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Eine klare Haltung beim Start in die Führungsposition ist unverzichtbar für eine dauerhaft tragfähige Balance zwischen Ethik und Ökonomie in der Chirurgie

Auszüge mit begleitenden Kommentaren aus dieser Arbeit wurden publiziert in:
Arne Christian Siewert, Karl-Heinz Wehkamp, Carsten Johannes Krones, Werner Vogd, Erik Allemeyer, Bewerbungsgespräche von Chefärzten – Ökonomie hat hohen Stellenwert, In: Deutsches Ärzteblatt | Jg. 118 | Heft 4 | 29. Januar 2021; Dtsch Arztebl 2021; 118(4): A 180–4; Volltext online unter iww.de/s4575.

Die zugrunde gelegte Original-Studie wurde publiziert in:
A.C. Siewert, K.-H. Wehkamp, W. Vogd, C.J. Krones, E. Allemeyer Bewerbungsverfahren und Berufsstart für Chefärzte in der Chirurgie – welchen Stellenwert hat die Ökonomie? Zeitschrift für medizinische Ethik 2021 (67):403-19

Die gesamte Publikation inklusive Graphiken finden Sie hier:  Originalarbeit zu: Bewerbungsgespräche von Chefärzten 

Einleitung

Als Folge der überwiegend merkantil ausgerichteten Systemwechsel im Deutschen Gesundheitssystem ist der Stellenwert ökonomischer Kompetenz in der Leitungsebene eines Krankenhauses stark in den Vordergrund gerückt. Die Leistungsfähigkeit des stationären Sektors hängt heute ganz wesentlich davon ab, ob die kaufmännische Führung mit Geschick und Weitsicht die taktisch und strategisch richtigen Entscheidungen trifft. Dabei muss ein sehr komplexes Gebilde bedient werden. Neben der fachlichen Qualität prägen Mitarbeiterführung, Finanzwesen, Controlling, Einkauf, Investitionen, Marketing, Kommunikation und eine anspruchsvolle Administration des sehr heterogen zusammengesetzten Unternehmens „Krankenhaus“ den wirtschaftlichen Bestand und das Entwicklungspotenzial eines Krankenhauses. Vor dem Hintergrund des politisch initiierten, aber zugleich auch regulierten Wettbewerbs unter den stationären Gesundheitsdienstleistern kann ohne eine exzellente Performance der Geschäftsführung keine noch so brillante medizinische Leistung die Zukunft eines Krankenhauses alleine sichern.

Während in den 1980er/1990er-Jahren Chefärzte unabhängig und fast autokratisch agieren konnten, hat sich dieses Szenario seit den 2000er-Jahren annähernd umgekehrt. Das System Krankenhaus kontrollierte leitende Ärzte zuletzt vornehmlich direktiv. Doch nachhaltiger Erfolg lässt sich in Unternehmen nur durch eine dialogische Zusammenarbeit der beteiligten Berufsgruppen erreichen. Aus diesem Postulat ergibt sich zwischen Ökonomen und Chirurgen im stationären Sektor eine fast natürliche Partnerschaft, bei der die Ziele beider Berufsgruppen vollkommen übereinstimmen: Ärzte wollen mit bestmöglichem medizinischen Ergebnis ihre Patienten versorgen, und kein Krankenhausbetriebswirt wird das Gegenteil für den ökonomischen Zweck seines Unternehmens behaupten. Dem widerspricht, dass Medizin und Ökonomie im Krankenhaus zunehmend als konflikthaft erlebt werden5,6. Statt eines Miteinanders herrscht der Eindruck, dass Ärzte unter Druck gesetzt werden, ihre originären Aufgaben zum bestmöglichen Wohl der kranken Menschen den wirtschaftlichen Zielen der Institutionen unterzuordnen1–4. Nicht ohne Anlass hat die zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer (ZEKO) bereits 2013 in einer Stellungnahme vor einer zunehmenden Ausrichtung der Krankenhauspolitik an ökonomischen Zielsetzungen gewarnt. Sehr konkret wurden hierbei die kritischen Elemente benannt: die Ausnutzung von Fallpauschalen und das Stellen von Indikationen zu besonders gewinnbringenden Untersuchungen und Operationen8.

