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CHIRURGIE
Update Rektumkarzinom

Die Therapie des Rektumkarzinoms hat in den vergangenen Jahren ein hohes Maß an Innovation erfahren. Dies betrifft jedoch nicht nur die Evolution der OP-Strategien und Techniken, sondern insbesondere den Zuwachs an Erfahrung und Neuentwicklungen im Bereich der multimodalen Behandlung durch Bestrahlung und tumorgerichtete medikamentöse Therapie. Und auch der Zeitpunkt sowie die Intensität der jeweiligen Behandlungsmodalität hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Die Einführung und zunehmende Umsetzung der sog. Totalen Neoadjuvanten Therapie (TNT) aufgrund konsentierter Empfehlungen der verschiedenen internistischen, chirurgischen und radiologischen Arbeitsgemeinschaften stellt eine wichtige Neuerung der Therapie beim Rektumkarzinom dar. Für die Chirurgie ist es unabdingbar, sich mit diesem Thema intensiv zu beschäftigen, um genau jene Patienten zu selektionieren, welche tatsächlich von dieser Therapieoption profitieren.

Stellenwert der MRT für den Therapieentscheid beim Rektumkarziom

Die qualitätsgesicherte MRT wird zukünftig eine noch wichtigere Rolle für den Therapieentscheid spielen, da die MRT objektiv – anhand von Risikofaktoren – beurteilen lässt, welche Patienten von einer primären OP und welche Patienten von einer intensivierten Vortherapie profitieren. Ein T3 oder N+ sollten nämlich keine alleinige Entscheidungsgrundlage mehr für eine neoadjuvante Therapie sein [1, 2, 3]. Heute muss die qualitätsgesicherte und standardisierte MRT-Befundung die prognostisch relevanten Risikofaktoren (CRM +/-, EMVI, Tumordeposits, laterale Lymphknoten) beinhalten [1]. Dies sind die aussagekräftigsten Prädiktoren, die mit dem krankheitsfreien und dem Gesamtüberleben assoziiert sind [1]. Ohne eine Aussage zu diesen Risikofaktoren kann heutzutage keine vernünftige Indikation für oder wider eine Vorbehandlung oder primäre OP mehr getroffen werden. So kann bei nachvollziehbar hoher Qualität der Dünnschicht-MRT eine primäre Operation auch bei wandüberschreitenden cT3-Tumoren im mittleren Drittel erfolgen, sofern das Ausmaß der Infiltration ins perirektale Fettgewebe limitiert ist (unter 5 mm; cT3a/b) und ein ausreichender Abstand zur mesorektalen Faszie besteht. Sofern keine zusätzlichen Risikofaktoren (z. B. tiefliegender Tumor, eindeutiger Lymphknotenbefall, EMVI, Tumordeposits) vorliegen, ist dann bei adäquater TME ein dem Stadium I vergleichbares Lokalrezidivrisiko anzunehmen [2]. Hierdurch werden dem Patienten die negativen Nebenwirkungen einer Vorbehandlung und deren Auswirkungen auf die Chirurgie erspart. Auf der anderen Seite sollte bei allen Patienten mit Vorliegen eindeutiger Risikofaktoren die Vorbehandlung inklusive ihrer Intensivierung im Sinne einer TNT im interdisziplinären Tumorboard diskutiert werden.

Totale Neoadjuvante Therapie (TNT)

