15.11.2020 Rezensionen
Rezension: Frakturen und Luxationen im Wachstumsalter
Frakturen und Luxationen im Wachstumsalter
Lutz von Laer, Dorien Schneidmüller, Anna-Kathrin Hell
7. vollständig überarbeitete Auflage 2020
488 S. , 660 Abb.
199,99 Euro
ISBN: 9783132417564
Beim Verlag bestellen: https://bit.ly/Rezension-Frakturen
Die 7. Auflage des „von Laer“ kommt in neuem Format, mit neuen Ko-Autorinnen und mit mancher inhaltlichen Veränderungen auf einen Markt, der sich in den letzten Jahrzehnten vielseitiger gestaltet hat. Dennoch gilt dieses Buch in vielen Fachgesprächen, bei Kongressen und in Gutachten sowie bei Gericht als deutschsprachiges Standardwerk der Kindertraumatologie und es gehört sicher unverändert in den Schrank eines jeden kindertraumatologisch aktiven Kinderchirurgen, Unfallchirurgen oder Kinderorthopäden.
Im Vorwort der aktuellen Auflage wird die Notwendigkeit einer guten Kommunikation mit dem Patienten und seinen Eltern dankenswerterweise hervorgehoben. Der allgemeine Teil mit Grundsätzlichem, Philosophischem und Kritischem zu Wachstum, Heilung und deren Störung, zu Verletzung, Prognose und Prävention sowie zu Diagnostik, Therapie und Nachsorge umfasst mit fast 100 Seiten etwa ein Viertel des Buchvolumens. Ihm folgen im speziellen Teil die einzelnen Verletzungsregionen, besondere Konstellationen (Misshandlung, Geburtstrauma, pathologische Frakturen) und besondere Lokalisationen (Becken, Wirbelsäule).
Ein Highlight sind unverändert die Ausführungen zum Wachstum und seinen Störungen sowie zur Wachstumsprognose. Neue klinische Bilder z. B. zu Rotationsfehlern oder Achsendeformitäten erleichtern die Übertragung des Gelesenen in die tägliche klinische Anwendung. Auch die vielen treffenden Röntgenbilder in den theoretischen und grundsätzlichen Kapiteln sind ein absoluter Pluspunkt. Die weltweit akzeptierte und in vielen Publikationen angewandte AO-Klassifikation wird jetzt zumindest auf einer Seite dargelegt. Im Diagnostikkapitel ist die kritische Betrachtung unreflektierter Bildgebung für viele lehrreich, man benötigt sicher nicht alle Bilder, die gemacht werden! Einzelne, als obsolet bezeichnete Methoden wie die Arthrografie können im gut begründeten Einzelfall intraoperativ (Radiushalsfraktur vor Erscheinen des Kopfkernes) hilfreich sein. Die zunehmenden Möglichkeiten der Ultraschalldiagnostik werden auch in der neuen Auflage nur limitiert erwähnt. In der Therapieübersicht findet man neue, instruktive Bilder zur Gipskeilung. Zur Nachsorge wird viel Praktisches und Pragmatisches bzgl. der radiologischen und klinisch-funktionellen Kontrollen dargelegt. Der Schulsport sollte dagegen in Zeiten von Bewegungsarmut und selbstgewählter Mobilitätsbeschränkung nicht zu kritisch gesehen, sondern eher in seiner Notwendigkeit unterstützt werden.
Die sperrigen und international völlig unüblichen und schwer verständlichen Begriffe „Fugenschaft- und Fugengelenkfrakturen“ müssen aufgrund der Wortschöpfung durch den Erstautor wohl ebenso bleiben wie die „Drohgebärde“ der Kadi-Läsionen, die zwar gerne zitiert wird, aber an der Verkennung der entsprechenden Diagnosen kaum etwas geändert hat.
