Alle Artikel von Andreas Schnitzbauer

Editorial: Evidenzbasierte Medizin (EbM)

Schauen wir in die Geschichte der Medizin, so entsteht Evidenz häufig auf dem Boden von Irrtümern oder Unsicherheiten und nicht einmal so selten auf zufälligen Beobachtungen. Dessen müssen wir uns auch heute immer wieder bewusst werden, wenn wir glauben, dass etwas genauso sein muss, wie es die beste verfügbare Studie des besten Chirurgen in einem Spezialbereich aussagt. Nein, denn was heute vielleicht beste Evidenz ist, kann morgen bereits wieder falsch oder zumindest verbessert worden sein. Nichtsdestotrotz haben wir heute wirkungsvolle Instrumente, die uns ermöglichen das Wissen systematisch zu erweitern und zu untersuchen. Wir wollen Ihnen mit dieser Sonderausgabe zu Evidenzbasierter Medizin den abstrakten theoretischen Begriff der Evidenzbasierten Medizin (EbM) näher bringen und mit praktischem Wissen und Leben füllen.

Herr Dr. Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berliner, wird Ihnen dazu einen kleinen Leitfaden zur Verfügung stellen, was Sie von Evidenzbasierter Medizin erwarten dürfen und was eben nicht. Er zeigt auch, wie sich die EbM aus ihrem stiefmütterlichen Dasein zu unserem zentralen Qualitätsinstrument in der Behandlung unserer Patienten gemausert hat und dass EbM keineswegs unsere ärztlichen Basisfähigkeiten, wie eine dezidierte Anamnese oder einen guten und wachsamen klinischen Blick ersetzt. Sie ergänzt es lediglich sinnvoll und hilft uns bei algorithmischem Vorgehen im Therapiefindungsprozess.

Im weiteren stellen wir Ihnen eine Umfrage unter englischen und deutschen Chirurgen vor, die das Wissen um EbM eruieren sollte. Trotz limitierter Teilnehmerzahl zeigt sich, dass EbM als Instrument in der täglichen Entscheidungsfindung angenommen wird, allerdings eine Diskrepanz zwischen wahrgenommener und tatsächlich vorhandener Evidenz besteht. Darüberhinaus zeigten viele persönliche Kommentare, dass ein sicherer Umgang mit Publikationen und Suchmaschinen oder Leitlinien, trotz Wissen um die Existenz und Bedeutung dieser Instrumente oftmals nicht gegeben ist und zu großer Unsicherheit führt.

Analog zu den Ergebnissen haben die Kolleginnen und Kollegen um PD Dr. Markus Diener (Leiter des Studienzentrums der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie) vom Universitätsklinikum Heidelberg einen ausführlichen Artikel zur Klärung der Grundbegriffe zu EbM sowie im Praxisteil eine Anleitung zur Qualitätsbeurteilung von wissenschaftlichen Publikationen erstellt, der Ihnen helfen soll sicher durch den Dschungel an Informationen zu navigieren und die Spreu vom Weizen zu trennen. Passend dazu, stellen die Kollegen um Frau PD Dr. Stroh aus Gera Beobachtungsstudien für die chirurgische Qualitätssicherung als eine gute Alternative zu randomisierten kontrollierten Studien vor. Eine kleine Übersicht gängiger und hilfreicher Quellen soll Ihr neu erworbenes Wissen unterfüttern. An drei kurzen einfachen Praxisbeispielen wird die Anwendung der EbM sowie der entsprechenden Quellen kurz noch plastisch erläutert.

Wir hoffen, dass wir Ihnen Evidenzbasierte Medizin mit dieser Übersicht näher bringen können und dass Sie etwas sicherer durch den Alltag geleitet werden. Im heutigen schnellen Wandel in der Gesellschaft und der Medizin ist sie für uns Chirurgen ein unabdingbarer Begleiter zur optimalen Betreuung unserer Patienten und hilft uns Qualität transparent zu machen. Durch die Etablierung entsprechender Forschungszentren und Schwerpunkte haben wir als Chirurgen bewiesen, dass wir diese Herausforderung klinisch und wissenschaftlich annehmen wollen und umsetzen können. Neben der Erweiterung der Evidenz durch klinische Studien zu Unsicherheiten sowie der Durchführung von Qualitätssicherungsstudien steht uns hier ein optimales Handwerkszeug zur sicheren Therapie für unsere Patienten parat.

