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Intra-hospitale Notfallmedizin – Fachkompetenz versus Facharzt

Die Organisation der initialen intra-hospitalen Notfalldiagnostik und -behandlung sowie die hierfür erforderliche ärztliche Qualifikation stehen aktuell im Fokus der Diskussion – diese muss aber unter Beachtung folgender Grundgegebenheit geführt werden:

  • In der Bundesrepublik Deutschland ist derzeit bei tendenziell insgesamt abnehmender Gesamtbevölkerung eine Migration der Bevölkerung in die 1995 erstmals durch die Ministerkonferenz für Raumordnung definierten Metropolregionen (Berlin/Brandenburg, Bremen-Oldenburg, Hamburg, Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg, Mitteldeutschland, München, Nürnberg, Rhein-Main, Rhein-Neckar, Rhein-Ruhr, Stuttgart) zu beobachten. Im internationalen Vergleich ist auch in diesen Metropolregionen die Bevölkerungsdichte eher niedrig. In der Mehrzahl dieser Metropolregionen (Berlin/Brandenburg, Bremen-Oldenburg, Hamburg, Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg, Mitteldeutschland, München, Nürnberg) liegt sie sogar unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt. Richtig gesteuerte Zuwanderung kann dem Schrumpfen der Gesamtbevölkerung quantitativ und qualitativ entgegenwirken. Der Trend zur Konzentration der Bevölkerung in Metropolregionen wird dadurch allerdings nicht abgebremst, sondern verstärkt. Insgesamt ist also mittelfristig von einer beschleunigten Abnahme der Siedlungsdichte in den peripheren Gebieten der Bundesrepublik Deutschland auszugehen.
  • Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass sich das Siedlungs- und Migrationsverhalten von Ärztinnen und Ärzten grundlegend von dem der Gesamtbevölkerung unterscheidet oder ohne massive Repression divergierend organisieren lässt. Insofern sind ordnungspolitische Überlegungen und Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, diesen Wanderungstrends ausschließlich bei Ärztinnen und Ärzten entgegenzuwirken, vermutlich nicht nur zu weitgehender Fruchtlosigkeit verurteilt, sondern vor allem auch unnötig.
  • Die Anforderungen nachwachsender Generationen von Ärztinnen und Ärzten an ihre Arbeitswelt haben sich grundlegend gewandelt. Im Vordergrund stehen neben dem, unter dem Schlagwort „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ subsumierten Wunsch nach der Kompatibilität der Berufsausübung mit der übrigen Lebensführung – wozu unter anderem auch weiteres gesellschaftliches Engagement gehören kann: Der Wunsch nach wirklich kollegialer Zusammenarbeit sowie Planbarkeit und Verlässlichkeit. Demgegenüber hegt nur jede/r zehnte Arzt/Ärztin den Wunsch nach einer Wochenarbeitszeit von mehr als 48 Stunden. Dies resultiert in einem auch im ambulanten Bereich der Medizin stetig zunehmenden Anteil von angestellten Ärztinnen und Ärzten.
  • Gegenwärtig drängt die Mehrzahl der Ärztinnen und Ärzte mit ihrem Berufsausübungswunsch in Spezialisierungen und hohe Versorgungsstufen. Auch die Mehrzahl der Patientinnen und Patienten hat eine hohe Neigung zum direkten Gebietsfacharztkontakt.

In der Zusammenschau dieser Grundgegebenheiten werden medizinische Versorgungszentren sowie insbesondere die Notfallaufnahmen von Krankenhäusern mittelfristig von weiter deutlich zunehmender Bedeutung für die medizinische Versorgung der Bevölkerung sein. Aufgrund dieses Konzentrationsprozesses in der medizinischen Versorgung, kommt zunächst einem funktionierenden Rettungswesen, das auch zukünftig regelhaft mit Notärztinnen und Notärzten ausgestattet sein muss, eine zentrale Bedeutung zu.

