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AWARE – eine prospektiv-randomisierte Multicenter-Studie

Narben- und Leistenhernien gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern in der Chirurgie: Etwa 200.000 Leistenhernien werden pro Jahr in Deutschland neu diagnostiziert. [1]

Eine oft auftretende Komplikation in der Allgemein- und Viszeralchirurgie sind Narbenhernien – ihre Inzidenz liegt höher als bislang angenommen. Jüngst publizierte Fink et al. eine deutsche prospektive Multicenter-Studie die zeigte, dass selbst nach standardisiertem Bauchdeckenverschluss nach Medianlaparotomie bei 22 Prozent der Patienten nach drei Jahren Narbenhernien auftreten. [2] Entsprechend viele Narbenhernienreparationen gibt es in Deutschland: Es sind fast 50.000 pro Jahr. [3]

Abb. 1: Narbenhernie beim Pressen

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Narbenhernienchirurgie – keine Low-risk-Chirurgie

Früh-postoperative Komplikationen nach Narbenhernienverschluss sind nicht selten: Eine dänische Studie mit fast 3.000 erfassten laparoskopischen und offenen Reparationen zeigte, dass 11 Prozent der Patienten wieder aufgenommen werden und 5,5 Prozent operativ revidiert werden mussten – die Gesamt-Komplikationsrate lag bei 11 Prozent. [4] Unabhängig von offener und laparoskopischer Reparationstechnik ist die Rezidivrate nach Narbenhernienverschluss nicht unerheblich: 13 bis 18 Prozent [5, 6, 7]. Zwischen 11 und 20 Prozent der Patienten berichten über persistierende Schmerzen im Bereich der Operationsnarbe [7, 8].

Angesichts der relevanten Rate früh- und postoperativer Komplikationen sollte die Indikation zur Narbenhernienreparation also sehr sorgfältig gestellt werden.

Hernien – operieren oder zuwarten?

Bis vor wenigen Jahren galt das Dogma, dass jede Hernie unabhängig von ihrer Symptomatik operiert werden sollte, ohne dass dafür eine ausreichende Evidenz vorlag. Begründet wurde dies mit der drohenden akuten Inkarzeration und der potentiellen Darmgangrän.

Fitzgibbons und Mitarbeiter konnten 2006 in einer prospektiv-randomisierten Multicenterstudie zeigen, dass die systematische Beobachtung – „watchful waiting“ – eine akzeptable Alternative zur Lichtenstein-Operation bei Männern mit oligosymptomatischer Leistenhernie ist, da die Häufigkeit der akuten Inkarzeration mit 1,8 Ereignissen in 1.000 Patientenjahren gering und die Einschränkung durch Schmerzen bei Aktivitäten nach einem zweijährigen Follow-up in beiden Gruppen nicht unterschiedlich war. [9] Die Arbeitsgruppe von Fitzgibbons konnte ferner zeigen, dass es für die Patienten kein Nachteil bezüglich Komplikationen und Rezidivrate ist, wenn die Leistenhernienreparation aufgeschoben wird [10]. Die durch diese Studien gewonnene Evidenz fand auch in den Leitlinien der European Hernia Society ihren Niederschlag: Bei Männern mit oligosymptomatischen Hernien sollte das „watchful waiting“ in Erwägung gezogen werden.

Operieren nun Chirurgen seit den Erkenntnissen von Fitzgibbons weniger Leistenhernien? Nein – Chirurgen haben lediglich mehr (rechtliche) Sicherheit einen multimorbiden Patienten nicht zu operieren, denn die „Pflicht“ zur Operation ist nach den Arbeiten von Fitzgibbons et al. nicht mehr gegeben.

