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Endokrine Viszeralchirurgie

Die Endokrine Chirurgie ist als einer der Schwerpunkte der Allgemein- und Viszeralchirurgie in den meisten entwickelten Ländern seit langem als Subspezialität etabliert. In vielen Ländern, voran den USA, existiert darüber hinaus eine curriculum-basierte, akademische und praktische Weiterbildung, die den Nachwuchs auch in diesem Schwerpunktbereich sichert und den Chirurginnen und Chirurgen eine berufliche Existenzperspektive bietet. In Deutschland sind vergleichbare Strukturen noch immer nicht ausreichend gegeben, obwohl der Bedarf groß ist, wenn man bedenkt, welchen Stellenwert die Endokrine Chirurgie allein auf dem Gebiet der Schilddrüsenchirurgie als einer der häufigsten Eingriffe in der Allgemein- und Viszeralchirurgie einnimmt. Nicht nur wegen ihrer seit über 150 Jahren bestehenden Bedeutung [7] als Keimzelle der Endokrinen Chirurgie ist die Schilddrüsenchirurgie heute vor allem wegen der weltweit teils enormen Zunahme papillärer Karzinome in den interdisziplinären Fokus der Diskussion gerückt [30].

Endokrine Chirurgie als Subspezialität und Kooperationspartner

Endokrine Chirurgie wird vielfach als „Systemchirurgie“, Chirurgie eines hormonproduzierenden Multiorgansystems charakterisiert und wurde daher anfangs auch oft als „endokrinologische Chirurgie“ oder „chirurgische Endokrinologie“ bezeichnet [21], bevor sich die Bezeichnung Endokrine Chirurgie [22] durchsetzte.

Endokrine Viszeralchirurgie umfasst in ihrer Besonderheit gegenüber den anderen viszeralchirurgischen Schwerpunktbereichen allerdings nicht nur hormonaktive, sondern auch hormoninaktive Tumoren, entzündlich-autoimmune Erkrankungen der Schilddrüse mit Unter- und Überfunktion, benigne und maligne Hyper- und Neoplasien, und darüber hinaus die seltenen hereditären Multiorganerkrankungen. Letztere stellen eine besondere chirurgische Herausforderung dar, weil sie in der Diagnostik und Therapie nicht nur sehr spezifische Kenntnisse und Expertise der molekularen Grundlagen und endokrinen Pathophysiologie voraussetzen, sondern auch Detailerfahrungen sowohl der adulten als auch der pädiatrischen chirurgischen Anatomie erfordern. So gehört zum Beispiel auch das operative Management der prophylaktischen Thyreoidektomie im ersten Lebensjahr, Kindes- und Jugendalter [27] bei der Multiplen Endokrinen Neoplasie (MEN) Typ 2A und 2B, aber auch die Entscheidung zu organerhaltenden Operationen der Nebenniere oder des Pankreas zum Spektrum des spezialisierten endokrinen Chirurgen [3; 6].

Der Herausgeber des ersten „Leitfadens“ zur Endokrinen Chirurgie in Deutschland [22], Hans-Dietrich Röher, nannte ihn im Vorwort des 1987 erschienenen Buches sehr bescheiden eine „praxisorientierte Informationsquelle für die tägliche ärztliche Entscheidung“, obwohl es tatsächlich das erste überhaupt in Deutschland publizierte Lehrbuch zu einem ganz neuen chirurgischen Schwerpunkt darstellte. Es beschrieb in sehr klarer und umfassender Weise bereits das gesamte Aufgabengebiet der Endokrinen Viszeralchirurgie: die Chirurgie gut- und bösartiger Schilddrüsenerkrankungen, des primären und sekundären Hyperparathyreoidismus, der Tumoren der Nebennierenrinde, des Nebennierenmarks und der neuroendokrinen Tumoren des gastroenteropankreatischen Systems, sowie der Multiplen Endokrinen Neoplasie-Syndrome Typ 1 und Typ 2.

Die enormen Entwicklungen des Schwerpunktes, einschließlich der an die Endokrine Chirurgie angrenzenden Disziplinen der Molekulargenetik und -pathologie, der Endokrinologie, Nuklearmedizin, Radiologie und Onkologie, aber auch der Chirurgie selbst haben vor allem im Ausland, zunehmend aber auch in Deutschland dazu geführt, dass sich Kliniken und Chirurgen auf den zahlenmäßig umfangreichsten Bereich der Endokrinen Hals- und Mediastinalchirurgie konzentrierten. Parallel zu dieser Entwicklung haben in steigender Zahl nicht nur im Ausland auch andere operative Fachgebiete in den universitären und nichtuniversitären Kliniken begonnen, an der Versorgung endokrin-chirurgischer Patienten zu partizipieren, zum Beispiel Urologen an der Nebennierenchirurgie und Hals-Nasen-Ohren-Chirurgen an der Schilddrüsenchirurgie. Dies ist eine Entwicklung, auf die die viszeralchirurgische Endokrine Chirurgie am besten durch strukturierte chirurgische Spezialisierung in unter endokrin-chirurgischer Leitung stehenden Abteilungen und verstärkt enger Kooperation mit den bereits traditionell verbundenen Fachgebieten insbesondere der Endokrinologie, Nuklearmedizin und Pathologie reagiert.

Auch für die Endokrinchirurgie gilt die Formel: „Practice makes perfect“ [1; 2; 5; 17; 18]. Für die konkurrenzaktive Gegenwart und Zukunft in Deutschland ist jedoch über das reine Versorgungsvolumen einzelner Kliniken und Chirurgen hinaus entscheidend, die akademisch-forscherische Sichtbarkeit und Leadership forciert weiterzuentwickeln und zugleich die Grundlagen für eine curricular-basierte Ausbildung in der viszeralchirurgischen Endokrinchirurgie zu legen [14; 19]. Gerade auf dem Gebiet der quantitativ im Vordergrund stehenden Schilddrüsenchirurgie, insbesondere derjenigen der Schilddrüsenkarzinome, ist es in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten zu einer enormen Dynamik gekommen, die nicht nur die Molekulargenetik und -pathologie, sondern auch die endokrinologische und nuklearmedizinische Onkologie tiefgreifend erfasst hat. Dazu kommen neue chirurgische Konzepte, wie zum Beispiel der Hemithyreoidektomie [10] bei der zunehmenden Zahl an differenzierten Niedrigrisikokarzinomen, die chirurgisch geprüft und interdisziplinär wissenschaftlich evaluiert werden müssen.

Die Nuklearmedizin betreffend hat die PET-Technik erheblichen Einfluss auf den Rezidivnachweis insbesondere der differenzierten Schilddrüsenkarzinome, damit ihrer reoperativen Behandlung gewonnen. In der endokrinologischen Onkologie sind infolge neuer Therapiekonzepte bei radiojodrefraktären Schilddrüsenkarzinomrezidiven früher nicht gegebene Therapiemöglichkeiten hinzugekommen, Entwicklungen insgesamt, die heute am besten in zertifiziert spezialisierten Tumorboards eine individualisierte Behandlung möglich machen. „Chirurgie in Partnerschaft“, Motto des 2012 vom Präsidenten Prof. Markus Büchler geleiteten 129. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, bedeutet, dass auch die Endokrine Chirurgie, wie die anderen Schwerpunkte der Chirurgie, nicht allein Dienstleister ist, sondern aktiv gestaltender Kooperationspartner im Konzert der an der Behandlung und Ergebnisevaluation beteiligten Disziplinen.

Reoperationen waren und sind ein besonderes Kerngebiet jedes erfahrenen und spezialisierten Chirurgen. Während Reoperationen in der Endokrinchirurgie früher vornehmlich „Struma“rezidive, in seltenen Fällen auch primär erfolglose Nebenschilddrüsenoperationen betrafen, sind es heute vor allem die Reeingriffe bei Schilddrüsenkarzinomen, die, auf das endokrinchirurgische Gesamtkrankengut bezogen, mittlerweile in spezialisierten Endokrinen Chirurgien einen nicht unerheblichen Anteil der täglichen Versorgung betreffen. Die Ende der 1980er-Jahre erfolgte Einführung der Mikrodissektion [4] und später des routinemäßigen intermittierenden (1997) und kontinuierlichen (2011) Neuromonitorings [9; 20] haben in Verbindung mit der weiteren Spezialisierung zwar wesentlich dazu beigetragen, dass sich zum einen die früher nicht selten hohen Komplikationsraten bei Reoperationen heute denjenigen bei Primäreingriffen angenähert haben [5; 11; 26]. Zum anderen sind dadurch bilaterale Stimmlippenlähmungen erfreulicherweise durch weitgehende Akzeptanz des „unilateral first approaches“ (Beendigung der OP bei Recurrensparese mit Signalausfall im intraoperativen Neuromonitoring auf der erstoperierten Seite) bei benigner Struma [8; 24] eine Rarität geworden. Die anhaltend in spezialisierten Zentren zunehmend zu verzeichnenden Fallzahlen von Operationen wegen zervikaler Rezidive bei Schilddrüsenkarzinomen weisen allerdings gleichermaßen darauf hin, dass nicht nur am Ende des chirurgischen Behandlungspfades ein Benchmarking bei der Qualitätssicherung erforderlich ist, sondern bereits zu Beginn. Mit anderen Worten: Schon bei der Weiterbildung zum endokrinen Viszeralchirurgen sind nachhaltige strukturelle Anstrengungen von Nöten, um die Behandlungsqualität zu verbessern.

Auch wenn in vielen, insbesondere asiatischen Ländern die Endokrine Chirurgie mittlerweile nicht mehr als Ganzes, das heißt als Endokrine Chirurgie der anatomischen Regionen des Zervikomediastinums, Abdomens und Retroperitoneums vertreten wird, spricht vieles dafür, das ganzheitliche Konzept der in die Viszeralchirurgie eingebetteten Endokrinen Chirurgie nicht aufzugeben [12].

Neben der technischen Expertise erfordert die operative Versorgung der hormonproduzierenden und hormoninaktiven viszeralen endokrinen Tumoren des Pankreas, der Nebenniere und des Darms eine profunde Kenntnis der zugrundeliegenden Erkrankung, ihrer genetischen Ursachen und der diagnostischen wie therapeutischen Maßnahmen, die sich von den Algorithmen bei Malignomen epithelialer Herkunft fundamental unterscheiden. Die Empfehlung der European Neuroendocrine Tumor Society (ENETS), der europäischen Fachgesellschaft, eines offenen operativen Vorgehens bei den Neuroendokrinen Tumoren des Darms und der Resektion des Dünndarmprimarius auch im metastasierten Stadium (Ileus-prophylaktische Operation) ist ein etabliertes Konzept [29]. Auch andere Entwicklungen, wie die organerhaltende Operation der Nebenniere [3] oder die gefäßsparende Resektion der Neuroendokrinen Tumoren des Dünndarms [16], kamen auf Basis einer umfassenden Spezialisierung in der Endokrinen Chirurgie zustande. Ähnlich wurden die operativen Verfahren bei den endokrinen Tumoren des Pankreas, wie beim Zollinger-Ellison Syndrom oder bei den Inselzell-Tumoren, maßgeblich durch endokrine Chirurgen entwickelt, die ihre Kenntnisse von den Besonderheiten endokriner Tumore in operative Strategien umsetzen konnten [13; 28].

Nationale und internationale Fachgesellschaften

Vor genau 40 Jahren, 1982, wurde in Marburg unter der Federführung von Hans-Dietrich Röher die Chirurgische Arbeitsgemeinschaft Endokrinologie (CAEK) als erste deutschsprachige fachgesellschaftlich organisierte Plattform für endokrinchirurgisch tätige und interessierte Chirurgen gegründet. In dem 1983 nach dem Gründungssymposium erschienenen, von Hans-Dietrich Röher und Robert Arnulf Wahl herausgegebenen Kongressbüchlein, wurde im Vorwort die Gründungshistorie folgendermaßen beschrieben [21]:

„Dieses Symposium und die veranstaltende Gruppe haben verschiedene Wurzeln. Kümmerle veranstaltete bereits 1977 und 1980 in Mainz endokrinologisch-chirurgische Symposien und wies im Vorwort zum letzten Sammelband „Fortschritte der endokrinologischen Chirurgie“ (1980) auf die sich damals abzeichnende Entwicklung hin. Nachdem sich 1979 anlässlich des Kongresses der Société Internationale de Chirurgie in San Francisco noch auf Initiative des zu früh verstorbenen schwedischen, aus Deutschland stammenden Kollegen Peter Heimann, und unter dem ersten Präsidenten S. Taylor, London, die International Association of Endocrine Surgeons (IAES) formierte und erstmalig mit einem eigenen Programm hervortrat, hat 1982 auch die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie eine eigene Arbeitsgemeinschaft für dieses zunehmend anspruchsvolle Spezialgebiet ins Leben gerufen.“

1979 wurde während des Kongresses der International Society of Surgeons (ISS, Société Internationale de Chirurgie) nach der IAES (23) auch die erste unabhängige kontinentale Fachgesellschaft für Endokrine Chirurgie gegründet: die American Association of Endocrine Surgeons (AAES), heute eine internationale Fachgesellschaft mit über 600 Mitgliedern aus 30 Ländern. Gründungsväter waren Orlo Clark, Tony Edis, Edward Kaplan, Jack Monchik und Norman Thompson. Dies waren Chirurgen, die basierend auf ihrer persönlichen Expertise und frühen Kooperation mit endokrinologisch tätigen Klinikern und Grundlagenwissenschaftlern in den Folgejahren die fachlichen Voraussetzungen einer klinisch-praktischen, auf den Ergebnissen der translationalen Medizin beruhenden evidenz-basierten Endokrinen Chirurgie schufen.

2004 wurde von Henning Dralle, Bruno Niederle, und Paolo Miccoli die European Society of Endocrine Surgeons (ESES) und 2006 von Henning Dralle und Gregory W. Randolph die International Nerve Monitoring Study Group (INMSG) gegründet. Die ESES veranstaltet zweijährliche internationale Kongresse und in den Zwischenjahren internationale, einem bestimmten Thema der Endokrinen Chirurgie gewidmete Workshops, deren Ergebnisse im Langenbecks Archives of Surgery publiziert werden. Die INMSG hat zuerst 2011 [20], dann in den Folgejahren mehrere Konsensusempfehlungen zur Theorie und Praxis des Neuromonitorings in der Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenchirurgie veröffentlicht.

Zertifizierung

Seit dem Jahr 2011 ist durch die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) eine jeweils für drei Jahre gültige Zertifizierung als Zentrum für Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenchirurgie oder für Endokrine Chirurgie möglich. Im Juli 2022 waren 22 Zentren als Kompetenzzentren und neun Zentren als Referenzzentren für Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenchirurgie zertifiziert. Zertifizierte Zentren für Endokrine Chirurgie, die auch Operationen von Nebennieren und neuroendokrinen Tumoren beinhalten, sind derzeit drei Kliniken. Eine Zertifizierung als Exzellenzzentrum für Endokrine Chirurgie ist möglich, wurde bislang jedoch noch nicht vergeben.

Das Erreichen einer DGAV-Zertifizierung ist für die zu zertifizierenden Kliniken mit einer Vielzahl von in der Zertifizierungsordnung 6.0 (Version vom 01.01.2021) zu erfüllenden Vorgaben verbunden. Diese orientieren sich sowohl an der Ausstattung der Kliniken (zum Beispiel dem Neuromonitoring, dem intraoperativen Gefrierschnitt), der Anzahl und Ausbildung der verantwortlichen Chirurgen, definierten operativen Eingriffszahlen und deren Komplikationsraten, einer Datendokumentation im StuDoQ-Register und eines eintägigen Audits. Um die Expertise der Chirurgen zu dokumentieren, die die endokrin-chirurgischen Eingriffe durchführen, wurde in der aktuellen Zertifizierungsordnung im Gegensatz zu früheren Versionen die Anzahl der erforderlichen Operationen pro Operateur vorgegeben.

Trotz eines Urteils des Bundesgerichtshofs vom 18.01.2012 (Az.: I ZR 104/10), das ausführt, der Begriff „Zentrum“ deute im stationären Bereich auf eine hochspezialisierte Abteilung hin, „deren Fachkompetenz und Erfahrung erheblich über dem Durchschnitt liege“, wird dieser Begriff heute auf zahlreichen Klinikwebseiten in geradezu inflationärer Weise verwendet. Da der Begriff „Zentrum“, entsprechend einer Veröffentlichung der Bundesärztekammer im Jahr 2015 nicht grundsätzlich geschützt ist und viele Kliniken unter einem nicht unerheblichen wirtschaftlichen Druck stehen, finden sich mehr oder weniger fantasievolle Eigenkreationen für Zentrumsnamen, entworfen von Marketingabteilungen, inzwischen auf zahlreichen Klinikwebseiten. Hinzu kommen Anbieter, die eine Beteiligung an Netzwerken zum Beispiel für Schilddrüsenchirurgie und den Begriff eines Zentrums gegen einen höheren vierstelligen Eurobetrag pro Jahr verkaufen.

Selbst angesehene Chirurgen haben im Jahr 2022 keine Bedenken, ihre Kliniken als Zentren für Endokrine Chirurgie, Schilddrüsenchirurgie oder Schilddrüsenkarzinome auf einer Webseite zu bezeichnen, selbst wenn dort pro Jahr weniger als 20 Schilddrüsenoperation stattfinden. Patienten, die sich zunehmend online über Behandlungsmöglichkeiten informieren und den Begriff eines Zentrums mit Kompetenz, Vertrauenswürdigkeit und der Hoffnung auf eine erfolgreiche Behandlung in Verbindung bringen, werden dadurch bewusst getäuscht. Engagierte Chirurgen, die ihre Möglichkeiten kennen und ihre Patienten bestmöglich behandeln wollen, sollten einen Behandlungsauftrag und das Vertrauen, das ihnen Menschen in einer für sie nur schwer einzuordnenden Situation entgegenbringen, nicht auf dem Boden des Tatbestands der irreführenden Werbung verspielen.

Register

Mit dem Ziel einer multizentrischen Dokumentation und Auswertung der Ergebnisse der Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenchirurgie wurde im Jahr 2004 das Scandinavian Quality Registry for Thyroid, Parathyroid and Adrenal Surgery (SQRTPA) gegründet, in dem in Schweden seit 2008 aktuell 85 bis 90 Prozent der Eingriffe der genannten Organe erfasst werden. Weitere Register wurden in Großbritannien (UKRETS), in den USA (CESQIP) und in Deutschland (StuDoQ) etabliert (Tab. 1). Im StuDoQ-Register Schilddrüse und Nebenschilddrüse wurden von 2017 bis 2020 55.300 Patienten dokumentiert. Dies entspricht 19 Prozent aller in diesem Zeitraum erfolgten 294.534 Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenoperationen in Deutschland (www.destatis.de).