Im speziellen Teil imponieren der systematische Aufbau der einzelnen Kapitel, die instruktiven tabellarischen Übersichten an den Kapitelanfängen und die Algorithmen und nochmals mehr als in den früheren Auflagen das sehr gute und breit gefächerte Bildmaterial, das auch vor seltenen Problemen nicht Halt macht. Da entschuldigt man, dass einzelne Bilder (z. B. Abb. 21.4 und 5, Abb. 25.20) „produziert“ erscheinen. An der Klavikula ist die ESIN bei distalen und proximalen Frakturen allerdings eher ungeeignet, bei Schaftfrakturen von Sportlern aber durchaus indiziert; hierzu fehlen leider technische Tipps und Bilder. Am Ellenbogen wird das Vorgehen suprakondylär, kondylär und am proximalen Radius differenziert dargelegt, diese Kapitel sind hervorragend ausgearbeitet und bieten eine solche Vielzahl an Bildern und Aspekten, dass sich schon dafür der erneute Kauf des Buches lohnt. Leider findet der Fixateur nach Slongo suprakondylär zur Vermeidung einer offenen Reposition – obwohl klinisch vielfach bewährt – weiterhin keine Erwähnung. Er erspart den dorsalen offenen Zugang! Und auch bei der Korrektur ist er weniger aufwändig als die in Kapitel 21 dargestellten Systeme. Würde man beim Radiuskopf (nicht Köpfchen – Caput radii, nicht Capitulum) den intramedullären Nagel immer belassen, wäre die direkte Freigabe zur Bewegung möglich, was funktionell positiv sein kann. Bei der Monteggiaverletzung kann die sehr proximale Ulnafraktur auch mit einem von distal eingebrachten ESIN statt mit einer Platte versorgt werden. Trotz dieser kritischen Anmerkungen profitiert jeder Kindertraumatologe davon, die Ellenbogenkapitel dieses Buches zu studieren. Am Unterarmschaft sind die Therapieempfehlungen deutlich aktiver und operativer geworden, diese Entwicklung der letzten Jahre wird gut nachvollzogen dargelegt und wohl begründet.
An der unteren Extremität werden die kritischen Lokalisationen Schenkelhals, Knie, proximale Tibia und Sprunggelenk ihrer Bedeutung entsprechend hervorragend abgehandelt. Dazu sind rund ums Knie die vielen guten Abbildungen wieder eine reine Freude des Lesers. Nichts ist lückenlos und vieles bleibt sicher auch bei der großen Erfahrung der AutorInnen individuell; so kann am Schenkelhals die Hüftplatte gerne auch für die laterale Fraktur und zur Korrektur eingesetzt werden, subtrochantär kann die ESIN auch geschlossen erfolgen. Am Femurschaft kann man den verriegelten ESIN/Endcaps primär belasten. Bei der Eminentiafraktur ist bildlich leider nur ein „historischer Fall mit retrograder Schraube“ dargestellt. Die anti-varische Effizienz der ESIN am (isolierten) Tibiaschaft hängt von der korrekten technischen Realisation ab. Am OSG studiert man wieder gerne die weiter verbesserten Skizzen zu den verschiedenen Frakturen. Die fehlende Beurteilbarkeit resorbierbarer Implantate hätte sich mit neuerer Literatur als der von 2008 überzeugender angehört. Das Battered Child kommt leider zu kurz, gerade dem Unerfahreneren könnten hier mehr typische Frakturen gezeigt werden, damit er sie als verdächtig erkennt. Auch bei den Geburtstraumen lässt die sonst so reichliche Bebilderung zu wünschen übrig. Bei den pathologischen Frakturen durch juvenile Knochenzysten sollte die diagnostische Effizienz einer Stanzbiopsie nochmals überdacht werden, da ja die potentielle Malignität an jeder Ecke versteckt sein könnte; nutzen würde dann nur die radikale Curretage.
Erfreulicherweise ist das Literaturverzeichnis wieder ausgedruckt verfügbar.
Der „von Laer“ bleibt, was er immer war: Ein hervorragendes kindertraumatologisches Lehrbuch, das auf einer klinischen Erfahrung aufbaut, die ihresgleichen sucht. Besonders die kritischen Kommentare zu allzu Etabliertem sind erfrischend und regen zum Nachdenken an. Der Griff zum neuen „von Laer“ wird sich weiterhin lohnen.
Schmittenbecher P: Rezension: Frakturen und Luxationen im Wachstumsalter. Passion Chirurgie. 2020 Dezember, 10(12): Artikel 04_06.
Autor des Artikels
Prof. Dr. Peter Schmittenbecher
Kinderchirurgische KlinikKlinikum KarlsruheMoltkestr. 9076133Karlsruhe kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
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