biomarkersignatur zeigte eine gute Differenzierbarkeit der entzündlichen Entitäten (Abb. 1) [18]. Die Anwendung entsprechender Methoden auf Genexpressionsdaten aus peripheren Blutzellen erkrankter Patient:innen zeigte ebenfalls im Rahmen eines Proof-of-Concepts eine gute Effektivität hinsichtlich der Unterscheidung der Entitäten (Abb. 2) [19].

Abb. 1: Receiver operating characteristic curve zur Demonstration der Effektivität einer Biomarkersignatur auf Basis von Blutbildparametern und sonographisch gemessenem Appendixdurchmesser zur Unterscheidung von phlegmonöser und gangränöser Appendizitis insbesondere an einem „point of interest“ mit hoher Sensitivität [18]. N = 590. Biomarkersignatur: basophile Granulozyten, eosinophile Granulozyten, Monozyten, Thrombozyten, C-reaktives Protein, sonographisch gemessener Appendixdurchmesser. AUC: Area under the curve.

Abb. 2: Receiver operating characteristic curve zur Demonstration der Effektivität einer Biomarkersignatur auf Basis Genexpressionsparametern zur Unterscheidung von phlegmonöser und gangränöser Appendizitis [19]. N = 29. Biomarkersignatur: ERGIC and golgi 3, Regulator of G-protein signalling 2, Rho GTPase activation protein 33, Golgi Reassembly Stacking Protein 2. AUC (area under the curve): 0,84 (0,08). Die Datengrundlage wurde mittels des Bootstrap-Verfahrens vergrößert.

Somit scheint die Entwicklung von Biomarkersignaturen eine effektive Möglichkeit zu sein, inflammatorische Entitäten der akuten Appendizitis im Kindesalter präoperativ für unterschiedliche Behandlungsmethoden zu differenzieren.

Zusammenfassung

Die konservative Therapie erweitert theoretisch das Spektrum der Behandlungsoptionen für die akute Appendizitis bei Kindern und Erwachsenen. Allerdings lassen sich geeignete Patient:innen mit den derzeit etablierten diagnostischen Möglichkeiten nicht abgrenzen, da insbesondere die Pathophysiologie der unterschiedlich zu behandelnden inflammatorischen Formen nicht ausreichend geklärt ist, um objektive differenzierende Parameter zu definieren. Perspektivisch wird es möglich sein, mittels Methoden der künstlichen Intelligenz differenzierende Biomarkersignaturen zu entwickeln, die in Zukunft eine sichere Anwendung konservativer Therapiemethoden geeigneter Patient:innen ermöglichen.

Literatur

[1]   Fitz RH. Perforating inflammation of the vermiform appendix: with special reference to its early diagnosis und treatment. Am J Sci 1886;92:321-46.
[2]   Di Saverio S, Podda M, De Simone B, Ceresoli M, Augustin G, Gori A, et al. Diagnosis and treatment of acute appendicitis: 2020 update of the WSES Jerusalem guidelines. World J Emerg Surg 2020;15:27. doi: 10.1186/s13017-020-00306-3.
[3]   Svensson JF, Patkova B, Almström M, Naji H, Hall NJ, Eaton S, Pierro A, Wester T. Nonoperative treatment with antibiotics versus surgery for acute nonperforated appendicitis in children: a pilot randomized controlled trial. Ann Surg 2015;261:67-71. doi: 10.1097/SLA.0000000000000835. PMID: 25072441.
[4]   Patkova B, Sevenningsson A, Almström M, Eaton S, Wester T, Svensson JF. Nonoperative treatment versus appendectomy for acute nonperforated appendicitis in children: five-year follow up of a randomized controlled pilot trial. Ann Surg 2020; 271: 1030-35. doi: 10.097/SLA.0000000000003646.
[5]   Kirby A, Hobson RP, Burke D, Cleveland V, Ford G, West. Appendicectomy for suspected uncomplicated appendicitis is associated with fewer complications than conservative antibiotic management: a meta-analysis of post-intervention complications. J Infect 2015;70: 105-10. doi: 10.1016/j.jinf.2014.08.009.
[6]   Bhangu A, Søreide K, Di Saverio S, Assarsson JH, Drake FT. Acute appendicitis: modern understanding of pathogenesis, diagnosis, and management. Lancet 2015;386:1278-87. doi: 10.1016/S0140-6736(15)00275-5.
[7]   Rubér M, Berg A, Ekerfelt C, Olaison G, Andersson RE. Different cytokine profiles in patients with a history of gangrenous or phlegmonous appendicitis. Clin Exp Immunol 2006;143:117–24. doi: 10.1111/j.1365-2249.2005.02957.x
[8]   Rubér M, Andersson M, Petersson BF, Olaison G, Andersson RE, Ekerfelt C. Systemic Th17-like cytokine pattern in gangrenous appendicitis but not in phlegmonous appendicitis. Surgery 2010;147:366–72. doi: 10.1016/j.surg.2009.09.039
[9]   Shibata K, Yamada H, Hara H, Kishihara K, Yoshikai Y. Resident Vdelta1+ gammadelta T cells control early infiltration of neutrophils after Escherichia coli infection via IL-17 production. J Immunol 2007;178:4466-72. doi: 10.4049/jimmunol.178.7.4466. PMID: 17372004.
[10] Richardsen I, Schöb DS, Ulmer TF, Steinau G, Neumann UP, Klink CD, Lambertz A. Etiology of Appendicitis in Children: The Role of Bacterial and Viral Pathogens. J Invest Surg 2016;29:74-9. doi: 10.3109/08941939.2015.1065300. Epub 2015 Sep 16. PMID: 26376211.
[11] Sarra M, Pallone F, Macdonald TT, Monteleone G. IL-23/IL-17 axis in IBD. Inflamm Bowel Dis 2010;16:1808-13. doi: 10.1002/ibd.21248. PMID: 20222127.
[12] Minderjahn MI, Schädlich D, Radtke J, Rothe K, Reismann M. Phlegmonous appendicitis in children is characterized by eosinophilia in white blood cell counts. World J Pediatr 2018;14:504-9. doi: 10.1007/s12519-018-0173-3.
[13] Reismann J, Schädlich D, Minderjahn MI, Rothe K, Reismann M. Eosinophilia in pediatric uncomplicated appendicitis is a time stable pattern. Pediatr Surg Int 2019;35:335-40. doi: 10.1007/s00383-018-4423-1.
[14] Kiss N, Minderjahn M, Reismann J, Svensson J, Wester T, Hauptmann K, Schad M, Kallarackal J, von Bernuth H, Reismann M. Use of gene expression profiling to identify candidate genes for pretherapeutic patient classification in acute appendicitis. BJS Open 2021;5:zraa045. doi: 10.1093/bjsopen/zraa045.
[15] Alder AC, Fomby TB, Woodward WA, Haley RW, Sarosi G, Livingston EH. Association of viral infection and appendicitis. Arch Surg 2010;145:63-71. doi: 10.1001/archsurg.2009.250.
[16] Lamps LW. Infectious causes of appendicitis. Infect Dis Clin North Am 2010;24:995-1018, ix-x. doi: 10.1016/j.idc.2010.07.012.
[17] Howard FHN, Kwan A, Winder N, Mughal A, Collado-Rojas C, Muthana M. Understanding Immune Responses to Viruses-Do Underlying Th1/Th2 Cell Biases Predict Outcome? Viruses 2022;14:1493. doi: 10.3390/v14071493.
[18] Reismann J, Romualdi A, Kiss N, Minderjahn MI, Kallarackal J, Schad M, Reismann M. Diagnosis and classification of pediatric acute appendicitis by artificial intelligence methods: An investigator-independent approach. PLoS One 2019;14:e0222030. doi: 10.1371/journal.pone.0222030.
[19] Reismann J, Kiss N, Reismann M. The application of artificial intelligence methods to gene expression data for differentiation of uncomplicated and complicated appendicitis in children and adolescents – a proof of concept study. BMC Pediatr 2021;21:268. doi: 10.1186/s12887-021-02735-8.

Korrespondierender Autor:

PD Dr. med. Marc Reismann

Klinik für Kinderchirurgie

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

marc.reismann@charite.de

Dr. med. Maximiliane Minderjahn

Klinik für Kinderchirurgie

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Chirurgie

Reismann M, Minderjahn M: Wie versorgen
wir die Appendizitis in der Zukunft?
Passion Chirurgie. 2024 Oktober;
14(10): Artikel 03_03.

