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Die Kinderchirurgie ist ein vergleichsweise junges, eigenständiges Fach im Gebiet Chirurgie mit einem spezifischen Spektrum in Krankenversorgung, Forschung und Lehre. Aktuell sind in Deutschland 89 Kliniken für Kinder­chirurgie gelistet, darunter 16 Ordinariate. Außerdem gibt es 36 kinderchirurgische Abteilungen in der Chirurgie bzw. Pädiatrie, 48 kinderchirurgische Einzelpraxen und 19 Gemeinschaftspraxen, davon sechs mit Belegbetten sowie neun kinder­chirurgische MVZ.

Die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) hat derzeit 710 Mitglieder und ist damit in den letzten sechs Jahren um ca. 40 % gewachsen. Das Organ der DGKCH ist das European Journal of Pediatric Surgery (EJPS).

Die Kinderchirurgie entstammt naturgemäß der Chirurgie

Vor dem 19. Jahrhundert bestand Kinderchirurgie hauptsächlich aus Operationen wegen eitriger Osteomyelitis, Knochenbrüchen oder Abszessen. Kinder mit angeborenen Fehlbildungen wurden als Absonderlichkeiten oder Kuriositäten betrachtet und Korrekturversuche endeten meist fatal. Noch bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden Kinder überwiegend von Allgemeinchirurgen operiert, die oft bereits über einen hohen Grad an Spezialisierung für das Kindesalter verfügten. Darauf verweisen frühe Publikationen aus dem Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts z. B. aus Frankreich, Deutschland und Polen. 1930 veröffentlichte Richard Drachter das weltweit erste kinderchirurgische Lehrbuch. In dieser Zeit entwickelte sich auch in Amerika die Kinderchirurgie als eigenständige chirurgische Spezialität und die erste erfolgreiche Operation einer Ösophagusatresie 1941 durch Haight gilt als die Geburtsstunde der modernen Kinderchirurgie.

Die eigentliche strukturierte Entwicklung des kinderchirurgischen Fachgebietes begann in Deutschland jedoch erst nach 1945. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelte sich die Kinderchirurgie im geteilten Deutschland sehr rasch, nahezu parallel in Ost und West. Es entstanden Arbeitsgemeinschaften, später wissenschaftliche Gesellschaften für Kinderchirurgie, wissenschaftlicher Austausch sowie Tagungen und Kongressen fanden statt und im Osten wurde ein eigenständiger Facharzt für Kinderchirurgie geschaffen. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden die kinderchirurgischen Fachgesellschaften zur Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) vereint und der Facharzt für Kinderchirurgie für die gesamte Republik einheitlich verbindlich. Triebfedern für diese Entwicklungen nach 1945 waren der große Anteil chirurgischer Erkrankungen an der in der Nachkriegszeit noch hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit, der erhebliche Vorsprung der internationalen Entwicklung und die sich bereits zu dieser Zeit anbahnenden zahlreichen Spezialisierungen im Gebiet Chirurgie [1, 2].

Ethische Grundlage für die Entwicklung der Kinderchirurgie war außerdem die wachsende internationale Anerkennung der Kinderrechte, was schließlich 1989 in der UN-Kinderrechtkonvention Niederschlag fand. Heute wird durch den Artikel 24 allen kranken Kindern ein Höchstmaß an Gesundheit und vor allem das Recht auf eine kindgerechte Betreuung durch entsprechend spezialisierte Fachgebiete zugesichert [3]. Demzufolge müssen eine kinderchirurgische Expertise und entsprechende medizinische Einrichtungen jederzeit verfügbar sein, in denen chirurgisch kranke Kinder von ärztlichem und pflegerischem Personal betreut werden, welches durch Ausbildung und Erfahrung befähigt ist, auf die körperlichen, seelischen und entwicklungsbedingten Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien einzugehen [4].

