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BDC-Praxistest: Bewerbung für die Chefarztposition – Balance zwischen Ethik und Ökonomie in der Chirurgie

Eine klare Haltung beim Start in die Führungsposition ist unverzichtbar für eine dauerhaft tragfähige Balance zwischen Ethik und Ökonomie in der Chirurgie

Auszüge mit begleitenden Kommentaren aus dieser Arbeit wurden publiziert in:
Arne Christian Siewert, Karl-Heinz Wehkamp, Carsten Johannes Krones, Werner Vogd, Erik Allemeyer, Bewerbungsgespräche von Chefärzten – Ökonomie hat hohen Stellenwert, In: Deutsches Ärzteblatt | Jg. 118 | Heft 4 | 29. Januar 2021; Dtsch Arztebl 2021; 118(4): A 180–4; Volltext online unter iww.de/s4575.

Die zugrunde gelegte Original-Studie wurde publiziert in:
A.C. Siewert, K.-H. Wehkamp, W. Vogd, C.J. Krones, E. Allemeyer Bewerbungsverfahren und Berufsstart für Chefärzte in der Chirurgie – welchen Stellenwert hat die Ökonomie? Zeitschrift für medizinische Ethik 2021 (67):403-19

Die gesamte Publikation inklusive Graphiken finden Sie hier:  Originalarbeit zu: Bewerbungsgespräche von Chefärzten 

Einleitung

Als Folge der überwiegend merkantil ausgerichteten Systemwechsel im Deutschen Gesundheitssystem ist der Stellenwert ökonomischer Kompetenz in der Leitungsebene eines Krankenhauses stark in den Vordergrund gerückt. Die Leistungsfähigkeit des stationären Sektors hängt heute ganz wesentlich davon ab, ob die kaufmännische Führung mit Geschick und Weitsicht die taktisch und strategisch richtigen Entscheidungen trifft. Dabei muss ein sehr komplexes Gebilde bedient werden. Neben der fachlichen Qualität prägen Mitarbeiterführung, Finanzwesen, Controlling, Einkauf, Investitionen, Marketing, Kommunikation und eine anspruchsvolle Administration des sehr heterogen zusammengesetzten Unternehmens „Krankenhaus“ den wirtschaftlichen Bestand und das Entwicklungspotenzial eines Krankenhauses. Vor dem Hintergrund des politisch initiierten, aber zugleich auch regulierten Wettbewerbs unter den stationären Gesundheitsdienstleistern kann ohne eine exzellente Performance der Geschäftsführung keine noch so brillante medizinische Leistung die Zukunft eines Krankenhauses alleine sichern.

Während in den 1980er/1990er-Jahren Chefärzte unabhängig und fast autokratisch agieren konnten, hat sich dieses Szenario seit den 2000er-Jahren annähernd umgekehrt. Das System Krankenhaus kontrollierte leitende Ärzte zuletzt vornehmlich direktiv. Doch nachhaltiger Erfolg lässt sich in Unternehmen nur durch eine dialogische Zusammenarbeit der beteiligten Berufsgruppen erreichen. Aus diesem Postulat ergibt sich zwischen Ökonomen und Chirurgen im stationären Sektor eine fast natürliche Partnerschaft, bei der die Ziele beider Berufsgruppen vollkommen übereinstimmen: Ärzte wollen mit bestmöglichem medizinischen Ergebnis ihre Patienten versorgen, und kein Krankenhausbetriebswirt wird das Gegenteil für den ökonomischen Zweck seines Unternehmens behaupten. Dem widerspricht, dass Medizin und Ökonomie im Krankenhaus zunehmend als konflikthaft erlebt werden5,6. Statt eines Miteinanders herrscht der Eindruck, dass Ärzte unter Druck gesetzt werden, ihre originären Aufgaben zum bestmöglichen Wohl der kranken Menschen den wirtschaftlichen Zielen der Institutionen unterzuordnen1–4. Nicht ohne Anlass hat die zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer (ZEKO) bereits 2013 in einer Stellungnahme vor einer zunehmenden Ausrichtung der Krankenhauspolitik an ökonomischen Zielsetzungen gewarnt. Sehr konkret wurden hierbei die kritischen Elemente benannt: die Ausnutzung von Fallpauschalen und das Stellen von Indikationen zu besonders gewinnbringenden Untersuchungen und Operationen8.