In der Musterweiterbildungsordnung der deutschen Ärzteschaft ist dieses Segment der Patientenbehandlung unstreitig über die Zusatzweiterbildung Notfallmedizin definiert und geregelt. Der Begriff Notfallmedizin ist damit auch für die prae-hospitale Behandlungsphase definitiv vergeben. Unstreitig ist darüber hinaus der Mehrwert interdisziplinärer Notaufnahmen. Im tradierten System dezentraler und fachspezifischer Notaufnahmen besteht die Gefahr, dass es dem Zufall, der ausschließlichen Einschätzung des nichtärztlichen Rettungsdienstpersonals jedweden Qualifikationsniveaus oder der ausschließlichen Selbsteinschätzung der Patientinnen und Patienten überlassen bleibt, welcher Fachrichtung sie im tatsächlichen Notfall vorgestellt werden, respektive im zumindest subjektiv für sich selbst angenommenen Notfall, sich vorstellen.

Die Schnittstellenproblematik am Übergang von der prae-hospitalen zur intra-hospitalen Behandlung wird durch interdisziplinäre Notfallaufnahme weitestgehend minimiert. Dies gilt vor allem, wenn Notärztinnen und Notärzte nicht ausschließlich in der Notfallmedizin sondern auch in der regulären klinischen Krankenbehandlung aktiv sind und auf diese Weise an der kontinuierlichen medizinischen und wissenschaftlichen Weiterentwicklung ihrer originären Fachgebiete im Sinne des lebenslangen Lernens und der geforderten kontinuierlichen Fortbildung teilhaben.

Zudem steht außer Frage, dass Notfallaufnahmen (nicht nur interdisziplinäre!) mit qualifiziertem ärztlichen und sonstigen medizinischen Fachpersonal stets quantitativ und qualitativ hinreichend besetzt sowie infrastrukturell adäquat ausgestattet und organisatorisch hinreichend autark sein müssen, um die angestrebte zeit- und fachgerechte Notfalldiagnostik und -behandlung auch jederzeit tatsächlich durchführen zu können.

Das vom Multidisciplinary Joint Committee on Emergency Medicine der European Union of Medical Specialists (UEMS) und der European Society of Emergency Medicine (EuSEM) erstellte Europäische Curriculum für Notfallmedizin besetzt zwar den in der Bundesrepublik Deutschland für die prae-hospitale Phase der Notfalldiagnostik und -behandlung vergebenen und definierten Begriff Notfallmedizin, zielt aber ausschließlich auf die intra-hospitale Phase der Notfalldiagnostik und -behandlung. Die dort formulierten Anforderungen, insbesondere der Erwerb von Kernwissen über die Erkrankungen der einzelnen Organsysteme, über häufig auftretende Symptome und über spezifische Aspekte der Notfallmedizin sowie zentraler klinischer Kompetenzen in der Notfallmedizin und die Beherrschung zentraler klinischer Maßnahmen der Notfallmedizin, müssen nicht zwingend über die Implementierung eines Facharztes für intra-hospitale Notfallmedizin in die Musterweiterbildungsordnung der deutschen Ärzteschaft realisiert werden. Vielmehr ist, was den postulierten Patientennutzen einer Regulierung dieses Teils der Krankenhausbehandlung durch die Musterweiterbildungsordnung angeht, mit äquivalentem Ergebnis die Implementierung beispielsweise einer Zusatzweiterbildung für intra-hospitale Notfallmedizin vorstellbar, welche entweder vorzugsweise und analog zur Zusatzweiterbildung Intensivmedizin auf bestimmten Fachgebieten aufbaut oder alternativ und analog zur Zusatzweiterbildung (prae-hospitale) Notfallmedizin direkt auf Basis der Approbation und einer gesondert definierten klinischen Erfahrung zu durchlaufen sein könnte.