Tab. 1: Multizentrische Register zur Erfassung endokrin-chirurgischer Operationen

Name

Länder

Start

Kliniken (n)

Zeitraum

Fälle (n)

Erkrankungen

SQRTPA

Schweden

2008

37

2008-2021

21.500

SD, NSD, NN

UKRETS

Großbritannien

2010

292*

2016-2020

46.690

SD, NSD, NN

CESQIP

USA

2014

56

2014-07/2022

63.847

SD, NSD, NN

EUROCRINE

18 europ. Länder und UAE**

2015

111

2015-07/2022

117.989

SD, NSD, NN, NET

StuDoQ

Deutschland, Österreich

2017

>80

2017-10/2021

76.434

SD, NSD

* Chirurgen (consultants), ** Vereinigte Arabische Emirate; Stand 05.08.2022

Im Vergleich zu den bisherigen Datenerfassungen der Krebsregister oder auch des wissenschaftlichen Instituts der AOK [17; 18], bieten die nun vorliegenden Qualitätsregister die Möglichkeit der Dokumentation einer Vielzahl von Items, die vor allem prä-, intra- und postoperativ chirurgische Aspekte und Fragestellungen detailliert beantworten können. Dies ermöglicht einerseits multizentrische Analysen großer Fallserien in einem umschrieben kurzen Zeitraum, zum Beispiel zur Bewertung diagnostischer Maßnahmen wie der präoperativen Kalzitoninbestimmung vor Schilddrüsenoperationen bei 29.590 Patienten [31] oder der Lokalisation von hyperfunktionellen Nebenschilddrüsen mittels 4D-CT bei 1.630 Patienten mit primärem Hyperparathyreoidismus [15]. Anderseits können bei entsprechend langer Verlaufsbeobachtung auch Erkenntnisse über die Effektivität einer Therapie, wie zum Beispiel der Lymphknotendissektion beim papillären oder medullären Schilddrüsenkarzinom gewonnen werden, während Krebsregister nur Geschlecht, Alter und Überleben, in manchen Bundesländern sogar unabhängig von der Entität der Schilddrüsenkrebserkrankung, beschreiben.

Gleichermaßen gilt für alle Register, dass die Datenqualität von der Sorgfalt der Eingabe und der Bereitschaft zu einer schonungslos offenen Dokumentation, auch im Falle von Komplikationen, abhängt. Ein regelmäßiges Monitoring zur Überprüfung der Qualität der Daten im Sinne einer Vermeidung zufälliger oder auch systematischer Fehler ist daher unerlässlich. Ob diese Überprüfung nur anhand der erhobenen Daten ausreichend ist oder eine Auditierung exaktere Ergebnisse liefert, ist derzeit zumindest für das StuDoQ-Register noch nicht abschließend geklärt.

Uneinheitlich ist auch die Finanzierung der verschiedenen Register, die teils – wie in den USA – über die teilnehmenden Chirurgen/Kliniken, wie in Deutschland oder Schweden über chirurgische oder staatliche Institutionen, oder wie in Großbritannien über die Industrie erfolgt. Das europäische EUROCRINE-Register wurde initial über Forschungsmittel der EU finanziert.

Für alle teilnehmenden Kliniken ist ein verantwortungsvoller Umgang mit den erhobenen Daten unter Einhaltung aller Bestimmungen des jeweils gültigen Datenschutzes unbedingt zu gewährleisten.

Ausblick

Die Endokrine Viszeralchirurgie blickt auf eine jetzt über 40-jährige Geschichte zurück: Mit der 1979 erfolgten Gründung der International Association of Endocrine Surgeons (IAES) avancierte das Gebiet von einer seit Beginn der klassischen Chirurgie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reichenden Chirurgie einzelner endokriner Organe zu einem klar umrissenen Schwerpunkt innerhalb der Allgemein-/Viszeralchirurgie.

Bezogen auf die anderen viszeralchirurgischen Schwerpunktbereiche, deren chirurgisch-anatomischer Fokus ausschließlich im Abdomen liegt, ist die Endokrine Viszeralchirurgie aus Gründen der Erkrankungshäufigkeit je nach Spezialisierungskonzept zu 90 bis 100 Prozent im Halsbereich lokalisiert. Die Chirurgie dieses Bereiches erfordert besondere anatomische und erkrankungsbezogene Kenntnisse. Auch ihre Qualitätskontrolle unterscheidet sich grundlegend von derjenigen des Abdomens. So lassen zum Beispiel die beiden Hauptkomplikationen von Operationen im zentralen Halsbereich, Stimmlippenparese und Hypoparathyreoidismus, postoperativ hinsichtlich ihrer Reversibilität oder ihres Fortbestehens erst nach frühestens sechs Monaten [25] eine definitive Aussage zu. Studien einschließlich Register, die diese Mindestvoraussetzung nicht erfüllen, sind aufgrund der relativ hohen Frequenz passagerer Funktionsstörungen daher für eine „real live“-Beurteilung wenig geeignet.

Die sich für die praktische und akademische Endokrine Viszeralchirurgie heute und für die nächste Zukunft ergebenden Ziele können in folgenden Thesen zusammengefasst werden:

1. Etablierung eines endokrinchirurgischen Curriculums

Die von Patienten ebenso wie nichtoperativen Kooperationspartnern an den endokrinen Viszeralchirurgen gestellten Erwartungen und Anforderungen gehen heute erheblich über das hinaus, was durch die Weiterbildungsordnungen an Rüstzeug auf chirurgisch-technischem, (patho-)physiologischem, pathologisch-anatomischem, nuklearmedizinischem und endokrinologischem Gebiet zur qualifizierten Patientenversorgung erforderlich ist. Zur Behebung des Ausbildungsdefizits ist nicht ausreichend, die Operationszahlen in den Weiterbildungskatalogen zu erhöhen, da diesen ohnehin schon enge Grenzen gesetzt sind. Notwendig ist die Etablierung eines strukturierten Curriculums, das wie auch in anderen Ländern am besten im Rahmen einer Subspezialisierung, zum Beispiel nach dem Konzept der Division of Endocrine Surgery der UEMS umzusetzen ist.

2. Verbesserung der Weiterbildung in der komplexen Zervikomediastinalchirurgie

Wie sich anhand der in endokrinchirurgischen Abteilungen gestiegenen Operationszahlen onkologischer Reeingriffe zeigt, besteht ein signifikantes Defizit in der viszeralendokrinen Kompartmenttechnik des zentralen und lateralen Halsbereiches sowie Mediastinums. Die Hinzuziehung anderer operativer Disziplinen kann im Einzelfall berechtigt sein, lässt aber gleichzeitig auch deren Interesse an einer „freundlichen Übernahme“ wachsen.

3. Sicherung der retroperitonealen und abdominell endokrinen Viszeralchirurgie als unverzichtbarer Bestandteil der Endokrinen Chirurgie

Die Endokrine Chirurgie nicht nur der minimalinvasiven Chirurgie benigner Nebennie­rentumoren, sondern auch der abdominell-retroperitonealen Paragangliome, und insbesondere die Chirurgie der sporadischen und hereditären gastroenteropankreatischen neuroendokrinen Tumoren liegt im Zentrum unseres viszeralonkologischen Fachgebietes und ist damit unverzichtbarer Bestandteil der endokrinen Chirurgie.

4. Schaffung eigenständig-unabhängiger Abteilungsstrukturen als notwendige Voraussetzung zur Weiterentwicklung der Endokrinen Viszeralchirurgie

Die Endokrine Chirurgie hat sich in den zurückliegenden 40 Jahren weltweit als eigenständiges Gebiet der Viszeralchirurgie entwickelt. Nationale und internationale Fachgesellschaften und Arbeitsgemeinschaften vertreten das Gebiet nach innen und außen. Die meisten vergleichbaren Länder verfügen innerhalb der Chirurgischen Departments seit langem über entsprechende Abteilungsstrukturen, die in der Lage sind, nachhaltige Ausbildungsvoraussetzungen in der Endokrinen Viszeralchirurgie zu schaffen, und dem chirurgischen Nachwuchs Perspektiven zu bieten. Nationale Zertifizierungen und Register können zur Verbesserung der Behandlungsqualität beitragen, jedoch nicht eine von Beginn an spezialisierte Weiterbildung ersetzen.

5. Forcierte Bildung akademisch-universitärer Zentren für Endokrine Viszeralmedizin

Nicht nur für den endokrinchirurgischen Nachwuchs, auch für die gebietsbezogene Forschung als Keimzelle und Kristallisationspunkt der Entwicklung neuer Methoden und Techniken sind die universitären Zentren eine unabdingbare Voraussetzung. Gerade auf dem Gebiet der endokrinonkologischen Viszeralmedizin vollzieht sich derzeit ein gravierender dynamischer Wandel, in dem der Chirurgie eine zentrale Rolle und Bedeutung zukommt. Nur durch praxisrelevante Forschung können die chirurgischen Konzepte in Behandlungsempfehlungen und Leitlinien überzeugend eingebracht werden. Die Universitätskliniken in Deutschland sollten daher zur Schaffung eines qualifizierten Nachwuchses und besseren Sichtbarkeit ihre Möglichkeiten zur Schaffung profilbildender Strukturen noch wesentlich forcierter nutzen als bislang.

Literatur

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[28]  Schneider R, Machens A, Sekulla C, et al.: Twenty-year experience of pediatric thyroid surgery using intraoperative nerve monitoring. Br J Surg 2018; 105: 996-1005

[29]  Thompson NW, Bondeson AG, Bondeson L, Vinik A.: The surgical treatment of gastrinoma in MEN I syndrome patients. Surgery 1989; 106: 1081-1085

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BDC|Akademie

Facharztseminar Allgemein- und Viszeralchirurgie

Dieses traditionelle Berliner BDC-Seminar zur Vorbereitung auf die Facharztprüfung ist das älteste seiner Art in Deutschland und findet seit 1990 statt. Ziel war es und ist es, ein komprimiertes und intensives Repetitorium anzubieten, das umfassend die Inhalte der Weiterbildungsordnung Viszeralchirurgie und Allgemeinchirurgie in Form eines „Crash-Kurses“ darstellt. Es soll aber auch als „Update“ dienen und einen aktuellen und fundierten Überblick über das Gebiet der Allgemein- und Viszeralchirurgie geben. So ist das Seminar zur Vorbereitung auf die Facharztprüfung geeignet, gleichermaßen aber auch als „Refresherkurs“ für gestandene Fachärzte.

Facharztseminar Allgemein- und Viszeralchirurgie in Berlin
Prof. Dr. med. Thomas Steinmüller
13.03. bis 17.03.2023

Informationen & Anmeldung…

Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Henning Dralle, FRCS, FACS, FEBS

Leiter Sektion Endokrine Chirurgie

Klinik für Allgemein,- Viszeral- und Transplantationschirurgie

Universitätsmedizin Essen

Henning.Dralle@sjk.uk-essen.de

Prof. Dr. med. Theresia Weber, FEBS

Chefärztin

Klinik für Endokrine Chirurgie

Referenzzentrum für Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenchirurgie

Marienhaus Klinikum

theresia.weber@marienhaus.de

Prof. Dr. med. Frank Weber

Stellvertretender Leiter Sektion Endokrine Chirurgie

Klinik für Allgemein,- Viszeral- und Transplantationschirurgie

Universitätsmedizin Essen

Frank.Weber@uk-essen.de

Chirurgie

Henning Dralle; Theresia Weber; Frank Weber Endokrine Viszeralchirurgie. Passion Chirurgie. 2020 Oktober; 12(10): Artikel 03_01.

Diesen Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Viszeralchirurgie.

Mein PJ-Tertial im ambulanten Versorgungsbereich

Schon länger stand die Allgemeinmedizin für meinen späteren Berufswunsch in der engeren Auswahl. Nach und nach verfestigte sich die Tendenz durch mehrere Famulaturen. Im 10. Semester werden alle Studenten der Universität Rostock auf allgemeinmedizinische Praxen in ganz Mecklenburg-Vorpommern verteilt. Manchmal passt die Zuteilung örtlich und menschlich sehr gut.

Nach meinem zweiwöchigen Blockpraktikum bewarb ich mich auf eine Stelle in der CHIRURGISCHEN PRAXISKLINIK Schwerin Mitte zum ersten Abschnitt meines PJs. Die Anmeldung erfolgte dreifach: auf der Internetseite PJ-Portal, in Absprache mit der Fakultät für Allgemeinmedizin und in der Praxis. Seit 2006 bietet die Fakultät für Allgemeinmedizin die Möglichkeit für ein Tertial im ambulanten Versorgungsbereich. Letztendlich war der Prozess von der Bewerbung bis zur Zusage schnell und unproblematisch.

Da Mecklenburg-Vorpommern in bestimmten Regionen unter einem Ärztemangel leidet, sollen Niederlassungen auf dem Land gestärkt werden. Die Unterstützung der PJler erfolgt über die Kassenärztliche Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern (KVMV) und muss durch den Lehrarzt vor Beginn der Praktikumszeit beantragt werden. Die KVMV fördert ein Tertial mit bis zu 1000 Euro im Monat. Dieser Betrag setzt sich aus 200 Euro Basisforderung und 800 Euro Lenkungszuschlag zusammen, wenn der Ausbildungsplatz außerhalb einer Universitätsstadt liegt. In Mecklenburg-Vorpommern sind nur Rostock und Greifswald Universitätsstädte. Schwerin als Landeshauptstadt und Sitz der Lehrklinik der MSH Medical School Hamburg wird der Provinz zugeordnet. Der Lenkungszuschlag existiert seit dem 01. April 2019.

Neben den finanziellen Aspekten konnte ich bei der Ausbildung in der Praxisklinik von folgenden Vorteilen profitieren: Weil die Lehre dort einen hohen Stellenwert hat – auf einen Studenten kommen bis zu drei Fachärzte – war für mich ein sehr kompaktes, direktes und ganzheitliches Lernen möglich. Beispielsweise wurde ein Röntgenbild vom Thorax angefertigt und anschließend unter der Aufsicht einer Allgemeinmedizinerin und eines Chirurgen durch mich ausgewertet. Die Verbesserungsvorschläge oder Anmerkungen kamen direkt und freundlich von zwei Fachärzten. In manchen Kliniken bleibt die Rückmeldung ja auch schon mal aus oder erfolgt durch einen Assistenzarzt. Auch aufgrund des guten Personalschlüssels konnten mich die MFAs sehr ausführlich in verschiedene Prozesse einweisen. Dies beinhaltete

  • die Bedienung des Röntgengerätes und das Erstellen verschiedener Röntgenaufnahmen,
  • das Anlegen und Schreiben des EKGs,
  • die Durchführung von Lungenfunktionstests,
  • die Anwendung apparativer Gefäßdiagnostik,
  • hygienisches Arbeiten,
  • und Blutentnahmen.

An Operationstagen erschlossen sich mir noch viele weitere Felder, zum Beispiel das sterile Anreichen oder die Bedienung verschiedener Geräte. Insgesamt konnte ich jeden Schritt von der Aufnahme neuer Patienten über die Diagnostik, eine eventuelle OP-Vorbereitung, die Operation, bis hin zur Nachbereitung und Nachsorge sowohl aus ärztlicher als auch pflegerischer Sicht miterleben.

Persönlich würde ich jedem PJler auch ein Tertial im ambulanten Bereich empfehlen, denn hier kann man – nach meiner Erfahrung in noch höherem Maß als auf einer großen Klinikstation – sehr viele individuelle und detaillierte Erfahrungen machen. Zusätzlich ist der intensive Patientenkontakt vor, während und nach der Behandlung sowohl für das Verständnis des Ablaufs als auch des Ergebnisses förderlich. Auf der anderen Seite gibt es in Kliniken mehr Möglichkeiten, Diagnose- und Therapiemöglichkeiten für schwerere Krankheitsbilder kennenzulernen und darin Erfahrungen zu sammeln. Somit ergänzt sich ein Aufenthalt in einer Praxisklinik oder Ambulanz sehr gut mit dem in einer Klinik. Beide sind wertvolle Teile der Gesamtausbildung.

PJ-Leitfaden

Das Praktische Jahr hat einen großen Einfluss auf die spätere Berufswahl der jungen Ärzteschaft. Die Erfahrungen im PJ können anziehen, aber auch abstoßen. Eine gute Ausbildungsqualität im chirurgischen Tertial steigert nicht nur die Attraktivität des Fachs, sondern auch das Image Ihrer Klinik.

Um interessierten Kliniken bei der Verbesserung der chirurgischen Ausbildung im Praktischen Jahr eine einfache Unterstützung anbieten zu können, hat der BDC gemeinsam mit der bvmd einen am klinischen Alltag orientierten Leitfaden „Chirurgischen Nachwuchs gewinnen und halten. Leitfaden für das Praktische Jahr“, ein daran angelehntes Stationsplakat sowie einige Musterdokumente (Ablaufplan im PJ und PJ Evaluation) entwickelt.

Der neue Leitfaden richtet sich an alle klinikseitig an der Ausbildung und Betreuung von PJ-Studierenden beteiligten Mitarbeiter:innen. Neben der chirurgischen Profession selbst sind ebenso die an der organisatorischen Durchführung beteiligten Bereiche der Verwaltung.

HIER finden Sie den PJ-Leitfaden zum Nachlesen und Weitergeben.

Moritz Einar Friedrich

Am Kabutzenhof 20

18057 Rostock

moritz.friedrich@uni-rostock.de

Chirurgie+

Friedrich ME: Mein PJ-Tertial im ambulanten Versorgungsbereich. Passion Chirurgie. 2020 Oktober; 12(10): Artikel 04_02.

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Neue Therapiekonzepte in der endokrinen Chirurgie am Beispiel des anaplastischen Schilddrüsenkarzinoms

Einleitung

Das anaplastische Schilddrüsenkarzinom (ATC) ist mit einer Inzidenz von 1–2 Patienten pro Million Einwohner und Jahr das seltenste Schilddrüsenmalignom, stellt jedoch eine sehr aggressive Tumorentität mit einer Mortalität von bis zu 100 % dar (1). Verfügbare retrospektive Daten zeigen eine schlechte Prognose mit einem medianen Gesamtüberleben nach Erstdiagnose von 3–6 Monaten und einem medianen 1-Jahres-Überleben von etwa 20 % (1-3).

