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Der Wissenschaftsrat empfiehlt mehr Ressourcen und grundlegende Strukturveränderungen

Das deutsche Gesundheitssystem steht vor einem umwälzenden Umbruch. Nicht nur demografische und epidemiologische Veränderungen stellen die Gesundheitsversorgung vor große Herausforderungen. Auch der wissenschaftlich-technologische Fortschritt, der sich immer weiter beschleunigt, wird die medizinische Versorgung grundlegend verändern. Vor allem die individualisierte Medizin hat große Entwicklungspotenziale und eröffnet die Chance, Wirksamkeit und Qualität von Therapien substanziell zu verbessern. Diese Entwicklungen voranzubringen, ist die zentrale Aufgabe der Universitätsmedizin an der Schnittstelle von Forschung und Versorgung.

Warnung vor nationalem und internationalem Bedeutungsverlust

Allerdings verfügt die universitäre Medizin derzeit nicht über die Voraussetzungen, um den anstehenden Herausforderungen gerecht zu werden. In seinen jüngsten Empfehlungen zu den „Perspektiven der Universitätsmedizin“ stellt der Wissenschaftsrat gravierende Ressourcen- und Strukturdefizite fest. Beobachtet werden eine Dominanz der Versorgungsaufgaben, die an Umfang und Komplexität zunehmen und eine fortschreitende Marginalisierung der akademischen Zielsetzung. Angesichts dieser Entwicklungen warnt der Wissenschaftsrat vor einem Bedeutungsverlust der Universitätsmedizin auf nationaler und internationaler Ebene – mit negativen Folgen für die Qualität der medizinischen Versorgung und für den Medizinforschungsstandort Deutschland. Seine Empfehlungen richten sich folglich darauf, die Rahmenbedingungen und Ressourcen für Forschung, Lehre und Krankenversorgung in der Universitätsmedizin grundlegend zu verbessern.

Ressourcendefizite werden in beiden Aufgabenbereichen der universitären Medizin – im wissenschaftlichen und im Versorgungsbereich – festgestellt. Aus der spezifischen Funktion der Universitätskliniken im Gesundheitssystem ergeben sich fundamentale Unterschiede in der Versorgung, aber viele Besonderheiten ihres Leistungsspektrums finden im Vergütungssystem erst nach und nach Berücksichtigung. Es kommt hinzu, dass die Grundfinanzierung der wissenschaftlichen Aufgaben an vielen Standorten hinter den wachsenden Anforderungen in Forschung und Lehre zurückbleibt. Zukunftsfähige Lösungen für die adäquate Finanzierung beider Aufgabenbereiche sind dringend geboten.

Neben einer Steigerung der Grundmittel für Forschung und Lehre hält der Wissenschaftsrat daher insbesondere eine weitere sachgerechte Anpassung des Fallpauschalensystems für erforderlich. Er moniert, dass im Jahr 2015 vorgenommene gesetzliche Änderungen, die zu finanziellen Verbesserungen u. a. für die Hochschulambulanzen führen sollen, von der Selbstverwaltung bisher nicht umgesetzt wurden – eine positive Finanzwirkung ist also (noch) nicht erkennbar. Grundsätzlich muss sichergestellt sein, dass die spezifischen Mehrbelastungen, die aus den besonderen Aufgaben der Universitätskliniken resultieren, im System der Krankenhausfinanzierung Berücksichtigung finden. Es ist daher von großer Bedeutung, dass die Anliegen der Universitätsmedizin in den Gremien der Selbstverwaltung angemessen vertreten werden.

Weiterentwicklungen in allen Aufgabenbereichen

Eine aufgaben- und leistungsgerechte Finanzierung ist die Voraussetzung dafür, dass sich die Universitätsmedizin an allen Standorten und in allen Aufgabenbereichen weiterentwickeln kann. Dazu gehören insbesondere die Rahmenbedingungen für den wissenschaftlich-ärztlichen Nachwuchs, der in der universitären Medizin unzureichende Entwicklungsmöglichkeiten findet. Eben solche Clinician Scientists sind aber für die Zukunft der klinischen Forschung entscheidend! Daher ist es aus Sicht des Wissenschaftsrates dringend erforderlich, forschenden Ärztinnen und Ärzten einen strukturierten Weiterbildungs- und Qualifizierungsweg als Clinician Scientists zu eröffnen, wie er von der DFG exemplarisch entwickelt wurde. Er schlägt vor, dieses Programm für fünf bis acht Prozent der an den Universitätskliniken tätigen Assistenzärztinnen und -ärzte vorzusehen. Daneben müssen auch für nichtärztlich tätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die wesentlich zur klinischen Forschung beitragen, strukturierte Karrierewege angelegt und mehr Zielpositionen definiert werden.

Handlungsbedarf erkennt der Wissenschaftsrat außerdem bei der Qualitätssicherung von Forschung und Lehre und beim Ausbau von forschungs- und informationstechnologischen Infrastrukturen. Zugleich muss das innovative Potenzial der Universitätsmedizin auf allen Ebenen der Krankenversorgung in größerem Umfang als bisher nutzbar gemacht werden. Alle empfohlenen Maßnahmen schaffen die Voraussetzungen dafür, dass die Universitätsmedizin ihrer Kernaufgabe Translation und ihrer Bedeutung für das Gesundheitssystem auch künftig gerecht werden kann.