Die Etablierung zusätzlicher Karriereoptionen für Kolleginnen und Kollegen, welche sich schwerpunktmäßig mit der Notfalldiagnostik und -behandlung in verschiedenen der Musterweiterbildungsordnung bekannten Fachgebieten beschäftigt, aber in keinem dieser Gebiete Facharztstatus erreicht haben, ist in diesem Zusammenhang insofern nachrangig, als die berufsständisch selbstverantwortete Regulierung der ärztlichen Weiterbildung als oberste Ziele die Qualitätssicherung der Patientenversorgung durch Sicherung der Qualität der ärztlichen Berufsausübung sowie die Bürgerorientierung und eben nicht die Karriereoptionen (und schon gar nicht die Einkommensregulierung) der Ärztinnen und Ärzte hat.

Die Richtlinie 2005/26/EG der Europäischen Union über die Anerkennung der Berufsqualifikation, ermöglicht EU-Bürgern über die automatische gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen und durch die Festlegung von Mindestanforderungen hierfür grundsätzlich die Berufsausübungen in EU-Ländern zu den Konditionen des jeweiligen EU-Herkunftslandes. Sie gibt aber keineswegs Qualifikationsstandards mit dem Ziel der Umsetzung oder Etablierung in allen EU-Staaten vor. Somit ist dort in Sonderheit auch nicht die flächendeckende Implementierung eines Facharztes für Notfallmedizin mit intra-hospitalem Aufgabenspektrum intendiert. Eine derartige Facharztqualifikation existiert derzeit in Bulgarien, Irland, Malta, Polen, Rumänien, der Slowakei, Tschechien, Ungarn und Großbritannien. Selbst letzteres ist infolge der grundsätzlichen Unterschiede in den Versorgungsstrukturen und insbesondere nach einer fulminant gescheiterten Reform sowie dem gegenwärtig laufenden Versuch der erneuten Reorganisation der ärztlichen Weiterbildung als Vorbild für die Versorgungsstrukturen in Deutschland nicht wirklich gut geeignet.

Die Diagnostik und Therapie von Notfällen ist integraler Bestandteil der einzelnen Fachgebiete und in ihrer Weiterentwicklung von der medizinischen und wissenschaftlichen Weiterentwicklung der jeweils zugehörigen Fachgebiete elementar abhängig. Die Zusammenfassung aller Notfalldiagnostik und -behandlung in einem eigenen, neu zu etablierenden Gebiet führt mittelfristig nahezu zwangsläufig dazu, dass diese Notfalldiagnostik und -behandlung von der Entwicklung der Fachgebiete, denen sie zuzuordnen ist und in denen die Patientinnen und Patienten letztlich definitiv versorgt werden sollen, abgekoppelt wird. Mit der Implementierung eines ärztlichen Querschnittfachgebietes, welches im Behandlungsablauf zwischen die prae-hospitale Notfallbehandlung und die intra-hospitale definitive Behandlung geschaltet wird, könnten zwar im Idealfall mögliche Schnittstellenprobleme beim Übergang von der prae- zur intra-hospitalen Behandlung vermieden werden, es würden dafür aber zwangsläufig innerhalb der Krankenhausbehandlung neue Schnittstellen und damit neue Schnittstellenprobleme geschaffen.

Insofern sind interdisziplinäre Notfallaufnahmen für eine intra-hospitale Notfalldiagnostik und -behandlung auf der Höhe der Zeit sicher conditiones sine qua non, die Implementierung eines Facharztes für (intra-hospitale) Notfallmedizin jedoch nicht. Vielmehr sollte die fachliche Kompetenz der Notfalldiagnostik und -behandlung in den jeweiligen Fachgebieten integraler Bestandteil dieser Gebiete bleiben und so zum Nutzen der Patientinnen und Patienten an deren Weiterentwicklung kontinuierlich Anteil haben können.

Botzlar A. Zentrale Notaufnahme und Facharzt für Notfallmedizin: conditio sine qua non? 2013 Mai, 3(05): Artikel 02_06.

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Dr. med. Andreas Botzlar

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