Viel Spaß beim Lesen!

Schnitzbauer A. Editorial Evidenzbasierte Medizin (EbM). Passion Chirurgie. 2014 März; 4(03): Artikel 01.

Praxis I: Was Evidenz im medizinischen Alltag wirklich bringt und was tun, wenn keine oder nur wenig Evidenz vorhanden ist?

Einführung

Jeder Chirurg und wohl auch jeder andere Arzt stand im Laufe seiner medizinischen Tätigkeit sicherlich schon häufiger vor der Frage, was für seinen Patienten in einer gewissen Situation medizinisch das Beste ist. Das Beste kann hierbei eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben, immer in Abhängigkeit aus welchem Blickwinkel man es betrachtet. „Der Chef will das so“, „der Patient will auf keinen Fall“, „die Internisten wollen, dass…“, „das machen wir schon immer so“ sind Sätze, die den meisten von Ihnen bekannt sein dürften. Ich selbst kann mich sehr lebhaft an den Satz eines Kollegen erinnern, der immer einwarf: “Wie ist die Evidenz?“ Dieser Satz sollte viel häufiger gefragt werden. Es gibt nicht für jede Situation medizinische Evidenz, die dem Patienten optimal hilft, aber man sollte versuchen, die beste Evidenz, unter Berücksichtigung des Zustandes und des Wunsches des Patienten zu finden und zu empfehlen. Hierzu werden im Folgenden drei Beispiele aus der Klinik aufzeigen, die unterschiedliche Herausforderungen hinsichtlich ihrer existierenden Evidenz bieten.

Praxisbeispiel I: Die früh elektive laparoskopische Cholezystektomie ist Mittel der Wahl in Patienten mit akuter Cholezystitis

In der S3-Leitlinie zum Gallensteinleiden wird mit guter Evidenz aus randomisierten und kontrollierten Studien sowie Metaanalysen (Evidenzlevel Ia) mit starkem Konsensus die frühelektive laparoskopische Cholezystektomie bei Patienten mit akuter Cholezystitis empfohlen [1, 2]. Nichtsdestotrotz, gibt es bei Patienten, die sich mit einer akuten Cholezystitis vorstellen, Diskussionen, ob eine Therapie im Intervall nicht besser sei. Diese Überlegung mag prinzipiell nachvollziehbar sein, da bei den meisten Patienten der Symptombeginn nicht mit dem Tag der Vorstellung beim Arzt einhergeht und oftmals eine bereits mehrere Tage bestehende Cholezystitis vorliegt. Hier erhält das Grundinstrument ärztlichen Handelns, nämlich eine präzise Anamnese, die Hauptrolle, dies adäquat herauszufiltern. Jedoch, zeigen praktisch alle Studien, dass die Sekundärkomplikationen der initial konservativen Therapie die Morbidität im Vergleich zu sofort operierten erhöhen und auch zu einem längeren Krankenhausaufenthalt führen. Darüber hinaus wurde die bis dato vorliegende Evidenz (jeweils randomisierte Studien mit etwa 50 Patienten in den Behandlungsarmen) durch eine weitere prospektiv randomisierte Studie mit über 600 Patienten bestätigt, die nochmals eindrucksvoll die reduzierte Gesamtmorbidität, den verkürzten Krankenhausaufenthalt und die betriebswirtschaftlichen Einsparungen nach sofortiger Cholezystektomie bei Cholezystitis bestätigte [3].