Mehr Artikel zur Kinderchirurgie finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Kinderchirurgie.

Stellenwert der roboterassistierten Chirurgie im Kindes- und Jugendalter

Kinderchirurgie ist bekanntermaßen nicht die Chirurgie zu klein geratener Erwachsener und doch gab es in der Vergangenheit einige Entwicklungen der Erwachsenenchirurgie, die in der Kinderchirurgie adaptiert wurden. Zu den letzten großen Entwicklungen auf dem Gebiet der Chirurgie zählt sicherlich die roboterassistierte Chirurgie. Bereits seit vielen Jahren in der Urologie, Viszeralchirurgie und Gynäkologie beheimatet, entwickelte sich seit der ersten publizierten roboterassistierten Operation an einem Kind 2001 eine stetig wachsende kinderchirurgische Robotik-Szene [22]. Vorreiter waren hier, wie auch in der Erwachsenen-Chirurgie, die USA. Ursprünglich wurde die roboterassistierte Chirurgie für den Einsatz in Kriegsgebieten entwickelt. Mittlerweile hat sich die Technologie aber flächendeckend in der zivilen Nutzung durchgesetzt. In einigen Bereichen entwickeln sich die roboterassistierten Eingriffe zum Goldstandard (z. B. Prostatektomie) [28]. Im kinderchirurgischen Bereich wurden in den USA bereits 2015 40 % der Nierenbeckenplastiken roboterassistiert operiert [30]. Auch beim zweithäufigsten kinderchirurgischen Eingriff, der roboterassistiert durchgeführt wird, der Ureterneueinpflanzung, zeigen sich stark steigende Fallzahlen [4].

Nachdem 2017 die roboterassistierte Chirurgie in Deutschland in der Universitätsmedizin Göttingen zuerst im kinderchirurgischen Setting Anwendung fand, ziehen seit einigen Jahren andere Zentren nach. Auch hierzulande lässt sich ein kontinuierlicher Anstieg der roboterassistierten Eingriffe an Kindern und Jugendlichen verzeichnen. Während 2019 105 Fälle erfasst wurden, belaufen sich die Zahlen für 2022 bereits auf 170 Fälle (Ammer et al. 2024, submitted). Unter Berücksichtigung der Einschränkungen für elektive Eingriffe während der Covid-19-Pandemie ist hier ein deutlicher Anstieg an roboterassistierten Eingriffen zu verzeichnen.

Vorteile roboterassistierter Chirurgie

Bei den meisten kinderchirurgischen Eingriffen handelt es sich um rekonstruktive Operationen. Hierfür sind im sehr kleinen Raum Präparation und Rekonstruktion notwendig.

Die Vorteile der roboterassistierten Chirurgie wie bis zu 10-fache Vergrößerung und 3D-Sicht, Tremorfilter, Kameraführung durch die/den Operateur:in und multiple Freiheitsgrade der Instrumente bei intuitiver Handhabung liegen auf der Hand. Durch die enorme Vergrößerung und 3D-Sicht können gerade zarte kindliche Strukturen besonders visualisiert werden. Zusammen mit der intuitiven Bewegung der Instrumente mit hohen Freiheitsgraden und einem Tremorfilter, der die natürlichen Zitterbewegungen der Hände herausfiltert, ist so besonders präzises, punktgenaues Operieren möglich. Dies ist insbesondere bei zarten kindlichen Strukturen und empfindlichen Geweben ein großer Vorteil. Nähen im sehr kleinen Raum, mit schlechten laparoskopischen Winkeln (z. B im kleinen Becken) oder operieren „über Kopf“ sind leichter möglich, als konventionell laparoskopisch.

Aufgrund des deutlich einfacheren Nähens und Knotens im Vergleich zu konventionell laparoskopischer Technik erhöht sich die Sicherheit für die kleinen Patient:innen und eine größere Anzahl an Kindern können von einem minimalinvasiven Verfahren profitieren [7, 17, 18]. Dies ist auch aus kosmetischen Gründen ein interessanter Aspekt. Bei regelmäßiger Nutzung der OP-Roboters ist die Lernkurve steil. Gezielte Ausbildung am Simulator ermöglicht die Vorbereitung auf diffizile Eingriffe und das Training auch ungeübter Chirurg:innen. Besonders vor dem Hintergrund deutlich geringerer Fallzahlen als in der Erwachsenenchirurgie kommt dem in der Kinderchirurgie im Hinblick auf die Patient:innen-Sicherheit große Relevanz zu [26, 29]. Untersuchungen ergaben eine deutlich geringere Ermüdung der/des Operateur:in bei roboterassistierten Eingriffen verglichen mit konventionell laparoskopischen Operationen. Da in der konventionellen Laparoskopie oft unphysiologische Haltungen eingenommen werden müssen, kommt es rasch zu Ermüdungserscheinungen der Muskulatur. Durch die Positionierung der/des Chirurg:in an der Konsole ist eine entspannte Körperhaltung möglich und auch längere Eingriffe können ohne Ermüdungserscheinungen durchgeführt werden [31].

Eltern und Patient:innen nehmen Krankenhausaufenthalte sehr belastend wahr. Mehrere Studien legen nahe, dass durch den Einsatz von roboterassistierter Chirurgie der postoperative Krankenhausaufenthalt reduziert werden konnte [6, 27].

Besonders bei Kindern und Jugendlichen sollten möglichst kurze Narkosezeiten angestrebt werden. In der Literatur finden sich widersprüchliche Angaben zur OP-Dauer roboterassistierter Eingriffe, verglichen mit konventionell laparoskopischen oder offenen Prozeduren. Dauert bei einem erfahrenen und routinierten Team das Andocken des Roboters ca. 10 Minuten, kann dies in einem ungeübten Setting bis zu 40 Minuten in Anspruch nehmen, was die Narkosedauer verlängert. Die reine OP-Zeit ist je nach Eingriff und Erfahrung des Teams zumeist kürzer als konventionell laparoskopisch [3, 6, 11].

Nachteile roboterassistierter Chirurgie

Dem entgegen stehen die Nachteile roboterassistierter Chirurgie. Hier sind vor allem die hohen Anschaffungs- und Wartungskosten, Kosten für Instrumente und Einmalmaterialen zu nennen [9, 19, 25]. Vor diesem Hintergrund wird häufig eine kinderchirurgische Nutzung des OP-Roboters im Wechsel mit anderen Abteilungen praktiziert, um den Roboter voll auszulasten und die Kosten aufzuteilen. Zum anderen stellt die Größe der verfügbaren Instrumente ein besonderes kinderchirurgisches Problem dar. Einige Anbieter haben bereits reagiert und 5-mm- bzw. 3-mm-Instrumente auf den Markt gebracht [15, 16].

Dennoch ist auch bei kleinen Instrumenten ein gewisser Trokarabstand ist erforderlich, um sinnvolles roboterassistiertes Arbeiten zu ermöglichen. In der Literatur werden Fälle von 5 bis 7 kg beschrieben [14, 23]. Die Einschätzung anderer Autoren deckt sich mit unserer Erfahrung [10]: Bei Kindern, die signifikant leichter als 8 kg sind, ist die Trokarplatzierung mit ausreichend Abstand zum Rippenbogen/Xiphoid und den Beckenkämmen nicht immer sinnvoll möglich. Hier kommt es wiederholt zu Kollisionen der Roboterarme, die sich gegenseitig behindern. Auf die korrekte Lagerung der Patient:innen muss aus diesem Grund besonderes Augenmerk gerichtet werden. Aufgrund der geringen Körpergröße käme es bei kleinen Patient:innen neben der Arm-Arm-Kollision zu Kollisionen der Roboter-Arme mit dem OP-Tisch. Zudem lässt sich durch das Auslagern der relativ kurzen Extremitäten wenig Raumgewinn schaffen, sodass auch hier strikt auf genügend Abstand zu den sich bewegenden Roboterarmen und fachgerechte Lagerung zu achten ist. Kinderchirurgisch lassen sich aufgrund der kleinen OP-Situs häufig nur drei Arme verwenden, ggf. unterstützt durch einen „konventionellen“ Hilfstrokar. Dies macht einen häufigen Instrumentenwechsel erforderlich. Auch diesen Aspekt gilt es bei der Lagerung und Platzierung des Roboters zu beachten.