Solch eine Evidenz für die Indikationsstellung zur Operation gibt es für die Narbenhernienchirurgie nicht. Es stellt sich also die Frage, welche Patienten von der operativen Versorgung einer Narbenhernie profitieren. Um dies zu untersuchen, wurden 90 Patienten konsekutiv in eine prospektive Studie eingeschlossen, die eine elektive offene Narbenhernienreparation mit retromuskulärer Netzplastik (Sublay) erhielten. Anhand des präoperativen Schmerzniveaus wurden die Patienten in eine oligosymptomatische Gruppe (Numeric Analog Scale 0-3, n=43) und eine symptomatische Gruppe (Numeric Analog Scale 4-10, n=47) eingeteilt. Als Grund für eine Operation nannten Patienten mit oligosymptomatischen Hernien am häufigsten die Furcht vor einer Inkarzeration, bei Patienten mit einer symptomatischen Hernie waren Schmerzen der vorherrschende Grund. [5]

Patienten mit symptomatischer Hernie klagten postoperativ seltener über Schmerzen im Operationsbereich. Allerdings berichteten 33 Prozent der initial oligosymptomatischen Patienten sechs Monate postoperativ über Schmerzen [6]. Während also die symptomatischen Patienten bezüglich der Schmerzen im Operationsgebiet von der Hernienreparation profitieren, ist dieser Benefit für Patienten mit oligosymptomatischen Hernien fraglich.

Klinische Studie AWARE

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Diese Ergebnisse führten zur Initiierung der AWARE-Studie: Watchful waiting vs. repair of oligosymptomatic incisional hernias – der Vergleich von systematischer Beobachtung und Operation bei oligosymptomatischen Narbenhernien.

Das Konzept des „watchful waiting“ ist bislang noch nicht auf Narbenhernien angewendet worden. Daher liegen weder Daten zum Spontanverlauf von oligosymptomatischen Narbenhernien bezüglich Inkarzerationsfrequenz, Größenzunahme, Zunahme von Schmerzen/Beschwerden der Patienten und Häufigkeit der Entscheidung zur Operation im Langzeitverlauf noch zum Vergleich des „watchful waiting“ mit der Operation vor. Die prospektiv-randomisierte deutschlandweite Multicenter-Studie „AWARE“ (Evidenzniveau 1) soll die Frage beantworten, ob die systematische Beobachtung („watchful waiting“) eine gleichwertige Alternative zur Operation von oligosymptomatischen Narbenhernien ist.

Die operative Versorgung von Narbenhernien hat eine erhebliche gesundheitsökonomische Bedeutung: Bereits in den 1990er Jahren wurden die Kosten für die operative Versorgung von Narbenhernien in Deutschland auf 128 Millionen € geschätzt [11]. In Zeiten knapper finanzieller Ressourcen sollte die Behandlung mit den geringsten Risiken und den besten Langzeitergebnissen sowohl für den einzelnen Patienten als auch für die Gesellschaft präferiert werden.

Studiendesign

Das primäre Zielkriterium der AWARE-Studie ist Schmerz während normaler Aktivitäten als Folge der Hernie oder der Hernienoperation zwei Jahre nach Studieneinschluss gemessen auf den Hernien-spezifischen Surgical Pain Scales (SPS). Sekundäre Zielkriterien sind Behandlungskosten, die Patientenzufriedenheit (5-Punkte-Likert-Skala), Schmerzen in Ruhe bzw. während der Arbeit oder dem Sport, das Schmerzmaximum (jeweils mit SPS gemessen), die Lebensqualität (SF-36 Fragebogen), postoperative Komplikationen und Mortalität. In der experimentellen Gruppe („watchful waiting“) ist zudem eine akute Inkarzeration und die Größenzunahme der Hernie ein weiteres sekundäres Zielkriterium sowie in der Kontrollgruppe (Operation) die Rezidivrate [12].

Tab. 1: Historie der offenen Netztechniken

Einschlusskriterien

Ausschlusskriterien

  • Alter ≥ 18 Jahre
  • Asymptomatische/oligosymptomatische Narbenhernie (kein hernienabhängiger Schmerz oder Diskomfort während normaler Aktivitäten)
    • Keine nachweisbare Hernie bei der körperlichen Untersuchung
    • Akute Hernieninkarzeration
    • Notfallmäßiger Narbenhernienverschluss
    • Schmerzen oder Diskomfort verursacht durch die Narbenhernie während normaler Aktivitäten
    • Lokale oder systemische Infektion
    • ASA-Score >3
    • Patienten mit metastasiertem Tumorleiden in Palliativsituation
  • Unfähigkeit, den präoperativen Fragebogen zu verstehen bzw. zu beantworten
    Hernienverschluss mit biologischer Prothese (alle Arten von (teil-resorbierbaren Kunststoffnetzen können implantiert werden)

Ablauf der AWARE-Studie

Nach Überprüfung der Ein- und Ausschlusskriterien und Informed Consent erfolgt die Randomisierung in die experimentelle Gruppe (watchful waiting) bzw. die Kontrollgruppe (OP). Beide Patientengruppen werden 24 Monate nachbeobachtet (vgl. Abb. 2).