Praxisbeispiel II: Das Rektumkarzinom kann stadiengerecht mit einem hohen Maß an Evidenz therapiert werden, das Vorgehen bei metastasiertem Leiden zeigt eine dramatische Abnahme guter Evidenz

Das Rektumkarzinom darf in seiner stadiengerechten Therapie salopp formuliert als „alte Kamelle“ bezeichnet werden, haben wir hierzu doch sehr gute Level Ib-Evidenz. Jedem sollte klar sein, dass im Stadium UICC II und III die Patienten von einer neoadjuvanten Therapie hinsichtlich des Lokalrezidivrisikos profitieren [4]. Schwerer wird es bei metastasierten Erkrankungen, die immerhin gut 50 % aller Patienten bezüglich des Auftretens von Lebermetastasen betreffen. Die Evidenz zur algorithmischen Therapie ist niedrig (Evidenzlevel III) und betrifft sowohl Indikation zur Resektion, als auch auf die perioperative Chemotherapie. Allerdings besteht ein breiter Konsens, dass resektable Metastasen reseziert werden sollen. Die Wertigkeit der perioperativen Chemotherapie ist weiter nicht auf höchstem Evidenzlevel geklärt, allerdings laufen hierzu randomisierte kontrollierte Studien, wie etwa die Panther-Studie der Kollegen aus Aachen.

Praxisbeispiel III: Sigmadivertikulitis. Eine häufige Erkrankung ohne wirklich gute Evidenz zur stadiengerechten Therapie

Die Sigmadivertikulitis ist eine häufige Erkrankung, für die es derzeit keine leitlinienbasierten Empfehlungen in Deutschland gibt. Schaut man in die Cochrane-Datenbank, so finden sich keine systematischen Übersichtsarbeiten und Metaanalysen von randomisierten kontrollierten Studien. Zwar orientieren wir uns heute an der Klassifikation von Hansen und Stock, die uns ein algorithmisches Stadien-gerechtes Vorgehen vorgibt, allerdings gibt es bei dieser Erkrankung nachwievor keine großen randomisierten kontrollierten Studien. Allerdings gibt es große Kohortenstudien, die eine gute Alternative zu RCTs darstellen können. So konnte in einem aktuellen systematischen Review gezeigt werden, dass gerade die aggressiven und chirurgisch-interventionellen Therapien etwas an Bedeutung verlieren, da viele Schübe der Sigmadivertikulitis benigne verlaufen und keiner aggressiven Therapie bedürfen [5]. Erfreulicherweise wird hierzu unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten und der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie eine Leitlinie erstellt, um die recht unübersichtliche Datenlage zu strukturieren und die Evidenzgrade mit Empfehlungen zu versehen.

Zusammenfassend kann vorhandene Evidenz, die in leicht verdauliche Häppchen in Form von medizinischen Leitlinien portioniert ist, helfen leichter und schneller Therapieentscheidungen zu treffen. Allerdings sollte man gerade in Leitlinientexten sehr darauf achten, mit welcher Evidenz und welchem Konsens eine Empfehlung ausgesprochen wird. Dies zeigt sich besonders gut am Beispiel des kolorektalen Karzinoms, das im fortgeschrittenen metastasierten Stadium mit potentiell kurativem Ansatz (z. B. Lebermetastasen) nur mit Empfehlungen auf niedrigem Niveau aufwarten kann. Schwierig wird es bei Erkrankungen, deren Therapie in erster Linie auf Erfahrungen und Kohorten beruht. Systematische Übersichtsarbeiten können helfen, zumeist hängt die Therapie jedoch stark von Vorgaben in der jeweiligen Klinik ab, was vor allem für junge Kollegen mitunter Schwierigkeiten in der richtigen Einschätzung der Therapie mit sich bringen kann. Leitlinien sind von daher ein wichtiger Schritt aus dem ersten Dilemma, die mangelnde Evidenz sollte uns wissenschaftlich interessierten Chirurgen aber Ansporn für die Durchführung von randomisierten kontrollierten Studien sein, um mit Dogmen in der Medizin aufzuräumen und Unsicherheiten zu beseitigen.