Die TNT wurde auch vor dem Hintergrund eingeführt, dass ein relevanter Anteil an Patienten mit lokal fortgeschrittenem Rektumkarzinom und entsprechendem Risikoprofil eine adjuvante Therapie aus verschiedenen Gründen nicht in Anspruch nehmen kann. Die TNT erweitert bei gegebener präoperativen Risikokonstellation die neoadjuvante Therapie um eine zusätzliche präoperative Systemtherapie. Diese Therapie kann als Induktionstherapie (vor der Radio- (RT) bzw. Radiochemotherapie (RCT)) oder als Konsolidierungstherapie (nach der RT bzw. RCT) durchgeführt werden, wobei nach aktuellem Stand das Konsolidierungsregime zu bevorzugen ist [4]. Die Radiotherapie kann bei der TNT entweder als Langzeit-Radiochemotherapie oder als 5 x 5 Gy Kurzzeitbestrahlung erfolgen. Durch das Konzept sollen Patienten eine niedrigere Fernmetastasierungsrate und eine höhere Rate an lokaler Komplettremission (CR) erfahren. Die möglichen Vorteile einer TNT sind bereits seit längerer Zeit bekannt, jedoch fehlten bisher gut geplante, randomisierte Studien und klare Einschlusskriterien. Mit der RAPIDO- [4] und der PRODIGE23-Studie [5] wurden nun zwei randomisierte klinische Studien publiziert, die insbesondere die Vor- aber auch die möglichen Nachteile einer intensivierten Vorbehandlung zeigen. Die Einschlusskriterien bei der RAPIDO-Studie wurden nachvollziehbar und exakt formuliert und könnten daher als Standard betrachtet werden. Es handelte sich hierbei um ein gut definiertes Patientenkollektiv mit weit fortgeschrittenen Tumoren, bei denen zumindest eines der folgenden MRT-basierten Hochrisikokriterien vorlag: cT4, cN2, Befall der mesorektalen Faszie (MRF+), extramurale Gefäßinvasion (EMVI+), vergrößerte laterale (extramesorektale) Lymphknoten.

Die beiden vorliegenden Studien konnten durch TNT sowohl eine signifikante Verbesserung des krankheitsfreien Überlebens als auch eine – im Vergleich zur konventionellen RCT – verdoppelte pathologische Komplettremissionsrate (pCR) erreichen. Bei gut einem Viertel der Patienten kam es nach TNT zu einer pCR. Da die Einschlusskriterien bei der RAPIDO-Studie deutlich exakter waren und die Studie somit auch als aussagekräftiger interpretiert werden kann, sollen im Folgenden auch nur kurz ihre Ergebnisse dargestellt und diskutiert werden. Als Vorteile werden die höhere Komplettremissionsrate und die geringere Fernmetastasierungsrate genannt. Tatsächlich ließ sich die Fernmetastasierungsrate durch Anwendung des RAPIDO-Protokolls signifikant reduzieren (26.8 vs. 20 %; p = 0,005). Eine pathologische Komplettremission zeigte sich bei 28,4 % der Patienten im Vergleich zu 14,3 % bei konventioneller RCT. Bei einem relativ kurzen Follow-up von drei Jahren konnte jedoch bisher kein Unterschied auf das Gesamtüberleben gezeigt werden. Die Lokalrezidivrate zeigte sich bei Patienten nach TNT tendenziell sogar etwas höher (8,7 vs. 6 %; p = 0,09). Dieser Unterschied mag auch durch die schlechtere mesorektale Präparatequalität bedingt sein. So zeigten sich in der konventionellen Gruppe häufiger intakte mesorektale Präparate – evaluiert vom jeweiligen Chirurgen (85 vs. 78 %). Somit war die TNT in 22 % der Fälle (im Vgl. zu 15 % in der konventionellen Gruppe) mit einer nicht optimalen Chirurgie assoziiert. Nachteile der TNT sind auch – wie zu erwarten – eine deutlich erhöhte Toxizität sowie die lange Dauer der Chemotherapie mit entsprechenden Intervallen zwischen den einzelnen Therapiemodulen. So beträgt das Vorbehandlungsregime bis zur Operation nach dem RAPIDO-Protokoll fast sechs Monate. Die TNT darf demzufolge nicht unselektioniert eingesetzt werden, da sonst die Gefahr besteht, das funktionelle und womöglich auch das onkologische Ergebnis der Patienten zu verschlechtern. So konnte nach intensivierter Vorbehandlung eine deutlich höhere Rate an LARS gezeigt werden [6]. Nicht näher beschriebene T3-Stadien mit einem unklar definiertem „Risk of Local Recurrence“ sollten daher nicht als generelle Indikation für eine TNT angesehen werden.