Wissenschaftliche Dynamik fordert innovative Strukturen

Allerdings: Angesichts der wissenschaftlichen Dynamik werden diese Maßnahmen nicht ausreichen, um die Universitätsmedizin auch im internationalen Wettbewerb zukunftsfähig zu machen. Der wissenschaftlich-­technologische Fortschritt führt zu Diffe­renzierungen innerhalb und zwischen den medizinischen Fachgebieten, die grundlegende Implikationen auch für die fachlichen Organisationsstrukturen haben. Diese müssen die Dynamik der innerfachlichen und fachübergreifenden Differenzierungsprozesse angemessen ­abbilden und unterstützen. Erforderlich sind daher innovative Organisationsstrukturen, die es wissenschaftlich und klinisch tätigen Medizinerinnen und Medizinern ermöglichen, im klinischen Kontext an spezifischen fachbezogenen wie fächerübergreifenden Themen zu arbeiten. Dafür müssen verlässliche Bedingungen und langfristige Karriereperspektiven geschaffen werden – und dazu bedarf es arbeitsteiliger Strukturen, die sich durch flache Hierarchien und eine größere Anzahl von Leitungspositionen in Forschung und Klinik auszeichnen. Nur unter dieser Voraussetzung wird es gelingen, die besten Köpfe für die Universitätsmedizin zu gewinnen – und nur so können ihre innovativen Potenziale für die Gesundheitsversorgung erschlossen und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit sichergestellt werden.

Neuer Ansatz: Wettbewerb um Profilbereiche

Nun hat sich der Wissenschaftsrat (gemeinsam mit der DFG) bereits im Jahr 2004 für die Einführung arbeitsteiliger Strukturen (Departmentstrukturen) in der Universitätsmedizin ausgesprochen. Die Wirksamkeit der damaligen Empfehlung war allerdings – auch aufgrund der standort- und fachspezifisch sehr unterschiedlichen Voraussetzungen – begrenzt. Vor diesem Hintergrund hat der Wissenschaftsrat einen grundlegend neuen Ansatz entwickelt, der dem Bottom-up-­Prinzip folgt: Um die Universitätsmedizin zu den notwendigen Strukturreformen zu befähigen und dabei standort- und fachspezifische Varianzen angemessen zu berücksichtigen, hält er ein wettbewerbliches Verfahren für geeignet. Konkret empfohlen wird ein Wettbewerb um die Förderung zukunftsweisender Strukturen, die die genannten Anforderungen erfüllen. Solche Strukturen sollten in neu aufzubauenden sog. Profilbereichen etabliert werden. Die Ausgestaltung solcher Profilbereiche wird je nach den fachlichen und lokalen Bedingungen im Einzelnen variieren. Grundsätzlich aber müssen sie die Differenzierung und Entwicklungsdynamik der beteiligten klinischen und Grundlagenfächer bestmöglich strukturell abbilden und damit zugleich einen Rahmen für differenzierte Karrierewege in Wissenschaft und Klinik schaffen.

Diese zentrale Empfehlung des Wissenschaftsrates basiert auf dem Prinzip des „Forderns und Förderns“: Gefordert sind Konzepte für innovative Organisationsstrukturen, die die wissenschaftliche und klinische Leistungsfähigkeit stärken und diese auch in regelmäßigen Evaluationen nachweisen. Gefördert werden sollte die Umsetzung solcher Konzepte, die sich im Wettbewerb als zukunftweisend qualifizieren. Die Förderung sollte thematisch offen und für alle Standorte zugänglich sein, um die thematische und methodische Vielfalt der Universitätsmedizin in Deutschland weiter voranzubringen und dabei auch kleineren Standorten Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Mit Blick auf die Systemrelevanz der Universitätsmedizin für das deutsche Gesundheitssystem betrachtet der Wissenschaftsrat die Förderung solcher zukunftsfähigen Strukturen als eine überregional bedeutsame Aufgabe. Er hat daher Bund und Länder gebeten, einen Wettbewerb um die Förderung von Profilbereichen auszuloben. Ein Modell und eine Orientierungsgröße dafür können die Integrierten Forschungs- und Behandlungszentren (IFB) sein, die das BMBF mit bis zu 5 Mio. Euro jährlich fördert. Der Wissenschaftsrat verbindet mit dieser Empfehlung auch die Erwartung, dass erfolgreiche Profilbereiche als Nukleus für weitergehende Strukturveränderungen in der Universitätsmedizin wirksam werden. Der Aufbau von Profilbereichen ist somit ein Indikator für die Innovations- und Leistungsfähigkeit einzelner Standorte, aber auch der deutschen Universitätsmedizin insgesamt.

Bund und Länder haben diese Empfehlungen im Wissenschaftsrat mit erarbeitet und verabschiedet. Nun wird es auf ihre Bereitschaft zur Umsetzung ankommen – und auf die Bereitschaft der Universitätsmedizin, ihre Perspektiven mit kreativen Konzepten selbst zu gestalten.

Heinze H.J. Welche „Perspektiven“ hat die Universitätsmedizin? Passion Chirurgie. 2017 Februar, 7(02): Artikel 04_01.

Die Empfehlungen zu den „Perspektiven der Universitätsmedizin“ sind auf der Website des Wissenschaftsrates zum Download bereitgestellt. Anforderung auch über [email protected].

Autor des Artikels

Profilbild von Hans-Jochen Heinze

Prof. Dr. Hans-Jochen Heinze

Direktorbis 2016 Vorsitzender des Ausschusses Medizin des WissenschaftsratesKlinik für Neurologie am Universitätsklinikum MagdeburgHaus 60b, Leipziger Str. 4439120,Magdeburg kontaktieren
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