Literatur

[1] Lammert, F. et al. [S3-guidelines for diagnosis and treatment of gallstones. German Society for Digestive and Metabolic Diseases and German Society for Surgery of the Alimentary Tract]. Z Gastroenterol 45, 971–1001 (2007).

[2] Lammert, F. et al. [Short version of the updated S3 (level 3) guidelines for diagnosis and treatment of gallstones of the German Society for Digestive and Metabolic Diseases and the German Society for the Surgery of the Alimentary Tract]. Dtsch. Med. Wochenschr. 133, 311–316 (2008).

[3] Gutt, C. N. et al. Acute cholecystitis: early versus delayed cholecystectomy, a multicenter randomized trial (ACDC study, NCT00447304). Ann. Surg. 258, 385–393 (2013).

[4] Sauer, R. et al. Preoperative versus postoperative chemoradiotherapy for rectal cancer. N. Engl. J. Med. 351, 1731–1740 (2004).

[5] Morris, A. M., Regenbogen, S. E., Hardiman, K. M. & Hendren, S. Sigmoid diverticulitis: a systematic review. JAMA 311, 287–297 (2014).

Schnitzbauer A. A. Praxis I: Was Evidenz im medizinischen Alltag wirklich bringt und was tun, wenn keine oder nur wenig Evidenz vorhanden ist? Passion Chirurgie. 2014 März, 4(03): Artikel 02_03.

Das Wissen und die Einstellung deutscher und britischer Chirurgen zu Evidenzbasierter Medizin

Wie es zu einer Umfrage zur Evidenz basierten Medizin kam

Evidenzbasierte Medizin (EbM) ist ein essentieller Bestandteil einer vernünftigen und konklusiven Entscheidungsfindung für die beste Therapie eines jeden individuellen Patienten in der täglichen klinischen Praxis basierend auf der besten verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz. Somit ist EbM ein unabdingbarer Leitfaden in jeglichem Bereich der Medizin, der Qualität gewährleisten kann. Selbstverständlich gibt es aber nicht für jede Erkrankung und der damit verbundenen Diagnostik und Therapie das gleiche Maß an Evidenz. Im Rahmen der Exzellenzakademie der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie 2011 kam es bei der Diskussion meines Vortrages „Klinische Studien zur Erweiterung der Evidenz in der Viszeral- und Transplantationschirurgie“ zur Frage, wie Chirurgen von EbM zu überzeugen sind. Quintessenz des darauffolgenden Gesprächs war, dass man hierzu erst das Wissen um EbM und die möglicherweise bestehenden Bedürfnisse bezüglich EbM bei deutschen Chirurgen eruieren müsste. Daraus entstand die Idee einer Umfrage bei deutschen und britischen Chirurgen, die internetbasiert durch den BDC und das Royal College of Surgeons of England unterstützt wurde. Im Folgenden möchte ich Ihnen die Umfrage sowie deren Ergebnisse und die sich daraus ergebenden Schlüsse vorstellen.

Der Fragebogen

Zunächst wurde ein Fragebogen (PDF des Fragebogen am Ende des Artikels) entwickelt, mit dessen Hilfe man Wissen und Informationen zur EbM generell und spezifisch an Hand eines klinischen Beispiels abfragen konnte. Insgesamt legten wir ein Hauptaugenmerk auf einen kurzen und schnell auszufüllenden Fragebogen, der nicht länger als fünf Minuten Zeit beanspruchen sollte (Supplement 1: Fragebogen in Deutscher Sprache). Nach einem externen Review des Fragebogens durch das Centre of Evidence in Transplantation der University London, wurde der Fragebogen online aktiviert. Die Einladung zur Teilnahme an der Umfrage erfolgte über die E-Mailverteiler des Berufsverbandes Deutscher Chirurgen (BDC) sowie des Royal College of Surgeons of England (RCSE), mit insgesamt 40.000 E-Mailadressen. Die Umfrage fand zwischen Mai 2012 und Dezember 2012 statt.