Der Berufsverband der Deutschen Chirurgen (BDC) hat sich zum Ziel gesetzt, das Potenzial in der natürlichen Partnerschaft zwischen Kaufleuten und Chirurgen in der stationären Patientenversorgung offenzulegen und so die Balance zwischen Ethik und Monetik im Krankenhaus zu fördern.

Als Grundlage soll als erste Schlüsselstelle für die Gestaltung des Zusammenspiels aus Ethik und Ökonomie im Krankenhaus zunächst der Startpunkt der Zusammenarbeit untersucht werden – das Bewerbungsverfahren und der Berufsstart chirurgischer Chefärzte. In Zusammenarbeit mit Klinikern, Ökonomen, Soziologen und Medizinethikern führte der BDC dazu eine repräsentative Umfrage unter Chefärzten chirurgischer Fächer durch, welche von 2016 bis 2019 eine Führungsposition übernommen haben. Dabei sollte untersucht werden, wie ökonomischer Druck die Auswahl und den Start des leitenden Chirurgen prägt, und wo Möglichkeiten existieren, schon zu Beginn des Engagements Einfluss auf die zukünftige Gewichtung originär ärztlicher Zielsetzungen und ökonomischer Maximen zu nehmen.

Methodik

Innerhalb eines dreistufigen Untersuchungsdesigns erfolgte zunächst eine Analyse von Stellenanzeigen für Chefarztpositionen. Im zweiten Schritt wurden die Ergebnisse mit einer qualitativen Befragung ausgewählter Interviewpartner kombiniert. Auf dieser Basis wurde danach ein Fragebogen entwickelt, der als Vollerhebung alle in Frage kommenden chirurgischen Chefärzte, die in den zurückliegenden drei Jahren eine Leitungsposition übernommen hatten, adressierte.

Zunächst interessierte, ob die Inhalte von Stellenanzeigen die Zielvorgaben der Stellenanbieter bereits erkennen lassen. Dazu wurden alle Stellenanzeigen im Deutschen Ärzteblatt aus dem Zeitraum 01/2017 bis 12/2018 (n = 91) in den Fachgebieten Allgemein- u. Viszeralchirurgie, Thoraxchirurgie, Herzchirurgie, Plastische Chirurgie, Kinderchirurgie, Gefäßchirurgie und Unfallchirurgie/Orthopädie für Krankenhäuser in Deutschland gesichtet. Die Angaben zu Erwartungen an potenzielle Stellenbewerber und zum Angebot des Stellenanbieters wurden einzeln notiert, kategorisiert und qualitativ analysiert. Auf dieser Grundlage wurden sowohl die Hypothese präzisiert als auch Fragestellungen für die später vorgenommenen Pilotinterviews entwickelt.

Im zweiten Schritt wurden sieben qualitative Pilotinterviews mit einer Auswahl von Personen aus dem Adressatenkreis durchgeführt (Interviewer E. A.).10 Die Pilotinterviews hatten wenige, überwiegend offene Fragen zum Inhalt, die ein freies und offenes Antworten ermöglichten.11 Die Technik entspricht einem Leitfadeninterview. Die Antworten wurden zunächst qualitativ untersucht, und dann einer inhaltsanalytischen Auswertung unterzogen.12,13,14 Ergänzend wurde im Anschluss an jedes Interview ein sogenanntes „Ambienteprotokoll“15 geführt.

Auf Grundlage der Pilotinterviews und etablierter Instrumente für strukturierte Online-Fragebögen16,17 wurde im dritten Schritt ein Katalog von offenen und geschlossenen Fragen zu Inhalten der Bewerbungsgespräche und den ersten Zielvereinbarungen (in der Regel sechs bis zwölf Monate nach Stellenantritt) entwickelt. Die Methode zur Durchführung von Pilotinterviews und des hieraus entwickelten Online-Fragebogens orientiert sich an Empfehlungen von Schnell16, Hollenberg17 und Mayring.18,19

Die Adressaten wurden aus dem Verteiler des BDC per E-Mail angeschrieben. Insgesamt wurden 1.890 E-Mails an die beim BDC registrierten chirurgischen Chefärzte und Oberärzte versandt. Oberärzte wurden unter der Annahme eines eventuell schon erfolgten Wechsels in die Chefarztposition integriert, bei Nichtantritt einer Chefarztposition aber wieder ausgeschlossen.

