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Über falsche Mentoren, das Selbstwertgefühl und die unterstützende Gemeinschaft der Chirurginnen e.V.

Vor Jahren – ich war bereits Fachärztin für Urologie, hatte schon zwei, drei Jahre in der Viszeral-, Thorax- und Gefäß-Chirurgie gearbeitet, war bei Organentnahmen und Transplantationen aktiv beteiligt und hatte in der unfallchirurgischen Rotation schon gebrochene Knochen zusammengeschraubt – sagte ich in einem Gespräch mit einem sehr konservativen, weißen, älteren Chirurgen, den ich bis dato als Mentor betrachtete, den Satz „… ich bin Chirurgin.“ Seine Reaktion hätte vernichtender nicht sein können: „Nein, du bist keine Chirurgin. Du bist Assistenzärztin.“

Dieser Satz und das damit verbundene Gefühl brannte sich ein. In meine Seele, in meine Hände, in meinen Körper. Es nahm mir – auch aus Mangel an mich unterstützenden Weggefährt:innen – das Selbstbewusstsein und das Selbstbild, mich als Chirurgin zu sehen und mich so zu fühlen. Immer war ich das fleißige Bienchen auf Station, das alles wuppte, die internistische, die psychosomatische, die geriatrische und onkologische Begleitung der Patient:innen gleich mit. Auch ein Wechsel an eine andere Klinik half nicht. Ich operierte wenig und schrieb umso mehr Arztbriefe. Ich bastelte mir ein Kittelschild „Fachärztin für Visitenmedizin“ – aus Trotz. Doch letztlich hatte ich mich selbst dazu degradiert und war kurz davor alles hinzuschmeißen. Ich war keine Chirurgin. Ich fühlte es nicht.

Ich stand nicht oft auf dem OP-Plan. Ich bettelte und bat förmlich um OPs. Und wurde noch seltsam vorwurfsvoll angeschaut, wenn ich nach durchgearbeiteten Nächten im Rufdienst nicht noch blieb, um zu operieren. Du bist halt keine richtige Chirurgin, hallte es in meinem Kopf.

Ich trat den Chirurginnen e.V. bei und hatte ein schlechtes Gewissen. Ich gehöre doch gar nicht richtig dazu. Ich spiele doch mit dem Gedanken alles hinzuwerfen … Auf dem BDC-Facharztseminar scheute ich jeden Smalltalk mit den Seminarleitern, denn: Was hatte ich schon zu erzählen? Weder fühlte ich, dass ich Chirurgin bin, noch wusste ich, ob ich überhaupt Gefäßchirurgin sein wollte. Beim gemeinsamen Abendessen wechselte ich den ganzen Abend kein Wort mit dem Chefarzt neben mir.

Zwei erfahrene Chirurginnen, die ich über Die Chirurginnen e.V. kennengelernt hatte, waren mir geduldige Zuhörerinnen, stellten provokante Fragen und gaben ehrliche Antworten, die mir Mut machten.

Dann aktivierte ich unser Netzwerk für eine Patientin und durfte einen aus dem Netzwerk vermittelten Patienten in unserer damaligen Sprechstunde einplanen. Ich hatte das Gefühl dazuzugehören. Auch wenn ich doch eigentlich keine Chirurgin bin.

Das Gefühl konnte mir keiner geben. Ich musste es selbst fühlen. Aber es kann Initialzündungen geben. Und diese Zündung, die ich als Rehabilitation der Brandmarkung von damals empfand, kam unerwartet: Als ich eine „komplexe Notfallreko klug und technisch brilliant“ löste und mein damaliger Chef noch anfügte: „Sie sind Gefäßchirurgin.“ Noch bevor ich wenige Monate später zur Prüfung antrat. In der gleichen Nacht erkannte ich den rupturierten Carotispatch klinisch und sonografisch und stellte die Indikation zur sofortigen OP. Ich war mir meiner Diagnose sicher. In dieser Nacht fühlte ich endlich, dass ich Chirurgin bin. Und dazu noch Gefäßchirurgin. Auch wenn ich die Carotis nicht selbst revidierte. Ich habe all die Jahre durchgehalten, weil tief in mir drin die Chirurgin verborgen lag. Und nicht aufgab.

Also: Wann ist man Chirurgin?

Wenn Herz, Geist und Seele es fühlen. Wenn die Hände nach Skalpell und Pinzette verlangen und man sich plötzlich nichts anderes mehr vorstellen kann. Wenn man sich begeistert mit Kolleg:innen über mögliche OP-Verfahren austauscht. Wenn man aus dem Saal geht und sich innerlich über jeden Schnitt und jede Naht freut.

Dann ist man Chirurgin.

Dr. med. Astrid Stula

Fachärztin für Gefäßchirurgie und Urologie

Oberärztin Gefäßchirurgie in der Schön Klink Vogtareuth

[email protected]

Chirurgie+

Stula A: Wann ist man Chirurgin? Passion Chirurgie. 2023 Mai; 13(05): Artikel 04_03.

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