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Lässt sich das Konzept der „High Reliability Organisation“ auf klinische Prozesse übertragen?

Risikogeneigte Dienstleistungs- und Industrieunternehmen etablieren in ihren Organisationsstrukturen zunehmend systematische Präventionsmaßnahmen, die ein Höchstmaß an Sicherheit garantieren sollen. Betriebe, die in ihren Leistungsprozessen eine maximale Zuverlässigkeit aufweisen, werden international als High Reliability Organisation (HRO) bezeichnet.

In Deutschland sprechen wir von Hochleistungs- oder Hochzuverlässigkeitsunternehmen. Beispiele sind kernenergietechnische Anlagen, Betriebe der petrochemischen Industrie sowie Militäreinrichtungen, aber auch kleinere organisatorische Einheiten wie Flugsicherungsdienste, Formel 1-Teams, Feuerwehren oder Notfallteams in Krankenhäusern.

Die Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011 hat uns allerdings einmal mehr in aller Deutlichkeit gezeigt, dass auch einem Hochzuverlässigkeitsmanagement Grenzen gesetzt sind. Nicht alle Eventualitäten und Risiken lassen sich beherrschen – aber durchaus auf ein Minimum reduzieren. Besonders, wenn es um Menschen geht – im Krankenhaus um die Versorgung von Patienten und deren Erwartungen –, ist es daher unerlässlich, ein Höchstmaß an Sicherheit zu schaffen.

HROs zeichnen sich durch ein gemeinsames Set von Merkmalen aus:

  • HROs sind Organisationen, die unter sicherheitstechnischen Gesichtspunkten als gefährlich anzusehen sind und bei denen ein personelles oder organisatorisches Fehlverhalten zu dramatischen Auswirkungen für Leib, Leben und Umwelt führen kann. [1]
  • Obgleich in HROs ständig unter erschwerten, gefahrenträchtigen Bedingungen gearbeitet wird, halten sich Komplikationen, Störungen und Schadenfälle aufgrund etablierter Sicherheitsmaßnahmen in Grenzen. [2]
  • HROs beobachten kontinuierlich ihre komplexen internen und externen Bedingungen. Neben technischen und organisatorischen Fehlern werden insbesondere auch soziale Faktoren als Einflussgrößen für Unsicherheit definiert.
  • HROs sind aufgrund ihrer Struktur stets darauf vorbereitet, auf unterschiedlichste Störungen zu reagieren. Sie zeichnen sich besonders dadurch aus, dass schon im Vorfeld institutionalisiert über mögliche Störungen nachgedacht wird. [1, 3]

Die Merkmale einer HRO lassen sich problemlos auf Gesundheitseinrichtungen übertragen. Die Erkenntnisse aus der HRO-Theorie können also dazu beitragen, das Sicherheitsniveau auch in Krankenhäusern zu heben.

Die Chirurgie als HRO

Wie überall im Krankenhaus dienen in chirurgischen Abteilungen Diagnostik, Therapie und Pflege der individuellen Gesundheitsförderung sowie dem Schutz und dem Erhalt von Menschenleben. Der Faktor Sicherheit ist hier von zentraler Bedeutung. Per Definition kann man bei chirurgischen Abteilungen also von Hochsicherheits- bzw. Hochzuverlässigkeitsbereichen sprechen.

Eine Besonderheit im Gesundheitswesen ist, dass die Dienstleistungserbringung und die Dienstleistungskonsumption zeitlich zusammenfallen (Uno-Actu-Prinzip). Dadurch besteht im Einzelfall nur begrenzter Raum für eine präventive Planung. Fehler müssen kontinuierlich vermieden werden, da eine Korrektur nachträglich häufig nicht möglich ist.