Der Berufsverband der Deutschen Chirurgen (BDC) hat sich zum Ziel gesetzt, das Potenzial in der natürlichen Partnerschaft zwischen Kaufleuten und Chirurgen in der stationären Patientenversorgung offenzulegen und so die Balance zwischen Ethik und Monetik im Krankenhaus zu fördern.

Als Grundlage soll als erste Schlüsselstelle für die Gestaltung des Zusammenspiels aus Ethik und Ökonomie im Krankenhaus zunächst der Startpunkt der Zusammenarbeit untersucht werden – das Bewerbungsverfahren und der Berufsstart chirurgischer Chefärzte. In Zusammenarbeit mit Klinikern, Ökonomen, Soziologen und Medizinethikern führte der BDC dazu eine repräsentative Umfrage unter Chefärzten chirurgischer Fächer durch, welche von 2016 bis 2019 eine Führungsposition übernommen haben. Dabei sollte untersucht werden, wie ökonomischer Druck die Auswahl und den Start des leitenden Chirurgen prägt, und wo Möglichkeiten existieren, schon zu Beginn des Engagements Einfluss auf die zukünftige Gewichtung originär ärztlicher Zielsetzungen und ökonomischer Maximen zu nehmen.

Methodik

Innerhalb eines dreistufigen Untersuchungsdesigns erfolgte zunächst eine Analyse von Stellenanzeigen für Chefarztpositionen. Im zweiten Schritt wurden die Ergebnisse mit einer qualitativen Befragung ausgewählter Interviewpartner kombiniert. Auf dieser Basis wurde danach ein Fragebogen entwickelt, der als Vollerhebung alle in Frage kommenden chirurgischen Chefärzte, die in den zurückliegenden drei Jahren eine Leitungsposition übernommen hatten, adressierte.

Zunächst interessierte, ob die Inhalte von Stellenanzeigen die Zielvorgaben der Stellenanbieter bereits erkennen lassen. Dazu wurden alle Stellenanzeigen im Deutschen Ärzteblatt aus dem Zeitraum 01/2017 bis 12/2018 (n = 91) in den Fachgebieten Allgemein- u. Viszeralchirurgie, Thoraxchirurgie, Herzchirurgie, Plastische Chirurgie, Kinderchirurgie, Gefäßchirurgie und Unfallchirurgie/Orthopädie für Krankenhäuser in Deutschland gesichtet. Die Angaben zu Erwartungen an potenzielle Stellenbewerber und zum Angebot des Stellenanbieters wurden einzeln notiert, kategorisiert und qualitativ analysiert. Auf dieser Grundlage wurden sowohl die Hypothese präzisiert als auch Fragestellungen für die später vorgenommenen Pilotinterviews entwickelt.

Im zweiten Schritt wurden sieben qualitative Pilotinterviews mit einer Auswahl von Personen aus dem Adressatenkreis durchgeführt (Interviewer E. A.).10 Die Pilotinterviews hatten wenige, überwiegend offene Fragen zum Inhalt, die ein freies und offenes Antworten ermöglichten.11 Die Technik entspricht einem Leitfadeninterview. Die Antworten wurden zunächst qualitativ untersucht, und dann einer inhaltsanalytischen Auswertung unterzogen.12,13,14 Ergänzend wurde im Anschluss an jedes Interview ein sogenanntes „Ambienteprotokoll“15 geführt.