Im ATC-Stadium IVA und resektablen Stadium IVB ist die primäre Operation mit dem Ziel einer R0- oder R1-Resektion die Therapie der Wahl, häufig gefolgt von Bestrahlung in Kombination mit einer Chemotherapie oder im Rahmen klinischer Studien einer zielgerichteten Therapie je nach Tumorgenetik [1, 3]. Im initial nicht-resektablen Stadium IVB und im metastasierten Stadium IVC wird die frühzeitige Einleitung einer Chemotherapie mit Anthrazyklinen, Taxanen und Platin vorgeschlagen. Diverse experimentelle Arbeiten haben gezeigt, dass ATC ein bestimmtes Mutationsprofil aufweisen und daher ATC-Zellen auf eine zielgerichtete Therapie ansprechen können (64-6). Diese zielgerichtete Therapie wurde bisher vor allem in der palliativen Situation oder auch adjuvant nach Resektion eingesetzt [1, 7, 8].

Basierend auf diesen experimentellen Ergebnissen und ersten klinischen Erfahrungen kam die Idee auf, eine zielgerichtete, mutationsbasierte Therapie neoadjuvant beim ATC im Stadium IVB oder C anzuwenden, um eine Resektion des Primärtumors und ggf. seiner Metastasen zu erreichen. Einzelne kleine Fallserien unterstützen diese Hypothese [9–11]. Unsere hier vorgestellten Ergebnisse wie die anderer Gruppen [9–11] zeigen, dass eine „neoadjuvante“ BRAF-gerichtete Therapie bzw. im Fall eines nicht-BRAF-mutierten ATC einer mKI/Checkpoint-Inhibitor-Kombination eine Resektion des Tumors bei initial lokal fortgeschrittenem ATC ermöglichen kann, damit die lokale Tumorkontrolle optimiert und möglicherweise auch Überleben verlängert.

Nachfolgend berichten wir über die Ergebnisse einer erfolgreichen zeitlich begrenzten, mutationsbasierten, off-label, neoadjuvanten Behandlung bei drei ATC-Patienten im Stadium IVB und C.

Methodik

Bei klinischem Verdacht auf das Vorliegen eines ATC ist die erste diagnostische Maßnahme an unserer Klinik eine Stanzbiopsie, um so schnell wie möglich mit der Immunhistochemie (IHC) und der molekulargenetischen Analyse zu beginnen. Die zytologische Diagnose eines ATC durch Feinnadelaspirationzytologie kann schwierig sein [12]. Es werden schilddrüsenspezifische Proteine wie Thyreoglobulin (Tg) und der Schilddrüsen-Transkriptionsfaktor 1 (TTF-1) bestimmt. Im Allgemeinen fehlen sie beim ATC, was die undifferenzierte Natur des Tumors widerspiegelt. PAX-8-Expression wird bestimmt zur Differenzierung von undifferenzierten Sarkomen oder Plattenepithelkarzinomen. Die Zellproliferation wird durch Ki-67 bewertet. Der Verlust der p53-Tumorsuppressorfunktion durch somatische Mutation von TP53 wird als typisch für ein ATC und zur Abgrenzung zum schlecht differenzierten Schilddrüsenkarzinom (PDTC) gewertet. Der BRAF-Mutationsstatus wird ebenso wie die Mutation in Genen der RAS-Familie durch Molekularanalyse bestimmt. Die PD-L1-Expression wird gemessen, um die Möglichkeit einer Checkpoint-Inhibition zu klären.

Parallel werden bildgebende Verfahren durchgeführt. Das radiologische Tumorstaging erfolgt mittels MRT des Halses zur Beurteilung der lokalen Situation und einem 18F-FDG-PET/CT zum Nachweis bzw. Ausschluss einer Fernmetastasierung. Ösophagoskopie und Tracheoskopie werden durchgeführt, um ein potenzielles intraluminales Tumorwachstum zu nachzuweisen. Eine präoperative Laryngoskopie beurteilt die Stimmbandbeweglichkeit.

Sobald die Ergebnisse der Immunhistochemie und der Mutationsanalysen vorliegen, werden alle Patienten mit ATC in einer interdisziplinären Tumorkonferenz mit Fokus auf den klinischen Zustand und Komorbiditäten besprochen. Die Patienten werden ausführlich im interdisziplinären Tumorboard diskutiert und bei bisher drei Patienten die Entscheidung zur „neoadjuvanten“ zielgerichteten Therapie im Konsens getroffen. Die Patienten wurden anschließend über dies Möglichkeit dieser zulassungsüberschreitenden Therapie aufgeklärt und deren schriftliche Zustimmung eingeholt. Bei Vorliegen eines BRAF-mutierten ATC wurde eine Kombinationstherapie aus dem BRAF-Inhibitor Dabrafenib und dem MEK-Inhibitor Trametinib gewählt, bei einem BRAF-Wildtyp ATC eine Kombination aus dem PD-L1-Inhibitor Pembrolizumab und Multikinaseinhibitor Lenvatinib. Lenvatinib ist seit 2015 in Europa (EMA European Medicines Agency) für mehrere Tumorentitäten zugelassen, darunter die Therapie des differenzierten jodrefraktären Schilddrüsenkarzinoms. Die Checkpoint-Inhibitor-Therapie mit Pembrolizumab und die BRAF/MEK-Inhibitor-Therapie mit Dabrafenib und Trametinib sind in Europa derzeit noch nicht zur Therapie des ATC zugelassen. Bei der jeweiligen Krankenkasse wurde eine individuelle Genehmigung für die Therapie beantragt, die in allen drei beschriebenen Fällen genehmigt wurde. Eine antiangiogenetische Therapie mit Lenvatinib 20mg täglich als bridging wurde sofort begonnen und nach entsprechender Genehmigung mit Pembrolizumab kombiniert (200 mg alle drei Wochen) oder bei Nachweis einer BRAF-Mutation auf Trametinib 4mg täglich/Dabrafenib 150 mg zweimal täglich umgestellt. Diese individuelle, mutationsbasierte Therapie wurde über vier Wochen fortgeführt.

Nach diesem begrenzten Zeitraum von vier Wochen erfolgte ein Re-Staging mittels 18F-FDG-PET/CT. Bei signifikantem Therapieansprechen mit Größenabnahme des Primärtumors um >50 % wurde die chirurgische Resektion erneut diskutiert. Diese kurze Dauer der „neoadjuvanten“ Behandlung wurde gewählt, um das Risiko von Arrosionsblutungen und/oder Fistelbildung durch die rasche lokale Tumorschrumpfung zu reduzieren [13, 14]. Es wurde dann zunächst eine Primärtumorresektion mittels Thyreoidektomie und Lymphadenektomie durchgeführt. In einem zweiten Schritt wurden ggf. limitierte Fernmetastasen etwa vier Wochen nach der Thyreoidektomie reseziert. Nach einer postoperativen Erholung von etwa zwei Wochen wurde die gezielte systemische Therapie fortgesetzt.

Ergebnisse

Zwischen Dezember 2021 und Mai 2022 wurden drei Patienten (Alter 57, 73, 81 Jahre) im Stadium IVB (1 Patient) und IVC (zwei Patienten) mit einer mutationsbasierten, vierwöchigen „neoadjuvanten“ Therapie gefolgt von einer Tumorresektion behandelt (siehe Tab. 1).

Tab. 1: Charakteristika der ATC-Patienten mit „neoadjuvanter“ zielgerichteter Therapie

Patient

Geschlecht w/m

Alter (Jahre)

UICC Stadium

„Neoadjuvante“ Therapie (4-6 Wochen)

Operative Therapie

TNM-Stadium

Postoperative Therapie

#1

w

81

IVC

(1 Lungenmetastase)

Lenvatinib

1. Thyreoidektomie mit zentraler/latraler LA, Resektion der thrombosierten V. jugularis interna, Resektion N. recurrens

2. Lungemetastasenresektion rechts

ypT4a, ypN1b,

L0 V0 Pn1 R1 (Trachea)

ypM1 (pulmo), R0

Lenvatinib plus Pembrolizumab

#2

m

57

IVC

(multiple kleine Lungenmetastasen)

Lenvatinib plus Pembrolizimab

Thyreoidektomie mit zentraler/linkslateraler LA, Resektion der thrombosierten V. jugularis interna

ypT4a ypN0,

L0 V1 Pn0 R0

Lenvatinib plus Pembrolizimab

#3

m

73

IVB

(Trachealeinbruch)

Dabrafenib plus Trametinib

Thyreoidektomie mit zentraler LA bds

ypT3b, ypN0

L0 V1 Pn1 R0

Dabrafenib plus Trametinib

LA: Lymphadenektomie

Bei zwei Patienten wurde ein ATC im Stadium IVC (pulmonale Metastasen) diagnostiziert, bei einem Patienten lag das Stadium IVB mit Infilrtation der Trachea vor. Die Stanzbiopsie ergab in zwei Fällen ein BRAF-wildtyp-ATC mit einer PD-L1-Expression von 80 % bzw. 90 % (TPS-Score). Einer der beiden Patienten erhielt eine „neoadjuvante“ Therapie mit Lenvatinib und Pembrolizumab. Eine Patientin wurde lediglich Lenvatinib vorbehandelt wegen langer Wartezeit auf die Genehmigung der Krankenkasse für den Einsatz von Pembrolizumab, das erst postoperativ verabreicht wurde. Bei dem dritten Patienten wurde eine BRAF-Mutation nachgewiesen, hier erfolgte die „neoadjuvante“ Therapie mit Dabrafenib und Trametinib.

Bei allen drei Patienten war ein deutliches Therapieansprechen zu verzeichnen, das Re-Staging zeigte jeweils einen beeindruckenden Größenregress und verminderte FDG-Aufnahme (Abb. 1). Bei einem Patienten waren die kleine Lungenmetastasen nicht mehr nachweisbar. Bei allen drei Patienten erfolgte eine Thyreoidektomie und Lymphadenektomie, es wurden bei zwei Patienten eine R0 und bei einem Patienten eine R1 (Trachealinfiltration) erreicht. In einem Fall wurde nach Rekonvaleszenz vier Wochen nach der Schilddrüsenoperation eine singuläre Lungenmetastase reseziert. Es traten keine postoperativen Komplikationen auf, die Patienten wurden nach 5-7 Tagen entlassen. Die individuelle zielgerichtete Therapie wurde nach Abschluss der Wundheilung fortgesetzt. Bei der ersten Nachsorgeuntersuchung drei Monate postoperativ mittels FGD-PET/CT gab es bei keinem der drei Patienten den Nachweis eines Rezidivs oder von Metastasen.

Abb. 1: Patient #2: 18F-FDG-PET/CT vor (A) und nach (B) „neoadjuvanter“ zielgerichteter Therapie. Regredienter Primärtumor im Bereich der linken Schilddrüsenloge (Pfeil) und nicht mehr nachweisbare pulmonale Filiae nach neoadjuvanter Therapie.

Diskussion

In allen drei Fällen induzierte die kurzzeitige „neoadjuvante“ Therapie ein beeindruckendes Ansprechen und führte zu lokaler Resektabilität bei primär nicht-resektablen ATC im Stadium IVB oder C. Die komplette Tumorresektion verbessert nachweislich die Prognose des ATC [1, 3, 15, 16]. Da sich die meisten Patienten – wie auch unsere – mit einer lokal inoperablen Erkrankung aufgrund einer lokalen Infiltration von A. carotis, Larynx, Trachea oder Ösophagus vorstellen, ist die Möglichkeit mit einer „neoadjuvanten“ Therapie eine Resektabilität zu erreichen von großer Bedeutung.

Die Option, eine BRAF-mutationsbasierte „neoadjuvante“ Therapie anzuwenden, hat in mehreren kleinen Fallserien Erfolge bezüglich der lokalen Resektabilität gezeigt [9–11]. Somatische Mutationen von BRAF bestehen in 40–70 % der ATC, 11–28 % der ATC exprimieren PD-L1 [17].

Wir haben zum ersten Mal eine kurzzeitige „neoadjuvante“ Behandlungsperiode gewählt, um das Risiko von Arrossionsblutungen und/oder Fisteln aufgrund einer möglichen schnellen Tumorschrumpfung zu reduzieren [13, 14]. Das Re-Staging mit einem 18F-FDG-PET/CT nach 4- bis 6-wöchiger „neoadjuvanter“ Behandlung konnte bei allen drei Patienten eine signifikante Tumorreduktion wie auch die komplette Remission von kleinen Lungenmetastasen bei reduzierter Glukoseaufnahme nachweisen. Dies weist darauf hin, dass eine kurze neoadjuvante Behandlungsdauer ausreichen könnte, um eine Resektabilität zu erreichen. Wang et al. berichteten über den Verlauf von sechs Patienten mit BRAF-mutiertem, lokal fortgeschrittenem ATC. Die mediane Dauer der „neoadjuvanten“ Behandlung betrug vier Monate [10]). Nach diesem Zeitraum wurden alle Patienten operiert und es konnte viermal eine R0-Resektion und zweimal eine R1-Resektion erreicht werden. Unsere Operationsergebnisse nach nur vierwöchiger „neoadjuvanter“ Therapie waren mit zwei R0- und einer R1-Resektion ähnlich. McCrary et al. beschrieben ebenfalls eine neoadjuvante Behandlung bei vier Patienten mit ATC, zwei mit BRAF-mutiertem Tumor und zwei mit BRAF-wildtyp Tumoren. Bisher wurde ein Patient nach vier Monaten Therapie mit Dabrafenib und Trametinib operiert. Im postoperativen histopathologischen Bericht wurde das Stadium ypT1ypN0 angegeben [11].

Die postoperative histopathologische Befunde zeigten bestätigten bei unseren drei Patienten ein Ausmaß an Tumornekrose oder regressivem fibrotischem Gewebe zwischen 60 und > 95 %. Der Fallbericht des MD Anderson Cancer Center zeigte 30 % Nekrose nach „neoadjuvanter“ Behandlung mit Dabrafenib-Monotherapie und im Verlauf zusätzlich Pembrolizumab für drei Monate [9]. Dies impliziert, dass eine kurze neoadjuvante Behandlungsdauer für eine Tumorregression ausreicht.

Es ist derzeit unklar, ob die Fortführung der Therapie mit BRAF/MEK-Inhibitoren oder eine Immuntherapie in Kombination mit mKI postoperativ ausreicht, um ein Lokalrezidiv oder eine Fernmetastasierung zu vermeiden. Eine zusätzliche postoperative (Chemo-)Strahlentherapie könnte erwogen werden, wurde aber bei unseren Patienten bisher nicht durchgeführt. Wir entschieden uns, die Behandlung mit BRAF/MEK-Inhibitoren fortzusetzen.

Während wir auf die Genehmigung zum „off-label-use“ des PD-L1-Inhibitors oder BARF/MEK-Inhibitoren warteten, wurden unsere Patienten „nur“ mit mKI behandelt. Ein zusätzliches bridging mit einer Chemotherapie (zum Beispiel Carboplatin und Paclitaxel) könnte sinnvoll sein.

Zusammenfassend kann eine 4- bis 6-wöchige mutationsbasierte „neoadjuvante“ Therapie die Resektabilität beim initial inoperablen ATC-Stadium IVB oder C ermöglichen, ohne dass während des kurzen Behandlungsintervalls lebensbedrohliche Komplikationen wie Arrosionsblutungen oder Fisteln auftraten. Die Langzeitprognose bleibt abzuwarten. Der Einsatz dieser in Deutschland noch nicht für das ATC zugelassen zielgerichteten Substanzen und die Verfügbarkeit einer schnellen und umfangreichen molekulargenetischen Analyse macht derartige Konzepte schwierig umsetzbar und erfordert die Infrastruktur einer Universitätsklinik. Basierend auf diesen ermutigenden ersten Ergebnissen wird derzeit eine prospektive AMG-Beobachtungsstudie vorbereitet.

Literatur

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[9]   Cabanillas ME, Ferrarotto R, Garden AS, Ahmed S, Busaidy NL, Dadu R, Williams MD, Skinner H, Gunn GB, Grosu H, Iyer P, Hofmann MC, Zafereo M. Neoadjuvant BRAF- and Immune-Directed Therapy for Anaplastic Thyroid Carcinoma. Thyroid. 2018 Jul;28(7):945-951.

[10]  Wang JR, Zafereo ME, Dadu R, Ferrarotto R, Busaidy NL, Lu C, Ahmed S, Gule-Monroe MK, Williams MD, Sturgis EM, Goepfert RP, Gross ND, Lai SY, Gunn GB, Phan J, Rosenthal DI, Fuller CD, Morrison WH, Iyer P, Cabanillas ME. Complete Surgical Resection Following Neoadjuvant Dabrafenib Plus Trametinib in BRAFV600E -Mutated Anaplastic Thyroid Carcinoma. Thyroid. 2019 Aug;29(8):1036-1043.

[11]  McCrary HC, Aoki J, Huang Y, Chadwick B, Kerrigan K, Witt B, Hunt JP, Abraham D. Mutation based approaches to the treatment of anaplastic thyroid cancer. Clin Endocrinol (Oxf). 2022 May;96(5):734-742.

[12]  Giard RW, Hermans J. Use and accuracy of fine-needle aspiration cytology in histologically proven thyroid carcinoma: an audit using a national pathology database. Cancer. 2000 Dec 25;90(6):330-4.

[13]  Obata K, Sugitani I, Ebina A, Sugiura Y, Toda K, Takahashi S, Kawabata K. Common carotid artery rupture during treatment with lenvatinib for anaplastic thyroid cancer. Int Cancer Conf J. 2016 Jul 27;5(4):197-201.

[14]  Staub Y, Nishiyama A, Suga Y, Fujita M, Matsushita R, Yano S. Clinical Characteristics Associated With Lenvatinib-induced Fistula and Tumor-related Bleeding in Patients With Thyroid Cancer. Anticancer Res. 2019 Jul;39(7):3871-3878.

[15]  Pierie JP, Muzikansky A, Gaz RD, Faquin WC, Ott MJ. The effect of surgery and radiotherapy on outcome of anaplastic thyroid carcinoma. Ann Surg Oncol. 2002 Jan-Feb;9(1):57-64.

[16]  Wendler J, Kroiss M, Gast K, Kreissl MC, Allelein S, Lichtenauer U, Blaser R, Spitzweg C, Fassnacht M, Schott M, Führer D, Tiedje V. Clinical presentation, treatment and outcome of anaplastic thyroid carcinoma: results of a multicenter study in Germany. Eur J Endocrinol. 2016 Dec;175(6):521-529.

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Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. med. Detlef K. Bartsch

Direktor

Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie

Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH

Standort Marburg

bartsch@med.uni-marburg.de

E. Maurer

Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie

F. Eilsberger

Klinik für Nuklearmedizin

S. Wächter

Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie

J. Riera Knorrenschild

Klinik für Hämatologie, Onkologie und Immunologie

A. Pehl

Institut für Pathologie, Universitätsklinkum Gießen und Marburg GmbH, Standort Marburg

K. Holzer

Klinik für Visceral-, Thorax- und Gefäßchirurgie

A. Neubauer

Klinik für Hämatologie, Onkologie und Immunologie

M. Luster

Klinik für Nuklearmedizin

Chirurgie

Neue Therapiekonzepte in der endokrinen Chirurgie am Beispiel des anaplastischen Schilddrüsenkarzinoms. Passion Chirurgie. 2020 Oktober; 12(10): Artikel 03_02.

