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Hintergrund

Die Anforderungen an katastrophenmedizinisch tätige Ärzte unterliegen in den letzten Jahrzenten einem deutlichen Wandel. Historisch gesehen stammen die Anfänge der Katastrophenmedizin aus den militärischen Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts. Beispielhaft sei hier die Einführung der Sichtung und der Feldlazarette im Rahmen der Neapolitanischen Kriege des 18. Jahrhunderts genannt. Im 20. Jahrhundert traten immer mehr die zivilen Katastrophenlagen in den Vordergrund. Der primäre Fokus lag dabei auf Verkehrsunfällen (z. B. Eschede, Ramstein) und Unglücken im Rahmen von Großveranstaltungen (z. B. Love Parade). Der globale Klimawandel brachte ebenfalls eine steigende Inzidenz an Naturkatastrophen mit Hochwassern (z. B. Pakistan, Indien, Elbe), den Tsunami-Unglücken und Erdbeben mit sich. Die Folge waren unzählige Verletzte und eine Zerstörung der Infrastruktur. Neben der katastrophenmedizinischen Sofort- war hier die humanitäre Hilfe über Monate gefordert. Weiterhin wurde die Katastrophenmedizin mit neuen Herausforderungen wie den Reaktorunglücken von Tschernobyl, Fukushima und nicht zuletzt den terroristischen Anschlägen von New York, Madrid, London und Paris konfrontiert.

Neben den externen Schadenslagen müssen sich katastrophenmedizinisch-tätige Ärzte zunehmend mit internen Schadenslagen in den Kliniken auseinander setzen. Interne Schadenslagen betreffen meist den Ausfall kritischer Infrastruktur (z. B. Sauerstoffversorgung, Telekommunikation), welche mit einer Bedrohung des medizinischen Personals (z. B. Brand) und der Patienten einhergehen kann. Ursachen können Sabotage, Brände, Baumaßnahmen oder technische Defekte sein. Diese internen Schadenslagen sind aktuell für ca. drei Viertel aller Einsätze des Krisenstabes der Charité – Universitätsmedizin Berlin verantwortlich.

Die zuvor genannten Entwicklungen veranschaulichen das umfangreiche Zuständigkeitsgebiet des katastrophenmedizinisch-tätigen Arztes im 21. Jahrhundert mit der Notwendigkeit spezieller medizinischer Kenntnisse. Dabei unterscheidet sich die Individual- grundlegend von der Katastrophenmedizin. Es sind weitreichende Kenntnisse der Einsatztaktik, Sichtung mit Zuordnung von Behandlungsprioritäten, Einschätzen der Gefahrenlagen (abgeschlossene vs. offene Lage, chemisch-biologisch-radioaktiv-nuklear) und Katastrophenhygiene (Trinkwasser, Fäkalentsorgung), notwendig.

Organisation des Katastrophenschutzes in Deutschland

Der nationale Katastrophenschutz basiert auf zwei Säulen:

      • dem Rettungsdienstsystem mit einheitlichen Strukturen (Einsatzleitung, Führungsstruktur, Raumordnung, Transport- Priorisierung), Ausbildungskonzepten und notfallmedizinischen Therapie, sowie
      • den deutschen Kliniken.

Mit dem Ziel einer möglichst individualmedizinischen Versorgung oder schnellstmöglichen Rückkehr zur Individualmedizin findet hier die definitive medizinische Versorgung der Katastrophenopfer statt. Der klinischen Katastrophenmedizin kommt somit eine Schlüsselrolle zur erfolgreichen Bewältigung von Katastrophenlagen zu.

Aktueller Stand der klinischen Katastrophenmedizin

Erfahrungen der letzten Jahre haben die Notwendigkeit an geschultem, hochqualifiziertem Personal der klinischen Katastrophenmedizin gezeigt. Dabei geniest die klinische Katastrophenmedizin meist kein hohes Ansehen innerhalb der Kliniken. Dies spiegelt sich auch in der schlechten Studienlage und mangelnden akademischen Abbildung des Faches „Katastrophenmedizin“ im Rahmen des Studiums und an deutschen Universitätskliniken wieder. Zusätzlich sind aufgrund Einsparungsmaßnahmen der Klinikbetreiber, des Bundes und der Länder beschränkte finanzielle Mittel zur Aufrechterhaltung der klinischen Katastrophenvorsorge vorhanden. Eine Finanzierung der notwendigen Ausgaben für die Katastrophenvorsorge in den Kliniken, erfolgt meist nicht. Beispielhaft werden die katastrophenmedizinischen Aufgaben der deutschen Kliniken durch engagierte, notfall- und katastrophenmedizinische interessierte Ärzte und Pflegekräfte im Rahmen ihrer medizinischen Routinetätigkeit zusätzlich übernommen. Dies stellt nicht selten eine zusätzliche, unentgeltliche Arbeitsbelastung der Mitarbeiter dar. Die Attraktivität für Ärzte im klinischen Katastrophenschutz tätig zu sein könnte durch die Kombination aus einheitlicher Ausbildung und Schaffung von gesonderten Personalstellen deutlich gesteigert werden. Zusätzlich existieren meist keine einheitlichen Ausbildungsstandards und Kurskonzepte für Ärzte. Kurse anderer Länder sind aufgrund eklatanter Unterschiede der Klinikstruktur und des Rettungssystems für den nationalen Katastrophenschutz nur bedingt geeignet und sollten deshalb nicht unreflektiert übernommen werden.