„Watch and wait“ nach klinisch kompletter Remission

Die TNT wird fälschlicherweise von manchen Kollegen mit dem sog. „Watch and wait“-Konzept verwechselt oder gleichgesetzt. „Watch and wait“ als mögliches Konzept im Anschluss an eine TNT kommt jedoch nur nach MR-morphologisch, rekto- bzw. endoskopisch sowie palpatorisch kompletter Remission in Frage, wobei MR-morphologisch auch bei CR meist eine Wandverdickung bestehen bleibt. Das „Watch and wait“-Konzept ist nur diskutabel, wenn keine suspekten Lymphknoten nachweisbar sind und sich endoskopisch allenfalls eine Narbe nachweisen lässt; palpatorisch sollte eine Resistenz ausgeschlossen werden; eine weiche Rektumwand spricht für eine komplette Remission. Die Biopsie hat in dieser Situation keinen Mehrwert, da hier nicht zwischen Schrumpfung oder einer Fragmentierung des Tumors mit Verbleiben einzelner Tumorzellnester in der Wand oder im Mesorektum unterschieden werden kann. Nur bei Vorliegen der für die klinische Vollremission notwendigen Parameter kann – nach ausführlicher Aufklärung des Patienten über die Datenlage und die Notwendigkeit der engmaschigen Nachsorge – die Frage nach Organerhalt diskutiert werden. In der OPRA-Studie, in der die Rate der Komplettremission nach Induktionschemotherapie gegenüber einer Konsolidierungschemotherapie untersucht wurde, erfolgte das Restaging erst nach 34 Wochen [7]. In Abhängigkeit vom Ergebnis des Restagings wurde dann das „Watch and wait“-Konzept verfolgt oder die TME durchgeführt. In dieser Studie wurde bei 76 % der Patienten nach TNT eine „Watch and wait“-Empfehlung ausgesprochen. Nach drei Jahren zeigte sich in der Gruppe mit Induktionstherapie bei 43 % und nach Konsolidierungstherapie sogar in 59 % der Patienten ein Organerhalt. Eine allgemeine Empfehlung zum „Watch und wait“-Konzept kann auf Basis der aktuellen Daten jedoch nicht ausgesprochen werden. Hierzu fehlen größere Patientenzahlen mit ausreichendem Follow-up sowie randomisierte Phase-III-Studien.

Auch fehlt es weiterhin an einer zuverlässigen Aussage über den optimalen Zeitpunkt für die Evaluation des Therapieansprechens (Restaging). Bei den o. g. Studien zur TNT erfolgte das Re-Staging erst nach ca. sechs Monaten (28 Wochen). Des Weiteren fehlen die eindeutige bzw. einheitliche Definition der klinischen Komplettremission (cCR) sowie standardisierte Follow-up-Protokolle, welche nachvollziehbar im klinischen Alltag zu realisieren sind.

Salvage-Operation bei erneutem Tumorwachstum nach „Watch and wait“

Bei ca. 25 % der Patienten mit vermeintlicher cCR nach TNT tritt ein erneutes lokales Tumorwachstum (Regrowth) auf [8]. Falls es zu einem erneuten Tumorwachstum kommt, ereignet sich dies zu 85 % innerhalb der ersten zwei Jahre und zumeist intraluminal [8]. Dennoch kann es auch zu einem späteren Zeitpunkt zu einem erneuten Tumorwachstum kommen, was die fortlaufende engmaschige Nachsorge nötig macht. Im Falle eines erneuten Tumorwachstums sollte die OP erfolgen. Der Großteil der wiederkehrenden Tumoren ist bei rechtzeitiger Detektion einer Operation in kurativer Intention zuführbar. Die Ergebnisse dieser Salvage-Operationen sollen laut retrospektiver Daten in Bezug auf Lokalrezidiv, Fernmetastasen, krankheitsfreies Überleben und Gesamtüberleben vergleichbar mit derer primär operierter Patienten sein [8, 9]. Die Daten sind aber aufgrund des retrospektiven Designs und geringer Fallzahlen nur unter Vorbehalt übertragbar.