Niedrige Teilnehmerzahl, überwiegend Oberärzte aus Schwerpunkt- und Maximalversorgern

Insgesamt nahmen 549 Personen an der Umfrage teil, von denen allerdings nur 198 den Fragebogen komplett ausfüllten. Prinzipiell muss man zu dieser niedrigen Teilnehmerzahl im Verhältnis zur Menge an kontaktierten Patienten folgendes sagen: Etwa 30 % aller Mitglieder des BDC und des RCSE öffnen ihre E-Mails mit den aktuellen Newslettern. Davon liest etwa die Hälfte den Newsletter und wird möglicherweise auf die beworbene Umfrage auf der ersten Seite aufmerksam. Grob geschätzt müssten etwa 6.000 Personen erreicht werden. Unter diesem Aspekt ist die Teilnahme von 198 Personen mit suffizient ausgefülltem Fragebogen sehr niedrig. Möglicherweise ist sie aber auch ein Hinweis auf die niedrige Priorität des Themas unter Chirurgen.

Unter den Teilnehmern waren 96 aus UK und 102 aus Deutschland (D). Es nahmen überwiegend Männer (78 %) an der Umfrage teil, die Altersgruppen 41 bis 50 Jahre (22 %) und >50 Jahre (32 %) waren die stärksten, davon waren etwa 40 % im Rang eines Oberarztes. Schwerpunktversorger (36 %) und Häuser der Maximalversorgung inklusive Universitätsklinika (55 %) stellten die meisten Teilnehmer.

Der Nutzen Evidenzbasierter Medizin wird in UK und Deutschland als hoch eingeschätzt

Auf einer Skala von 1 (unwichtig) bis 10 (sehr wichtig) schätzten die Teilnehmer den Nutzen von EbM bezüglich ihrer täglichen Arbeit (im Mittel 7,3), für das Gesundheitssystem (7,8) und für Patienten (7,8) als überdurchschnittlich wichtig ein. Interessanterweise schätzen UK-Chirurgen den Nutzen von EbM bezüglich ihrer täglichen Arbeit als signifikant wichtiger ein, als ihre deutschen Kollegen (7,9 vs. 6,7: p<0.001). Hinsichtlich des Nutzen für den Patienten besteht lediglich ein Trend zwischen UK und D (8,1 vs. 7,5: p=0.065) (Tabelle 1).

Tab. 1: Einschätzung des Nutzen Evidenzbasierter Medizin

Wie schätzen Sie den Nutzen Evidenzbasierter Medizin…

 

Mean

Standard Abweichung

Median

Min. /Max.

…in Bezug auf Ihre tgl. Arbeit ein?

7.3

1.9

8

1 bis 10

…in Bezug auf das Gesundheitssystem ein?

7.8

1.9

8

1 bis 10

…für Patienten ein?

7.8

1.9

8

1 bis 10

Am klinischen Beispiel der laparoskopischen Cholezystektomie offenbaren sich deutliche Unterschiede zwischen UK und Deutschland

Um die abstrakten Begriffe der EbM fassbarer zu machen, erstellten wir einen kleinen Themenkomplex zur laparoskopischen Cholezystektomie und versuchten zu eruieren, wieso Chirurgen denken, dass dies heute die operative Standardversorgung bei Gallenblasenentzündungen und Steinleiden ist. Hierbei dachten auf einer Skala von 1 (falsch) bis 10 (richtig) signifikant mehr Chirurgen aus UK, dass sie sicherer sei (4,9 vs. 3,2: p<0.001) und dass sie Kosten-effektiver für das Gesundheitswesen ist (6,7 vs. 4,6: p<0.001). Dagegen dachten signifikant mehr Chirurgen aus D, dass sie die Standardbehandlung sei, weil Patienten danach fragen (7,7 vs. 5,8: p<0.001). Schaut man zu diesen Aussagen in die Literatur, so stellt man fest, dass die Überlegenheit einer Operationsmethode hinsichtlich ihrer Sicherheit (Auftreten von Komplikationen) nicht belegt werden kann, dass Patienten nach laparoskopischer Cholezystektomie aber schneller aus der Klinik entlassen werden können [1-11]. Hinsichtlich der Kosten und Patientenpräferenz gibt es bis dato ebenfalls keine Daten in der Literatur, die eine Überlegenheit oder Mehreinforderung der laparoskopischen Methode durch Patienten belegen würde. Die laparoskopische Methode ist somit nicht unterlegen, hat sich als Mittel der Wahl etabliert und unterliegt möglicherweise auch einer gewissen suggestiven Propaganda von Seiten unserer eigenen Profession (Tabelle 2).