Die Spezialisierung auf das Wachstums- und Entwicklungsalter ist im Gebiet Chirurgie sinnvoll und notwendig

Kinderchirurginnen und Kinderchirurgen sind speziell ausgebildete Ärzte mit einer Expertise für die chirurgische Versorgung von Kindern und Jugendlichen unter Beachtung der alters- und entwicklungsbedingten anatomischen, physiologischen, klinischen und psychologischen Besonderheiten sowie der altersabhängigen Epidemiologie. Das betrifft sowohl die Diagnostik als auch das präoperative, operative und postoperative Management von operationspflichtigen Fehlbildungen, chirurgischen Erkrankungen sowie Verletzungen und Notfällen. Zwei Phänomene charakterisieren die Besonderheiten im Kindes- und Jugendalter grundlegend: Wachstum und Entwicklung. Zum Beispiel weist das wachsende Skelett bei Kindern und Jugendlichen anatomische und physiologische Besonderheiten auf, welche besondere Arten von Verletzungen bzw. spezielle Erkrankungen bedingen und bei der Wahl der Therapieoption beachtet werden müssen. Zudem ist die Organogenese mit der Geburt noch nicht abgeschlossen. So entwickeln sich z. B. die Lungen bis zum zweiten Lebensjahr und angeborene Funktionsstörungen des oberen Harntraktes können innerhalb des ersten Lebensjahres maturieren. Auch beeinflusst die erstaunliche Plastizität des Gewebes bei Neugeborenen und Säuglingen das chirurgische Vorgehen und muss nachhaltige Beachtung finden. Hinzu kommen die unterschiedlichen Stufen der psychosozialen Entwicklung, die Entwicklung der sexuellen Identität, die Pubertät und die Adoleszenz, die bei der Konzeption der Therapie Beachtung finden müssen. Diese wenigen Beispiele zeigen bereits die hohen Anforderungen an eine ganzheitliche Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die letztendlich auch die Transition beinhaltet und belegen die Notwendigkeit einer Spezialisierung auf das Wachstums- und Entwicklungsalter auch im chirurgischen Bereich.

Kinderchirurgen halten ein weites Spektrum an modernen chirurgischen Behandlungsoptionen für Kinder und Jugendliche vor

Das Spektrum der Kinderchirurgie betrifft die Viszeral- und Thoraxchirurgie inklusive der Onkochirurgie, die Kindertraumatologie inklusive der Behandlung thermischer Verletzungen und die Kinderurologie. Die Korrektur angeborener Fehlbildungen und die Neugeborenenchirurgie sind Kernbereiche

Auch im Kindesalter hat sich die minimalinvasive Operationstechnik (MIC) für eine Vielzahl von Eingriffen etabliert. Ermöglicht durch technische Innovationen auf dem Gebiet der Instrumente für die MIC in den letzten zehn bis 15 Jahren können zunehmend auch bei Neugeborenen minimalinvasive Operationen bei zahlreichen Indikationen erfolgreich durchgeführt werden.

Häufig wird das breite kinderchirurgische Spektrum infrage gestellt und als unvereinbar mit dem gegenwärtig in der modernen Medizin weitverbreiteten Trend zur Spezialisierung angesehen. Dem ist entgegen zu halten, dass die Anzahl an Diagnosen und Prozeduren im Kindesalter generell deutlich geringer ist als bei Erwachsenen. Zudem betreffen diese im Wesentlichen, außer in der Akutchirurgie und Traumatologie, vorwiegend angeborene Anomalien und solide Tumoren. Solide Tumoren sind im Kindesalter seltener, zudem überwiegend angeboren und deshalb meist nur im Kindesalter vorkommend. Fehlbildungen zählen aufgrund ihrer geringen Inzidenz zu den seltenen Erkrankungen, deren Behandlung, wie die der kindlichen Tumoren, immer eine spezielle Expertise verlangen. Analog zur Kinder- und Jugendmedizin ist die Spezialisierung für die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre auch im Gebiet Chirurgie sinnvoll und notwendig.

In einigen chirurgischen Bereichen führten der wissenschaftliche Fortschritt und die rasche medizinisch-technische Entwicklung jedoch zu notwendigen organspezifischen Spezialisierungen. So entwickelten sich unabhängig von der Kinderchirurgie die Kinderherzchirurgie und die Transplantationschirurgie bei Kindern aus den Mutterfächern heraus zu teilweise bereits selbstständigen Disziplinen, die an ausgewiesenen Zentren die Versorgung für Kinder und Jugendliche absichern. Eine ähnliche Tendenz ist im Bereich der Kinderneurochirurgie zu beobachten, wo neue operationstechnische Möglichkeiten zunehmend eine Spezialisierung und Zentralisierung bedingen.

