01.09.2019 Safety Clip
Safety Clip: Es gibt nicht immer nur ein Opfer – die Second Victims im Gesundheitswesen

Passieren folgenreiche Fehler in der Patientenversorgung, kann es neben dem eigentlichen Opfer, dem betroffenen Patienten, auch weitere Opfer, nämlich die beteiligten Mitarbeitenden geben. Die involvierten Mitarbeitenden können nach Behandlungsfehlern oder kritischen Zwischenfällen selbst ein psychisches Leid entwickeln, das von vorübergehenden emotionalen Belastungen bis hin zur chronischen psychischen Erkrankung reichen kann. Sie werden zu zweiten Opfern des Ereignisses – den Second Victims.
Der Begriff Second Victim ist geprägt durch den Artikel von Prof. Albert Wu aus dem Jahr 2000 [11]. Darin wird dargestellt, wie ein junger Arzt durch einen fehlerhaften Vorgang am Patienten selbst emotional sehr belastet wird. Prof. Wu beschreibt den Begriff wie folgt: „Many errors are built into existing routines and devices, setting up the unwitting physician and patient for disaster. And, although patients are the first and obvious victims of mistakes, doctors are wounded by the same errors: they are the second victims.” Eine genauere Definition geben Scott und Kollegen [9]: „Second victims are healthcare providers who are involved in an unanticipated adverse patient event, in a medical error and/or a patient related injury and become victimized in the sense that the provider is traumatized by the event. Frequently, these individuals feel personally responsible for the patient outcome. Many feel as though they have failed the patient, second guessing their clinical skill and knowledge base.”
Folgen für die zweiten Opfer
In der Folge können sich bei den so Betroffenen neben akuten Belastungsreaktionen auch Symptome einer Traumatisierung, einer Depression oder einer Angststörung entwickeln. In einer Studie [10] mit mehr als 3.000 kanadischen und US-amerikanischen Ärzten zur Auswirkung von Behandlungsfehlern berichteten die Teilnehmer über Angst vor weiteren Fehlern (61 Prozent) und verlorenes Selbstvertrauen (44 Prozent), Schlafstörungen (42 Prozent), reduzierte Arbeitszufriedenheit (42 Prozent) und Angst vor Reputationsverlusten (13 Prozent). Nur 10 Prozent gaben an, von ihrer Einrichtung Unterstützung beim Umgang mit den psychologischen Folgen des Ereignisses erhalten zu haben.
Bis zu 19 Prozent der in einer Studie von Gazoni und Kollegen [4] untersuchten Second Victims berichten außerdem, sich nie ganz von dem Ereignis erholt zu haben.
Hilfe und Prävention
Ein fehlendes Unterstützungssystem für Betroffene nach einem kritischen Ereignis bei der Patientenversorgung kann langfristige und schädliche Auswirkungen auf die Betreuungskompetenz für die Patienten haben [8, 5, 1, 7]. Um die Second Victims nach kritischen Ereignissen zu begleiten und der Entwicklung chronischer psychischer Problematiken entgegenzuwirken, sind folgende Maßnahmen in einer Einrichtung denkbar [8, 6]:
- Einführung fester Strukturen und Programme zur Betreuung der beteiligten Mitarbeiter nach kritischen Ereignissen, das „normalen Menschen helfen [soll], die nach höchst abnormalen Ereignissen normalen Stress erleben“ [2],
- Vielfältigkeit der angebotenen Programme, um sie individuell angepasst nutzen zu können (kurz- oder langfristige Dauer, Einzelbetreuung oder Möglichkeit des Gespräches/Austausches mit Kollegen/Peers, Vorhalten von Informationsmaterial),
- festgelegte Regelungen zu Dienst und Freizeit nach einem kritischen Ereignis (Auszeit von der klinischen Tätigkeit ermöglichen),
- Entwicklung von Empfehlungen zur Vorgehensweise nach einem Zwischenfall (Struktur für Besprechungen und Dokumentation vorhalten),
- Verfahren zur Aufarbeitung der klinischen Entscheidungen (z. B. mit Root Cause and Systen Analysis).
Daneben erscheint es hilfreich, bereits präventiv tätig zu werden. Hier bieten sich einrichtungsinterne Fortbildungen zum Umgang mit kritischen Ereignissen und der Kommunikation in und während dieser Situationen an.
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Büxe PF: Safety Clip: Es gibt nicht immer nur ein Opfer – die Second Victims im Gesundheitswesen. Passion Chirurgie. 2019 September, 9(09): Artikel 04_02.
Autor des Artikels

Pia Büxe
M.Sc. PsychologinDr. Becker Brunnen-KlinikBlomberger Str. 932805Horn-Bad Meinberg kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
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