Ergebnisse (Zusammenfassung)

Die Stellenanzeigen lassen einen ausgeprägten Schwerpunkt ökonomischer Zielsetzungen und auch Anreize für das Stellenprofil leitender Krankenhauschirurgen erkennen. Die demografischen Ergebnisse zu Krankenhausgröße, Abteilungsgröße, Trägerschaft zeigen eine repräsentative Kohorte. Insgesamt sind sowohl ein hoher Stellenwert ökonomischer Zielvorgaben und hieraus entstehender Druck auf die Bewerber und Berufsstarter in der chirurgischen Krankenhausleitung zu erkennen, als auch in Anteilen deren Identifikation mit ökonomischen Zielsetzungen – sowohl in der qualitativen als auch in der quantitativen Analyse und freien Kommentaren. Das Bewerbungsgespräch wird als Möglichkeit gesehen, auf die Gewichtung ökonomischer gegenüber originär ärztlichen und ethischen Zielsetzungen für die chirurgische Leitungstätigkeit Einfluss zu nehmen.

Schlussfolgerungen

Das Gewicht ökonomischer Maßgaben bei Übernahme einer Leitungsfunktion in der Chirurgie ist hoch. Die Wahrnehmung hierzu ist gemischt: wir registrierten sowohl sehr kritische als auch bejahende Bewertungen durch die Betroffenen. Handlungsspielräume beim Berufsstart für den Chefarzt sollten aktiv genutzt werden.

Fußnoten und Quellen

  1. Thielscher, C. (2018): Zur Pathogenese der Ökonomisierung in Deutsches Ärzteblatt, S. A 1946, Heft 43, Ausgabe 10/2018.
  2. Wehkamp, K.H. und Naegler, H. (2017): Ökonomisierung patientenbezogener Entscheidungen im Krankenhaus – Eine qualitative Studie zu den Wahrnehmungen von Ärzten und Geschäftsführern, in Deutsches Ärzteblatt – Dtsch Arztebl Int 2017; 114:797–804.
  3. Albrecht, B. (2019): 215 Ärzte fordern im Stern: Mensch vor Profit, S. 24 ff. in Stern Ausgabe 37 vom 05.09.2019.
  4. Albrecht, B. (2019): Ärzte-Appell im „Stern“: Mensch vor Profit in Hamburger Ärzteblatt – S. 22, Ausgabe 10/2019; 73. Jahrgang vom 10.10.2019.
  5. Ulsenheimer, K. (2015), Fehlentwicklungen in der Medizin: Verrechtlichung und Ökonomisierung, S. 757 ff., MedR 33, 757–762 (2015). https://doi.org/10.1007/s00350-015-4125-9, Zugriff am 26.04.2020.
  6. Vogd, W.; Feist, M.; Ostermann, A. und Molzberger, K. (2017): Führungskräfte im Krankenhaus – Umgang mit ökonomischem Druck, in Deutsches Ärzteblatt – Dtsch Arztebl 114(43): A 1972, Deutsches Ärzteblatt Heft 43, 2017.
  7. Martin, W. (2014): Ärztlicher Stellenmarkt: Will bald niemand mehr Chefarzt werden? in Deutsches Ärzteblatt, Dtsch Arztebl 111(39): 2.
  8. ZEKO (2013): Ärztliches Handeln zwischen Berufsethos und Ökonomisierung. Das Beispiel der Verträge mit leitenden Klinikärztinnen und -ärzten, S. A 1752 ff. in Deutsches Ärzteblatt, Dtsch Arztebl 110(38): Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer, Tübingen.
  9. In der folgenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Sie bezieht sich auf Personen beiderlei Geschlechts.
  10. Mit Hilfe von Berufsverbandszeitschriften ließ sich ein wesentlicher Anteil der Gesamtmenge an chirurgischen Chefärzten, die in den zurückliegenden drei letzten Kalenderjahren eine neue Chefarztposition eingenommen hatten, feststellen. Per Losverfahren wurde eine Gruppe von 20 Vertretern ermittelt. Diese wurden unter Zusage von strikter Anonymisierung um einen Interviewtermin zum o.g. Forschungsgegenstand gebeten. Sieben Chefärzte erklärten ihre Bereitschaft, sich einer Befragung zur Thematik unterziehen zu wollen.
  11. Bei den in den Pilotinterviews vorgenommenen Befragungen wurden zunächst drei Hauptfragenkomplexe thematisiert, die jeweils Unterfragen beinhalteten. Je nach Gesprächsverlauf folgten weitere, offene, teils aber auch geschlossene Fragen.
  12. Mayring, Phillip (2008): Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken, S. 42 ff., 10. Auflage, Weinheim und Base, Beltz-Verlag.
  13. Mayring, P. und Fenzl, T. (2019): Qualitative Inhaltsanalyse in Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, S. 633 ff., 2. Auflage, Wiesbaden, Springer-Verlag.
  14. Mayring P. (2010): Design in Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, S. 226 ff., Mey, G. und Mruck, K. (Hrsg) Wiesbaden, VS-Verlag.
  15. Das „Ambienteprotokoll“ hat zum Ziel, die Gesprächsumstände nachzuhalten. Der Protokollant dokumentiert den Ort, Zeit, Atmosphäre, etwaige Störungen, etc. Auf diese Weise ermöglicht das „Ambienteprotokoll“ auch im Nachhinein auf folgende Fragen und Umstände Informationen zu liefern: Wie wurde der Interviewer empfangen? War die Gesprächsatmosphäre freundlich, offen, konstruktiv? Wie waren Setting, Örtlichkeit, Raumausstattung? Wie war der Zeitrahmen – „gehetzt“ oder ausreichend bemessen?
  16. Schnell, R. (2019): Survey Interviews – Methoden standardisierter Befragungen, S. 5ff., S. 55 ff., S. 65 ff., 2. Auflage, Wiesbaden, Springer-Verlag.
  17. Hollenberg, S. (2016): Fragebögen – Fundierte Konstruktion, sachgerechte Anwendung und aussagekräftige Auswertung, S. 5ff., S. 11ff., S. 23ff, Köln, Wiesbaden, Springer VS.
  18. Mayring, P. und Fenzl, T. (2019): Qualitative Inhaltsanalyse in Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, S. 633 ff., 2. Auflage, Wiesbaden, Springer-Verlag.
  19. Mayring P. (2010): Design in Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, S. 226 ff., Mey, G. und Mruck, K. (Hrsg) Wiesbaden, VS-Verlag.