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Passion Chirurgie im September: Unfallchirurgie & Orthopädie

Hier geht´s zur digitalen Ausgabe! 

„Unfallchirurgie & Orthopädie“ stehen im Fokus der aktuellen Ausgabe, passend zum Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU), der vom 25. bis 28. Oktober 2022 in Berlin stattfindet. Der BDC ist an allen vier Kongresstagen mit einem Stand vertreten. Wir freuen uns, mit Ihnen vor Ort ins Gespräch zu kommen!

Vom 30. September bis 01. Oktober 2022 findet das BDC|Seminar „Chirurginnen auf dem Weg nach oben – im Fokus: Kommunikation und Führung, Management“ statt. Es sind noch wenige Plätze frei! Programm, Informationen und Anmeldung finden Sie HIER.

Viel Spaß beim Lesen, mit herbstlichen Grüßen
Ihre PASSION CHIRURGIE-Redaktion

Das Projekt „Krankenhaus Ghana“ – eine Vision aus der Not geboren

Die Situation in Ghana

In dem westafrikanischen Staat Ghana besteht eine vielfach höhere Sterblichkeitsrate bei Kindern als bei uns in Deutschland. Vor allem Kinder unter fünf Jahren führen die traurigen Statistiken an, weil eine entsprechende Versorgung fehlt oder die Eltern keine finanziellen Ressourcen besitzen. Eine gesetzliche Absicherung durch eine Krankenversicherung existiert nicht. Bei Bürgern, die die monatlichen Beiträge nicht aufbringen, werden Behandlungen nur gegen Bargeld ausgeführt. Darunter leiden vor allem die Jüngsten, die bei Krankheiten wie z. B. Malaria oft keine Überlebenschancen besitzen, obwohl dies mit entsprechenden Behandlungsmethoden leicht vermeidbar wäre.

Der Auslöser

Diese Situation beobachtete Dr. Samuel Okae im Jahr 2005 während seines Medizinstudiums an der Charité in Berlin, als er für ein Malariaprojekt in sein Heimatland zurückkehrte. Mit den extremen Unterschieden der europäischen und ghanaischen medizinischen Versorgung vor Augen wuchs das dringende Bedürfnis, diesen Diskrepanzen entgegenzuwirken. Nach langen Überlegungen, wie in dem sehr armen Land ohne jegliche Unterstützung seitens des Staates Abhilfe möglich sei, reifte eine Idee in ihm. Aus den Gedanken wuchs die Vision eines Krankenhauses, in dem Kinder unter fünf Jahren kostenfrei behandelt werden, wenn die Eltern finanziell nicht in der Lage sind, die Behandlung zu bezahlen.

Die Idee

Nach der Fertigstellung und Inbetriebnahme soll das Krankenhaus überwiegend autark funktionieren. Die kostenfreie Behandlung der Kinder unter fünf Jahren wird durch eine Querfinanzierung ausgeglichen. Finanzstärkere Ghanaer fliegen momentan aufgrund fehlender Alternativen für medizinische Behandlungen ins Ausland. Zukünftig wird diesen Patienten durch ein Krankenhaus mit europäischem Standard die bequemere inländische Möglichkeit geboten. Somit kann parallel durch die Einnahmen eine Behandlung von Kindern, deren Eltern die Behandlung nicht bezahlen können, erfolgen. Dieses Prinzip der Solidaritätsmedizin ist der Leitfaden bei der Umsetzung der gesamten Vision.

Der Weg

Dr. Okae

Nach Beendigung des Studiums erfolgte 2008 die erste Anstellung im St. Josef-Hospital in Dortmund. Um für die spätere Rückkehr nach Ghana eine breitere Wissensbasis aufzubauen, erfolgte nach einiger Zeit der Wechsel zum Klinikum Dortmund, wo er als Facharzt für Unfallchirurgie und Orthopädie arbeitete. Aus diesem Grund geschah auch 2020 die berufliche Veränderung als Oberarzt zur Paracelsusklinik in Hemer. In der Zwischenzeit gründete er eine Familie und ist Vater von fünf Kindern.

Das Krankenhaus

Mit eigenen Mitteln kaufte Dr. Okae 2011 in der Nähe von der Hauptstadt Accra ein Grundstück, auf dem die Klinik entstehen sollte. Ein befreundeter Ingenieur übernahm die Planung und organisatorische Arbeiten (Baugenehmigungen etc.).

Mit der Einsicht, dass ein komplettes Krankenhaus nicht allein finanziert werden kann, begann der deutsche Anteil an der Mission. Seit diesem Zeitpunkt werden hier bei uns mithilfe von Öffentlichkeitsarbeit Sach- und Geldspenden gesammelt.

Der Verein

Aus dieser Notwendigkeit heraus gründete Dr. Okae im Jahr 2016 den gemeinnützigen Verein „Hilfe für Krankenhausbau und Nothilfe in Ghana e.V.“

Elektrisiert von der Idee der Solidaritätsmedizin fanden sich schnell Mitglieder und Helfer. Durch die Öffentlichkeitsarbeit in den Print- und E-Medien sowie Rundfunk wurde das Interesse bei den Menschen geweckt und Geldspenden generiert. Die Bekanntheit wurde auch intensiviert durch Aktivitäten bei Veranstaltungen, so dass mit der Zeit immer mehr Sachspenden von Krankenhäusern, Praxen, Apotheken und Firmen zur Verfügung gestellt wurden. Um diese abzubauen, zu transportieren und nach Ghana zu verschiffen wird die Hilfe der Vereinsmitglieder dankbar angenommen.

Aktuelle Situation

Dr. Okae

Weiterhin unermüdlich verfolgt er das Projektziel und nimmt in der Freizeit verfügbare Nachtschichten sowie Bereitschaften als Notarzt an. Gemeinsame Urlaube mit der Familie finden nicht statt, die kostbare Zeit wird genutzt, um zweimal im Jahr die Baustelle zu besuchen. Bei diesen Aufenthalten werden die Bautätigkeiten begutachtet, die weiteren Schritte besprochen und eingeleitet, aber auch sehr viel tatkräftige Eigenleistung in den Bau gesteckt.

Abb. 1: Helfer vor einem Container mit Spenden

Der Krankenhausstandort

Der Standort befindet sich in Wachild Estate Sapeiman, Accra. Sapeiman ist ein Wohnvorort in der Greater Accra Region. Mit der verlockenden Aussicht auf ein großes Krankenhaus mit viel Publikumsfrequenz siedelten sich in den letzten Jahren viele Unternehmen und Bürger rundherum auf den ehemaligen Freiflächen an. Es entstanden Ladenlokale für Lebensmittelmärkte, Bekleidungsgeschäfte und vieles mehr. Direkt an der Grundstücksgrenze errichtete die Gemeinde eine Polizeidienststelle, so dass die Baustelle und die gelagerten Sachspenden unter ständiger Beobachtung stehen.

Das Krankenhausgebäude

Im Februar 2019 erfolgte der Eintrag in das Handelsregister. Nun hat das Krankenhaus den Namen: „Promedis Specialist Hospital“.

Die Planung des Gebäudes wurde von der Ersterstellung im Jahre 2010 bis zum heutigen Tag ständig angepasst. Das Krankenhaus umfasst nun circa 130 Betten für folgende Abteilungen:

  • Kinderheilkunde
  • Geburtshilfe und Frauenheilkunde
  • Innere Abteilung
  • Orthopädie
  • Unfallchirurgie

Die Nutzfläche je Etage beträgt im Hauptgebäude 1.250 qm und im erweiterten Erdgeschoss 800 qm, so dass das gesamte Gebäude bei der Inbetriebnahme über eine Fläche von 4.550 qm verfügt.

Fortschritte auf der Baustelle

Mittlerweile ist das Hauptgebäude zu 80 Prozent fertiggestellt und mit der Erweiterung des Erdgeschosses wurde Ende letzten Jahres begonnen. Eine Biogas-Anlage zur Verarbeitung der anfallenden Fäkalien wurde gebaut, das erzeugte Gas wird für die Bewirtschaftung der Küche verwendet. Familienmitglieder von Dr. Okae überwachen und organisieren gemeinsam mit einem zuverlässigen Vorarbeiter die Arbeiten vor Ort, ordern Baumaterialien und berichten regelmäßig in Form von Bildern und Videos.

Situation in Deutschland

Durch die große Spendenbereitschaft an Sachspenden musste in der Nähe von Dortmund ein Standort für die Überseecontainer gefunden werden, wo sie bis zur vollständigen Befüllung und abschließenden Abholung sicher gelagert sind. So warten auch ein Notstromaggregat sowie eine Spende eines Krankenhauses aus Schwerte, immer wieder neue Fliesen (bisher ca. 100t) und viele weitere wertvolle Sachspenden auf die sechs Wochen dauernde Verschiffung nach Ghana. Zurzeit stehen vier Container auf dem Gelände, deren Volumen bis zum Ende des Jahres aufgefüllt ist. Die nächste Abholung nach Rotterdam erfolgt im August, damit die Materialien beim Arbeitseinsatz im November auf der Baustelle vorhanden sind. Bedingt durch die weltweiten Entwicklungen stiegen die Frachtkosten pro Container leider auf 15.000 Euro, was einen gestiegenen finanziellen Aufwand erfordert.

Abb. 2: Drohnenfoto des Krankenhauses „Promedis Specialist Hospital

Abb.3: Bettensaal imPromedis Specialist Hospital

Planungen

Mithilfe der Medien fanden sich humanitäre Helfer, die auf eigene Kosten nach Ghana fliegen und dort ihr Know-how ergänzend zu den einheimischen Arbeitern auf der Baustelle einsetzten. Vor allem Handwerker:innen, wie z. B. Fliesenleger:innen, Maler:innen und Dachdecker:innen, halfen bereits tatkräftig mit. Der dritte Einsatz dieser wertvollen Unterstützung vor Ort ist für November 2022 terminiert.

Vermittelt durch Vereinsmitglieder sagten „Ärzte ohne Grenzen“ bereits jetzt ihre Unterstützung nach der Inbetriebnahme in der Eröffnungsphase zu, dasselbe trifft auch auf „Surgical Mission“ zu.

Abb. 4: Notstromaggregat

Weitere Hilfe

Die Pandemie, die Flutkatastrophe letztes Jahr und der Krieg in der Ukraine haben weitreichende Konsequenzen, aber leider auch monetäre Auswirkungen für humanitäre Projekte nach sich gezogen. Ergänzend zu den umfangreichen Sachspenden benötigt das Krankenhaus noch wichtige medizinische Geräte.

BENÖTIGTE SACHSPENDEN

Es fehlen:

  • 3 mobile OP-Tische
  • Leichte OP-Lampen
  • Ruhe- und Langzeit-EKGs
  • 5 CTGs
  • 4 Baby-Wärmestrahler
  • 2 Waschmaschinen und
  • 2 Trockner, Füllmengen für den Krankenhausbetrieb geeignet
  • Mehrere medizinische Kühlschränke
  • Geldspenden für Laborgeräte, diese müssen aufgrund der turnusmäßigen Servicenotwendigkeit vor Ort gekauft werden
  • 1 Bettenaufzug, dringend benötigt, da er Voraussetzung für die Eröffnung ist
  • 1 Photovoltaik-Anlage

Durch das instabile Stromnetz in Ghana muss für laufende Operationen, Nachversorgung, medizinische Überwachung und die Notbeleuchtung eine unabhängige Stromversorgung vorhanden sein, die bei Bedarf sofort einspringt. Hierfür vorgesehen ist das Notstromaggregat. Idealerweise könnten die klimatischen Bedingungen ökologisch wertvoller und nachhaltiger genutzt werden. Bisherige Gespräche für Fördermittel blieben leider ohne Ergebnis.

Seit der Idee und dem Baubeginn ist schon viel geschehen und erreicht. Trotz aller Schwierigkeiten der letzten Monate läuft das Projekt zwar langsamer als gedacht, aber stetig voran. Damit die Inbetriebnahme schnellstmöglich erfolgen kann, bitten wir um Ihre Unterstützung und Spenden.

SPENDENAUFRUF

Für den Krankenhausbau und die Nothilfe in Ghana

Bei Sachspenden wenden Sie sich bitte an:
Frau Peggy Griewel
Telefon: +49 176 625 11 434
pgriewel@gmail.com

Das Spendenkonto für Banküberweisungen:
Hilfe für Krankenhausbau in Ghana e.V.
IBAN: DE41440400370322221300
BIC: COBADEFFXXX
Commerzbank

Falls Ihr Interesse geweckt wurde, entnehmen Sie weitere Informationen der Internetseite: www.krankenhaus-ghana.com

Dr. med. Samuel Okae

Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, spezielle orthopädische Chirurgie

Endo-Prothetik-Zentrum

Paracelsus-Klinik Hemer

Breddestr. 22

58675 Hemer

Panorama

Okae S: Das Projekt „Krankenhaus Ghana“ – eine Vision aus der Not geboren. Passion Chirurgie. 2022 September; 12(09): Artikel 09_01.

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Neue Mindestmengen des G-BA zur chirurgischen Behandlung von Brustkrebs und Lungenkrebs

GESUNDHEITSPOLITIK
Neue Mindestmengen des G-BA zur chirurgischen Behandlung von Brustkrebs und Lungenkrebs

Am 16. Dezember 2021 hat der Gemeinsame Bundeausschuss (G-BA) zwei neue Mindestmengen festgelegt: Für die Chirurgische Behandlung des Brustkrebses [1] muss ein Krankenhausstandort fortan 100 Leistungen pro Jahr erbringen, um die gelisteten Operationen auch künftig anbieten zu dürfen, 75 Leistungen pro Jahr sind für die thoraxchirurgische Behandlung des Lungenkrebses bei Erwachsenen [2] festgelegt. Die neuen Mindestmengen gelten ab 2024, im ersten Jahr der Geltung übergangsweise noch mit einer niedrigeren Höhe (Brustchirurgie 50/Standort und Thoraxchirurgie 40/Standort) und in voller Höhe ab Beginn des Jahres 2025. Krankenhäuser, welche die betreffenden Leistungen ab 2024 weiterhin erbringen möchte, müssen jedoch bereits 2022 die Höhe der jeweils festgesetzten Mindestmenge anstreben. Durch die gesetzlichen Vorgaben des Prognose-Verfahrens entfaltet eine Mindestmengenfestlegung ihre Wirkung immer zwei Jahre vor dem Jahr ihrer in Bezug auf die Berechtigung zur Leistungserbringung festgelegten Gültigkeit. Der vorliegende Artikel weist auf diesen Umstand hin, legt Hintergründe des Prognoseverfahrens dar und ordnet die neuen Mindestmengen in das Konzept der Mindestmengenregelungen (Mm-R) ein.

Neue Mindestmengen müssen sofort ab Inkrafttreten angestrebt werden

Beide Beschlüsse sind zum 1. Januar 2022 in Kraft getreten und wurden mit einer 24-monatigen Übergangsfrist ausgestattet: die neuen Mindestmengen (MM) gelten ab dem Jahr 2024 – und auch dann für ein weiteres Jahr zunächst noch in geringerer Höhe. Die Geltung einer Mindestmenge bezieht sich jedoch auf den Zeitabschnitt der angestrebten Leistungsberechtigung. Da sich die prospektive Leistungsberechtigung auf eine Prognose gründet, welche im Vorfeld auf Basis von tatsächlich erbrachten Leistungsmengen aus einem noch früheren Zeitraum ergibt, wirkt sich die (auf die Leistungsberechtigung bezogene) Geltung bereits zwei Jahre zuvor auf die für die Prognose benötigten Fallzahlen aus [3]: Dies bedeutet, dass Standorte, welche eine Berechtigung zur Leistungserbringung im Jahr 2024 anstreben, die für die Prognose erforderlichen Leistungsmengen bereits im Jahr 2022 erbringen müssen. Für Brustchirurgie sollten im Kalenderjahr 2022 also bereits mindestens 50 zählbare Eingriffe durchgeführt werden (50 = geltende MM in 2024) und in 2023 mindestens 100 (geltenden MM in 2025), wenn sich für das jeweils übernächste Jahr aufgrund der erreichten Leistungsmenge eine positive Prognose ergeben soll. Für die Thoraxchirurgie sollten entsprechend in 2022 mindestens 40 und in 2023 mindestens 75 zählbare Eingriffe erbracht werden.

Warum ist das so? § 5 der Mm-R beschreibt das Verfahren, das sich am gesetzlichen Regelfall orientiert: der Träger eines Krankenhauses gibt für einen Standort im Jahr (X) gegenüber den Kassen eine Prognose darüber ab, ob der Standort im folgenden Kalenderjahr (X+1) die Mindestmenge erreichen wird. Die Prognose stützt sich dabei auf die erbrachte Leistungsmenge des vorausgegangenen Kalenderjahres (X-1). Der Prozess der regulären Prognose erstreckt sich über einen Zeitraum von drei Kalenderjahren (Abb. 1).

Abb. 1: Die relevanten Kalenderjahre der Mindestmengenregelung. Die Begriffe und das vom Gesetzgeber vorgesehene Prognoseverfahren (KHSG) wurden durch den G-BA mit dem Änderungsbeschluss vom 17.11.2017 in die Mm-R eingeführt. Mit freundlicher Genehmigung, © H. Schuster, Berlin, alle Rechte vorbehalten.

Eine berechtigte mengenmäßige Erwartung liegt in der Regel vor, wenn das Krankenhaus im vorausgegangenen Kalenderjahr (Kalenderjahr X-1) die maßgebliche Mindestmenge erreicht hat. Maßgeblich für die Leistungserbringung im Kalenderjahr X-1 ist die Mindestmenge, die in jenem Kalenderjahr (X+1) gilt, für welches die Leistungsberechtigung erworben werden soll (Abb. 2).

Abb. 2: Prognose-Darlegung auf Basis des Regelbeispiels gemäß § 136b Abs. 5 Satz 4 SGB V seit dem Beschluss über Änderungen der Mm-R vom 17.11.2017 (BAnz AT 28.12.2017 B5). Im vorausgegangenen Kalenderjahr muss eine Leistungszahl nach dem Maßstab der im nächsten Kalenderjahr geltenden Mindestmenge erreicht worden sein. Mit freundlicher Genehmigung,
© H. Schuster, Berlin, alle Rechte vorbehalten.

Die in 2022 erbrachten Operationen werden gemäß dieser Regelung bei der Prognose im Jahr 2023 für eine Leistungsberechtigung im Jahr 2024 herangezogen (Abb. 3).