Tab. 2: Einschätzung laparoskopische Cholezystektomie als Standard

Alle Teilnehmer (n=198)

 

UK (n=96)

Deutschland (n=102)

 

Mean

Standard Abweichung

Median

Min./Max.

Mean

Standard Abweichung

Median

Min./Max.

p-value

Wie schätzen Sie den NUtzen Evidenz-basierter Medizin…

1=unwichtig, 10=sehr wichtig

…in Bezug auf Ihre tägliche Arbeit?

7.9

1.6

8

3 bis 10

6.7

2.1

8

1 bis 10

<0.001

…in Bezug auf das Gesundheitssystem?

7.8

1.9

8

2 bis 10

7.4

2.1

8

1 bis 10

0.255

…in Bezug auf Patienten?

8.1

1.6

8

2 bis 10

7.5

2.0

8

1 bis 10

0.065

Die laparoskopische Cholezystektomie wird heute standardmäßig durchgeführt, weil…

1=falsch, 10=richtig

…sie sicherer ist

4.9

2.3

5

1 bis 10

3.2

2.4

5

1 bis 9

<0.001

…Patienten danach fragen

5.8

2.5

5

1 bis 10

7.7

2.3

5

1 bis 10

<0.001

…sie kosteneffektiver ist

6.7

2.4

7

1 bis 10

4.6

2.9

7

1 bis 10

<0.001

Welche Studien erweitern die Evidenz signifikant?

1=unwichtig, 5=sehr wichtig

Metaanalysen

4.6

0.6

5

2 bis 5

4.5

0.6

5

2 bis 5

0.56

Randomisierte kontrollierte Studien

4.4

0.6

4

3 bis 5

4.6

0.5

4

3 bis 5

0.01

Systematische Reviews

3.7

0.7

4

2 bis 5

3.4

0.8

4

1 bis 5

0.001

Individuelle Kohortenstudien

2.9

0.8

3

1 bis 5

2.7

0.8

3

1 bis 5

0.016

Fallkontrollstudien

2.9

0.8

3

1 bis 5

2.7

1.0

3

1 bis 5

0.161

Fallserien

2.4

1.0

2

1 bis 5

2.2

1.0

2

1 bis 5

0.092

Expertenmeinungen

2.5

1.2

2

1 bis 5

2.3

1.1

2

1 bis 5

0.182

Die Einschätzung der Bedeutung der Evidenzlevel in UK und Deutschland sind in etwa gleich

Ein weiteres Element des Fragebogens war die Frage danach, welche Studien die Evidenz in der Medizin tatsächlich erweitern. Hier maßen Chirurgen aus beiden Ländern erfreulicherweise Metaanalysen, randomisierten kontrollierten Studien und systematischen Reviews die höchste Bedeutung zu, was zeigt, dass EbM als wichtiges Thema erkannt und ihre starken Instrumente richtig eingeschätzt werden (Tabelle 2). Nichtsdestotrotz bleibt es ein abstraktes Feld, mit nachwievor mangelhafter Umsetzung der Theorie in der klinischen Praxis. Da dies ein recht schwer messbarer Parameter ist, hatten die Teilnehmer am Ende des Fragebogens noch die Möglichkeit in einem Feld Kommentare sowie Wünsche und Anregungen zu geben.