Fazit

Die hochqualitative MRT mit standardisierter Erhebung der aktuellen, prognostisch relevanten Risikofaktoren ist wesentlicher Bestandteil der Entscheidungsgrundlage für eine Vortherapie beim Rektumkarzinom. Demgegenüber kann bei MR-morphologischem Ausschluss relevanter Risikofaktoren auch im UICC-Stadium II eine primäre Resektion mittels adäquater TME-Chirurgie erfolgen. Das Armamentarium in der Therapie des Rektumkarzinom hat sich mit Einführung der TNT erfreulicherweise zusätzlich erweitert und bietet uns die Möglichkeit einer noch individuelleren Therapie, um das bestmögliche Ergebnis für unsere Patienten zu erzielen.

Die TNT darf jedoch nicht unselektioniert eingesetzt werden, da sonst die Gefahr besteht, das funktionelle und womöglich auch das onkologische Ergebnis der Patienten zu verschlechtern.

Literatur

[1]   Lord AC, D’Souza N, Shaw A, Rokan Z, Moran B, Abulafi M, Rasheed S, Chandramohan A, Corr A, Chau I, Brown G. MRI-Diagnosed Tumour Deposits and EMVI Status Have Superior Prognostic Accuracy to Current Clinical TNM Staging in Rectal Cancer. Ann Surg 2020.

[2]   s3 Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): S3-Leitlinie Kolorektales Karzinom, Langversion 2.1, 2019, AWMF Registrierungsnummer: 021/007OL.

[3]   Ruppert R, Junginger T, Ptok H, et al. Oncological outcome after MRI-based selection for neoadjuvant chemoradiotherapy in the OCUM Rectal Cancer Trial.Br J Surg 2018;105(11):1519-1529.

[4]   Bahadoer RR, Dijkstra EA, van Etten B, et al. RAPIDO collaborative investigators.Short-course radiotherapy followed by chemotherapy before total mesorectal excision (TME) versus preoperative chemoradiotherapy, TME, and optional adjuvant chemotherapy in locally advanced rectal cancer (RAPIDO): a randomised, open-label, phase 3 trial. Lancet Oncol 2021; 22(1):29-42.

[5]   Conroy T, Bosset JF, Etienne PL, et al.. Neoadjuvant chemotherapy with FOLFIRINOX and preoperative chemoradiotherapy for patients with locally advanced rectal cancer (UNICANCER-PRODIGE 23): a multicentre, randomised, open-label, phase 3 trial. Lancet Oncol 2021; 22(5):702-715.

[6]   Sun R, Dai Z, Zhang Y, et al. The incidence and risk factors of low anterior resection syndrome (LARS) after sphincter-preserving surgery of rectal cancer: a systematic review and meta-analysis. Support Care Cancer 2021; 29(12):7249-7258.

[7]   Julio Garcia-Aguilar, Sujata Patil, Jin K. Kim, et al. results of the organ preservation of rectal adenocarcinoma (OPRA) trial. J Clin Oncol 2020. Volume 38, Issue 15_suppl

[8]   van der Valk MJM, Hilling DE, Bastiaannet E, et al. Long-term outcomes of clinical complete responders after neoadjuvant treatment for rectal cancer in the International Watch & Wait Database (IWWD): an international multicentre registry study. Lancet. 2018; 391(10139):2537-2545.

[9]   Nasir I, Fernandez L, Vieira P, et al. Salvage surgery for local regrowths in Watch & Wait – Are we harming our patients by deferring the surgery? Eur J Surg Oncol. 2019 Sep;45(9):1559-1566.

Korrespondierender Autor:

PD Dr. med. Florian Kühn

Oberarzt

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie

LMU, Klinikum der Universität München

Campus Großhadern

Marchioninistr. 15

81377 München

[email protected]

Dr. med. Josefine Schardey

Assistenzärztin

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie

LMU, Klinikum der Universität München

[email protected]

Univ.-Prof. Dr. Jens Werner, MBA

Direktor

Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie

LMU, Klinikum der Universität München

[email protected]

Chirurgie

Kühn F, Schardey J, Werner J: Update Rektumkarzinom. Passion Chirurgie. 2022 Juli/August; 12(107/08): Artikel 03_01.

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