Abb. 3: Darlegung der Prognose (P) im Kalenderjahr 2023 für das Kalenderjahr 2024 unter Berücksichtigung der erbrachten Leistungsmengen (Zahl A, Zahl B). Will ein Leistungserbringer eine positive Prognose für das Kalenderjahr 2024 mit einer im Kalenderjahr 2022 erreichten Leistungsmenge darlegen (Zahl A), muss er im Kalenderjahr 2022 mengenmäßig ein Leistungsniveau nach Maßgabe der in 2024 geltende Mindestmenge erreicht haben. Eine 24-monatige Übergangszeit stellt sicher, dass die Auswirkung der Festlegung einer ab 2024 geltenden neuen Mindestmenge nur den Erfassungszeitraum ab Inkrafttreten (1.1.2022) erfasst. Mit freundlicher Genehmigung, © H. Schuster, Berlin, alle Rechte vorbehalten.

Krankenhäuser, die sich ab dem Jahr 2024 und darüber hinaus weiterhin an der Leistungserbringung von Operationen der beiden neuen Mindestmengen Brustkrebs-Chirurgie bzw. Thoraxchirurgie bei Lungenkrebs beteiligen wollen, sollten also bereits im Jahr 2022 die für die Prognose benötigten Fallzahlen der neuen Mindestmengen, wie oben dargestellt, erreichen.

Darlegung der Prognose

§ 5 der Mm-R regelt, wie die Prognose darzulegen ist.

Neben den zuvor genannten Leistungszahlen können im Rahmen einer Prognose-Darlegung auch weitere Kriterien berücksichtigt werden. Wurde die festgelegte Höhe der Mindestmenge noch nicht erreicht, können sich in der Gesamtschau der dargelegten Informationen trotzdem eine positive Prognose und mithin eine Berechtigung zur weiteren Leistungserbringung ergeben. So kann der Krankenhausträger beispielsweise mittels Nachweis von Umbaumaßnahmen oder für die konkrete Leistung wesentlichen Personalveränderungen darlegen, dass die Prognose voraussichtlich trotzdem gut ist, obwohl die festgelegte Leistungsmenge im vorausgegangenen Kalenderjahr nicht erreicht wurde. Im Unterschied zu den Fallzahlen, die bei Darlegung der Prognose immer historisch sind, zielen weitere Begründungen bzw. Kriterien in die Zukunft, um zu belegen, dass im folgenden Kalenderjahr die Mindestmenge voraussichtlich erreicht werden wird.

Es gibt also mehrere Möglichkeiten, eine Leistungsberechtigung für das folgende Kalenderjahr (erstmalig für 2024) auf Basis der Mm-R zu erlangen: Im einfachsten Fall wurde die maßgebliche Leistungsmenge im vorausgegangenen Kalenderjahr (erstmals 2022) erreicht oder überschritten. Dies entspräche dem vom Gesetzgeber definierten Regelfall, in dem nach § 136b Absatz 5 Satz 4 SGB V auch für das folgende Kalenderjahr von einer „berechtigten mengenmäßigen Erwartung“, also von einer guten Prognose ausgegangen wird. Zahl A (Abb. 3) kann in diesem Fall für sich alleine stehen, sofern keine Sachverhalte vorliegen, die das Erreichen der Mindestmenge im Folgejahr offensichtlich in Frage stellen.

Wurde die Mindestmenge im vorausgegangenen Kalenderjahr (Zahl A) noch nicht erreicht, jedoch mit Zahl B (um zwei Quartale versetzter, 12-monatiger Erfassungszeitraum; Abb. 3), so ist zusätzlich mit weiteren Kriterien (zum Beispiel Struktur, Personal o.a.) darzulegen, warum die Prognose voraussichtlich gut sei. Zahl B allein hat nicht die gleiche „Kompetenz“, eine gute Prognose zu begründen wie Zahl A; das hat der G-BA mit seinem Beschluss vom 17. Juni 2022 [4] klargestellt.

Erstmalige Erbringung von Leistungen aus den neuen Mindestmengen

Das bisher dargestellte Prognose-Verfahren nach § 5 Mm-R betrifft – in Anlehnung an das Regelverfahren – Krankenhausstandorte, an denen die betreffenden Leistungen bereits vor Einführung der zwei neuen Mindestmengen erbracht wurden.

Für Krankenhausstandorte, die ab dem 1. Januar 2022 erstmalig Leistungen aus Nummer 9 bzw. Nummer 10 der Anlage der Mm-R erbringen, findet die Übergangsregelung (2022 und 2023: keine Mindestmenge; gestaffelte Höhen der Mindestmengen ab 2024) auf die Bestimmungen in § 6 Mm-R entsprechende Anwendung. Die Vorgaben des § 6 Absatz 2 bis 5 Mm-R müssen erfüllt sein. Der Krankenhausträger hat vorab den Beginn der Leistungserbringung den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen gemäß § 6 Absatz 2 Mm-R mitzuteilen. Dies gilt auch in den Jahren 2022 und 2023, in denen keine Mindestmenge festgelegt ist. Da eine Leistungsaufnahme von den Krankenhäusern unterjährig zu jedem beliebigen Zeitpunkt erfolgen könnte, unterscheidet sich das Verfahren für „Einsteiger“ (§ 6 Mm-R) wesentlich von dem regulären, an den Kalenderjahresrhythmus gebundenen Prognose-Verfahren (§ 5 Mm-R). Die Bestimmungen den § 6 sind sowohl in den Tragenden Gründen (TrGr) zum Änderungsbeschluss vom 16. Dezember 2021 [5] als auch in den jeweiligen Tragenden Gründen zu den konkreten Mindestmengen (Brustkrebs-Chirurgie: in den TrGr ab Seite 36 [6] und Thoraxchirurgie: in den TrGr ab Seite 43 [7]) ausführlich erklärt.

Zur Einordnung der neuen Mindestmengen Mamma-Chirurgie und Thoraxchirurgie

Die bisher vom G-BA festgelegten Mindestmengen bewegten sich im niedrigen zweistelligen Bereich. So wurden 2020 die bestehenden Mindestmengen für Lebertransplantationen (20/Jahr/Standort), für Nierentransplantationen (25/Jahr/Standort), Komplexe Eingriffe am Ösophagus (26/Jahr/Standort) und für die Versorgung von Frühgeborenen mit einem Aufnahmegewicht von unter 1.250 Gramm (25/Jahr/Standort) überarbeitet. 2021 wurde auch die Mindestmenge für Komplexe Eingriffe am Pankreas von zehn auf 20/Jahr/Standort angehoben.

In absoluten Zahlen heben sich die beiden neuen Mindestmengen von 100 Operationen/Jahr/Standort für die Mamma-Chirurgie bei Brustkrebs und von 75 Operationen/Jahr/Standort für die Thoraxchirurgie bei Lungenkrebs davon scheinbar deutlich ab. In der Relation zu Gesamtzahl der jeweiligen Eingriffe ist der G-BA jedoch konservativ geblieben und hat erneut die Höhe jeweils im unteren Bereich der geeigneten Schwellenwerte, die sich aus der Literatur ergeben haben, festgelegt. Neben der Relation zur Gesamtzahl der Eingriffe weisen auch andere, in die Beratungen einbezogene Kriterien auf eine moderate Festlegung hin.

In Deutschland wurden im Jahr 2019 von den unter Nummer 9 der Anlage genannten chirurgischen Behandlungen des Brustkrebses insgesamt 155.578 OPS-Kodes bzw. 92.391 Operationen bzw. 90.920 Behandlungsfälle an 732 Krankenhausstandorten durchgeführt. Im Durchschnitt wurden 126 Brustkrebs-Operationen pro Krankenhausstandort durchgeführt. Es gibt allerdings etwa 180 Krankenhausstandorte, die Leistungsmengen von unter zehn Brustkrebs-Operationen in 2019 durchführten, eine große Anzahl davon führten sogar nur ein bis zwei Operationen durch. Die Datenlage ergibt sich aus einer vom G-BA beauftragten Datenanalyse zur Folgenabschätzung des Instituts für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) für den hier gegenständlichen Leistungsbereich (als Anlage der TrGr einsehbar [6]).

Im Bereich der thoraxchirurgischen Behandlungen des Lungenkarzinoms wurden 2019 insgesamt 14.184 OPS-Kodes, 13.765 operative Eingriffe und 13.628 Behandlungsfälle an 328 Krankenhausstandorten verschlüsselt bzw. durchgeführt. Im Durchschnitt wurden 42 Lungenkrebs-Operationen pro Krankenhausstandort durchgeführt; der Median liegt bei 20 (Datenanalyse des IQTIG in den Anlagen der TrGr [7]).

Im selben Jahr 2019 wurden in Deutschland hingegen insgesamt 2.132 Nierentransplantationen durchgeführt, darunter 1.612 nach einer postmortalen Organspende und 520 nach Lebendspenden [8]. Einer Mindestmenge von 25/Standort für Nierentransplantationen stehen im Bereich Brustkrebs-Chirurgie eine Mindestmenge von 100/Standort gegenüber – und einem ca. 43-fachen Leistungsvolumen von 92.391 Operationen. Ähnlich ist die Relation zu den anderen Mindestmengenleistungen. Zum Beispiel wurden 2018 insgesamt 3.697 komplexe Eingriffen am Organsystem Ösophagus wurden erbracht. Im Durchschnitt wurden etwa 11 Fälle pro Krankenhausstandort behandelt (der Median lag bei 7) (Bericht des IQTIG am 15. Dezember 2020 zur Analyse aus dem Datenerhebungsjahr 2018; Anlage der TrGr [9]).

Der Vergleich der absoluten Leistungszahlen gibt nur einen begrenzten Eindruck. Der G-BA berücksichtigt bei seinen Festlegungen auch, dass das Leistungsgeschehen bzw. die Versorgungsstrukturen bei jeder einzelnen Leistung unterschiedlich ausgebildet sind. So sind Leistungen mit niedrigerem Gesamtvolumen auch auf eine geringere Zahl von Standorten verteilt. Gemäß BSG-Rechtsprechung (z. B.: Urteil vom 18.12.2012 B 1 KR 34/12 R: RN 37) unterscheidet der der G-BA in seiner Feststellung zur Eignung einer Leistung für eine Mindestmenge zwischen „absoluter“ und „relativer“ Seltenheit. „Relative Seltenheit“ liegt auch bei (absolut) häufigen Eingriffen wie der Brustkrebs-Chirurgie vor, wenn die Leistungen an sehr vielen Standorten angeboten werden, von denen eine hohe Zahl der Standorte im Bereich der Gelegenheitsversorgung aktiv ist.

Die Festlegung der Höhe der Mindestmenge leitet der G-BA im Wesentlichen auf Basis zweier Informationsquellen ab: zum einen von Hinweisen aus der Literatur auf geeignete Schwellenwerte und zum anderen von einer Abschätzung der Folgen dieser Festlegung. Zur Identifizierung solcher Hinweise auf geeignete Schwellenwerte in der Fachliteratur beauftragt der G-BA regelhaft das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG). Mit dem Rapid Report des IQWIG V18-05 vom 13.01.2020 (Anlage zu den TrGr [6]) wurden auf Basis der Literatur verschiedene gleichermaßen geeignete Schwellen bis zu einer Höhe von150[10], 265[11] bzw. von 299[12] für die Brust-Chirurgie bei Mamma-CA identifiziert. Für die thoraxchirurgische Behandlung bei Lungenkrebs konnten auf Basis der Literatur (Rapid Report des IQWIG V18-03 vom 8.10.2019, einsehbar als Anlage zu den TrGr [7]) geeignete Schwellen bis zu Höhen von 150[13], 272[14] oder 287[15] Operationen identifiziert werden, bei denen der G-BA die Höhe der Mindestmenge ebenfalls hätte festlegen können.

Den Hinweisen aus der Literatur stellt der G-BA regelhaft eine Folgenabschätzung gegenüber, deren zentraler Bestandteil – neben anderen Informationen – eine Datenanalyse des IQTIG ist. Bei jeder beratenen Mindestmenge wird jeweils mit der Datenanalyse eine Umverteilung von Patienten simuliert. Mehrere hypothetische Höhen von potentiellen Mindestmengen werden modellhaft simuliert. Standorte deren reale Fallzahlen eine in der Simulation getestete Mindestmenge nicht erreicht hätten, werden im Modell „geschlossen“ und deren Patienten PLZ-basiert an das nächstgelegene Krankenhaus umverteilt, dass diese Leistungen ebenfalls erbrachte und mit seiner Fallzahl die getestete Mindestmengenhöhe noch erreicht hätte. Unter Berücksichtigung der methodischen Grobkörnigkeit des Modells lässt sich zumindest ein ungefährer Eindruck erhalten, welche potentiellen Folgen bei einer bestimmten Mindestmenge eintreten könnten, denn zumindest die Gesamtzahl der mit dieser Leistung bundesweit versorgten Patienten und die tatsächliche Fallzahl der Standorte, die im Modell ausgeschlossen wurden, basieren auf tatsächlichen Daten und nicht auf Annahmen. Im Ergebnis lassen sich anhand unterschiedlicher getesteter Höhen einer Mindestmenge unterschiedlich starke Folgen für die Versorgung mittels Kartendarstellungen visualisieren.

Bei der Mindestmenge Nieren-TX konnte das IQTIG 2020 in der Datenanalyse feststellen, dass im Jahr 2018 insgesamt 39 Kliniken Leistungen aus diesem Bereich erbrachten; in der Simulation der letztendlich festgelegten Höhe der Mindestmenge von 25 wären im Modell vier Standorte aus der Leistungserbringung ausgeschieden. 35 Standorte stünden – gemäß der modellhaften Abschätzung – weiterhin für die Leistungserbringung zur Verfügung.

Im Vergleich dazu wurden bei der deutlich häufigeren und weiter verteilten Leistungserbringung der Mamma-Chirurgie bei Brustkrebs im Jahr 2019 insgesamt 732 Standorte identifiziert, die Leistungen aus diesem Bereich erbrachten. Bei der letztendlich festgelegten Höhe der Mindestmenge von 100 wären im Modell 377 Standorte aus der Leistungsberechtigung ausgeschieden; demnach stünden – gemäß der modellhaften Abschätzung – weiterhin 355 Standorte für die Leistungserbringung zur Verfügung (Datenanalyse des IQTIG als Anlage zu den TrGr [6] einsehbar). Gestützt auf die Einschätzung von Fachexperten hat der G-BA das verbleibende dichte Netz der Versorgung für Brustkrebspatientinnen in dem Sinne als ausreichend und qualitativ hochwertig eingeschätzt, als aus den resultierenden Wegstreckenverlängerungen keine relevanten Transport- oder andere gesundheitliche Risiken erwachsen, die den Zugewinn an Behandlungssicherheit durch die Mindestmenge wieder aufwiegen würden.

Analog verhält es sich mit der Mindestmenge Thoraxchirurgie bei Lungenkrebs: im Jahr 2019 haben 328 Standorte Leistungen aus dem betreffenden Bereich erbracht. Bei der letztendlich festgelegten Höhe der Mindestmenge von 75 hatte das Modell den Ausschluss von 237 Standorten vorhergesagt. Gemäß der modellhaften Abschätzung stünden weiterhin 91 Standorte für die Leistungserbringung zur Verfügung (Datenanalyse des IQTIG als Anlage zu den TrGr [7] einsehbar).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass – gemessen am bundesweiten Leistungsvolumen und an der Zahl der (gemäß modellhafter Abschätzungen) voraussichtlich verbleibenden Standorte – der G-BA auch mit den beiden hier besprochenen, neuen Mindestmengen Festlegungen getroffen hat, die sich in ihrer Verhältnismäßigkeit in die Reihe der bisherigen Mindestmengenfestlegungen einordnen. Eine qualitativ hochwertige Versorgung bleibt bundesweit für beide Leistungen sichergestellt. Durch den aus der Literatur abgeleiteten günstigen Einfluss der Leistungskonzentrierung auf relevante Endpunkte wie zum Beispiel die Letalität wird sich die Patientensicherheit voraussichtlich erhöhen. Die Auswirkungen der beiden neuen Mindestmengen wird der G-BA gemäß § 136 b Absatz 3 Satz 4 SGB V – wie bei allen anderen MM-Beschlüssen auch – durch Begleitevaluationen überprüfen.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via passion_chirurgie@bdc.de.

Dr. med. Horst Schuster

Abteilung Medizin/Referat Qualitätssicherung

GKV-Spitzenverband

Reinhardtstraße 28

10117 Berlin

horst.schuster@gkv-spitzenverband.de

Gesundheitspolitik

Schuster H: Neue Mindestmengen des G-BA zur chirurgischen Behandlung von Brustkrebs und Lungenkrebs. Passion Chirurgie. 2022 September; 12(09): Artikel 05_02.

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Nachwuchs: Heute PJ – Morgen Chirurgie?!

CHIRURGIE+
Heute PJ – Morgen Chirurgie?!

Der Nachwuchsmangel in der Chirurgie ist präsent wie nie zuvor. In vielen Kliniken – besonders in ländlichen Gebieten – fehlt es an qualifizierten Ärztinnen und Ärzten, die eine chirurgische Ausbildung anstreben. Trotz zunehmender Anzahl Absolvent:innen des Medizinstudiums entscheiden sich viele gegen eine chirurgische Ausbildung, insbesondere während der letzten Studienjahre. Während sich bei Beginn des Medizinstudiums ca. 30 % vorstellen könnten, Chirurg:in zu werden, ist dies nur bei ca. 18 % der PJ-Studierenden der Fall. Als Gründe für das geringe Interesse werden im Berufsmonitoring der KBV (2018), in dem über 12.000 Medizinstudierende befragt wurden, die Arbeitsbedingungen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und stärkere Hierarchien beschrieben [1]. Darüber hinaus werden insbesondere Erfahrungen Medizinstudierender im Praktischen Jahr eine wichtige Rolle zugeschrieben. Auch der Präsident des Berufsverbands der Deutschen Chirurgie (BDC) Prof Dr. med Dr. h.c. Hans-Joachim Meyer betont: „Wir müssen bei den aktuellen Forderungen der Studierenden, das Praktische Jahr zu verbessern, ganz klar Stellung beziehen und unseren Teil beitragen, 2025 werden wahrscheinlich 10.000 Chirurginnen und Chirurgen fehlen. Wir können es uns einfach nicht leisten, Studierende im PJ zu verprellen.“ [2]

PJ Ausschlaggebend für Berufswahl

Tatsächlich zeigen sich oftmals im Praktischen Jahr – insbesondere in chirurgischen Fächern – große Schwächen. PJ-Studierende werden teils ohne Struktur und Zusammenhang eingesetzt und erledigen hierbei Einzeltätigkeiten verschiedener Patient:innen oder Stationen, deren Lernertrag im Vergleich zu einer eigenverantwortlichen ganzheitlichen Betreuung eines Patienten von Aufnahme bis Entlassung allenfalls gering erscheint. Beispielhaft hierfür dienen große Evaluationen des Uniklinikums Münster [3] sowie der Charité in Berlin [4], in denen PJ-Studierende insbesondere die eigenverantwortliche Patientenbetreuung, das Vorstellen dieser eigenen Patientenfälle in Visiten/Konferenzen, sowie das Besprechen der durchgeführten Tätigkeiten schlecht bis (unter)-durchschnittlich bewerteten. Während in Münster zumindest die Lehrveranstaltungen ein gutes Feedback erhielten, gaben in Berlin die Studierenden zumeist einen Ausfall dieser sowie auch ansonsten kaum aktiver Lehre im Stationsalltag an.