Zu hierarchisch, kein interdisziplinäres Gespräch, keine Zeit

Insgesamt erhielten wir 172 Kommentare mit gleicher Verteilung und auch ähnlichen Inhalten und gleicher Gewichtung aus beiden Ländern. Die häufigsten Kommentare lesen sich wie eine immer wieder kehrende Parabel der Berufswelt, die nicht nur in der Medizin vorherrschen: 59 Kommentare beklagten die weiterhin zu strikten Hierarchien in den Kliniken, die zu Entscheidungen durch den Chef, ohne interdisziplinäre Aspekte und Diskussion führten. Weiterhin wurde in 31 Fällen mangelnde Zeit zur Umsetzung von EbM beklagt. Interessanterweise fühlten sich einige Teilnehmer auch von der Flut vorhandener Informationen erschlagen und der Schwierigkeit die beste Evidenz für die Behandlung ihrer Patienten zu identifizieren. Andere Probleme, die gesehen wurden war die mangelnde Evidenz für Behandlungen, Mangel an Leitlinien, und individualisierte Therapien für Patienten ohne etablierte Leitlinien.

Lösungen, Lösungen, Lösungen

Die Wissenslücken hinsichtlich EbM wurden in Deutschland bereits erkannt. So ist sie heute ein Bestandteil des Studiums der Humanmedizin. Ein gutes Beispiel für die Integration vom EbM in Gesellschaften ist der Syllabus der European Union of Medical Specialists of Surgery and European Board of Surgery, die das Interpretieren und Analysieren von randomisierten klinischen Studien in der Prüfung der jeweiligen Subdivisionen vorsehen. Zudem führt eine Zertifizierung von speziellen Organzentren durch die Vorgabe der Diagnostik, Therapie und Nachsorge auf dem Boden von Leitlinien und der besten verfügbaren Evidenz zu einer vergleichbaren Umsetzung von EbM zwischen Zentren, die interdisziplinäres Handeln obligat fordert und dadurch auch zu einem Aufweichen von Hierarchien führt. Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie fördert darüber hinaus seit Jahren ein eigenes Studienzentrum (SDGCH in Heidelberg), welches die Vernetzung klinisch chirurgischer Forschung in Deutschland koordiniert, Studien plant, bei der Planung unterstützt und selbst durchführt. Zudem gibt es Datenbanken, wie die Cochrane-Bibliothek oder die Transplant Library des Centre for Evidence in Transplantation, in der vor allem randomisierte kontrollierte Studien, Metaanalysen und systematische Übersichtsarbeiten gefunden werden können und somit hilft, quasi die Spreu vom Weizen der Evidenz zu trennen.

Welche chirurgischen Unklarheiten bedürfen nun weiterer Klärung?

Klassische chirurgische Techniken (Operation nach Kausch-Whipple etc.), die seit Jahrzehnten etabliert und in den großen Lehrbüchern beschrieben sind, sollten als Standardtherapie gelten und werden als etabliertes Vorgehen wohl auch kaum angezweifelt. Allerdings gibt es immer wieder Teilaspekte von Operationen (Stapler vs. Handnaht bei Darmanastomosen etc.) oder neue Operationstechniken (ALPPS-Prozedur, NOTES oder SILS-Techniken etc.), die weiterer klinischer Forschung und Generierung von Evidenz bedürfen, um ihre Berechtigung im Vergleich zu anderen Therapien zu überprüfen. Darüberhinaus gibt es auch Erkrankungen (z. B. Sigmadivertikulitis etc.) für deren Behandlung es keine Leitlinien gibt, die auf randomisierten kontrollierten Studien beruhen würden. Zuletzt stehen komplexe Behandlungsentscheidungen, die oftmals mit klinischen Unsicherheiten einhergehen und noch tieferer Klärung bedürfen. Zur Lösung sollten sich forschende Chirurgen am IDEAL-Statement zur Generierung der besten Evidenz in der Chirurgie orientieren.