Allemeyer E, Siewert A C, Wehkamp K-H, Vogd W, Krones C J: Eine klare Haltung beim Start in die Führungsposition ist unverzichtbar für eine dauerhaft tragfähige Balance zwischen Ethik und Ökonomie in der Chirurgie. Passion Chirurgie. 2021 September; 11(09): Artikel 05_01.

Chefarztstelle: Balance zwischen Ökonomie und ärztlicher Autonomie

Wirtschaftliche Ziele spielen bereits im Bewerbungsgespräch zukünftiger ChefmedizinerInnen eine tragende Rolle. Es gibt jedoch Möglichkeiten für KandidatInnen, ihre ärztliche Autonomie höher zu gewichten, als ökonomische Zielsetzungen. Das geht aus der vom Berufsverband der Deutschen Chirurgen (BDC) durchgeführten Umfrage unter Chefärzten aus allen chirurgischen Fächern hervor. Die befragten ChirurgInnen haben zwischen 2016 und 2019 eine Führungsposition übernommen. Die Studie wurde in enger Zusammenarbeit mit Klinikern, Ökonomen, Soziologen und Medizinethikern konzipiert und ausgewertet. Fragestellung der Studie war, ob wirtschaftliche Zielstellungen die Auswahl und den Berufsstart leitender ÄrztInnen der Chirurgie prägen und in welcher Weise. Gleichzeitig wurde untersucht, ob von den Befragten die Möglichkeit gesehen wird, schon ganz am Anfang ihres Engagements Einfluss auf die zukünftige Gewichtung von originär ärztlichen Zielsetzungen oder aber ökonomischen Maximen zu nehmen.