Auf Grundlage der Pilotinterviews und etablierter Instrumente für strukturierte Online-Fragebögen16,17 wurde im dritten Schritt ein Katalog von offenen und geschlossenen Fragen zu Inhalten der Bewerbungsgespräche und den ersten Zielvereinbarungen (in der Regel sechs bis zwölf Monate nach Stellenantritt) entwickelt. Die Methode zur Durchführung von Pilotinterviews und des hieraus entwickelten Online-Fragebogens orientiert sich an Empfehlungen von Schnell16, Hollenberg17 und Mayring.18,19

Die Adressaten wurden aus dem Verteiler des BDC per E-Mail angeschrieben. Insgesamt wurden 1.890 E-Mails an die beim BDC registrierten chirurgischen Chefärzte und Oberärzte versandt. Oberärzte wurden unter der Annahme eines eventuell schon erfolgten Wechsels in die Chefarztposition integriert, bei Nichtantritt einer Chefarztposition aber wieder ausgeschlossen.

Ergebnisse (Zusammenfassung)

Die Stellenanzeigen lassen einen ausgeprägten Schwerpunkt ökonomischer Zielsetzungen und auch Anreize für das Stellenprofil leitender Krankenhauschirurgen erkennen. Die demografischen Ergebnisse zu Krankenhausgröße, Abteilungsgröße, Trägerschaft zeigen eine repräsentative Kohorte. Insgesamt sind sowohl ein hoher Stellenwert ökonomischer Zielvorgaben und hieraus entstehender Druck auf die Bewerber und Berufsstarter in der chirurgischen Krankenhausleitung zu erkennen, als auch in Anteilen deren Identifikation mit ökonomischen Zielsetzungen – sowohl in der qualitativen als auch in der quantitativen Analyse und freien Kommentaren. Das Bewerbungsgespräch wird als Möglichkeit gesehen, auf die Gewichtung ökonomischer gegenüber originär ärztlichen und ethischen Zielsetzungen für die chirurgische Leitungstätigkeit Einfluss zu nehmen.

Schlussfolgerungen

Das Gewicht ökonomischer Maßgaben bei Übernahme einer Leitungsfunktion in der Chirurgie ist hoch. Die Wahrnehmung hierzu ist gemischt: wir registrierten sowohl sehr kritische als auch bejahende Bewertungen durch die Betroffenen. Handlungsspielräume beim Berufsstart für den Chefarzt sollten aktiv genutzt werden.