Ein Umdenken und Verbesserungen im PJ können dazu beitragen, dem Nachwuchsmangel in der Chirurgie etwas entgegenzusetzen. Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd) kommentiert die Nachwuchssituation in der Chirurgie im Berufsmonitoring wie folgt: „Der sich fortsetzende Negativtrend der Chirurgie verdeutlicht die Notwendigkeit eines Umdenkens im chirurgisch-operativen stationären Sektor. Vor allem die Arbeits- und Lehrbedingungen scheinen ausschlaggebend zu sein und gehören geändert, um den Attraktivitätsverlust abzupuffern. Dieser unterstreicht die Bedeutung guter Lehre im letzten Studienabschnitt.”

Das starke Interesse der Studierendenschaft für gute Lern- und Arbeitsbedingungen im Praktischen Jahr wurde durch die Petition für ein faires PJ Anfang 2019 mit über 100.000 Unterschriften, begleitet von zahlreichen Demonstrationen in ganz Deutschland, verdeutlicht. Viel Unzufriedenheit resultiert aus dem Gefühl heraus, aufgrund unzureichender Lehrbedingungen das chirurgische Tertial als nicht lehrreich genug empfunden zu haben.

Chirurgische Fertigkeiten für das spätere Berufsleben relevant

Chirurgische Basisfertigkeiten sind integraler Bestandteil der ärztlichen Ausbildung und deshalb auch als Pflichtteil des Praktischen Jahres verankert. Zundel et al. zeigten in ihrer Studie, dass auch in anderen Fachdisziplinen praktizierende Ärztinnen und Ärzte im PJ erlangte chirurgische Fähigkeiten als bereichernd empfinden [5]. Auch unter diesem Aspekt erscheint eine fundierte chirurgische Ausbildung mit umfassender Vermittlung von Wissen und praktischen Fertigkeiten erstrebenswert.

Neben den oftmals aufgeführten Basisforderungen von Studierenden nach Aufwandsentschädigung oder eigenem Zugang zum Klinikinformationssystem, die unter anderem durch neue Gesetze beeinflusst werden, können aber auch lokale Veränderungen einen großen Effekt bewirken. Ein gutes Beispiel für solche Veränderungen in der Lehrqualität ist das Beobachten und Feedbacken von Tätigkeiten, auch unter dem Begriff „Anvertraubare professionelle Tätigkeiten”, kurz APT bekannt. Hierbei werden in kleinen Schritten immer mehr ärztliche Tätigkeiten, zunächst unter Beobachtung, im Verlauf eigenständig an Studierende übergeben. Beispielsweise kann die stationäre Aufnahme von Patient:innen erst von Studierenden umfassend beobachtet werden, dann unter Supervision ausgeführt und schließlich eigenständig – mit Nachkontrolle – ausgeführt werden. Je nach Einschätzung der Lehrenden kann der Grad der Supervision damit individuell auf die jeweiligen Studierenden und deren Lernkurve angepasst werden [6]. Regelmäßiges Feedback direkt im Anschluss an die Tätigkeit ermöglichen eine gemeinsame Vertrauensbasis und schrittweise Verbesserung. Ärztinnen und Ärzte können dadurch Aufgaben delegieren, die sicher ausgeführt werden können und die Motivation zum eigenständigen Arbeiten bei Studierenden ohne Angst vor Unsicherheit steigern. Eine Win-Win-Situation für Ärztinnen und Ärzte, Studierende und Patient:innen.

Gemeinsamer Leitfaden von BDC und bvmd

Um interessierten Kliniken bei der Verbesserung der chirurgischen Ausbildung im Praktischen Jahr eine einfache Unterstützung anbieten zu können, hat die bvmd gemeinsam mit dem BDC einen am klinischen Alltag orientierten Leitfaden „Chirurgischen Nachwuchs gewinnen und halten. Leitfaden für das Praktische Jahr“, ein daran angelehntes Stationsplakat sowie einige Musterdokumente („Ablaufplan im PJ“ und „PJ Evaluation“) entwickelt.

Der neue Leitfaden richtet sich an alle klinikseitig an der Ausbildung und Betreuung von PJ-Studierenden beteiligten Mitarbeiter:innen. Neben der chirurgischen Profession selbst sind ebenso die an der organisatorischen Durchführung beteiligten Bereiche der Verwaltung ein wichtiger Faktor.

Der Leitfaden bietet ein aus Praktiker:innensicht heraus angelegtes Kompendium von A bis Z/von der Phase vor PJ-Beginn bis hin zur strukturierten Nachbereitung und Auswertung.

Von der Strukturierung der Rotationen über sinnvolle Strategien für die Präsentation des eigenen Hauses auf PJ-Messen und im Internet bis hin zur gelungenen Durchführung von Einführungstagen und einer bestmöglichen Betreuung durch Mentor:innen bietet der Leitfaden schon für die Phase vor der Rotation umfassende Information.

Auch während des PJ-Tertials gibt es eine Vielzahl an möglichen Ansatzpunkten zur Verbesserung der chirurgischen Ausbildung. So werden neben Tipps und Vorschlägen zu „Klassikern” wie dem PJ-Unterricht auch neuere Ausbildungsformate in der Chirurgie wie die „Interprofessionellen Ausbildungsstationen” (IPSTA) in Theorie und Praxis vorgestellt.

Ein besonders nachhaltig-positiver Effekt in Relation zum Aufwand lässt sich häufig beim, auf den ersten Blick, trivialen Thema Feedback erreichen. Anhand der Unterscheidung zwischen „situativem” – Wie gebe ich in einer konkreten Situation bestmöglich Feedback – und „strukturiertem” Feedback – Wann und wo ist Feedback und Reflexion innerhalb einer Rotation besonders sinnvoll und effektiv – führt der Leitfaden kompakt und praxisnah durch die wichtigsten Aspekte eines effektiven Feedbacks in der chirurgischen PJ-Ausbildung. Dass ein Fokus auf dieses Thema neben der Zufriedenheit der PJ-Studierenden auch die Zufriedenheit im eigenen Hause mit den PJ-Studierenden steigen lässt, stellt dabei einen nicht zu unterschätzenden Zusatznutzen dar.

Um neben der Qualität der PJ-Ausbildung im eigenen Haus auch besonders die erreichten Verbesserungen messbar und damit für alle klar und nachvollziehbar sichtbar zu machen, beinhaltet der Leitfaden neben einem kompakten Überblick über die Thematik der internen und externen Evaluation eine Musterevaluation als Best-Practice-Beispiel vor. So können schnell und praxisnah kleine wie auch größere Verbesserungen in der eigenen Evaluationspraxis im klinischen Alltag am eigenen Haus umgesetzt werden.

Aktive Veränderungen durch Kliniken notwendig

Nachwuchsgewinnung ist in der Chirurgie heute wichtiger denn je! Kein Weg der Nachwuchsgewinnung ist so direkt, unmittelbar und effizient wie die Begeisterung von PJ-Studierenden im eigenen Fach und Haus – für das eigene Fach und Haus! Mit dem neuen Leitfaden „Chirurgischen Nachwuchs gewinnen und halten” von BDC und bvmd bietet sich für jedes ausbildende Haus eine neue und einfach umzusetzende Chance, die chirurgische Ausbildung zukünftiger Ärztinnen und Ärzte überall noch ein kleines Stückchen besser zu machen. Seien Sie dabei – bei einer besseren Ausbildung: Heute PJ – Morgen Chirurgie!

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via passion_chirurgie@bdc.de.

Weitere Informationen zur gemeinsamen Initiative der bvmd und des BDC „Chirurgischen Nachwuchs gewinnen und halten“ inkl. den Leitfaden für das Praktische Jahr, das daran angelehnte Stationsplakat und einige Musterdokumente („Ablaufplan im PJ“ und „PJ Evaluation“) zum Downloaden finden Sie unter: https://www.bdc.de/pj-leitfaden

Ihre Ansprechpartnerin beim BDC zum Thema „Nachwuchs und Karriere“:

Dr. phil. Natalia Kandinskaja
Nachwuchs & Karriere
Tel: 030/28004-123
E-Mail: kandinskaja@bdc.de

Joachim Pankert

Nikolas Psathakis

Jeremy Schmidt

Julika Steineck

Alphabetische Reihenfolge, alle Autor:innen haben gleichermaßen an diesem Manuskript mitgearbeitet. Alle Autor:innen sind bzw. waren Mitglied der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmed)

Chirurgie+

Pankert J, Psathakis N, Schmidt J, Steineck J: Heute PJ – Morgen Chirurgie?! Passion Chirurgie. 2022 September; 12(09): Artikel 04_02.

Diesen Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Aus-, Weiter- & Fortbildung | Medizinstudium.

Die Biomechanik als interdisziplinäre Aufgabe zwischen Unfallforschung und Unfallchirurgie

CHIRURGIE
Die Biomechanik als interdisziplinäre Aufgabe zwischen Unfallforschung und Unfallchirurgie

Biomechanik ist definiert als die Identifikation von Verletzungen, Verletzungsquellen und -ursachen. Experten werden hierfür speziell in unterschiedlichen Fakultäten ausgebildet und als „Experten für Biomechanik“ zertifiziert. Sie arbeiten dann in Beratergruppen mit Technikern, Chirurgen und anderen Disziplinen zusammen. Art, Lokalisation und Schwere der Verletzung sind Schlüsselinformationen dafür, den Verletzungsgrad und Verletzungsmechanismen sowie den Bewegungsverlauf zu verstehen, der als Kinematik bezeichnet wird. Die detaillierten Informationen über Verletzungen und bestehende Schmerzen in Verbindung mit den Schwereparametern des Unfalls erlauben es den Experten, die Wahrscheinlichkeit eines Unfallzusammenhangs zu beurteilen. Somit müssen in diesem Gebiet Herausforderungen zwischen Unfallforschung und Unfallchirurgie sowie anderen medizinischen Disziplinen gelöst werden.

Bedeutung der Biomechanik für Verkehrsunfallanalytik

Die Biomechanik ist das Feld zwischen technischem und medizinischem Wissen über Verletzungsmechanik und Verletzungsentstehung. Die Biomechanik erklärt, welche Art von Verletzung bei welchen Unfallereignissen und Belastungen auftreten und gibt Antworten auf die Erträglichkeit des menschlichen Körpers in unterschiedlichen Unfall- und Belastungsbedingungen.

Historisch betrachtet gehören biomechanische Analysen zum Fachgebiet des Rechtsmediziners, wie zum Beispiel die Frakturart am langen Röhrenknochen, der sogenannte „Messererbruch“ 1885 als Hinweis auf die Belastungsrichtung [1]. Erklärungen zu todesursächlichen Verletzungen erforderten schon früh Kenntnisse in Anatomie, Traumaentstehung und Verletzungsmechanik.

Erst in den 60iger-Jahren entwickelte sich in der Fahrzeugsicherheit die Notwendigkeit, sich mit der gleichen Thematik zu beschäftigen, nämlich warum bei bestimmten Unfallsituationen Verletzungen auftreten und wie man diese vermeiden kann. Es bedurfte dazu technischer und medizinischer Kenntnisse. So arbeiteten zuerst in den USA, dann auch in Europa, Ingenieure mit Medizinern zusammen an wissenschaftlichen Studien. Dazu gehören unter anderen Cornell John STAPP, der mittels Eigenversuch 42g auf einem Beschleunigungsschlitten aushielt und Wissenschaftler an der Wayne State University, die Beschleunigungskriterien für die Entstehung tödlicher Kopfverletzungen entwickelten, verbunden mit experimentellen Untersuchungen mit Dummies und auch postmortalen Testprobanden PMT, zum Beispiel an der Universität Heidelberg [2].

Die Biomechanik entwickelte sich somit als Spezialgebiet für die Forensik, Fahrzeugsicherheit und Gutachtenpraxis.

Sehr häufig sind Fragestellungen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten hinsichtlich folgender Punkte zu klären:

  • Sitzposition im Unfallfahrzeug, wer war der Fahrer?
  • Von wo kam der Fußgänger (Klärung der Anprallrichtung und Konfiguration).
  • Wenn Insassen nicht angeschnallt waren: Welche Verletzungen wären bei Gurtnutzung minderbar oder vermeidbar gewesen?
  • Wenn Motorradfahrer und Radfahrer keinen Helm trugen oder ohne Motorradschutzkleidung gefahren sind: Welche Verletzungen wären bei Nutzung der Schutzmöglichkeiten minderbar oder vermeidbar gewesen?
  • Waren die Verletzungen und Beschwerden dem Unfallereignis zuzuordnen (unter anderem HWS-Distorsion, unfallkausale Einzelverletzungen und Langzeitfolgen)?

In all diesen Fällen ist die interdisziplinäre Kenntnis der technischen Fahrzeugspezifikationen und der medizinischen Parameter von Bedeutung.

Besonders hat in der Gutachtenpraxis die Frage nach der Kausalität der geklagten Beschwerden der Betroffenen an Bedeutung gewonnen, häufig nach einem meist geringgradig schweren Unfall, bei dem bewusst Schmerzen verspürt werden, und meist auch in einem nicht selbst verschuldeten Unfall.

Unfälle mit Beschwerden, beschrieben als Schleudertrauma, bilden nach Heckanprall besonders häufig Schwerpunkte derartiger biomechanischer Gutachten. Die Verschiedenartigkeit der angegebenen Beschwerden macht die Einbeziehung unterschiedlicher Fachgebiete notwendig: unter anderem das posttraumatische Belastungssyndrom die Psychosomatik und Psychiatrie, ein Tinnitus die HNO-Fachkunde, Bewegungsfunktionsstörungen die Neurologie und knöcherne und ligamentäre Therapiefolgen sowie Bewegungseinschränkungen die Orthopädie/Unfallchirurgie.

Bedeutung der Biomechanik in spezieller Fragestellung

Der Begriff HWS-Distorsion wird ausschließlich im deutschsprachigen Raum als Diagnose einer Beschwerdesymptomatik verwendet und kennzeichnet eine gewisse Schmerz- und Befundcharakteristik, die fälschlicherweise oftmals als Schleudertrauma bezeichnet wird. Diesen Begriff gibt es im englischen und amerikanischen Sprachgebrauch nicht, dort wird der Begriff „Whiplash Disorders“ verwendet, wobei „Disorder“ mit Gesundheitsstörung übersetzt werden kann. Es besteht Einigkeit darüber, dass ohne Nachweis von objektivierbaren Verletzungszeichen, zu denen Verletzungen, Luxationen und Frakturen zählen, der Begriff Distorsion verwendet werden sollte, hier handelt es sich nahezu ausnahmslos um „leichte Verletzungen“ [3, 4, 5]. Bei Distorsionen ist je nach Art und Umfang der klinischen Befunde von leichten, mäßigen und schweren Distorsionen auszugehen.

Die Verletzungsmechanik wurde wissenschaftlich bereits umfassend untersucht. Sie ist gekennzeichnet als pendelartige und wechselseitige Beugebewegung der HWS und Extension/Hyperextension und setzt sich aus einer Kombination von starken translatorischen Bewegungen der Halswirbel mit Hyperextension (übermäßige Beugung nach hinten) und Flexion/Hyperflexion (übermäßige Beugung nach vorn) der Halswirbelsäule zusammen. Das bewirkt axiale Druck- und Zugkomponenten zwischen den Halswirbeln und deren Bandstrukturen, was letztlich zu spezifischen Verletzungen führen kann [6, 7]. Bei leichterer Unfallschwere und oftmals rotatorischer Bewegung des Fahrzeugs kommt es häufig zu ausgeprägten Bewegungen der Halswirbelsäule und damit je nach fahrzeugspezifischen und physiologischen Besonderheiten zu muskulären Dysfunktionen mit der Folge von Beschwerden und schmerzhafter Bewegungseinschränkung im Kopf- und Halsbereich. So können insbesondere schräge Relativbewegungen des Insassen mit Folge einer fronto-lateralen Beugebewegung des Halses bei Patienten die Ursache von HWS-Beschwerden sein [8]. Versuche zum biomechanischen Verhalten der Halswirbelsäule zeigten, dass die Beugebewegung der Halswirbelsäule mit einer sogenannten S-Form der Beugung auftritt, bei der es zur Kompression an den Facettengelenken kommen kann [9].

Eine relevante Facettenkompression tritt in der Regel erst bei Beschleunigungen von 3,5 g und Schädigungen der Gelenkkapsel erst bei einer Beschleunigung oberhalb von 6,5 g auf. Die wirksame Beschleunigung bei Gefahrenbremsungen beträgt etwa 1 g und die bei leichten Heckkollisionen meist weniger als 3 g. Eine ausgeprägte Hyperextension konnte erst bei einer Beschleunigung von oberhalb 5 g beobachtet werden. Ono registrierte bei Probandenversuchen in Japan nur wenige Personen mit geäußerten Missempfindungen nach den Tests und postulierte bei Heckkollisionen ein Delta-v von bis zu 4 km/h als vollständig symptomfrei. Daraus ist zu schlussfolgern, dass die Facettengelenke eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Beschwerden spielen können [10, 11, 12, 13, 14], allerdings erst bei höherer Unfallschwere.

Es ist somit hinreichend bekannt, dass dynamisch auftretende Beugebewegungen der Halswirbelsäule Beschwerden in der angrenzenden Hals- und Schultermuskulatur erzeugen können und auch horizontale Relativbewegungen zwischen den Wirbelkörpern Muskeltraktionen zur Folge haben. Dies verursacht dynamische Aktivierungen der im Hals verlaufenden Muskelstränge und dabei kann es zu einer leichten oder auch schweren Zerrung der streckseitigen Muskeln und Nerven kommen. Dies sind Möglichkeiten für das Vorliegen von unfallbedingten Beschwerden, die im Einzelfall gutachterlich kritisch zu prüfen sind. Auch isolierte Bremsvorgänge sind dabei in vielen forensischen Verfahren Gegenstand der Begutachtung.