Studienfazit
Die Einhaltung einer ethischen Balance sollte obligater Konsens im Zusammenspiel aus ärztlicher und kaufmännischer Führung im Krankenhaus sein. Eine nicht-indizierte Leistungsausweitung verbietet sich hierbei ausdrücklich. Diese Maxime ist auch aus unternehmerischer Perspektive bedeutsam: Es kann mittel- und langfristig nicht im kaufmännischen Interesse der Krankenhausführung liegen, die Reputation eines Krankenhauses durch eine Priorisierung der Gewinnmaximierung aufs Spiel zu setzen. Es ist lange bekannt, dass nicht nur Kennzahlen, sondern auch Compliance, ethisches Verhalten und Corporate Social Responsibility elementare Säulen für den langfristigen Unternehmenserfolg bilden.

Chirurgie 2020 – Hightech oder high social?

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Medizin wird seit langer Zeit als Problem thematisiert [1] und ist für alle Betroffenen auch emotional besetzt [2]. Die intensiven Debatten in der deutschen Verbandsliteratur [3–6], dem Deutschen Ärzteblatt [7, 8] und qualitativ besonders hochwertige internationale Forschung [9–16] lassen sowohl das hohe Gewicht dieser sozialen Frage erkennen als auch die Tatsache, dass es offenbar keine einfachen Lösungen für den Rollenkonflikt gibt.

Eine Zuspitzung erfuhr das fachübergreifende Ringen nach Orientierung im vergangenen Jahr auf dem Deutschen Ärztetag. Hier wurde sehr pointiert vom Direktor einer großen und besonders leistungsstarken chirurgischen Universitätsklinik eine persönliche Erfahrung und Beobachtung dargestellt mit den Worten „Ein guter Doktor und gleichzeitig eine gute Mutter/Vater zu sein, das lässt sich nicht unter einen Hut bekommen [17].“ Diese Position löste erwartungsgemäß intensive Kontroversen aus.

Aus Anlass des Deutschen Chirurgenkongresses 2019 wurde ein Forum für die Diskussion der Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Chirurgie gestaltet. Hierbei hatte ich Gelegenheit, einer aus meiner Sicht defätistischen Perspektive, kreative Lösungsansätze, insbesondere auch als Ermutigung für den chirurgischen Nachwuchs, entgegenzusetzen [18].

Der Berufsverband der Deutschen Chirurgen hat sich in seiner Verantwortung für die Darstellung des chirurgischen Berufsbildes, insbesondere auch gegenüber dem bereits gewonnenen, aber auch gegenüber dem potenziellen Nachwuchs in unserem Beruf, dieses konfliktreichen Problems intensiv angenommen [4, 5].

WIE BEGEISTERN WIR JUNGE MENSCHEN FÜR DIE CHIRURGIE?

Ich freue mich, dass der BDC mir die Möglichkeit gibt, hier meinen positiven Ausblick für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Chirurgie in sieben Fokussierungen darzustellen:

  1. Chirurgie 2020 – Hightech oder high social? Alles deutet darauf hin, dass die Zukunft der Chirurgie in Deutschland und international durch zwei Elemente geprägt sein wird: Erstens die konstante Entwicklung zur Hochtechnologisierung komplexer Operationen – Stichwort roboterunterstützte Chirurgie – und zweitens die brennende Frage nach ausreichend qualifiziertem Nachwuchs. Ein erheblicher Anteil der operativen Leistung wird in Zukunft in Zentren erbracht werden, die den unausweichlichen Trend zur Digitalisierung und Roboterassistenz umsetzen. Roboterunterstützte Operationen haben jedoch eine lange Lernkurve und setzen jeweils eine zeitaufwendige und kostenintensive Organisation voraus [19, 20]. Legt man die Gesamtzahl operativer Eingriffe in Deutschland als mehr oder weniger konstant auch für die Zukunft zu Grunde, wird deutlich, dass für die Versorgung in der Breite neben dem hochspezialisierten Personal v. a. eine große Anzahl qualifizierter Operateurinnen und Operateure benötigt wird. Hochrechnungen lassen hierzu ausnahmslos einen erheblichen Mangel an Nachwuchs schon jetzt und für die Zukunft erkennen [21]. Das Gesundheitssystem wird sich entscheiden müssen, ob es diese Lücke durch Personal mit möglicher Sprachbarriere, medizinischer Qualifikation, die nicht unseren qualitätsorientierten Standards entspricht oder abweichender medizinkultureller Sozialisation [22] füllen oder kreative Lösungen für die Suche nach motiviertem Nachwuchs aus dem deutschsprachigen Bildungssystem erarbeiten will. Letztgenanntes scheint favorisiert zu werden, dies lassen immense Anstrengungen zur Nachwuchsrekrutierung auf allen Ebenen seit 15 Jahren erkennen.Die immer wieder gleiche Frage lautet hierbei: Wie begeistern wir junge Menschen für die Chirurgie? Wir wissen über den erhofften Nachwuchs: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist das am weitesten verbreitete Berufsziel junger Ärztinnen und Ärzte [8].
  2. Die aktuelle Intensivierung der Debatte um die Vereinbarkeit von Familie und Chirurgie erscheint wichtig. Eine Fülle hochrangiger Publikationen in Nordamerika beleuchtet in jüngster Zeit immer deutlicher den Handlungsbedarf [9–16]. Im deutschen Sprachraum konnte eindrucksvoll aufgezeigt werden, dass eine Unterbrechung für Erziehungszeit negative Auswirkungen auf die Karriere hat [2]. Mit etwas sprachlichem Spielraum ist die Äußerung von Professor Izbicki auf dem Deutschen Ärztetag 2018 vielleicht eine sehr zutreffende Bilanz: Ein guter Doktor und gleichzeitig eine gute Mutter/Vater zu sein, stellt enorme Anforderungen an die soziale Kompetenz, das persönliche Organisationsgeschick und die physische und psychische Belastbarkeit junger Ärztinnen und Ärzte. Es darf jedoch angenommen werden, dass unter 385.000 Ärztinnen und Ärzten in Deutschland zahlreiche gute Eltern sind. Möchte man Zweifel berücksichtigen, ob diese auch „gute Doktoren“ sind, so genügt ein Blick auf die im Internet veröffentlichten Familienverhältnisse in der Elite der deutschen Chirurgie: die Vereinigung von Mutterschaft/Vaterschaft mit chirurgischer Spitzenleistung ist ganz und gar kein Ausnahmefall. Hier erscheint wichtig, dass die Erfüllung der Elternrolle nach heutigem Verständnis keine überwiegende häusliche Anwesenheit erfordert.
  3. Vor dem Hintergrund des Gesagten ist klar: für die personelle Zukunftsgestaltung in der Chirurgie wird eine integrative Kultur anstatt einer exklusiven Kultur benötigt. Als sehr kleines und bescheidenes Beispiel hierzu habe ich mich bemüht, meine eigene Erfahrung mit einem – allein empirisch gesehen – progressiven Beitrag zur Familienarbeit als Mann in der Chirurgie bekannt zu machen und diese publiziert [23]. Ich nahm 2002 für unsere Tochter ein Erziehungsjahr, als dieses zumindest an deutschen Universitätskliniken eine extreme Ausnahme für einen Mann war. Über alle Versorgungsbereiche gerechnet, war das Verhältnis von Ärztinnen zu Ärzten in Erziehungszeit damals 96 % vs. 4 % [24] – bei zu einem großen Teil gleicher beruflicher Qualifikation beider Elternteile [25]. Meine Weiterbildungszeit lag mit 6,25 Jahren im Bereich von Durchschnittsangaben des BDC und der Bundesärztekammer. Während meiner Weiterbildungszeit bekamen wir zwei Kinder, meine Ehefrau wurde Fachärztin für Dermatologie. Im 17-Jahres-Follow-up haben heute Vater und Mutter gleiche Einkommen. Somit bestand durch meine einjährige Unterbrechung für Erziehungszeit kein Unterschied im Ergebnis der Weiterbildung im Vergleich zu Kollegen, die keine Erziehungszeit nahmen und im Langzeitverlauf entstanden keine Karriereeinschränkungen für Vater oder Mutter.Ernüchternd ist dagegen, dass sich das numerische Verhältnis von Ärztinnen zu Ärzten in Erziehungszeit über diesen Zeitraum noch weiter ins Extrem entwickelt hat: die aktuellen Zahlen lauten 97,5 % vs. 2,5 % [26]