Ein weiterer Punkt, den es speziell beim Einsatz von Robotersystemen in der Kinderchirurgie zu beachten gilt, sind Sorgen, Vorbehalte und Ansprüche der Eltern. Während mittlerweile viele Eltern explizit Zentren aufsuchen, die roboterassistierte Chirurgie anbieten, dominierte noch vor einigen Jahren elterliche Skepsis die Einstellung zur roboterassistierten Chirurgie. Die landläufige Vorstellung eines „OP-Roboters“ als einer autonom agierenden Einheit führte zu Verunsicherung. Die zunehmende mediale Präsenz und Etablierung der Robotik in der Erwachsenenmedizin führten hier zu einem deutlichen Wandel [2].

In der praktischen klinischen Anwendung haben sich einige kinderchirurgische Eingriffe als besonders prädestiniert für den Einsatz von OP-Robotern erwiesen. Hierunter zählen Operationen an den Nieren (Nephrektomie, Nierenbeckenplastik, Nierenteilresektionen), Fundoplikationes, Pyloroplastiken, Operationen an der Milz und Ureterneueinpflanzungen [5, 8, 12]. Aber auch Blasenaugmentationen, Prozeduren nach Soave bei M. Hirschsprung, Kasai-Operationen, Splenektomien, Zwerchfellhernien, Korrekturen der Ösophagusatresie und Darmchirurgie wurden bereits erfolgreich durchgeführt und publiziert [1, 8, 13, 20, 21, 24]. Bei allen Eingriffen zeigt sich deutlich der Vorteil des erleichterten Nähens und Knotens, der guten Übersicht und des intuitiven Handlings von Gewebe und Strukturen in engem Raum.

Letztlich bedarf der kinderchirurgische Einsatz von OP-Robotern einer individuellen Abwägung zwischen Benefit und Risiken für die kleinen Patient:innen. Bei bewusstem Einsatz für definierte Eingriffe in Zentren mit ausreichend Erfahrung und Routine können Kinder und Jugendliche von der Präzision und der kürzeren OP- und Krankenhausverweildauer bei gleichem Outcome sehr profitieren.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via passion_chirurgie@bdc.de.

Korrespondierende Autorin:

Dr. med. Elisabeth Ammer

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Kinderchirurgie

Universitätsmedizin Göttingen

Elisabeth.ammer@med.uni-goettingen.de

Prof. Dr. med. Michael Ghadimi

Direktor

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Kinderchirurgie

Universitätsmedizin Göttingen

Dr. med. Fritz Kahl

Ärztlicher Leiter

Schwerpunkt Kinderchirurgie und Kinderurologie

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Kinderchirurgie

Universitätsmedizin Göttingen

Chirurgie

Ammer E, Ghadimi M, Kahl F: Stellenwert
der roboterassistierten Chirurgie im Kindes-
und Jugendalter. Passion Chirurgie.
2024 Oktober; 14(10): Artikel 03_02.

Mehr Artikel zur Kinderchirurgie finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Kinderchirurgie.

BDC-Praxistest: Aus dem Physikpraktikum an den OP-Tisch

Der Tatendrang zu Beginn des Medizinstudiums ist groß. Ungeachtet der individuellen Motivation hinter der Wahl des Studienfachs sind die allermeisten Erstsemester bestrebt, jegliche Facetten der Medizin in medias res zu erleben.

Trotz der verbesserten Verzahnung von Theorie und Praxis dominiert weiterhin die sehr theoretische Natur der Grundlagenfächer. Der Prozess der Homogenisierung des naturwissenschaftlichen Kenntnisstands birgt somit erhebliches Frustrationspotenzial. Hierbei ist die Relevanz der vorklinischen Fächer absolut unumstritten, dennoch zeigt sich unter Studierenden nach wie vor der Wunsch nach frühzeitigen Einblicken in die klinische Praxis.

Genau dieses Interesse sollte besser genutzt werden, um angehenden Kolleginnen und Kollegen die Faszination Chirurgie nachhaltig näherzubringen. Der zentrale praktische Aspekt der chirurgischen Fächer bietet perfekte Voraussetzungen, um Studierenden eben jene Hands-on-Erfahrungen zu ermöglichen.

Die Ausbildung zur studentischen OP-Assistenz setzt exakt dort an. Das Programm möchte Studierenden die Möglichkeit bieten, parallel zum Studium und individuell angepasst an den Studienfortschritt ihr Kompetenzprofil im klinischen Alltag stetig weiterzuentwickeln. Zielgruppe sind natürlich nicht nur Studienanfänger, sondern auch Studierende aus fortgeschrittenen Fachsemestern, die aufgrund eines ausgeprägten chirurgischen Interesses über den Tellerrand des universitären Lehrangebots hinausschauen möchten.

Des Weiteren ist nicht zu vernachlässigen, dass das Studium für einige Kommilitoninnen und Kommilitonen eine finanzielle Belastung darstellt und so ein Beschäftigungsverhältnis zusätzlich zum zeitintensiven Studium notwendig macht. Eine Anstellung im Rahmen der Ausbildung zur studentischen OP-Assistenz garantiert somit, dass der Zuverdienst und die medizinische Ausbildung Hand in Hand gehen.

Studentische OP-Assistenz – Mehr als nur Haken halten

Die Ausbildung zur studentischen OP-Assistenz beschränkt sich in ihrer ursprünglichen Form auf den Erwerb des gleichnamigen Zertifikats der Chirurgischen Arbeitsgruppe Junge Chirurgie (CAJC) der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV). Es soll Medizinstudierenden erste Erfahrungen im OP-Alltag ermöglichen und so das theoretische und praktische Handwerkszeug (Materialkunde, Knoten- und Nahttechniken etc.) für einen aktiveren Einsatz im OP vermitteln. Die Assistenz bei 15 konventionellen und 15 laparoskopischen Eingriffen sowie eine mündliche Abschlussprüfung sind Voraussetzung für die Verleihung des Zertifikats.

An einigen Standorten hat sich der Tätigkeitsbereich der studentischen Hilfskräfte aus diesem exzellenten Programm der CAJC erfreulicherweise jedoch weit über die reine Assistenz im OP hinausentwickelt. Dieser vielversprechende Ansatz geht mit der Etablierung eines „Studierendenpools“ einher, der Erwerb des oben beschriebenen Zertifikats stellt nur noch einen Teilaspekt des Gesamtkonzepts dar. Die im Folgenden beschriebenen Vorteile für Studierende, Ärzteschaft und Klinik basieren aber zum Großteil auf eben dieser Neuausrichtung.

Durch verschiedene Dienstmodalitäten können die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Studierendenpools sehr abwechslungsreiche Einblicke in den Krankenhausalltag erhalten und sich ein breites Spektrum an praktischen Fähigkeiten sowie Softskills aneignen. Beispielsweise beinhalten die Frühdienste unter der Woche das Begleiten der morgendlichen Visite und Frühbesprechung, anschließend erfolgt bei Bedarf die Assistenz bei etwaigen Programmpunkten im OP-Saal oder man widmet sich der Stationsarbeit. So können vor allem Studierende mit geringerem Studienfortschritt frühzeitig eine Routine bezüglich der venösen Punktion, der pVK-Anlage, des Verbandswechsels und des Umgangs mit Drainagen entwickeln.

Die Spät- und Nachtdienste richten sich an erfahrenere Studierende, da hier der diensthabende Assistenzarzt in der Notaufnahme begleitet wird. Im Vordergrund stehen die eigenständige Anamnese, körperliche Untersuchung, die chirurgische Wundversorgung und das Einleiten weiterer diagnostischer Maßnahmen (z. B. Sonographie). Das Ausmaß der delegierten Tätigkeiten richtet sich natürlich nach dem Kenntnisstand der Studierenden und findet unter direkter Supervision bzw. im Verlauf unter Nachkontrolle statt. Die Strukturierung der Dienste kann an die jeweiligen Gegebenheiten der Klinik angepasst werden.

Dienstplangestaltung und Organisation

Die Gestaltung der Dienstpläne erfolgt über ein monatsweise erstelltes Online-Dokument (Google Sheets o. ä.). Dieses wird zu einem vorher angekündigten Zeitpunkt ungefähr vier Wochen vor Beginn des jeweiligen Kalendermonats für den Pool zeitgleich freigeschaltet. Die Studierenden können sich daraufhin selbstständig für Dienste eintragen. Natürlich ist auch ein klassisches Dienstplansystem denkbar, doch zeigt die Erfahrung deutlich, dass die Attraktivität der Beschäftigung im Studierendenpool zu einem großen Teil aus diesem äußerst freien Konzept hervorgeht.