Zusammenfassung

Die Umfrage zeigt trotz ihrer limitierten Teilnehmerzahl, dass EbM als wichtiges Instrument der täglichen klinischen Entscheidungsfindung bei chirurgischen Problemen gesehen wird. Nichtsdestotrotz besteht eine Diskrepanz zwischen wahrgenommener und tatsächlich vorhandener Evidenz in der Chirurgie in Deutschland. Die Notwendigkeit zur vertieften Ausbildung im Rahmen des Studiums und der Weiterbildung wurde erkannt, ein nationales Studienzentrum etabliert und somit die Rahmenbedingungen geschaffen, die durch uns Chirurgen lebendig gestaltet und angenommen werden müssen. Durch die Verbesserung der Kenntnis der EbM auf diesen drei Säulen, können klinische Unsicherheiten einfacher beseitigt und die Qualität unserer medizinischen Versorgung im Sinne des Patienten stetig verbessert werden.

Literatur

[1] Keus, F., de Jong, J. A. F., Gooszen, H. G. & van Laarhoven, C. J. H. M. Laparoscopic versus open cholecystectomy for patients with symptomatic cholecystolithiasis. Cochrane Database Syst Rev CD006231 (2006). doi:10.1002/14651858.CD006231

[2] Keus, F., de Jong, J. A. F., Gooszen, H. G. & van Laarhoven, C. J. H. M. Laparoscopic versus small-incision cholecystectomy for patients with symptomatic cholecystolithiasis. Cochrane Database Syst Rev CD006229 (2006). doi:10.1002/14651858.CD006229

[3] Keus, F., Gooszen, H. G. & van Laarhoven, C. J. Open, small-incision, or laparoscopic cholecystectomy for patients with symptomatic cholecystolithiasis. An overview of Cochrane Hepato-Biliary Group reviews. Cochrane Database Syst Rev CD008318 (2010). doi:10.1002/14651858.CD008318

[4] Barkun, A. N. et al. Costs and effectiveness of extracorporeal gallbladder stone shock wave lithotripsy versus laparoscopic cholecystectomy. A randomized clinical trial. McGill Gallstone Treatment Group. Int J Technol Assess Health Care 13, 589–601 (1997).

[5] Bass, E. B., Pitt, H. A. & Lillemoe, K. D. Cost-effectiveness of laparoscopic cholecystectomy versus open cholecystectomy. Am. J. Surg. 165, 466–471 (1993).

[6] Bosch, F., Wehrman, U., Saeger, H.-D. & Kirch, W. Laparoscopic or open conventional cholecystectomy: clinical and economic considerations. Eur J Surg 168, 270–277 (2002).

[7] Fajardo, R. et al. [Cost-effectiveness of laparoscopic versus open cholecystectomy]. Biomedica 31, 514–524 (2011).

[8] Fullarton, G. M., Darling, K., Williams, J., MacMillan, R. & Bell, G. Evaluation of the cost of laparoscopic and open cholecystectomy. Br J Surg 81, 124–126 (1994).

[9] Kelley, J. E., Burrus, R. G., Burns, R. P., Graham, L. D. & Chandler, K. E. Safety, efficacy, cost, and morbidity of laparoscopic versus open cholecystectomy: a prospective analysis of 228 consecutive patients. Am Surg 59, 23–27 (1993).

[10] Keskin, A. Is laparoscopic cholecystectomy cheaper? Surg Laparosc Endosc Percutan Tech 15, 191–194; discussion 194 (2005).

[11] Kesteloot, K. & Penninckx, F. The costs and effects of open versus laparoscopic cholecystectomies. Health Econ 2, 303–312 (1993).

Weiterführende Informationen
Fragebogen der Studie EbM bei deutschen und brittischen Chirurgen 2011

Schnitzbauer A. A. Das Wissen und die Einstellung deutscher und britischer Chirurgen zu Evidenzbasierter Medizin. Passion Chirurgie. 2014 März, 4(03): Artikel 02_02.