Außer den Charakteristika lassen sich auch wichtige operative Merkmale einer HRO auf die Chirurgie übertragen [4]:

  • Mit den Techniken der minimalinvasiven Chirurgie, mit navigationsgestützter Diagnostik und Therapie und mit telemedizinischen Verfahren kommen komplexe Technologien zur Anwendung.
  • Mehrstündige operative Verfahren mit Lagerungs- und Technikwechsel oder Polytraumaversorgungen erfordern komplexe Strukturen der Interaktion innerhalb der Organisation.
  • Die Abstimmung zwischen Anästhesie und Chirurgie oder auch die intraoperative Schnellschnittdiagnostik machen die strukturierte Verknüpfung von Teilsystemen nötig.
  • Sowohl die hierarchischen Organisationsformen innerhalb einer Abteilung als auch das Drei-Säulen-Management eines Krankenhauses erfordern Entscheidungsprozesse in komplexen Kommunikationsnetzwerken.
  • Bei Verfahren der chirurgischen Diagnostik und Therapie übernehmen Ärzte und Pflegende ein hohes Maß an Verantwortung gegenüber Patienten und Mitarbeitern.

In HROs werden Störungen, Komplikationen, Fehler und Schadenereignisse anhand von geeigneten organisatorischen und strukturellen Maßnahmen transparent gemacht. Das Bewusstmachen von Risiken und die Förderung der Achtsamkeit („Mindfulness“) [3] können zur Prozessmodellierung beitragen. Der Terminus „Mindfulness“ meint eine subjektive Werthaltung der Mitarbeitenden, die ein permanentes Achtgeben auf sicherheitsrelevante Phänomene einschließt. Laut Mistele ist „Mindfulness“ obligatorisch für die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit einer HRO.

„Mindfulness“ sensibilisiert für betriebliche Abläufe und trägt damit zu deren Stabilisierung bei. Mitarbeitende, die sich auf das Erkennen von Fehlern und Fehlerpotenzialen konzentrieren, sehen Warnsignale kritischer und tendieren weniger dazu, diese gar nicht oder nur vereinfacht zu interpretieren. „Mindfulness“ beinhaltet darüber hinaus das Streben nach Flexibilität und unterstützt die Umsetzung des Grundgedankens, dass Entscheidungen – auch unabhängig von Hierarchien – von Personen getroffen werden sollten, die über das notwendige Wissen und das Können verfügen.

In vielen chirurgischen Abteilungen setzt man die Prinzipien der HRO intuitiv um, indem man mit Maßnahmen des Klinischen Risikomanagements die Achtsamkeit und die Fehlerprävention fördert.

Klinisches Risikomanagement und HRO

In zahlreichen Kliniken, insbesondere in chirurgischen Abteilungen, wurden in den letzten Jahren Fehlerkommunikationssysteme installiert. Mit einem Critical Incident Reporting System (CIRS) werden Fehler ohne Schadenfolge analysiert, um daraus Vermeidungsstrategien zu entwickeln. Die in der Regel anonymisierten Meldewege ermöglichen es Mitarbeitenden, Fehler sanktionsfrei zu kommunizieren.

Über institutionell etablierte Verfahren hinaus stehen heute auch nationale und internationale Plattformen für den Austausch von Fehlern und Präventionsmaßnahmen zur Verfügung (z. B. KH-CIRS-Netz-Deutschland).

Chirurgische Teams analysieren und evaluieren kritische Ereignisse in der Patientenversorgung in regelmäßig stattfindenden Mortalitäts- und Morbiditätskonferenzen. Unerwartete Komplikationen werden im interkollegialen Dialog aufgearbeitet, um Risikopotenziale zu identifizieren und dann bei Bedarf Organisationsformen anzupassen.

Im Rahmen von retrospektiven Schadenfallanalysen (Root Cause Analysis) werden Schadenfallereignisse im therapeutischen Team, häufig mit Unterstützung von Juristen und Psychologen, evaluiert. Hier steht nicht die Suche nach dem Schuldigen im Mittelpunkt, sondern die Identifizierung der häufig komplexen Schadenursachen.