Eine fest vorgegebene Anzahl an Wochenstunden gibt es dabei nicht, sodass das Arbeitspensum flexibel an den individuellen Studienabschnitt angepasst werden kann. Über das Jahr verteilt sollte jedoch auf eine Mindestzahl an Dienstbeteiligungen geachtet werden, um den Workflow zu erhalten. Nach einmaliger Eintragung ist der Dienst für die Studierenden verpflichtend wahrzunehmen. Bei einer Verhinderung, bespielweise wegen Krankheit oder unterschätzter Lernzeit für eine Klausur, kann über einen beliebigen Messenger-Dienst oder Mailverteiler für Ersatz gesorgt werden. Nach dem jeweiligen Dienst bestätigen die Ärzte die abgeleisteten Stunden auf einem Stundenzettel, der als Grundlage für die monatliche Gehaltsabrechnung dient. Die genauen Einzelheiten lassen sich selbstverständlich an die individuellen Gegebenheiten des eigenen Hauses anpassen.

Zur Etablierung und Aufrechterhaltung eines solchen Studierendenpools fallen verschiedenste organisatorische Aufgaben an, für die es sich anbietet, zwei oder drei Studierende des Pools als Poolleitung einzusetzen. In enger Zusammenarbeit und Absprache mit der verantwortlichen Ärzteschaft kann die studentische Leitung eben jene entlasten und eine harmonische Kommunikation zwischen Ärzteschaft und Studierenden garantieren. In ihren Aufgabenbereich fällt dann neben der Erstellung und Freischaltung des Dienstplans auch die Anwerbung und Einstellung neuer Bewerberinnen und Bewerber, inklusive der Führung der Bewerbungsgespräche.

Darüber hinaus sollte die Poolleitung sicherstellen, dass neue Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen durch bereits erfahrene Studierende adäquat eingearbeitet werden und alle weiteren organisatorischen Aspekte zu Beginn des Arbeitsverhältnisses (Namensschild, OP-Schlüssel, Arbeitskleidung, Computerzugang etc.) erledigt worden sind. Schließlich kann auch das Eintragen der Arbeitsstunden durch sie übernommen werden.

Studentische Hilfskräfte – Die Kolleginnen und Kollegen von morgen?

Der Mehrwert für die Klinik besteht offensichtlich in gut geschulten und kompetenten studentischen Hilfskräften, die vornehmlich die Assistentenschaft in Bezug auf Blutentnahmen, pVK-Anlagen, Assistenzen im OP und später auch in weitergehenden ärztlichen Tätigkeiten, beispielsweise in der ZNA, entlasten. Die Unterstützung im Klinikalltag ist dabei deutlich nachhaltiger als beispielsweise in einer Famulatur oder auch im Praktischen Jahr. Die gewonnene Zeit kann neben anderem auch für das Teaching der jungen Kollegen genutzt werden. Die Studierenden fühlen sich abgeholt und mitgenommen und ihr Kompetenzlevel steigt in praktischer und theoretischer Hinsicht weiter.

Daneben lässt sich bei länger andauernder Beschäftigung ein gutes Vertrauensverhältnis zu den Studierenden aufbauen, das zur Akquise des ärztlichen Pools von morgen genutzt werden kann. Durch eine gute Integration und enge Bindung an das Team werden zudem Hemmnisse bezüglich der Wahl eines chirurgischen Fachs abgebaut. Im Idealfall können nach dem Studium neue Mitarbeitende übernommen werden, die sich im Fach und in der Abteilung bereits bestens auskennen und die mit einem breiten, über das normale Maß deutlich hinausgehenden Spektrum an Fähigkeiten ausgestattet sind.

Die Einrichtung eines studentischen Hilfs-Pools birgt also für beide Seiten große Vorteile. Die Studierenden erhalten einen soliden Einblick in den klinischen Alltag chirurgischer Fächer, der in diesem Umfang im Studium keineswegs abgebildet wird. Sie können ihre praktischen Skills verbessern und nachhaltig das klinische Arbeiten erlernen, sodass der Berufseinstieg unabhängig von der dann gewählten Fachrichtung enorm erleichtert wird. Die Abteilung hingegen erhält durch kompetente und vertrauenswürdige Studierende eine echte Entlastung der ärztlichen Mannschaft. Durch das Einsetzen einer studentischen Leitung organisiert sich der Pool nach Etablierung zudem weitestgehend selbstständig. Es fällt also keinerlei Mehrarbeit für die Ärzteschaft an. Im Idealfall können die Studierenden bereits vor dem Berufseinstieg optimal vorbereitet und anschließend als Ärztinnen und Ärzte nahtlos übernommen werden.

Tillman L. Krones

12. Semester an der Goethe Universität Frankfurt

tillman.krones7@gmail.com

Fynn Vallböhmer

9. Semester an der RWTH Aachen

Universitätsklinikum Aachen

fynn.vallboehmer@rwth-aachen.de

Gesundheitspolitik

Krones T, Vallböhmer F: BDC-Praxistest:
Aus dem Physikpraktikum an den OP-Tisch.
Passion Chirurgie. 2024 Oktober; 14(10):
Artikel 05_01.

Mehr Artikel aus der Rubrik Praxistest lesen Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Politik.

Editorial: Kinder- und Jugendchirurgie

Zur Oktoberausgabe der Passion Chirurgie

In dieser Ausgabe liegt der Schwerpunkt auf dem Bereich der Kinder- und Jugendchirurgie. Unsere Gesellschaft hat die Umbenennung in die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendchirurgie zu unserem 60. Geburtstag 2023 bereits beschlossen und die dadurch notwendige Änderung der Satzung bei der diesjährigen Mitgliederversammlung im April in Leipzig bestätigt. Sobald die Änderungen im Vereinsregister erfolgt sind, werden wir uns Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendchirurgie (DGKJCH) nennen. Dies entspricht unserer Tätigkeit, nämlich Kinder und Jugendliche von der Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs zu behandeln, wie es in der konservativen Kindermedizin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) auch etabliert ist.

Es gibt etliche Überschneidungen in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit anderen Fachdisziplinen, wie der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie, der Deutschen Gesellschaft für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie, der Deutschen Gesellschaft für Urologie, um nur einige zu nennen. Vonseiten der DGKCH arbeiten wir intensiv mit den beteiligten Fachgesellschaften an gemeinsamen Lösungen, wie wir in Zukunft im Rahmen der Gesundheitsreform weiterhin, wenn nicht sogar besser, die uns allen anvertrauten Patientinnen und Patienten in kindgerechten Strukturen behandeln können. Diese sehr gute Zusammenarbeit liegt vielleicht auch daran, dass seit Anfang Juli Professor Udo Rolle, auch ein Kinderchirurg, der Präsident der DGCH ist.

In dieser Zeitschrift lesen Sie über die Zentralisierung von speziellen Krankheitsbildern, die Entwicklung in der Laparoskopie und Robotik, aber auch wie die Behandlung der Appendizitis in der Zukunft aussehen kann. Dies alles aus kinder- und jugendchirurgischer Sicht.

Die Zentralisierung der Neugeborenenchirurgie, insbesondere Gallengangsatresie, beschäftigt unsere Fachgesellschaft bereits seit 2017. Diese sehr seltene Erkrankung mit einer Geburtsprävalenz von 1:15.000 und ca. 40 Neuerkrankungen pro Jahr in Deutschland soll in ausgewählten Zentren versorgt werden. Es gibt immer noch ein sehr geringes Wissen über die Gallengangsatresie und mithilfe von Datenerhebung und Eingabe in Register durch Zentren sollen mehr Kenntnisse gewonnen und frühere und bessere Behandlungen möglich werden. Durch interdisziplinäre Vernetzung und Zentralisierung konnte in Großbritannien eine Verbesserung des Parameters „Überleben mit der eigenen Leber“, d. h. Reduktion der Lebertransplantationen, nachgewiesen werden. Dies sollte auch in Deutschland möglich sein. Durch die DGKCH erfolgte 2022 eine Ausschreibung zur Bewerbung als Zentrum für Gallengangsatresie und es wurden im Herbst 2021 nach speziellen Kriterien fünf Zentren ausgewählt. Die beteiligten Zentren sind verpflichtet, ihre Daten in ein Register einzugeben. Der Bericht von PD Omid Madadi-Sanjani wird genauere Hintergründe, aber auch den aktuellen Stand der translationalen Forschung und Perspektiven für die nächsten Jahre für die Gallengangsatresie aufzeigen.