Fußnoten und Quellen

  1. Thielscher, C. (2018): Zur Pathogenese der Ökonomisierung in Deutsches Ärzteblatt, S. A 1946, Heft 43, Ausgabe 10/2018.
  2. Wehkamp, K.H. und Naegler, H. (2017): Ökonomisierung patientenbezogener Entscheidungen im Krankenhaus – Eine qualitative Studie zu den Wahrnehmungen von Ärzten und Geschäftsführern, in Deutsches Ärzteblatt – Dtsch Arztebl Int 2017; 114:797–804.
  3. Albrecht, B. (2019): 215 Ärzte fordern im Stern: Mensch vor Profit, S. 24 ff. in Stern Ausgabe 37 vom 05.09.2019.
  4. Albrecht, B. (2019): Ärzte-Appell im „Stern“: Mensch vor Profit in Hamburger Ärzteblatt – S. 22, Ausgabe 10/2019; 73. Jahrgang vom 10.10.2019.
  5. Ulsenheimer, K. (2015), Fehlentwicklungen in der Medizin: Verrechtlichung und Ökonomisierung, S. 757 ff., MedR 33, 757–762 (2015). https://doi.org/10.1007/s00350-015-4125-9, Zugriff am 26.04.2020.
  6. Vogd, W.; Feist, M.; Ostermann, A. und Molzberger, K. (2017): Führungskräfte im Krankenhaus – Umgang mit ökonomischem Druck, in Deutsches Ärzteblatt – Dtsch Arztebl 114(43): A 1972, Deutsches Ärzteblatt Heft 43, 2017.
  7. Martin, W. (2014): Ärztlicher Stellenmarkt: Will bald niemand mehr Chefarzt werden? in Deutsches Ärzteblatt, Dtsch Arztebl 111(39): 2.
  8. ZEKO (2013): Ärztliches Handeln zwischen Berufsethos und Ökonomisierung. Das Beispiel der Verträge mit leitenden Klinikärztinnen und -ärzten, S. A 1752 ff. in Deutsches Ärzteblatt, Dtsch Arztebl 110(38): Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer, Tübingen.
  9. In der folgenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form verwendet. Sie bezieht sich auf Personen beiderlei Geschlechts.
  10. Mit Hilfe von Berufsverbandszeitschriften ließ sich ein wesentlicher Anteil der Gesamtmenge an chirurgischen Chefärzten, die in den zurückliegenden drei letzten Kalenderjahren eine neue Chefarztposition eingenommen hatten, feststellen. Per Losverfahren wurde eine Gruppe von 20 Vertretern ermittelt. Diese wurden unter Zusage von strikter Anonymisierung um einen Interviewtermin zum o.g. Forschungsgegenstand gebeten. Sieben Chefärzte erklärten ihre Bereitschaft, sich einer Befragung zur Thematik unterziehen zu wollen.
  11. Bei den in den Pilotinterviews vorgenommenen Befragungen wurden zunächst drei Hauptfragenkomplexe thematisiert, die jeweils Unterfragen beinhalteten. Je nach Gesprächsverlauf folgten weitere, offene, teils aber auch geschlossene Fragen.
  12. Mayring, Phillip (2008): Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken, S. 42 ff., 10. Auflage, Weinheim und Base, Beltz-Verlag.
  13. Mayring, P. und Fenzl, T. (2019): Qualitative Inhaltsanalyse in Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, S. 633 ff., 2. Auflage, Wiesbaden, Springer-Verlag.
  14. Mayring P. (2010): Design in Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, S. 226 ff., Mey, G. und Mruck, K. (Hrsg) Wiesbaden, VS-Verlag.
  15. Das „Ambienteprotokoll“ hat zum Ziel, die Gesprächsumstände nachzuhalten. Der Protokollant dokumentiert den Ort, Zeit, Atmosphäre, etwaige Störungen, etc. Auf diese Weise ermöglicht das „Ambienteprotokoll“ auch im Nachhinein auf folgende Fragen und Umstände Informationen zu liefern: Wie wurde der Interviewer empfangen? War die Gesprächsatmosphäre freundlich, offen, konstruktiv? Wie waren Setting, Örtlichkeit, Raumausstattung? Wie war der Zeitrahmen – „gehetzt“ oder ausreichend bemessen?
  16. Schnell, R. (2019): Survey Interviews – Methoden standardisierter Befragungen, S. 5ff., S. 55 ff., S. 65 ff., 2. Auflage, Wiesbaden, Springer-Verlag.
  17. Hollenberg, S. (2016): Fragebögen – Fundierte Konstruktion, sachgerechte Anwendung und aussagekräftige Auswertung, S. 5ff., S. 11ff., S. 23ff, Köln, Wiesbaden, Springer VS.
  18. Mayring, P. und Fenzl, T. (2019): Qualitative Inhaltsanalyse in Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, S. 633 ff., 2. Auflage, Wiesbaden, Springer-Verlag.
  19. Mayring P. (2010): Design in Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, S. 226 ff., Mey, G. und Mruck, K. (Hrsg) Wiesbaden, VS-Verlag.

Allemeyer E, Siewert A C, Wehkamp K-H, Vogd W, Krones C J: Eine klare Haltung beim Start in die Führungsposition ist unverzichtbar für eine dauerhaft tragfähige Balance zwischen Ethik und Ökonomie in der Chirurgie. Passion Chirurgie. 2021 September; 11(09): Artikel 05_01.

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Autoren des Artikels

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Dr. med. Erik Allemeyer

Leitender ArztSektion Proktologie, Kontinenz- und BeckenbodenchirurgieFranziskus Hospital HarderbergAlte Rothenfelder Straße 2349124Georgsmarienhütte kontaktieren
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