Problem und Chance für die Zukunft: Versorgungsstruktur

Mindestvoraussetzungen für eine qualifizierte ambulante und stationäre kinderchirurgische Versorgung sind der Facharztstatus und eine qualifizierte Kinderkrankenpflege sowie altersgerechte räumliche und fachlich adäquate strukturelle Bedingungen. Die Zusammenarbeit mit Spezialisten der Kinder- und Jugendmedizin, der Kinderintensivmedizin und der Neonatologie, möglichst in einem Zentrum für konservative und operative Kinder- und Jugendmedizin mit Perinatalzentrum und der Verfügbarkeit von Kinderradiologie, Kinderanästhesie und Kinderpathologie ist anzustreben und Voraussetzung für höchste Betreuungsqualität und Patientensicherheit.

Angesichts der hohen fachlichen, pflegerischen und strukturellen Anforderungen an die kinderchirurgische Versorgung und der derzeit eher negativen strukturellen und ökonomischen Entwicklungen im Gesundheitswesen, besteht die Aufgabe und Chance für die Zukunft in erster Linie in einer Konzentration der Expertise und Zentralisierung spezialisierter, kinderchirurgischer Versorgung in einer dem Bedarf entsprechenden Zahl an Referenzzentren und kinderchirurgischen Kliniken der Maximalversorgung. Die Zentralisierung ist gleichzeitig die wichtigste Voraussetzung für Qualitätssicherung sowie für Grundlagen- und Versorgungsforschung und eine effektive Weiterbildung. Für eine möglichst flächendeckende kinderchirurgische Versorgung sind zudem kinderchirurgische Bereiche der Regelversorgung im Verbund mit Einrichtungen der Kinder- und Jugendmedizin sowie Kooperationen zwischen Zentren und Kliniken sowie sektorenübergreifende Konzepte der ambulanten kOEBPS/images/p9.jpginderchirurgischen Versorgung erforderlich. Zudem sind in Abhängigkeit von den lokalen Bedingungen direkte interdisziplinäre Kooperationen mit benachbarten chirurgischen Fachgebieten in klinischer Versorgung, Weiterbildung, Fortbildung und Forschung notwendig.

„Die Kinderchirurgie ist ein wachsendes und modernes, sehr interessantes und vielfältiges Fach des Gebietes Chirurgie.“

Fazit
Die Kinderchirurgie ist ein wachsendes und modernes, sehr interessantes und vielfältiges Fach des Gebietes Chirurgie. Die chirurgische Spezialisierung auf das Wachstums- und Entwicklungsalter ist sinnvoll und notwendig. Nur durch Zentralisierung und sektorenübergreifende Versorgungskonzepte sowie eine enge Kooperation mit der Kinder- und Jugendmedizin auf der einen und den chirurgischen Nachbarfächern auf der anderen Seite ist die kinderchirurgische Versorgung für die Zukunft zu sichern.

Den düsteren Prognosen demografischer Analysten zum Trotz, zeigen die neuesten, positiven Trends der Geburtenraten, dass der Bedarf an strukturierter kinderchirurgischer Versorgung weiter wächst. Wir haben allen Grund, optimistisch zu sein!

Literatur

[1] K. Gdanietz. Kinderchirurgie in der DDR. Monatsschrift Kinderheilkunde, Supplement 1, 1916

[2] F. Höpner. Kinderchirurgie in der Bundesrepublik nach 1945. Monatsschrift Kinderheilkunde, Supplement 1, 1916

[3] UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 24

[4] Artikel 8 der EACH-Charta

Tillig B. Steckbrief: Kinderchirurgie. Passion Chirurgie. 2017 Januar, 7(01): Artikel 03_01.

Autor des Artikels

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Prof. Dr. med. Bernd Tillig

Stellvertretender Präsident der Deutschen Gesellschaft für KinderchirurgieChefarzt und Direktor der Klinik für Kinderchirurgie, Neugeborenenchirurgie und KinderurologieÄrztlicher Leiter des Vivantes MVZ Prenzlauer Berg Vivantes Klinikum NeuköllnRudower Straße 4812351Berlin kontaktieren

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