Dr. Fritz Kahl wird über den aktuellen Stand des Stellenwerts der Laparoskopie und Robotik im Kindes- und Jugendalter einen Überblick geben und Herr PD Marc Reismann zeigt neue Therapiemöglichkeiten der Appendizitis im Kinder- und Jugendalter in der Zukunft auf.

Wir wünschen Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre!

PD Dr. Barbara Ludwikowski

Präsidentin Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH)

Kinder- und Jugendkrankenhaus

AUF DER BULT

30173 Hannover

Janusz-Korczak Allee 12

ludwikowski@hka.de

Editorial

Ludwikowski B: Editorial Kinder- und Jugendchirurgie. Passion Chirurgie.
2024 Oktober; 14(10): Artikel 01.

Mehr zur Kinderchirurgie finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik BDC|News.

Passion Chirurgie im September 2024

Zur Septemberausgabe 2024: Notfallversorgung

„Notfallversorgung“ ist das Thema der Septemberausgabe, die Sie in den nächsten Tagen auch als gedruckte Version erhalten. In unruhigen Zeiten ergeben sich auch neue Anforderungen an die Chirurgie. Wir berichten über die Entwicklung der Notfallmedizin und die chirurgischen Herausforderungen bei der Landes- und Bündnisverteidigung im Krisenfall.

Bitte unterstützen und weitersagen – weil die Weiterbildung von Chirurg:innen wichtig ist! Kein Weiter ohne Bildung! Unterschreiben Sie die BDC-Petition. Und leiten Sie unsere Kampagne weiter. Jede Stimme zählt! Vielen Dank.

Damit Ihre Fortbildung rund läuft, bietet die BDC|Akademie eine Vielzahl an Seminaren, Webinaren, Hospitationen und Workshops für alle Gebiete der Chirurgie. Information und Anmeldung zu BDC-Seminaren…

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

 

Safety Clip: Second Victim: Wenn der Beruf zum Trauma wird

Larissa Gerke

Das Personal im Gesundheitswesen wird tagtäglich mit schwerwiegenden Ereignissen und Patientenschicksalen konfrontiert. Dabei muss es nicht zwingend relevant sein, ob jemand selbst oder ein Kollege beziehungsweise eine Kollegin an der Behandlung beteiligt war. Die Belastung eines unerwünschten Ereignisses, eines unbeabsichtigten Behandlungsfehlers oder der Verletzung eines Patienten oder einer Patientin kann jeden emotional treffen und negative Folgen für die Psyche haben.

Second-Victim-Phänomen – ein alter Hut oder doch ein Dauerbrenner?

Kommt es zu einem Behandlungszwischenfall, dann stehen zunächst der Patient und die Angehörigen im Mittelpunkt (first victims). Bereits im Jahr 2000 prägte Albert Wu, Professor an der Johns Hopkins University in Washington, den Begriff Second Victim. Dieser bezieht sich auf die am Ereignis beteiligten Fachpersonen. Auch diese können durch den Vorfall von intensiven Emotionen wie Schuld, Scham oder Selbstzweifel betroffen sein und unter der daraus resultierenden hohen Belastung leiden.

Ein Blick in die deutschen Kliniken zeigt, dass es auch nach über 20 Jahren nach der Einführung des Begriffs nur selten feste Strukturen für den Umgang mit derartigen Situationen gibt. Zwar wird in der Praxis darauf hingewiesen, dass es Beratungsstellen für Betroffene oder auch interne Gesprächsangebote gibt, die Umsetzung dieser Angebote ist allerdings häufig unstrukturiert.

Eine Erklärung dafür könnte sein, dass das Phänomen laut aktuellen Ergebnissen zwar weit verbreitet, jedoch nur wenig bekannt ist. So die Erkenntnisse aus der SeViD-Studienreihe, die sich seit 2018 mit dieser Thematik in einzelnen Berufsgruppen in Deutschland befasst. Die Verbreitung des Phänomens scheint dabei wenig überraschend. Mitarbeitende im Gesundheitswesen sind ohnehin einer hohen Grundbelastung ausgesetzt – zum Beispiel durch Personalmangel, kritische Patienten, Notfallsituationen oder auch ausweglose Schicksale. Nicht selten geht es um Leben und Tod. Betroffen von schwerwiegenden Ereignissen ist dabei nicht nur junges Personal. Auch bei routiniertem, erfahrenem Personal kann eine schwerwiegende Belastung ausgelöst werden.

Die Folgen eines traumatischen Ereignisses

Die Folgen für Betroffene können vielfältig sein. Häufig kommt es zu einer dysfunktionalen Verarbeitung. Infolgedessen können sich die Betroffenen isolieren, Depressionen oder eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Die Belastung kann sich auch in Schlafstörungen äußern und dazu führen, dass die Situation immer wieder durchlebt wird. Es kann auch zu einer Substanzabhängigkeit kommen. Diese und weitere Faktoren wirken sich nicht nur auf die Gesundheit der Betroffenen aus, sondern auch auf den beruflichen Kontext. Die Angst vor zukünftigen Fehlern steigt und kann zur Unsicherheit im eigenen Handeln führen, sodass für manche nur noch die Flucht aus dem Beruf als Ausweg bleibt.

Die Folgen des Second-Victim-Phänomens können sich zudem auch negativ auf die Patientensicherheit auswirken. Behandelnde, die von der Angst geplagt sind, einen weiteren Fehler zu begehen oder auch an ihrer eigenen Fachkompetenz zweifeln, können ein defensives Verhalten entwickeln oder sie brauchen eine ständige Absicherung durch andere Teammitglieder. Zudem führt die gesundheitliche Belastung zu verminderter Leistungsfähigkeit, was wiederum die Fehleranfälligkeit erhöht. Dies kann zu Fehlentscheidungen, -handlungen oder verzögerten Behandlungen für die Patienten führen.

Letztendlich leidet aber auch die gesamte Organisation an den Folgen. Langfristige Ausfälle von Mitarbeitenden oder eine erhöhte Fluktuation können dem Betrieb schaden. Gleichzeitig können sich die Umstände negativ auf die vorherrschende Sicherheitskultur auswirken und diese schwächen.

Hilfe für Betroffene

Die Betroffenen wünschen sich häufig einen strukturierten Umgang mit derartigen Situationen. Besonders gefordert sind dabei die Führungskräfte. In deren Verantwortung liegt nicht nur die Schaffung etwaiger Strukturen, sondern auch die richtige Einschätzung der Mitarbeitenden und Situation, um entsprechende Maßnahmen anbieten und einleiten zu können. Das kann oftmals schwierig sein, da sie selbst durch das Ereignis betroffen sein können. Aber auch die Kolleginnen und Kollegen haben eine tragende Rolle und sollten im Umgang mit Second-Victims sensibilisiert werden.

In der Literatur bekannt ist das Drei-Stufen-Modell von Scott et al. (Abb. 1). Es beschreibt einen Eskalationsplan für die Unterstützung von Second Victims. In der ersten Stufe leisten die Teammitglieder Hilfe für die Betroffenen. Dazu müssen sie in der Lage sein, die Situation und die Belastung richtig einzuschätzen und dementsprechend zu handeln beispielsweise mit einem aktiven Gesprächsangebot. Schuldzuweisungen oder das altbekannte „Blame and Shame“ sollen vermieden werden, im Gegenteil dazu sollte Verständnis für die Hilfsbedürftigkeit gezeigt werden. Betroffene sollen dadurch ermutigt werden Hilfe einzufordern, ohne dass dies als Zeichen von Schwäche gedeutet wird. Darüber hinaus sollte ihnen eine kleine Auszeit angeboten werden, auch wenn das einen kurzfristigen Personalausfall bedeuten würde.

Abb. 1: Drei-Stufen-Modell zur Unterstützung von Second Victims nach Scott et al. [3]

Sollte diese Unterstützung nicht ausreichen, wird nach dem Modell von Scott et al. ein Spezialteam aktiviert. Hierbei handelt es sich um ein im Umgang geschultes Team, welches direkt und niederschwellig für Betroffene verfügbar ist. Dieses Team ist dann ebenfalls in der Lage zu erkennen, wann die Stufe drei erreicht und professionelle Hilfe benötigt wird.