Sicherheits- und Risiko-Audits (intern oder extern organisiert) ermöglichen eine Risikoidentifizierung ohne „Schaden- oder Komplikationshistorie“. Diese Audits, die einem systematischen Ansatz folgen, dienen der Beantwortung der Frage: Welches sind die Sicherheitslücken in der Patientenversorgung und wo könnte es potenziell zu einer Schädigung von Patienten kommen?

Simulationstrainings fördern den Wissenstransfer und das Training im Teamkontext. Gemeinsam im Team wird dynamisch mit provozierten Störpotentialen trainiert.

Zum Prinzip der Achtsamkeit gehört darüber hinaus aber auch die Kommunikation mit dem Patienten und seiner sozialen Umgebung. Die ärztliche wie auch die pflegerische Anamnese dienen der Identifizierung individueller Versorgungsnotwendigkeiten und Risiken. In einem Hochzuverlässigkeitsunternehmen wie einem Krankenhaus müssen die Erkenntnisse aller Berufsgruppen (hier: Ärzteschaft und Pflegepersonal) systematisch zusammengeführt werden. Der Patient muss in diesen Prozess anhand von Aufklärungs- und Informationsgesprächen integriert werden. Seine persönlichen Ängste, Bedenken und Erwartungen sind zu berücksichtigen.

Die Chirurgie als Hochleistungs-, aber auch Hochrisikodisziplin bedarf der permanenten Anpassung und Reorganisation. Die Merkmale und Prinzipien einer HRO können den Prozess der präventiven Organisationsentwicklung nachhaltig unterstützen. Sicherheit muss dabei „einen Wert an sich“ darstellen.

Pfaff spricht in diesem Zusammenhang von der Entwicklung einer Sicherheitskultur, die er als gemeinsamen Wissens-, Werte- und Symbolvorrat bezeichnet. [5] Eine starke Sicherheitskultur führt in einem Krankenhaus zu einer kollektiven Programmierung der Organisationsmitglieder in Bezug auf die Patientensicherheit und letztlich zur Hochzuverlässigkeit.

Die Voraussetzungen dafür sind

  • eine offene Kommunikationskultur,
  • die Vermittlung von Sicherheitswissen in allen hierarchischen Ebenen der Organisation und
  • die Identifikation und die bewusste Bearbeitung von sicherheitsschädigenden „Haltungen“ von Mitarbeitern.

Ein klinisches Risikomanagement auf Grundlage der HRO-Theorie ermöglicht es, viele Entstehungsbedingungen für Fehler zu erkennen, zu analysieren und durch geeignete Maßnahmen zu minimieren bzw. auszuschließen. Auf der Basis der Erkenntnisse lässt sich entsprechendes Verhalten der Mitarbeiter teamorientiert trainieren.

Eine große Herausforderung … aber machbar!

Literatur:

[1] Pawlowsky, P.; Mistele, P. (Hrsg.) (2008). Hochleistungsmanagement, Gabler, Wiesbaden.

[2] Mistele, P. (2005). Die Relevanz der High Reliability Theory für Hochleistungssysteme, Technische Universität Chemnitz, Diskussionspapier.

[3] Weick, K.,E.; Sutcliffe, K., M. (2003). Das unerwartete Managen: Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen, Stuttgart 2003.

[4] Banduhn, C. (2009). Das Krankenhaus als High Reliability Organisation – Umsetzungsmöglichkeiten mittels Risikomanagement, unveröffentlichte Masterarbeit, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universität Bayreuth.

[5] Pfaff, H.; Hammer, A.; Ernstmann, N.; Kowalski, C.; Ommen, O. (2009) Sicherheitskultur: Definition, Modelle und Gestaltung, in: Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, 103. JG, Heft 8.

Gausmann P. Safety Clip: Safety Clip: Chirurgie und Zuverlässigkeit. Passion Chirurgie. 2012 März; 2(03): Artikel 03_01.

Autor des Artikels

Profilbild von Peter Gausmann

Dr. Peter Gausmann

GeschäftsführerGRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbHEcclesiastraße 1-432758Detmold kontaktieren

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