  4. Das Ungleichgewicht sowohl in der Lastenverteilung als auch in der Chancenzuteilung zu Ungunsten der Frauen in der Medizin/Chirurgie wurde vielfach demonstriert und wissenschaftlich belegt [9–16]. Zynisch, dass die Vereinbarkeit von Familie und Chirurgie hochrangigen Forschungsergebnissen zufolge, mutmaßlich aber v. a. durch tägliche Erfahrung betroffener Chirurginnen bestätigt, offenbar für Frauen schwerer gemacht wird als für Männer. Nochmals mit Blick auf die Literatur, sicher aber auch gefühlt, ist absehbar, dass sich die Frauen dieses nicht länger gefallen lassen werden. Letztere bilden aktuell die Mehrheit des ärztlich qualifizierten Personals (65 %) [27]. Klinikdirektorinnen und -direktoren sind gut beraten, wenn sie nach kreativen Lösungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unter Einbeziehung der Männer suchen.
  5. Schließlich: Wenn die Beanspruchung für Familienarbeit als Bedrohung für die Qualifikation oder Leistungsfähigkeit gesehen wird [17], warum sorgt die gleichen Bedenkenträger dann nicht der ineffiziente Einsatz junger Ärztinnen und Ärzte während der Arbeit? Hakenhalten über viele Stunden an vielen Tagen in der Ausbildung ohne Sicht auf das OP-Feld [28], ausufernde administrative Tätigkeiten [29], sicher delegierbare Verrichtungen wie Blutentnahmen und Legen von Zugängen, nächtelanges Arbeiten in Notaufnahmen mit 50 % unnötigen Konsultationen [30]? Hier wird sowohl der Patientenversorgung, als auch der Karriere mehr Zeit entzogen als bei der Familie. Eine Antwort auf diese Frage zu finden, könnte hilfreich sein, um auch anderen Innovationsstau in der Chirurgie zu verstehen. Vielleicht ist die Sorge, die Familie könnte mit der Chirurgie rivalisieren, nur unbewusst vorgeschoben und eigentliches Motiv ist hier eine nostalgische Sehnsucht nach den quasi feudalistischen Gesellschaftsstrukturen, die das Arbeiten in chirurgischen Kliniken noch bis vor kurzer Zeit prägten. Ein anderer Erklärungsansatz würde aus psychologischer Perspektive ebenso einleuchten und wurde von K. Schlosser in einem früheren Editorial dieser Zeitschrift formuliert: Wenn es heute möglich erscheint, Familie und Chirurgie zu vereinbaren, könnte für manche/n eine schmerzliche Konfrontation mit der Frage entstehen, ob er/sie selber wirklich für die eigene Karriere auf so viel anderes verzichten musste [4].
  6. Eine Würdigung: Die Bewältigung des genannten Rollenkonflikts wird mit großem Erfolg bereits heute von einer beeindruckenden Anzahl junger Ärztinnen und Ärzte geleistet. Diese Performance ist beispiellos in der Geschichte der Medizin. Wer behauptet, Familie und Chirurgie lasse sich nicht „unter einen Hut bringen“, negiert diese Leistung einer jungen Generation.
  7. Eine Anregung: Chirurgen lassen sich gerne die Leidenschaft nach dem „schneller, höher, weiter …“ nachsagen. Wer das für sich beansprucht, kann doch auch in der zukünftigen – historisch vielleicht größten – sozialen Herausforderung der Vereinbarkeit von Familie und Chirurgie seine Befriedigung finden.

Mein Fazit

Zahllose gute Ärztinnen und Ärzte sind gute Eltern. Wer kreativ Familie und Beruf vereinbart, ist „high social“ und qualifiziert sich für die Chirurgie mindestens so gut wie Hightech. Für die Zukunft der Chirurgie ist essenziell, Kolleginnen und Kollegen, die Familie und Beruf nach modernem Verständnis vereinbaren, zu integrieren, anstatt sie auszuschließen.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via [email protected].

Allemeyer E: Chirurgie 2020 – Hightech oder high social? Passion Chirurgie. 2019 September, 9(09): Artikel 09_01.

Vortrag von Dr. E. Allemeyer zum Thema „Erfolgreich als Chirurg mit Familie – das geht!“ auf dem 136. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Mehr lesen.