Prävention

Um in derartigen Situationen richtig und direkt handeln zu können, ist es ratsam, frühzeitig ein entsprechendes Konzept zu etablieren und die Mitarbeitenden einzubeziehen. Die Ausbildung von Peers zur kollegialen Unterstützung kann dabei ein Bestandteil sein. Sie können für Betroffene kompetente Hilfe auf Augenhöhe nach dem Motto „Gleiche unter Gleichen“ bieten, weiterreichende Bedarfe erkennen und entsprechend vermitteln.

Zudem trägt eine etablierte und gelebte Sicherheitskultur zu einem offenen und systematischen Umgang mit Fehlern bei. Dies ermöglicht Mitarbeitenden einen Austausch ohne Angst vor Schuldzuweisungen, was sich auch im Fall von traumatischen Situationen positiv auswirkt.

Fazit

Auch wenn das Second-Victim-Phänomen weit verbreitet ist, ist der Umgang damit in den Kliniken weitestgehend noch nicht strukturiert worden. Noch häufig herrscht das Credo: „Das darf man halt nicht mit nach Hause nehmen!“ Die Folgen für Betroffene können aber gravierend sein und reichen von Isolation über psychische Erkrankungen bis zur Berufsaufgabe. Diese Faktoren können sich negativ auf die Patientenversorgung auswirken und stellen ein Risiko für die Patientensicherheit dar. Aus diesem Grund sollte das Ziel verfolgt werden, Betroffenen rechtzeitige und angemessene Unterstützung zu bieten, sodass diese im besten Fall an der Belastung wachsen können. Ratsam ist es, sich bereits präventiv innerhalb der Klinik mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, um strukturierte Angebote zu entwickeln und zu etablieren.

Literatur

[1]   Wu AW (2000) Medical error: the second victim. The doctor who makes the mistake needs help too. BMJ 320(7237):726–727. https://doi.org/10.1136/bmj.320.7237.726

[2]   Scott SD, Hirschinger LE, Cox KR, McCoig M, Brandt J, Hall LW (2009) The natural history of recovery for the healthcare provider “second victim” after adverse patient events. Qual Saf Health Care 18(5):325–330. https://doi.org/10.1136/qshc.2009.032870

[3]   Strametz, R., Raspe, M., Ettl, B. et al. Handlungsempfehlung: Stärkung der Resilienz von Behandelnden und Umgang mit Second Victims im Rahmen der COVID-19-Pandemie zur Sicherung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens. Zbl Arbeitsmed 70, 264–268 (2020). https://doi.org/10.1007/s40664-020-00405-7

[4]   https://www.psu-akut.de/

[5]   https://www.hs-rm.de/de/fachbereiche/wiesbaden-business-school/wiesbaden-institute-for-healthcare-economics-and-patient-safety-wihelp/second-victims-im-deutschsprachigen-raum-sevid#publikationen-126652

[6]   https://www.plattformpatientensicherheit.at/download/themen/covid-19/20200504-HE-Second-Victim.pdf

Larissa Gerke

Risikoberaterin

GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH

Ecclesiastraße 1-4

32758 Detmold

larissa.gerke@grb.de

www.grb.de

Chirurgie+

Gerke L: Safety Clip: Second Victim: Wenn der Beruf zum Trauma wird. Passion Chirurgie. 2024 September; 14(09/III): Artikel 04_03.

Weitere Artikel zur Patientensicherheit finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de), Rubrik Wissen | Qualität & Patientensicherheit | Safety Clip.

PASSION CHIRURGIE im Juli und August

Zur Ausgabe 07/08/2024: Familie und berufliche Perspektiven

Sommer, Sonne, Sonnenschein – ob im Urlaub, noch – oder wieder – am OP-Tisch: Lesen Sie in unserem aktuellen Magazin zum Thema Familie und berufliche Perspektiven in der Chirurgie. Das Leitungsteam unseres gleichnamigen Themen-Referates schreibt detailliert über Themen, wie „Elternzeit“, „Arbeitszeiten im Wandel?“ und das wenig besprochene, aber wichtige Thema „Suizidalität bei Chirurginnen und Chirurgen“. Berufspolitisch sind wir aktiv, lesen Sie die Stellungnahme des BDC und der DGCH zum Entwurf des Gesetzes zur Reform der Notfallversorgung.

Planen Sie jetzt Ihre Wunschfortbildungen für den kommenden Herbst! Die BDC|eAkademie bietet Ihnen ein vielfältiges Portfolio an Seminaren, Webinaren, Hospitationen und Workshops zu allen acht Fachsäulen der Chirurgie, zwei Webinar-Reihen und einen eigenen Podcast. Information und Anmeldung zu BDC-Seminaren…

Sie vertreiben sich gern die Zeit mit Podcasts? Hören Sie doch mal rein in den BDC-Podcast „Surgeon Talk“!

Viel Spaß beim Lesen
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

BDC-Praxistest: Leistungsgruppe futsch – Aus die Maus?

Vorwort – Sie haben Post!

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

„Sie haben Post!“ Diesen Klassiker von AOL aus dem Jahr 2012 kennen sicherlich die meisten. Dagegen den 14. Juni 2024 vielleicht nicht jeder. An diesem Tag haben alle Krankenhäuser in NRW die Benachrichtigungen des MAGS bzgl. der Leistungsgruppen-Zuteilung im Rahmen der zukünftigen Krankenhausplanung erhalten.

Und was Laumann kann, das kann natürlich Lauterbach mit dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) allemal. Im Gegenteil, jetzt sind es nicht nur 60, sondern 65 Leistungsgruppen, die auf den Weg gebracht werden sollen.

Natürlich kann man diese bundesweiten Reformpläne aus unterschiedlicher Sicht betrachten, wie z. B. vor dem Hintergrund des chronischen Fachkräftemangels oder der aktuellen Weiterbildungsordnung. Aber auch mit dem „juristischen Auge´“ sollten die Reformpläne sorgfältig betrachtet und eventuelle Auswirkungen definiert werden.

Entsprechend freuen wir uns, dass Herr Rechtsanwalt Steinhäuser uns im folgenden Beitrag einen aktuellen Überblick zu dieser Thematik gibt.

Erhellende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Weg von einer Bettenplanung und hin zu einer Leistungsgruppensystematik. So war zumindest einer der zentralen Gedanken im Rahmen der Krankenhausreform. Durch die Leistungsgruppen sollte der regionale Versorgungsbedarf der Bevölkerung sowie die landeseinheitlichen Qualitätskriterien sorgfältig und angemessen berücksichtigt werden. Doch was nun? Ist die Leistungsgruppenzusage futsch?

Hierzu sollte man zumindest den aktuellen Stand der Krankenhausreform genauer unter die Lupe nehmen. Diese setzt sich im Kern im ersten Schritt aus dem am 28.03.2024 in Kraft getretenen Gesetz zur Förderung der Qualität der stationären Versorgung durch Transparenz (Krankenhaustransparenzgesetz) und im zweiten Schritt wesentlich durch das Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsqualität im Krankenhaus (Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz „KHVVG“), für das am 27.06.2024 die erste von drei Lesungen im Bundestag stattfand, zusammen.

Ziel der Reform ist die wirtschaftliche Situation der Krankenhäuer, die sich in den letzten Jahren wegen Mängeln des Finanzierungssystems massiv verschlechtert hat, zu verbessern. Zumindest kann ein solches Versagen nicht von der Hand gewiesen werden, wenn fast 80 Prozent der Krankenhausstandorte dauerhaft rote Zahlen schreiben. Doch kann die aktuelle Reform diesem Vorhaben gerecht werden?

Das Verlangen nach einer finanziellen Sicherung und dadurch Sicherheit der Versorgungsstrukturen unter Berücksichtigung der Morbidität der Gesellschaft und der Entbürokratisierung wurde von vielen Stimmen deutlich geäußert. Besonders viel erhofften sich die Akteure von den Leistungsgruppen, die sich an dem Modell aus Nordrhein-Westfalen orientieren sollten. Umso größer scheint die Enttäuschung, dass das Bundesgesundheitsministerium gerade dieses Modell eher oberflächlich im Referentenentwurf des KHVVG vom 15.05.2024 berücksichtigt hat. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft betont in der aktuellen Stellungnahme vom 30.05.2024, dass die notwendigen und geforderten Reformbedürfnisse in dem Referentenentwurf deutlich hinter den Erwartungen der Krankenhäuser zurückliegen.