Eine einheitliche Regelung der klinischen Katastrophenvorsorge in ihren Krankenhausgesetzen der Länder existiert nicht. Auch die Notwendigkeit der Vorhaltung von Krankenhausalarmplänen und eines Katastrophenschutzbeauftragten ist eine Errungenschaft der letzten Jahre. Eine Umfrage von Herrn Cwojdzinski der Berliner Senatsverwaltung zeigte, dass 94 % der befragten Kliniken zwar über einen Alarmplan verfügen, aber nur 74 % einen zentralen Ansprechpartner (Katastrophenschutzbeauftragten) vorhalten. Eine Umfrage der Universitätsklinik Bonn zeigte, dass nur 50 % des Klinikpersonals die Inhalte des Katastrophenalarmplanes bekannt waren [1]. Weiterhin kannten nur ca. 60 % der Befragten ihre Aufgabe im Rahmen von externen und ca. 50 % in internen Schadenslagen [1]. Dies bestätigen die Bonner Daten, wobei nur in 50 % der Kliniken der Maximalversorgung, 45 % der Schwerpunktversorgung und 30 % der Grundversorgung jemals eine Katastrophenübung durchgeführt wurde [1]. In einer Berliner Umfrage führten weniger als 10 % der befragten Kliniken wenigsten einmal pro Jahr eine Übung durch. Trotz mangelnden Trainings fühlten sich jedoch über 80 % der Befragten fähig eine Sichtung im Katastrophenfall richtig durchzuführen [1]. Eine eigene Studie zur Qualität der Sichtung in den Berliner Kliniken zeigte, dass nur in zwei Drittel der Fälle eine korrekte Einschätzung der Verletzungsschwere mit Zuordnung einer Behandlungspriorität gelang [2]. In 18 % wurde eine akute Lebensgefahr der Sichtungskategorie 1 nicht erkannt. In 14 % wurde die Verletzungsschwere unter- und in 23 % überschätzt [2]. Dabei kann das Training der Sichtung das Ergebnis signifikant verbessern [3]. Wir schlussfolgerten und empfahlen die Einführung eines Sichtungsalgorithmus für die Klinik mit Durchführung von regelmäßigen, praktischen Übungen.

Obig genannte Studienergebnisse veranschaulichen die unzureichende Ausbildung katastrophenmedizinisch-tätiger Ärzte. Aktuell liegen jedoch keine Empfehlungen zur Aus-, Weiter- und Fortbildung vor. Der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin (DGKM) Herr Bartels sprach in einem Interview 2001 mit dem Deutschen Ärzteblatt davon, dass das Problem des Fortbildungsbedarfs der Ärzte nicht von heute auf morgen zu lösen sei. Weiterhin müssen die katastrophenmedizinischen Themen Einzug in die Curricula der Ärzteaus- und Fortbildung finden bzw. verstärkt aufgenommen werden. In Kooperation der Schutzkommission beim Bundesministerium des Inneren und der DGKM wurde im Oktober 2010 eine Empfehlung zur katastrophenmedizinischen Ausbildung an deutschen Hochschulen erstellt. Ziel ist die Basisausbildung aller Ärzte zur Schaffung eines Grundverständnisses für die Unterschiede der Katastrophen- und Individualmedizin. Weiterhin wurde eine Verbesserung der ärztlichen Ausbildung in Belangen des Katastrophenschutzes gefordert. Bis heute existieren keine standardisierten Aus- und Fortbildungskonzepte zur klinischen Katastrophenmedizin. So wurde 2002 im Bundesgesetzblatt von einer Überforderung der Mehrheit aller Ärzte im Katastrophenfall aufgrund fehlender notfall- und katastrophenmedizinischer Erfahrung gesprochen [4].