Bremsvorgänge beinhalten jedoch Verzögerungen mit zeitlich lang andauernder und relativ konstanter Verzögerungsbelastung von weniger als 1 g (Erdbeschleunigung) und zeigen in einer eigenen Studie [15] keine Relevanz für daraus resultierende HWS-Beschwerden.

Für einen forensischen unfallkausalen Nachweis stattgehabter Verletzungen gilt es somit, zunächst den Unfallablauf zu rekonstruieren und die aufgetretene Relativbewegung des Insassen zu ermitteln, um dessen Unfallbelastungen zu erkennen. Hierzu ist es erforderlich, eine Mehrkörpersimulation durchzuführen, um die Belastungen der Halswirbelsäule mit deren Kennwerten in x-, y- und z-Richtung sowie der Halsmomente zu kennen. Die geklagten Beschwerden müssen dazu in Beziehung gesetzt und fachmedizinisch und biomechanisch bewertet werden.

Mittlerweile besteht die Ansicht, dass die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung zwar ein wesentlicher Indikator für die Eintretenswahrscheinlichkeit einer HWS-Distorsion ist. Doch ist dieser Parameter nicht allein von Bedeutung. Vielmehr prägen der zeitliche Verlauf der Stoßbelastung und vor allem die physiologische Ist-Situation des Insassen mit seiner Bewegungsfähigkeit der HWS und eventuell vorliegenden degenerativ geprägten Veränderungen sowie die fahrzeugspezifischen Gegebenheiten, wie Sitzgestaltung, Kopfstützenanordnung, aber auch personenspezifische psychologische Parameter, das Beschwerdebild.

Aus biomechanischer und unfallkinematischer Sicht können sodann Eintretenswahrscheinlichkeiten auf der Basis existierender wissenschaftlicher Ergebnisse angegeben werden, die auf den vorliegenden Einzelfall bezogen sind und die vor allem unter medizinischer Wertung der Beschwerden und Gegebenheiten stehen müssen.

Schlussfolgerung

Biomechanik nutzt in der Hauptsache Grundlagen der Mechanik und der Traumatologie und ganz wesentlich auch der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Verletzungshäufigkeit und statistischen Ergebnissen.

Notwendig dazu ist die fachgerechte Bewertung aufgrund des umfassenden Erfahrungsschatzes von Experten, die über unfallanalytische Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Unfallforschung, aber auch über anatomische und verletzungsmechanische Erkenntnisse verfügen müssen. Oftmals werden zur Beantwortung derartiger Fragestellungen fachisolierte Gutachten eingeholt, unter anderem zunächst ein unfallanalytisches und dann separat ein medizinisches Fachgutachten. Der Vorteil eines interdisziplinären technisch-medizinischen Zusammenhangsgutachtens liegt jedoch in der gemeinsamen Aufarbeitung durch Sachverständige unterschiedlicher Fachgebiete, die möglichst den Fall gemeinsam diskutieren. Nur so können Verletzungen in Art und Ausmaß unfallkonform bewertet und auch geklagte Beschwerden wie Beschwerdedauer und unfallbedingter Arbeitsausfall sachgerecht erkannt werden.

Deshalb ist die technisch-medizinische Zusammenarbeit bei der Gutachtenerstellung vorteilhaft.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via passion_chirurgie@bdc.de.

Prof. Dipl.-Ing. Dietmar Otte

Direktor BIOMED-TEC, Hannover

Institut für Biomechanisch-Medizinische und Technische Unfallbegutachtung und wissenschaftliche Expertisen, Hannover

Gastwissenschaftler an der Medizinischen Hochschule
Hannover und

Öffentlich vereidigter Sachverständiger für Unfallrekonstruktion und Biomechanik der IHK Hannover

Honorarprofessor für Biomechanik und Unfallforschung

Hochschule für Technik und Verkehr HTW Berlin

Otte-research@t-online.de

Dipl.-Ing. Thorsten Facius

Sachverständigenbüro für interdisziplinäre Gutachten BIOMED-TEC, Hannover

Bereich Unfallaufnahme, Unfallanalyse, Unfallrekonstruktion

Chirurgie

Otte D, Facius T: Die Biomechanik als interdisziplinäre Aufgabe zwischen Unfallforschung und Unfallchirurgie. Passion Chirurgie. 2022 September; 12(09): Artikel 03_05.

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Simulation in der Chirurgie – Von der analogen zur digitalen Simulationsübung beim MANV

CHIRURGIE
Simulation in der Chirurgie – Von der analogen zur digitalen Simulationsübung beim MANV

Aus dem Forschungsverbund Süd: Ein gemeinschaftliches Projekt zur Digitalisierung der Table-Top-Exercise des TDSC®-Kurses (Bundeswehrkrankenhaus Ulm/Koblenz und Universität der Bundeswehr München)

Hintergrund

Die Fort- und Weiterbildung in der Chirurgie ist nach wie vor im Kern dadurch geprägt, dass Operationen und handwerkliche Fähigkeiten in der realen Situation geschult und trainiert werden. Hier spielt das Lehrer-Schülerverhältnis eine wesentliche Rolle. Unproblematisch ist dieses bei Tätigkeiten, die regelmäßig und häufig vorkommen, wie zum Beispiel einer Sprunggelenkfraktur. Deutlich schwieriger ist diese bei seltenen Operationen, wie der Acetabulumfraktur oder der komplexen Tibiakopffraktur. Hier wird seit Jahren nach alternativen Möglichkeiten gesucht, die Grundfähigkeiten zunächst in einer Simulation oder als Hands-on-Übungen zu realisieren, wie dieses zum Beispiel AO-Kurse, Arthroskopietrainer oder Operationen an Leichenspendern umzusetzen versuchen.

Darüber hinaus gibt es allerdings noch komplexe chirurgisch geprägte Ereignisse, die extrem selten vorkommen, so dass es keine Möglichkeit gibt, diese durch reale Erfahrungen zu trainieren. Dazu gehört die Situation des Massenanfalls von Verletzten (MANV) und vor allem der TerrorMANV. Hierbei handelt es sich um eine extrem seltene und gleichzeitig hochkomplexe Situation.

Terroranschläge in Europa haben sich seit den Vorfällen in Madrid 2004, Paris 2015, Nizza 2016 zu einem relevanten Bedrohungsszenario des alltäglichen Lebens entwickelt [10].

Für Deutschland haben ähnliche Ereignisse, wie der Anschlag am Breitscheidplatz 2016 in Berlin, aber auch der Anschlag in Halle 2019 mit dem beabsichtigten bewaffneten Eindringen in die Synagoge sowie die Anschlagsserie auf türkische Einrichtungen in Waldkraiburg im April/Mai 2020, zu einer öffentlichen Auseinandersetzung mit der Thematik geführt. Auch die aktuelle sicherheitspolitische und militärische Situation in der Ukraine hat uns sehr deutlich vor Augen geführt, dass auch wir in Deutschland im Rahmen unserer Bündnisverpflichtungen gegenüber den NATO-Staaten sehr schnell in eine Konfliktsituation geraten können, in der das Thema MANV eine Rolle spielen könnte.

Die oben genannten terroristischen Ereignisse führten schon 2016 nach eingehender Bewertung der Bedrohungslage und Gründung der AG EKTC (Einsatz-, Katastrophen- und Taktische Chirurgie) zu einem ersten „5-Punkte-Plan“ der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) gemeinsam mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr. Ziel war es, mit dem ersten 5-Punkte-Plan die deutsche Kliniklandschaft fachlich und organisatorisch möglichst umfassend auf Terroranschläge und daraus resultierende typischen Verletzungsmuster der meist schwerverletzten Opfer vorzubereiten [2]. Diese Vorbereitung erfolgte durch Fort- und Weiterbildungen wie den DSTC®– oder den aus diesem Anlass durch die Sektion EKTC der DGU federführend konzipierten TDSC®-Kurs.

Der TDSC®-Kurs hat sich in den darauffolgenden Jahren zu einer echten Erfolgsgeschichte entwickelt. Bis dato konnten 30 Kurse mit über 500 Teilnehmern durchgeführt werden.

Der zukünftige Ausbildungsbedarf begründet sich unter anderem durch die Aufnahme der Thematik MANV/TerrorMANV in die 2020 veröffentlichte dritte Auflage des Weißbuchs zur Schwerstverletztenversorgung der DGU.

Kern des TDSC®-Kurses ist, neben der Vermittlung von medizinischem Fachwissen, die Schulung von innerklinischen Entscheidungsträgern für solche Ausnahmensituationen zur Steigerung der persönlichen Resilienz und Etablierung des erforderlichen Mindsets.

Als eine potenzielle Möglichkeit zur Weiterentwicklung des Kursformates konnte das Thema „Digitalisierung“ identifiziert werden. Hierfür wurden im Rahmen des neu geschaffenen „Forschungsverbunds Süd“ die Zusammenarbeit zwischen dem Bundeswehrkrankenhaus Ulm und der Universität der Bundeswehr in München forciert.

Konzeption

Terrorlagen sind durch besondere Merkmale charakterisiert und weisen wesentliche Unterschiede zum Massenanfall von Verletzten (MANV) und zu den im Alltag häufigen und bekannten schweren Verletzungen (z. B. Polytrauma nach Verkehrsunfall) auf.

Diese Merkmale sind:

  1. Komplexe und dynamische Lagen, zum Beispiel durch Second-Hit-Ereignisse und unkontrollierte Zuströme von Verwundeten und Betroffenen [1, 6]
  2. Grundlegende Bedeutung der Kooperation und Kommunikation zwischen Krankenhäusern und Sicherheitsbehörden in Krisenstäben und am Einsatzort [11, 14]
  3. Potenzielle Bedrohung durch chemische, biologische, radioaktive und nukleare Kampfstoffe (CBRN-Lagen) [12]
  4. Essenzielle Bedeutung des Schutzes des eigenen Krankenhauses, der kritischen Infrastruktur und eines belastbar etablierten Krankenhausalarm- und Einsatzplanes [13, 15]
  5. Gehäuftes Vorkommen von penetrierenden Verletzungen, insbesondere durch Schuss- und Explosionsverletzungen
    [4, 5]
  6. Hohe Inzidenz kritischer lebensbedrohlicher Hämorrhagien durch Extremitäten- und Körperhöhlenverletzungen [9].

Die Besonderheiten des TerrorMANV machen oftmals eine Modifikation der bekannten und geübten Prozesse aufgrund eines Ressourcenmangels erforderlich. Während bei der individualmedizinischen Perspektive „Der Zustand des Patienten bestimmt den initialen Versorgungsumfang“ als Grundsatz des „Damage control“ angeführt wird, gilt beim TerrorMANV: „Die Lage bestimmt das Vorgehen und Art und Umfang der Versorgung“ [7].

Der TDSC®-Kurs thematisiert diese Merkmale und Besonderheiten von Terrorlagen (TerrorMANV), insbesondere die innerklinische Sichtung in Lagen mit eskalierender Dynamik, sowie die chirurgischen Behandlungsprinzipien der Damage Control Surgery (DCS) bzw. weiterführend der Tactical Abbreviated Surgical Care (TASC) [8].

Grundlage für die strukturierte Bearbeitung der Trainingsszenarien ist der für den TDSC®-Kurs etablierte Algorithmus aus Kategorisieren, Priorisieren, Disponieren, Realisieren. Dies bedeutet, dass initial jeder Patient ressourcenunabhängig gesichtet und einer Sichtungskategorie zugeordnet wird. Danach werden die weiteren operativen Maßnahmen und die Reihung priorisiert. Für die Therapie werden die für den Behandlungserfolg essenziellen Schritte disponiert und abschließend das geplante Vorgehen realisiert.

Für die Wahrnehmung dieser Führungsposition, des sogenannten zentralen operativen Notfallkoordinators (ZONK) wird die Zielgruppe des Kurses, im Schwerpunkt Fachärzte, trainiert, um ein entsprechendes Mindset zu etablieren und die Resilienz durch Mentalisierung der Prozesse für diese Ausnahmesituation zu steigern.

Zur Verdeutlichung, Festigung und Einübung der oben genannten theoretischen und didaktischen Konzepte wurde der TDSC®-Kurs implementiert und das von allen als Spiel wahrgenommene „Entscheidungstraining“ entwickelt. Das Spiel beinhaltet initial eine Sichtungsübung, geht aber mit seiner Komplexität und Zielsetzung über herkömmliche Triage-Übungen oder andere etablierte Kursformate deutlich hinaus.

Die Spieler sind in der Spielsituation und den Szenarien gezwungen, Entscheidungen auf der Grundlage unterschiedlicher personeller Ressourcen und unterschiedlicher Verfügbarkeiten von Behandlungsräumen und Bettenkapazitäten auf einem Spielbrett zu treffen (Abb. 1) [3].

Abbildung 1: Darstellung der Table-Top Exercise als „haptisches Spielbrett“ zum innerklinischen Simulationstraining des TDSC®-Kurses (Terror, Disaster and Surgical Care-Kurs).
Das Spielbrett gliedert sich in verschiedenfarbig dargestellte Behandlungsbereiche (rot/gelb/grün), auf die die eintreffenden Patienten des Spiels je nach Sichtungskategorie und Behandlungsdringlichkeit disponiert werden.

Die eintreffenden Patienten werden im Spiel mit ihrem individuellen Verletzungsmustern und verschiedenen Attributen auf einer „Patientenkarte“ dargestellt (Abb. 2).

Abbildung 2: Gegenüberstellung einer Patientenkarte des TDSC®-Spiels (links) zu einer „virtuellen“ Patientenkarte im elektronischen Codebook (rechts). Angezeigt wird das Verletzungsmuster des Patienten (zentrale Figur), die verfügbaren Lebenspunkte (beige Leiste oben), die Disposition innerhalb der Klinik (Leiste blau/gelb links), die beabsichtige therapeutische Maßnahme (blaue Leiste rechts) sowie der Rundenzähler (Leiste unten, grüner Pfeil).

Unterschiedliche Spielsituationen ergeben sich durch die Ausgangs- und Rahmenbedingungen sowie durch die unterschiedlichen Patientengruppen und den zeitlich gestaffelten Verlauf des Aufkommens der Patienten.

Ein zentrales Element des Spieles ist das „Codebook“ in Papierform. Es führt die Teilnehmer durch die Angaben zu den Patienten und den individuellen klinischen Verläufen in Abhängigkeit von der gewählten medizinischen Versorgung (Priorisierung und Disposition) in der gegebenen und sich entwickelnden Klinikstruktur.

Ausblick

Bezüglich der Weiterentwicklung des TDSC®-Kursformates arbeiten in einer seit 2020 etablierten Kooperation unter dem Dach des neu implementierten und sogenannten „Forschungsverbundes Süd“ mehrere Institutionen zusammen:

  • Arbeitsgruppe Einsatz-, Katastrophen und Taktische Chirurgie (EKTC) der DGU
  • TDSC® – Board mit Fachbeirat
  • Unfallchirurgische Forschungsgruppe (UFO) Bundeswehrkrankenhaus Ulm
  • Universität der Bundeswehr München, Forschungsgebiet „E-Health“
  • Akademie der Unfallchirurgie (AUC)
  • Klinik XIV – Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz

Ziel ist, das vorgestellte Konzept bzw. „das Spiel“ in seiner derzeitigen Form schrittweise zu digitalisieren. Ein weiteres Ziel dabei ist es, ein „hybrides Spielerlebnis“ zu generieren, in dem das „Table-Top Exercise“ (das Entscheidungstraining) als Brettspiel haptisch sowie das elektronische Codebook kursbegleitend auf Tablets zusammengeführt werden. Eine erste Version des elektronischen Codebooks wurde in den letzten Kursen mit viel Erfolg erprobt (siehe Abb. 3).

Abbildung 3: Table-Top Übung mit elektronischen Codebook (eCode)

In einer Endversion soll dann das gesamte Table-Top Exercise digital umgesetzt werden, um zum einen das vorliegende Kursangebot ortsunabhängig und auch eigenständig als Stand-alone-Version im Sinne eines Refresher-Formats anbieten zu können. Zum anderen könnte in der digitalen Version nicht nur ein fiktives Szenario geübt werden, sondern auch eine konkrete Situation, wie zum Beispiel eine bekannte reale Klinik- oder sogar Traumanetzwerkstruktur. Gleichzeitig wäre es denkbar und zu diskutieren, ob den geschulten Kursteilnehmern eine digitale Oberfläche angeboten werden kann, die es bei einem Schadensereignis erlaubt, eine digitale standardisierte Dokumentation der im Entscheidungstraining als relevant erarbeiteten Informationen auf der aus dem Training gewohnten Oberfläche zu erfassen und später auszuwerten.

An der Grundphilosophie des TDSC®-Kurses, dass jeder Kursteilnehmer nach dem Kurs in der Lage ist, sowohl eine Terror-assoziierte Lebensbedrohliche Einsatzlage (LebEL) als auch einen konventionellen Massenanfall an Verletzten mit einem Flow-Chart und Karteikarten zu organisieren und zu managen, wird allerdings festgehalten, denn das didaktische Konzept hat sich nun über fast fünf Jahre sehr bewährt.

Fazit

Terrorlagen weisen besondere Merkmale im Vergleich zu anderen lebensbedrohlichen Einsatzlagen (LebEL) wie dem MANV oder auch schweren Verletzungen wie bei Polytraumapatienten im Rahmen zum Beispiel von Verkehrsunfällen auf. Vor allem sind sie extrem selten und sehr komplex. Daher ist es notwendig, Konzepte zur Simulation solch seltener Ereignisse zu entwickeln, um ein Trainingsumfeld als Vorbereitung auf solche Szenarien zu schaffen.

Die jüngste Entwicklung in Europa mit den bekannten Terroranschlägen unter anderem von Paris 2016, aber auch innerdeutsch mit den Anschlägen von Berlin 2016 oder Halle 2019, hat zu einer Kooperation der DGU und des Sanitätsdienstes der Bundeswehr geführt. Parallel dazu entstand unter Federführung der AG EKTC der DGU das Konzept des TDSC®-Kurses mit einem simulationsbasierten Entscheidungstraining bei TerrorMANV-Lagen. Die aktuelle sicherheitspolitische Lage in Europa hat die Bedeutung dieses Thema nun noch einmal erhöht.

Eine weiterführende Kooperation unter dem Dach des „Forschungsverbundes Süd“ zwischen dem Bundeswehrkrankenhaus Ulm und der Universität der Bundeswehr München bietet nun unter fachlicher Beteiligung der Sektion EKTC der DGU die Möglichkeit einer schrittweisen Digitalisierung des Kurskonzeptes, um dieses sowohl methodisch-didaktisch als auch wissenschaftlich gemeinsam mit allen, initial Beteiligten weiterentwickeln zu können.