Bereits im Juli 2023 konnten Bund und Länder eine Einigung dahingehend erzielen, dass die Krankenhausplanung nach dem Vorbild NRW und somit bundeseinheitlichen Leistungsgruppen erfolgen soll. Diese Leistungsgruppen wurden nicht im Alleingang von oben herab verordnet, sondern es wurde nach intensiver Beteiligung der Landesverbände der Krankenkassen, der kommunalen Spitzenverbände, der Ärzte- und Pflegekammer, der Krankenhausgesellschaft sowie weiterer ein gemeinsames System entwickelt. Dieses beinhaltet zudem in regelmäßigen Abständen Auswirkungsanalysen, nach denen dann gegebenenfalls weitere Anpassungen vorzunehmen sind. Die Allgemeinen Gruppen ergeben sich insbesondere aus der Weiterbildungsordnung für Ärztinnen und Ärzte. Die spezifischen Leistungsgruppen richten sich nach den Operationen- und Prozedurenschlüsseln nach § 301 SGB V, der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) und anderen geeigneten Merkmalen, wie zum Beispiel dem Alter der Patientinnen und Patienten.

Die Leistungsgruppen und die an sie gestellten Qualitätskriterien werden in Anlage 1 zu dem durch das KHVVG neu einzuführenden § 135e SGB V aufgeführt. Dabei orientierte sich das Bundesgesundheitsministerium zwar an dem Modell aus NRW 2022, aber zusätzlich zu den sechzig Leistungsgruppen aus NRW fügte es fünf weitere Leistungsgruppen hinzu und stellte erhebliche Mindestanforderungen auf. Diese Qualitätsanforderungen richten sich nach dem neu durch das KHVVG einzuführenden § 135e Abs. 1 Nr. 2 SGB V und richten sich nach der Erbringung verwandter Leistungsgruppen, der sachlichen Ausstattung, personellen Strukturen und sonstigen Struktur- und Prozesskriterien. Die zusätzlichen fünf eingeführten Leistungsgruppen wurden unter Berücksichtigung der Vorschläge aus medizinisch wissenschaftlicher Sicht der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) im Zuge des Eckpunktepapiers vom 10.07.2023 eingeführt. Die Leistungsgruppen selbst als auch die an sie gestellten Qualitätskriterien sollen grundsätzlich den aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse berücksichtigen und zu einer leitliniengerechten, qualitativ hochwertigen und für Patienten sicheren medizinischen Versorgung beitragen. So heißt es zumindest in der Begründung zu dem KHVVG. Was jedoch bei genauer Betrachtung der Anforderungen direkt ist Auge fällt, sind die Vielzahl an interdisziplinären Verbindungen und auch die Notwendigkeit bestimmte Kooperationen abschließen zu müssen. Die Qualitätsvoraussetzungen werden in personelle und sachliche Voraussetzungen eingeteilt und es werden sowohl kumulative als auch alternative Voraussetzungen aufgelistet. Für den Leistungsort der Kooperation kommt es auf den Ort an, der durch Spitzenverband Bund der Krankenkassen und der Deutschen Krankenhausgesellschaft als Leistungsort festgelegt wird.

Nach Ansicht der Deutschen Krankenhausgesellschaft sind die neu eingeführten Leistungsgruppen weder im Einklang mit der Weiterbildungsordnung noch mit den möglichen zur Verfügung stehenden Ressourcen. Diese Problematik gibt sich auch weiter, wenn man die Qualitätsvoraussetzungen für die einzelnen Gruppen betrachtet. In der Regel wird eine feste Anzahl von Ärzten vorausgesetzt. Diese scheint geradezu willkürlich. Dabei ist ebenfalls davon auszugehen, dass mit der Anzahl der genannten Ärzte auch lediglich solche gemeint sein können, die im Umfang von 40 Wochenstunden tätig sind. Der aktuelle Fachkräftemangel scheint komplett unberücksichtigt geblieben zu sein, wenn man sich die personellen Voraussetzungen der einzelnen Leistungsgruppen ansieht.

Die hinter der Einführung der Leistungsgruppen in NRW stehenden Überlegungen finden sich hier gerade nicht wieder. Zudem werden teilweise kleine Leistungsgruppen wie etwa die „chirurgische Onkologie“ an die Zahl der vorzuhaltenden Fachärztinnen und Fachärzte geknüpft, ohne dabei derzeitige Versorgungsstrukturen abzuschätzen. Die Mindestvorhaltezahlen führen lediglich dazu, dass in Zukunft den Krankenhäusern ein wichtiger Anteil ihrer Finanzierung entfällt und das nur, weil ein bestimmter sowieso schon kleiner Fachbereich nicht mit im Einzelfall aufgrund von Spezialisierungen größer angelegten Fachbereichen mithalten kann. Zudem stellt das ganze Verfahren einen erheblichen bürokratischen Aufwand dar.

Nach dem durch das KHVVG neu einzuführenden § 6a Absatz 1 KHEntgG erfolgt bei Vorliegen der Qualitätsmerkmale die Festsetzung mit Feststellungsbescheid durch die zuständige Landesbehörde. In Absatz 2 Satz 1 heißt es weiterhin, dass das Krankenhaus jeweils vor Zuweisung den Nachweis die sachlich und personellen Qualitätsmerkmale nachzuweisen hat. Bei notwendiger Auswahl mehrerer Krankenhäuser entscheidet die für die Krankenhausplanung zuständige Landesbehörde, wonach die Ziele besser erreicht werden können. Daraus ergibt sich, dass auch wenn ein Krankenhaus aktuell eine bestimmte Abteilung besetzt, dies nicht zwingendermaßen nach den nun neu festgelegten Leistungsgruppen gilt. Zudem kann eine Überprüfung der Leistungsgruppe durch den Medizinischen Dienst erfolgen. Ein Anspruch auf Zuweisung einer Leistungsgruppe besteht allerdings nicht. Dabei ist die Vorstellung, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Schließung ihres Krankenhauses gesichert in das nächstgelegene Krankenhaus wechseln, nicht belegt und realitätsfremd.

Weitere Probleme ergeben sich unter Berücksichtigung daher insbesondere für kleinere Krankenhäuser und Krankenhäusern in dünnbesiedelten Gegenden. Die besonders umfangreichen Anforderungen werden kleinere Kliniken mit dem dazukommenden Personalmangel kaum erfüllen können. Insbesondere wenn man bedenkt, dass zwar die Qualität auf höchstem wissenschaftlichem Stand, so heißt es in der Begründung des KHVVG, umgesetzt werden soll, der Start jedoch aus einem bereits finanziell überwiegend defizitären Bereich erfolgt. Insofern ist auch die sachliche Ausstattung kaum in kurzer Zeit anzupassen, während andere Bereiche nutzlos werden, in denen womöglich noch laufenden Finanzierungen bestehen. Zuletzt kann sich die erhoffte finanzielle Sicherheit nur Schall und Rauch erweisen, da die Vorhaltefinanzierung zwar 60 Prozent der Finanzierung ausmachen soll, die restliche Finanzierung sich jedoch letztlich auch wieder über die Anzahl von Fällen bestimmt. Insofern kann kaum von einer Verbesserung durch Wegkommen von „Betten“ die Rede sein, da hieraus ein wesentlicher Teil der Finanzierung des Krankenhauses resultiert. Insofern ändern sich zumindest 40 Prozent der Finanzierung rein tatsächlich nicht oder bleiben jedenfalls unsicher.

Eine Frage ist weiter, wie vor allem mit solchen Ärzten mit doppelten Facharztweiterbildung und solchen Ärzten, die in besonders speziellen Gebieten tätig sind, umzugehen ist. Zum Beispiel ist der Fachbereich „Allgemeine Chirurgie“ offen und umfangreich. Die Ärzte müssen nun in gewisser Weise taktisch Leistungsgruppen zugeordnet werden. Zudem werden kleine Fachbereiche kaum bis gar nicht abgebildet und letztlich durch die Mindestvorhaltezahlen wieder aussortiert. Es obliegt daher der Klinikleitung und dem Klinikmanagement, sich hier Ausgestaltungen zu überlegen und bestmöglich so zuzuordnen, wie es im Rahmen der fachärztlichen Bildung und vertretenen Leistungsgruppen im Krankenhaus möglich ist. Die Weiterbildungsordnung sollte dabei zudem nicht zu kurz kommen. Auch wenn diese im Rahmen der Krankenhausreform kaum aufgegriffen wurde, zumal die ärztliche Weiterbildung ohnehin verfassungsrechtlich der Zuständigkeit der Länder unterliegt. Wobei aktuell ad absurdum zum Beispiel in der Leistungsgruppe „Allgemeine Chirurgie“ besondere Schwerpunktbereiche tätig sein dürfen, jedoch die Weiterbildung nur in der Allgemeinen Chirurgie umgesetzt werden darf.