Abb. 2: Ablaufschema der AWARE-Studie

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Nach der Randomisierung eines Patienten in den Kontrollarm (OP) kann der Hernienverschluss in offener oder laparoskopischer Technik erfolgen. Die Wahl der Operationstechnik (Naht oder Netz) und der Netzlage (Onlay, Inlay, Sublay, IPOM) sowie des Netzes (mit Ausnahme biologischer Netze) obliegt dem Ermessen des Operateurs. Bei Hernien ≥ 3 cm ist die Reparation mit Netz empfohlen.

Studienverlauf und aktueller Stand

Der erste Patient wurde im November 2011 an der Charité Campus Benjamin Franklin rekrutiert. Aktuell sind 30 Studienzentren handlungsfähig, das heißt, es liegt ein positives Ethikvotum vor und die Zentren sind in Bezug auf Studiensoftware und Studienprotokoll geschult – sieben weitere Zentren befinden sich im Initiierungsprozess.

Über 700 Patienten konnten bereits für die Studie gescreent werden, 16 Prozent davon konnten in die Studie eingeschlossen werden. In den meisten Fällen war eine symptomatische Narbenhernie der Grund dafür, den jeweiligen Patienten nicht in die Studie einzuschließen. Aber auch die Präferenz eines Patienten für einen bestimmten Studienarm sowie Komorbidität, Sprachprobleme oder fehlende Compliance waren Gründe, die eine Rekrutierung verhinderten (Abb. 3).

Abb. 3: Geplanter Verlauf der AWARE-Studie

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Die AWARE-Studie ist DFG-gefördert und wird vom Koordinierungszentrum für Klinische Studien der Charité unterstützt; das stellt eine suffiziente personelle Unterstützung sicher und sorgt für eine sehr gute Studienqualität durch standardisierte Initiierung, regelmäßige Studientreffen, Monitoring, Datenmanagement und Review von unerwünschten Ereignissen (Adverse Events) durch ein unabhängiges Data Safety Monitoring Board. Die DFG-Förderung ermöglicht die Zahlung eines Fallgeldes von 610 € pro vollständig dokumentiertem Patienten.

Schlussfolgerung

Unabhängig von der Technik des Bauchdeckenverschlusses bleibt die Rate an Narbenhernien nach Laparotomien mit über 20 Prozent im Langzeit-Follow-up hoch. Die Narbenhernienchirurgie ist mit einer relevanten Rate frühpostoperativer Komplikationen wie Wundinfektionen, Hämatomen/Seromen oder spätoperativer Komplikationen wie Rezidiven oder persistierenden Schmerzen behaftet. Bei oligosymptomatischen Leistenhernien konnte gezeigt werden, dass das „watchful waiting“ eine sinnvolle Alternative zur operativen Versorgung ist.

Während Patienten mit symptomatischer Narbenhernie vom operativen Verschluss profitieren, ist dieser Nutzen bei oligosymptomatischen Hernien angesichts einer höheren Rate an Schmerzen sechs Monate postoperativ und einer relevanten Rezidivrate von über zehn Prozent fraglich. Die AWARE-Studie wird die Frage klären, ob das „watchful waiting“ eine sinnvolle Alternative zur Operation oligosymptomatischer Narbenhernien ist.

Die Studie wurde vor der aktuellen Diskussion um unnötige Operationen initiiert – das steigende Interesse an der AWARE-Studie in den vergangenen Monaten mag auch auf diese Diskussion zurückzuführen sein. Es ist in unserem vitalen Interesse, eigene Daten zu liefern, die die Sinnhaftigkeit unserer Operationen untermauern.

Diese Multicenter-Studie wird unser Wissen über die Volkskrankheit Narbenhernie maßgeblich vergrößern.