Zukünftige Projekte sollen die Vernetzung von Kliniken in der Bewältigung von TerrorMANV-Lagen als auch das Personal- und Ressourcenmanagement von sanitätsdienstlichen sowie zivilen medizinischen Behandlungseinrichtungen adressieren und verbessern.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via passion_chirurgie@bdc.de.

Korrespondierender Autor:

Dr. med. Patrick Hoth

Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie, Sporttraumatologie

Bundeswehrkrankenhaus Ulm

Oberer Eselsberg 40

89081 Ulm

Patrickhoth@bundeswehr.org

apl. Prof. Dr. med. Marko Hofmann

Universität der Bundeswehr München

Werner-Heisenberg-Weg 39

85577 Neubiberg

Dr. med. Dan Bieler

Bundeswehr Zentralkrankenhaus Koblenz

Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Wiederherstellungs- und Handchirurgie, Verbrennungsmedizin

Rübenacher Straße 170

56072 Koblenz

Prof. Dr. med. Benedikt Friemert, OTA

Bundeswehrkrankenhaus Ulm

Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie, Sporttraumatologie

PD Dr. med. Axel Franke

Bundeswehr Zentralkrankenhaus Koblenz

Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Wiederherstellungs- und Handchirurgie, Verbrennungsmedizin

Dipl.-Inf. Stephan Leitner

Universität der Bundeswehr München

Martin Zedler

Universität der Bundeswehr München

Dr. habil. Mark Melnyk

Bundeswehrkrankenhaus Ulm

Zentrales Klinisches Management

Oberer Eselsberg 40

89081 Ulm

Markus Blätzinger

Akademie der Unfallchirurgie GmbH

Wilhelm-Hale-Straße 46b

80639 München

PD Dr. med. Gerhard Achatz

Bundeswehrkrankenhaus Ulm

Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie, Sporttraumatologie

AG EKTC der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie

Chirurgie

Hoth P, Hofmann M, Bieler D, Friemert B, Franke A, Leitner S, Zedler M, Melnyk M, Blätzinger M, Achatz G: Simulation in der Chirurgie – Von der analogen zur digitalen Simulationsübung beim MANV. Passion Chirurgie. 2022 September; 12(09): Artikel 03_04.

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CME-Artikel: Subtrochantäre Femurfrakturen: eine operative Herausforderung?

CHIRURGIE
Subtrochantäre Femurfrakturen: eine operative Herausforderung?

Subtrochantäre Femurfrakturen gehören zu den hüftgelenknahen Frakturen und liegen definitionsgemäß in einem Bereich von bis zu fünf Zentimeter unterhalb des Trochanter minor. Die operative Behandlung subtrochantärer Femurfrakturen stellt nach wie vor eine Herausforderung dar, weil dieser Frakturtyp einige Besonderheiten aufweist, welche maßgeblich auf die Anatomie und ortsständige Biomechanik zurückzuführen sind. Ziel dieses Beitrages ist es, diese Besonderheiten darzustellen und nachfolgend bei der Planung und Durchführung der operativen Behandlung berücksichtigen zu können, um Komplikationen zu vermeiden.

Epidemiologie

Hüftgelenknahe Frakturen gehören zu den häufigsten Frakturen in Deutschland und werden aufgrund der demografischen Entwicklung weiter zunehmen [13]. Der Anteil der subtrochantären Femurfrakturen an diesem Gesamtkollektiv beträgt circa 25 Prozent. Dieser Frakturtyp weist eine zweigipflige Altersverteilung auf, wobei 90 Prozent der Patienten älter als 65 Jahre und 75 Prozent weiblich sind [7]. Der Osteoporose kommt somit eine große Bedeutung zu.

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Klassifikation als Grundlage für das biologische Verständnis und der Entwicklung eines Versorgungskonzeptes

Die Einteilung der subtrochantäre Femurfrakturen erfolgt anhand von Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen. Eine CT-Untersuchung ist hilfreich bei der Beurteilung von mehrfragmentären Frakturen, insbesondere bei Beteiligung des großen Trochantermassivs. Entsprechend der AO-Klassifikation werden Frakturen mit Lokalisation in dem Bereich von bis zu fünf Zentimetern unterhalb des Trochanter minor als subtrochantäre Femurfrakturen klassifiziert. Bereits Seinsheimer beschrieb, dass subtrochantäre Frakturen eine Beteiligung der Trochanterregion aufweisen können [14] (Abb. 1). Diese Aussage bestätigt sich mit Blick auf die Altersverteilung aus heutiger Sicht umso mehr: gerade bei älteren Patienten treten Übergangsformen mit per- und subtrochantärer Beteiligung auf. Durch die Frakturmorphologie entstehen verschiedene Ebenen der Instabilität (Abb. 1). Dabei beschreibt die Anzahl der Frakturstücke die Komplexität einer subtrochantären Fraktur aber nur unzureichend. Entscheidend ist die Zuordnung der an den jeweiligen Fragmenten ansetzenden äußerst kräftigen Rumpf- und Beinmuskulatur, durch deren Zug meist grob dislozierte Frakturmuster entstehen (Abb. 2). Dieses Wissen ist wichtig für die intraoperative Frakturreposition.

Abb. 1: Klassifikation der subtrochantären Frakturen nach Seinsheimer [modifiziert nach 18]

Abb. 2: Dislokationsrichtungen der Hauptfragmente durch den Muskelzug der hüftgelenknahen Muskulatur [modifiziert nach 17]

In der subtrochantären Region wirken ferner die größten Druck- und Zugkräfte auf den Bewegungsapparat des menschlichen Körpers [18, 3]. Somit kommt dem Anspruch, die Architektur des frakturierten Knochengerüstes wiederherzustellen, eine besondere Bedeutung zu. Die genannten Aspekte sind wichtige Bestandteile der Frakturanalyse. Mit Ausnahme der jungen, meist männlichen Schwerverletzten wird die subtrochantäre Fraktur dem Gebiet der Alterstraumatologie zugeordnet.

Entscheidend ist hierbei, dass biomechanische Erkenntnisse von Osteosynthesen, welche maßgeblich durch Forschung an „gesunden Knochen“ erlangt wurden, nicht ohne Weiteres auf eine osteoporotische Knochenstruktur übertragen werden können [12]. Ziel der operativen Behandlung muss die Freigabe zur Vollbelastung sein, da ältere Patient:innen eine Teilbelastung nicht einhalten können. Das angewandte Osteosyntheseverfahren muss also im wahrsten Sinne des Wortes „tragfähig“ sein.

Berücksichtigt werden sollte ebenso, dass in der Alterstraumatologie die Prognose des Gesamtbehandlungsergebnisses – auch bei optimaler operativer Frakturversorgung – maßgeblich vom Gesundheitszustand der Patienten:innen zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens abhängt (sog. Gebrechlichkeit als Prognosefaktor [10]). Somit wird deutlich, dass es bei der operativen Behandlung subtrochantärer Femurfrakturen nur einen Versuch gibt, um das bestmögliche Ergebnis für die betroffenen Patient:innen erzielen zu können. Hierfür bedarf es einer guten Planung, beispielhaft dargestellt an nachfolgendem Versorgungskonzept.

Das Versorgungskonzept

Die Unterscheidung von patientenabhängigen und -unabhängigen (= chirurgischen) Risikofaktoren ist bei der Therapieplanung hilfreich. Risikofaktoren wie Diabetes, Nikotin, Kortisontherapie etc. sind wegen der notwendigen zeitnahen operativen Behandlung hinzunehmen. Basierend auf der oben beschriebenen Frakturanalyse sind aus chirurgischer Sicht folgende Aspekte für eine erfolgreiche operative Behandlung entscheidend:

  • Wahl eines geeigneten Implantats
  • Intraoperative Reposition der Fraktur
  • Korrekte Positionierung des Implantats (Osteosynthese-Technik)
  • Perioperatives multiprofessionelles Behandlungskonzept in der Alterstraumatologie

Die Implantatwahl

Die Osteosynthese stellt nach wie vor das führende Verfahren bei der primären Behandlung subtrochantärer Femurfrakturen dar, die Endoprothetik bleibt eine Ausnahme. Die konservative Therapie ergibt sich ausschließlich aus den Kontraindikationen für ein operatives Vorgehen. Bei der Osteosynthese stehen intra- und extramedulläre Implantate zur Verfügung. Als Vertreter der extramedullären Implantate sind insbesondere die 95°-Klingenplatte, die dynamische Hüftschraube (DHS), die dynamische Kondylenschraube (DCS), winkelstabile Plattensysteme wie die PF-LCP (proximales Femur Locking Compression Plate) zu nennen. Als Vertreter der intramedullären Implantate kommen cephalomedulläre Marknägel (Marknagel mit Schenkelhals- und Schaftkomponente) zur Anwendung. In der Mehrzahl werden dabei Trochantermarknägel (z. B. Gamma-Nagel [Fa. Stryker], PFN-A und LFN-A [Fa. Synthes/DePuy], etc.) verwendet, die antegrad über den Trochanter major eingebracht werden. Durch die intramedulläre Lage wirken weniger Hebelkräfte auf die Marknägel im Vergleich zu den von lateral auf das Femur aufgebrachten extramedullären Plattensystemen. Dies ist entscheidend, wenn aufgrund des Frakturmusters mit beispielsweise ausgedehnter Frakturzone im Bereich des Trochanter minor die mediale Abstützung geschwächt ist (vgl. instabile pertrochantäre Femurfrakturen). Aber auch bei der Diskussion für die Freigabe zur Vollbelastung in der postoperativen Nachbehandlung liegen die Vorteile aufseiten der Marknägel. In zahlreichen Studien erzielten intramedulläre Implantate bessere Ergebnisse in Bezug auf Funktion, Blutverlust, OP-Zeit, Dauer des Krankenhausaufenthalts und einer geringeren Revisionsrate [8, 11, 9].

Auch wenn intramedulläre Implantate zur operativen Versorgung subtrochantärer Femurfrakturen empfohlen werden, spielen extramedulläre Implantate nach wie vor eine wichtige Rolle in der Behandlung subtrochantärer Frakturen. Dies gilt insbesondere für Revisionseingriffe infolge von Implantatbrüchen, bei verzögerter Knochenbruchheilung oder Ausbildung einer Pseudarthrose und bei der Korrektur fehlverheilter Frakturen, unabhängig davon, welches Implantat beim Primäreingriff zum Einsatz kam. Im Falle einer Revision sollte insbesondere in der Alterstraumatologie die Indikation zur Endoprothese berücksichtigt werden.

Die Reposition

Bei der operativen Versorgung subtrochantärer Femurfrakturen gilt der Grundsatz: Reposition vor Osteosynthese! Der Versuch – insbesondere bei Verwendung cephalomedullärer Implantate –, die Reposition der Fraktur über das Implantat herbeizuführen, endet regelhaft in einem unzureichenden Repositionsergebnis mit der Gefahr des sekundären Implantatversagens [2]. Ist eine geschlossene Reposition nicht möglich, muss die Fraktur offen reponiert werden. Der rationale Einsatz von Cerclagen kann hierbei hilfreich sein [5, 16]. Erstens kann eine anatomische Reposition gehalten werden, bis das Implantat korrekt positioniert und befestigt wurde. Zweitens kann ein guter Knochenkontakt zwischen den Fragmenten erzielt werden, um die Knochenbruchheilung zu unterstützen. Die anatomische Reposition ist der Grundstein für ein erfolgreiches Behandlungsergebnis (Abb. 3).

Abb. 3: Präoperative und postoperative Röntgenbilder einer subtrochantären Femurfraktur, Typ Seinsheimer 5

Operative Durchführung und Implantatpositionierung am Beispiel eines Trochanternagels

Hier gilt der Grundsatz: Ein Implantat ist nur so gut wie sein Anwender. Die korrekte Positionierung des Implantats stellt die konsequente Fortsetzung des Versorgungskonzepts nach der anatomischen Reposition dar. Bei der Verwendung eines Trochanternagels – als Vertreter der intramedullären Kraftträger – sind nachfolgend die entscheidenden operativen Schritte dargestellt (Abb. 4).

Abb. 4: Darstellung des strukturierten Operationsablaufs bei der Versorgung einer subtrochantären Femurfraktur mit einem Trochanternagel. Rot dargestellt sind die entscheidenden Schritte bei der operativen Durchführung [modifiziert und erweitert nach 15].

  • Eintrittspunkt des Trochantermarknagels: Über den Eintrittspunkt definiert sich die Positionierung der Schenkelhalskomponente des Implantats. Ziel ist die sog. „Center-Center-Position“: die zentrale Positionierung der Schenkelhalskomponente im Femurkopf in beiden Röntgenebenen (a. p.; axial, 20°-Schrägaufnahme). Liegt der Eintrittspunkt zu weit dorsal, kommt die Schenkelhalskomponente im Femurkopf ventral zum Liegen. Entsprechend bei einem zu ventral gewählten Eintrittspunkt resultiert eine dorsale Position des Implantats im Femurkopf. Wird der Eintrittspunkt zu weit lateral gewählt, resultiert eine Varusstellung [3].
  • Center-Center-Position im Femurkopf: Bei dezentraler Lage der Schenkelhalskomponente im Femurkopf kommt es bei dem Bewegungsablauf des Hüftgelenks zu Rotationskräften insbesondere unter Belastung, sodass ein Risiko zum Ausreißen des Implantats (Cut-out) besteht [6, 4]. Ferner sollte das Implantat so positioniert werden, dass die Tip-Apex-Distanz (TAD) unter 25 Millimetern liegt [1].
  • Distale Verriegelung: Bei der Möglichkeit, eine doppelte Verriegelung im Schaftbereich vorzunehmen, sollte hierbei die Option einer dynamischen Bolzenpositionierung genutzt werden. So könnte bei radiologisch verzögerter Knochenbruchheilung eine sekundäre Dynamisierung erfolgen.

Anhand der nachfolgenden Abbildung können an postoperativen Röntgenbildern die aufgeführten operativen Arbeitsschritte nachvollzogen werden (Abb. 5).

Abb. 5: Instabile Osteosynthese mit Bruch infolge der Ausbildung einer Pseudarthrose (75 J., weiblich). Die Prüfung ergab keinen Hinweis auf eine unzureichende Frakturreposition oder Fehlplatzierung des Implantats beim Primäreingriff. Die Patientin hatte multiple Frakturen an beiden unteren und oberen Extremitäten (Polytrauma). Wechsel des Nagels mit Ausräumung der Pseudarthrose und Anlagerung autologer Spongiosa. [eigener Fall]

Perioperatives multiprofessionelles Behandlungskonzept in der Alterstraumatologie

In der Alterstraumatologie wird das dargestellte Versorgungskonzept durch eine perioperative Abklärung der Indikation zur Durchführung einer zeitnahen geriatrischen (Früh-)Rehabilitation ergänzt. Die multiprofessionelle Behandlung geriatrischer Patient:innen gemeinsam durch Chirurg:innen und Geriater:innen führt insgesamt zu besseren funktionellen Behandlungsergebnisse, einer geringeren postoperativen Mortalität und zu weniger Heimeinweisungen [10]. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat diesbezüglich bereits Vorgaben für die Behandlung hüftgelenknaher Frakturen im Jahr 2019 getroffen.

Indikation zur operativen Revision

Das Vorliegen einer instabilen Osteosynthese stellt die häufigste Indikation zur Revision dar. Ursächlich ist meist eine Pseudarthrose, für die in der Literatur eine Inzidenz von ca. 20 % beschrieben wird [3]. Pseudarthrosen haben ihre Ursache meist in einer Varus- oder Flexionsfehlstellung des proximalen Fragments oder in einer unzureichenden medialen Abstützung. Ein Infekt als Ursache muss ausgeschlossen werden.

Die erfolgreiche Revision beginnt mit der subtilen Analyse des vorherigen Eingriffs. Hier gelten die gleichen Kriterien wie bei der Planung der primären Osteosynthese: Anatomische Reposition? Regelgerechte Implantatlage? Besteht eine ausreichende mediale Abstützung? Die operativen Revisionen werden fast immer offen chirurgisch durchgeführt, insbesondere wenn intramedulläre Implantate gebrochen sind und/oder extramedulläre Implantate zum Einsatz kommen (Abb. 5). Extramedulläre Implantate haben den Vorteil, dass die Schenkelhalskomponente in einem Areal des Femurkopfs andernorts platziert werden kann als das vorherige Implantat (Abb. 6).

Abb. 6: Instabile Osteosynthese mit Kollaps der Fraktur und Ausbildung einer Pseudarthrose mit Flexionsfehlstellung des proximalen Hauptfragmentes (60 J., weiblich). Operative Revision mit einer DCS. Die Patientin konnte postoperativ eine Teilbelastung einhalten [eigener Fall].

Bei geriatrischen Patienten ist die Indikation zum Wechsel auf eine (modulare) Schaftprothese zu prüfen, um eine Vollbelastung postoperativ gewähren zu können (Abb. 7). Abweichungen von Torsionsstellungen im Vergleich zur Gegenseite stellen ebenfalls eine häufigere Komplikation dar (10° in bis zu 40 % der Fälle) [3]. Bei dem klinischen Verdacht sollte ein Torsions-CT im Seitenvergleich erfolgen. Derzeit fehlen Hinweise, ab welchem Differenzwert die Indikation zur Revision besteht. Im eigenen Vorgehen werden Torsionsabweichungen ab einer Differenz von 20° korrigiert, insbesondere wenn es sich um eine Innenrotationsabweichung handelt (erhöhte Sturzneigung). Neben der Fragestellung zwischen Reosteosynthese oder Prothese sollte das Implantat bei der Revision zum Einsatz kommen, dessen Handling sicher beherrscht wird, die beste Verankerung im Knochen ermöglicht und die höchste Belastbarkeit für die Nachbehandlung bietet.

Abb. 7: Instabile Osteosynthese mit unzureichender medialer Abstützung bei Osteoporose (85 J., weiblich). Indikation zur modularen Schaftprothese mit Duokopf mit Freigabe zur Vollbelastung [eigener Fall].

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via passion_chirurgie@bdc.de.

Korrespondierender Autor:

Dr. Knut Müller-Stahl

Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie

Klinikum Bremen-Mitte

St. Jürgen Straße 1

28205 Bremen

Knut.Mueller-Stahl@Klinikum-Bremen-Mitte.de

Prof. Dr. Michael Paul Hahn

ehem. Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie

Klinikum Bremen-Mitte

Chirurgie

Müller-Stahl K, Hahn MP: CME-Artikel: Subtrochantäre Femurfrakturen: eine operative Herausforderung? Passion Chirurgie. 2022 September; 12(09): Artikel 03_03.

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