Im Kontext der taktischen Planung, die nun primär die Klinikleitung und sekundär den Chirurgen trifft, müssen unbedingt Kooperationen bedacht werden. Deren Einführungen grundsätzlich begrüßt werden, wenngleich es teils noch an konkretisierenden Regelungen fehlt und sich sozialversicherungsrechtliche Themen ergeben werden.

Weiter offen bleibt, wie mit den Geräten umgegangen werden soll, die in laufender Finanzierung sind, wenn die Leistungsgruppe nicht in dem Krankenhaus festgelegt wird. Das finanzielle Ausmaß scheint lediglich in der nun fünfjährigen Übergangsphase eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Möglicherweise kann eine außerordentliche Kündigung erwirkt werden, die rechtlichen Möglichkeiten sind jedoch sehr vom Einzelfall abhängig.

Besondere Sorge besteht aktuell zudem, was die Grund- und Notfallversorgung im ländlichen Raum anbelangt. Hier gibt es nach vielen Stimmen zum Teil einen besonders akuten Fachpersonalmangel, sodass die Annahme naheliegt, dass nunmehr eine Verschlechterung statt einer Verbesserung der Versorgung aufgrund der Umstrukturierung eintreten wird.

Die zuständigen Landesbehörden können Leistungsgruppen trotz fehlender Qualitätskriterien im Ausnahmefall erteilen, wenn dies zur Sicherung der flächendeckenden Versorgung der Patienten notwendig ist. Eine solche Sicherung ist nach der Vorstellung des Bundesgesundheitsministeriums notwendig, wenn die Allgemeinmedizin und Allgemeine Chirurgie nicht innerhalb von 30 Minuten mit einem Kfz und für die anderen Leistungsgruppen innerhalb von 40 Minuten mit einem Kfz erreichbar sind. Dagegen wurde sich im öffentlichen Diskurs ausgesprochen, jedoch ist eine solche Ausnahmeregelung notwendig, damit die Grundversorgung in ländlichen Bereichen gesichert ist oder gesichert werden kann. Die konkrete Ausgestaltung bleibt aktuell abzuwarten. Die Landesbehörde kann daher nach ihrem Ermessen entscheiden, in welchem Krankenhaus die Ausnahmeregelung angewandt wird und in welchem Krankenhaus nicht. In den Übergangsjahren ist nicht darauf zu bauen, dass einem Krankenhaus eine Ausnahme genehmigt wird, sondern die Geschäftsführung gemeinsam mit den Ärztinnen und Ärzten aktiv an der Erfüllung der Qualitätskriterien arbeiteten. Und dennoch ist zu berücksichtigen, dass die Landesbehörde selbst bei Erfüllung der Qualitätskriterien der Zuweisung der Leistungsgruppe widersprechen kann.

Im Zweifel steht dem Krankenhaus der Verwaltungsrechtsweg gegen den Feststellungsbescheid der Leistungsgruppe offen oder ggf. der Sozialrechtsweg gegen das in § 135e Abs. 3 SGB V neu eingeführte Gremium.

Zusammengefasst ist daher festzuhalten, dass sich das Bundesgesundheitsministerium bei dem Entwurf des KHVVG im Kern nur bei der Benennung der sechzig Leistungsgruppen an dem NRW-Modell orientiert hat. Diese Abweichung findet besonders starke Ablehnung, da zumindest nach Ansicht der Deutschen Krankenhausgesellschaft und auch einiger Länder dadurch unnötige Versorgungsengpässe forciert werden. Für die unnötig hohen Qualitätsanforderungen der Leistungsgruppen und die zusätzlich eingeführten Leistungsgruppen ergibt sich nach aktuellem Stand keinerlei Notwendigkeit. Viel eher hätte nach einer Einführungsphase von zwei Jahren des strengen NRW-Modells eine Analyse stattfinden können und es hätten weitere Gruppen oder Voraussetzungen festgelegt werden können. Durch das aktuelle Vorhaben streut das Bundesgesundheitsministerium in gewisser Weise Salz in die offene Wunde und verfehlt letztlich die eigene Zielsetzung.

Nach der aktuellen Planung soll ab dem Jahr 2029 das KHVVG komplett implementiert sein. Nach einer zweijährigen Eingangsphase folgt eine zweijährige Konferenzphase. Die Zuweisung der Leistungsgruppen soll innerhalb der Anfangsphase bis Ende des Jahres 2026 erfolgen.

Derzeit befindet sich das KHVVG noch im Gesetzgebungsprozess. Bereits nach der ersten Lesung im Bundestag erfolgte die Streichung einiger Passagen, sodass mit weiteren Änderungen zu rechnen ist. Es bleibt spannend, wie es am Ende des Gesetzgebungsprozesses um die Leistungsgruppen steht und ob die Länder entgegen der Auffassung des Bundesgesundheitsministeriums dem KHVVG zustimmen müssen.

René T. Steinhäuser

Rechtsanwalt

Rechtsanwälte Wigge

Großer Burstah 42

20457 Hamburg

kanzlei@ra-wigge.de

Gesundheitspolitik

Steinhäuser RT: BDC-Praxistest: Leistungsgruppe futsch – Aus die Maus?. Passion Chirurgie. 2024 Juli/August; 14(07/08): Artikel 05_01.

Diesen und weitere Artikel zum Thema finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Politik.

Personalia im Juli/August 2024

Prof. Dr. med. Karl-Heinz Bauer, ärztlicher Direktor am Klinikum Westfalen in Dortmund, wurde auf dem wissenschaftlichen Kongress „Viszeralmedizin NRW” in Dortmund von der Niederrheinisch-Westfälischen Gesellschaft für Chirurgie zum ersten Generalsekretär ernannt. Anlässlich der 190. Jahrestagung hatte die Gesellschaft ihre Strukturen angepasst und dieses Ehrenamt neu eingerichtet.

Prof. Dr. med. Christian Jurowich leitet seit Juni 2024 neben der Allgemein-, Viszeral- und Onkologischen Chirurgie/Minimalinvasive Chirurgie am Innklinikum Altötting auch die Allgemein- und Viszeralchirurgie der Kliniken Südostbayern in Traunstein. Unter seiner Leitung soll ein verbundübergreifendes Viszeralzentrum aufgebaut werden.

Prof. Dr. med. Carsten J. Krones, zuletzt als Vorstand und Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Minimalinvasive Chirurgie am Marienhospital Aachen tätig, ist neuer Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie am Krankenhaus Düren.

Prof. Dr. med. Sven Märdian ist neuer Chefarzt der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie der Universitätsmedizin Rostock. Märdian war zuvor stellvertretender geschäftsführender Direktor des Centrums Muskuloskeletale Chirurgie an der Berliner Charité, wo er auch das Sarkomzentrum der Charité leitete.

PD Dr. med. habil. Christian Mönch, ist seit Mai 2024 Chefarzt von drei chirurgischen Kliniken der Westpfalz-Klinikum GmbH. Zu den Standorten Kaiserslautern und Kusel kam nun der Standort Kirchheimbolanden dazu. Das Klinikum bietet so die Versorgung des kompletten Spektrums der Chirurgie im Westpfalz-Klinikum.

Prof. Dr. med. Udo Rolle, Direktor der Klinik für Kinderchirurgie am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, ist für die Amtsperiode 2024/25 zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie e.V. (DGCH) gewählt worden.

Dr. med. Jens Rudolph, zuvor langjähriger Oberarzt der Klinik, ist seit Juli 2024 Chefarzt der Klinik für Gefäßchirurgie am Gemeinschaftskrankenhaus Bonn, Haus St. Petrus. Er übernahm die Position von Dr. med. Jürgen Remig, der als Senior Gefäßchirurg und Co-Chefarzt weiterhin in der Klinik tätig sein wird.

Dr. med. Rayk Wilutzky ist der neue Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Minimalinvasive Chirurgie am Marienhospital Aachen. Der Facharzt für Allgemeinchirurgie, Viszeralchirurgie und spezielle Viszeralchirurgie war zuletzt leitender Oberarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Universitätsklinikum OWL der Universität Bielefeld, Campus Klinikum Bielefeld.