Weitere Informationen erhalten Sie hier oder wenden Sie sich an die Studienleitung: Dr. Johannes C. Lauscher, Charité Campus Benjamin Franklin, Chirurgische Klinik I, Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin, Tel.: 030 8445-2948, E-Mail: [email protected]

Literatur

[1] Geissler b., Anthuber M., Chirurgie der Leisten- und Schenkelhernien. Der Chirurg, May 2011, Volume 82, Issue 5, 451-465

[2] Fink C, Baumann P, Wente MN, Knebel P, Bruckner T, Ulrich A, Werner J, Büchler MW, Diener MK. Incisional hernia rate 3 years after midline laparotomy. British Journal of Surgery. Volume 101, Issue 2, pages 51–54, January 2014

[3] Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus 2009

[4] Bisgaard T, Kehlet H, Bay-Nielsen MB, Iversen MG, Wara P, Rosenberg J, Friis-Andersen HF, Jorgensen LN. Nationwide study of early outcomes after incisional hernia repair. Br J Surg. 2009 Dec;96(12):1452-7. doi: 10.1002/bjs.6728.

[5] Lauscher JC, Rieck S, Loh JC, Gröne J, Buhr HJ, Ritz JP. Oligosymptomatic vs. symptomatic incisional hernias–who benefits from open repair? Langenbecks Arch Surg. 2011 Feb;396(2):179-85

[6] Lauscher JC, Loh JC, Rieck S, Buhr HJ, Ritz JP. Long-term follow-up after incisional hernia repair: are there only benefits for symptomatic patients? Hernia. 2013 Apr;17(2):203-9

[7] Eker HH, Hansson BM, Buunen M, Janssen IM, Pierik RE, Hop WC, Bonjer HJ, Jeekel J, Lange JF. Laparoscopic vs. open incisional hernia repair: a randomized clinical trial. JAMA Surg. 2013 Mar;148(3):259-63

[8] Burger J, Luijendijk RW, Hop WC, Halm JA, Verdaasdonk E, Jeekel J. Long-term Follow-up of a Randomized Controlled Trial of Suture Versus Mesh Repair of Incisional Hernia. Annals of Surgery, Volume 240, Number 4, October 2004.

[9] Fitzgibbons RJ Jr, Giobbie-Hurder A, Gibbs JO, Dunlop DD, Reda DJ, McCarthy M Jr, Neumayer LA, Barkun JS, Hoehn JL, Murphy JT, Sarosi GA Jr, Syme WC, Thompson JS, Wang J, Jonasson O. Watchful waiting vs repair of inguinal hernia in minimally symptomatic men: a randomized clinical trial. JAMA. 2006 Jan 18;295(3):285-92.

[10] Thompson JS, Gibbs JO, Reda DJ, McCarthy M Jr, Wei Y, Giobbie-Hurder A, Fitzgibbons RJ Jr. Does delaying repair of an asymptomatic hernia have a penalty? The American Journal of Surgery 195 (2008) 89–93

[11] Eypasch E, Paul A. [Abdominal wall hernias: epidemiology, economics and surgical technique-an overview]. Zentralbl Chir 1997; 122: 855-8

[12] Lauscher JC, Martus P, Stroux A, Neudecker J, Behrens U, Hammerich R, Buhr HJ, Ritz JP. Development of a clinical trial to determine whether watchful waiting is an acceptable alternative to surgical repair for patients with oligosymptomatic incisional hernia: study protocol for a randomized controlled trial. Trials 2012, 13:14

Lauscher J. C. / Kreis M. E. / Leonhardt M. Oligosymptomatische Narbenhernien – operieren oder zuwarten? Passion Chirurgie. 2014 April, 4(04): Artikel 02_11.

Autoren des Artikels

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Dr. med. Johannes Lauscher

OberarztUniversitätsmedizin Berlin Campus Benjamin FranklinKlinik für Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie CharitéHindenburgdamm 3012200Berlin kontaktieren
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Prof. Dr. med. Martin Kreis

Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und GefäßchirurgieCharité Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin FranklinHindenburgdamm 3012200Berlin kontaktieren
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Marja leonhardt

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