Ärztliche Aus- und Fortbildung der Katastrophenmedizin

Die Approbationsordnung schreibt seit 2003 für die zweite ärztliche Prüfung Kenntnisse im Bereich der Notfall- und Katastrophenmedizin vor. Eine Untersuchung von Herrn Pfenniger 2004 verdeutlichte eine unzureichende Vermittlung der Inhalte im Rahmen des Studiums [5]. Einzelne Universitäten integrierten katastrophenmedizinische Aspekte ab 2009 in die Ausbildung angehender Ärzte. Eine flächendeckende Umsetzung der Empfehlung von 2010 ist bis heute unserer Kenntnis nach nicht erfolgt. Weiterhin ist die alleinige Schulung im Rahmen des Medizinstudiums aus unserer Sicht nicht ausreichend, da wesentliche fachliche Voraussetzungen, wie ausreichende praktische medizinische Erfahrungen und detaillierte Kenntnisse der klinik-internen Organisationsstrukturen fehlen. Vielmehr besteht der Bedarf an hochqualifizierten Ärzten und Pflegekräften im internationalen aber auch nationalen Katastrophenschutz. Dieser Bedarf kann aus unserer Sicht nur durch eine einheitliche Regelung der Ausbildung mit Etablierung von nationalen Kurskonzepten gedeckt werden. Die ärztliche Weiterbildungsordnung der notfallrelevanten Fachbereiche, Allgemeinchirurgie, Anästhesie, Innere Medizin und Orthopädie/Unfallchirurgie, am Beispiel der Berliner Ärztekammer, enthalten keine katastrophenmedizinischen Aspekte. Allein die Weiterbildungsordnung der Zusatzbezeichnung „Notfallmedizin“ sieht „Kenntnisse/Erfahrungen und Fertigkeiten in den Besonderheiten beim Massenanfall von Verletzter und erkrankter einschließlich Sichtung“ vor. Anlässlich dieses Defizites entwickelten sich regionale Angebote, wie die Durchführung von Sommerakademien für Katastrophenmedizin an einzelnen Hochschulen.

Zusammenfassung

Eine standardisierte ärztliche Aus-, Fort- und Weiterbildung für das Teilgebiet Katastrophenmedizin ist aktuell in Deutschland nur unzureichend umgesetzt. Anlässlich der steigenden Inzidenz der Katastrophenlagen und zunehmenden terroristischen Bedrohung ist zur Sicherstellung des klinischen Katastrophenschutzes jedoch die Aus-, Fort- und Weiterbildung medizinischen Personals notwendig. Der Basisausbildung mit Schaffung eines Grundverständnisses für die Katastrophenmedizin sollte im Rahmen des Medizinstudiums ein größerer Rahmen eingeräumt werden. Die Weiterbildungsordnung der notfallrelevanten Fachbereiche sollte das Fachgebiet „Katastrophenmedizin“ beinhalten. Flächendeckende und regelmäßige Übung sind die einzige Möglichkeit die Sicherstellung der katastrophenmedizinischen Versorgung in Deutschland sicherzustellen.

Literatur

[1] Gonsior, A., Vorbereitung von Klinikärzten in Deutschland auf einen MANV – Eine nationale Umfrage Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Hohen Medizinischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 2012.

[2] Kleber, C., et al., Results of in-hospital triage in 17 mass casualty trainings: Underestimation of life-threatening injuries and need for re-triage. American journal of disaster medicine, 2013. 8(1): p. 5-11.

[3] Pelaccia, T., et al., Can teaching methods based on pattern recognition skill development optimise triage in mass-casualty incidents? Emergency medicine journal : EMJ, 2009. 26(12): p. 899-902.

[4] Bundesgesetzblatt, 2002. Teil 1(Nr. 44): p. S. 2405.

[5] Pfenninger, E., Untersuchung zur Einbindung des öffentlichen Gesundheitsdienstes in die katastrophenmedizinische Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Zivilschutzforschung, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, media consult, Bonn, 2004. Band 45.

Kleber C. / Haas N.P. Standardisierte Ausbildung für katastrophenmedizinisch tätige Ärzte. Passion Chirurgie. 2015 Februar, 5(02): Artikel 02_02.

Autoren des Artikels

Profilbild von Christian Kleber

Dr. med. Christian Kleber

Campus Virchow KlinikumCentrum für Muskuloskeletale Chirurgie, KatastrophenmedizinAugustenburger Platz 113353Berlin
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Univ.-Prof. Dr. med. Dr. h.c. Norbert Haas

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Passion Chirurgie 02/2015

Einsatz- und Katastrophenmedizin Was motiviert Ärzte in Katastrophen- und Krisengebieten

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