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Vorwort

Geschwister im OP

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

soziale Interaktionen bezeichnen vereinfacht Vorgänge gegenseitiger Beeinflussung, in deren Folge sich Verhaltensweisen und Einstellungen manifestieren oder ändern. Man muss nicht Habermas, Luhmann oder Weber studieren, um zu erkennen, dass die natürlichen Grundlagen dafür Kommunikation und Austausch stellen, denn soziale Interaktionen bestimmen unseren gesamten Alltag.

Zwischenmenschliches Zusammenspiel wird dabei umso anspruchsvoller, je mehr Mitglieder einer sozialen Gruppe daran teilnehmen. Das interprofessionelle Team eines OPs stellt eine solche Gruppe, dessen Kooperationsfähigkeit schon allein durch divergierende Zielsetzungen und Vorbildungen sehr ambitioniert ist.

Das Handeln in einer solchen Gruppe erfolgt über ein fortlaufendes aufeinander eingestelltes und dadurch orientiertes „Sich-Verhalten“. Die soziale Interaktion basiert dabei neben der individuell abweichenden selektiven Wahrnehmung auch stark auf dem individuellen Sozialisationsprozess.

Die Sozialisation startet schon in frühester Kindheit – und jetzt kommen die Geschwister ins Gespräch. Geschwisterrollen beeinflussen nachhaltig unsere späteren Haltungen, Rezeptionen und Verhaltensweisen im Privaten wie im Beruf. Unsere Geschwister sind also immer dabei – auch im Operationssaal. Und je mehr wir davon verstehen, umso erfolgreicher können wir agieren.

Erhellende Lektüre wünschen deshalb

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Ein Gedankenexperiment

Zur Beurteilung und Modulation sozialer Interaktionen werden Arbeitskollektive in vielen verschiedenen Bereichen immer wieder mit Gruppen anderer Herkunft verglichen. Ein bekannter Klassiker in der Medizin ist z. B. die Korrelation einer Arztgruppe mit einer Sportmannschaft. Ein OP-Team ist eine solche Gruppe, deren komplexe soziale Interaktion den Arbeitserfolg stark beeinflussen kann.

Neben anderem kann man OP-Teams versuchsweise auch mit einer Geschwisterrunde vergleichen: Der Operateur fungiert z. B. als großer Bruder. Er gibt den Takt vor. Erst wenn er den OP-Saal betritt und sich korrekt eingekleidet hat, kann die OP starten. Die Anästhesistin als seine nächst ältere Schwester mault zwar manchmal über seine Vorrangstellung, kooperiert dann aber doch meist problemlos, zumal ihre Expertise im weiteren Verlauf des Geschehens immer wichtiger, ja unverzichtbar wird. Dann sind da die anderen Geschwister, etwa als OP-Assistentin, die wie eine mittlere Schwester dem OP-Boss möglichst geschmeidig und unkompliziert zuarbeiten muss. Sie hält laufend engen Kontakt zum Operateur und dirigiert nach seiner Maßgabe die jüngeren Geschwister, die als instrumentierende OP-Kraft oder als OP-Pflegekraft in dem Geschwisterensemble nahtlos „funktionieren“ müssen. In besonderen Krisensituation hat sie auch flugs eine Springerin oder einen Springer zu organisieren. Manchmal empfinden die jüngeren Geschwister ihren Status als die „Kleinen“ als unbefriedigend. Nach einer gelungenen OP wird ihnen aber doch wieder klar: Ohne sie kann gar nichts laufen. Solche OP-Ensembles gelingen, wie Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sicher selbst oft erlebt haben, viele tausendmal mehr oder weniger reibungslos. Ich möchte aber behaupten, dass jede OP umso besser gelingt, je spezifischer die beteiligten Personen aus ihrer Herkunftsfamilie auf die gesamte Kooperationssituation im OP-Saal vorbereitet sind. Und diese These möchte ich anhand eines Konzepts aus einer psychoanalytischen Sozialisationstheorie belegen.

Das Konzept

Schon in den1960er-Jahren beforschte Walter Toman in den USA, wie sich Geschwisterbeziehungen im späteren Leben günstig oder ungünstig auf berufliche Kooperationen auswirken. Geschwisterbeziehungen systematisierte er dabei nach (1) der Rangreihe und nach (2) dem Geschlecht. Da sich von „Geschwistern“ erst ab zwei Kindern in einer Familie sprechen lässt, entstehen nach den Regeln der Kombinatorik mindestens

A. vier weibliche:

s(s) die ältere Schwester einer jüngeren Schwester

(s)s die jüngere Schwester einer älteren Schwester

s(b) die ältere Schwester eines jüngeren Bruders

(b)s die jüngere Schwester eines älteren Bruders und

B. vier männliche Typen:

b(b) der ältere Bruder eines jüngeren Bruders

(b)b der jüngere Bruder eines älteren Bruders

b(s) der ältere Bruder einer jüngeren Schwester

(s)b der jüngere Bruder einer älteren Schwester.

Das System wird hier gleich in der von Toman (2020, 91 ff) vorgeschlagenen Schreibweise präsentiert. Die Person, von der gerade gesprochen wird, steht außerhalb der Klammer und ihre Geschwister innerhalb der Klammer. Demnach ist z. B. der älteste Bruder von zwei Schwestern und einem noch jüngeren Bruder so darzustellen: b(ssb).

Toman konnte zeigen, dass Menschen durch ihre Geschwisterposition von früh an eine Identität als Älteste, Jüngste, Mittlere, Einzelkind oder Zwilling herausbilden. Durch die tagtäglichen Interaktionen in der Familie üben sie bestimmte Handlungsmuster ein, die sie auch später zu realisieren suchen. Ohne hier auf Besonderheiten einzugehen, – dafür sei auf den Originaltext verwiesen – lassen sich für berufliche Kontexte, zwei basale Hypothesen formulieren:

(1) Ältere Geschwister neigen auch später zur Dominanz, Jüngere dagegen haben eher gelernt sich unterzuordnen. So sind Älteste auch später eher bereit und in der Lage, Führungspositionen zu übernehmen als Jüngere.

(2) Geschwister, die nur unter Geschlechtsgenossinnen oder -genossen aufgewachsen sind, neigen dazu, auch später Personen desselben Geschlechts zu präferieren. Das heißt z. B. der ältere Bruder von Schwestern wird mit der Führung von Frauen später leichter zurechtkommen als der ältere Bruder von Brüdern. Dieser wird in Männermilieus allerdings wahrscheinlich erfolgreicher führen als der Bruder von Schwestern.

Neben den Grundtypen gibt es selbstverständlich auch mittlere Geschwister, Einzelkinder und Zwillinge. Über mittlere Geschwister lässt sich sagen, dass sie je nach dem Altersabstand zu den anderen Geschwistern oft eher Grundkonstellationen zuzuordnen sind. So wird sich etwa die mittlere Schwester von einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester (b) s (s) eher als jüngere Schwester eines Bruders ausprägen, wenn der Altersabstand zum älteren Bruder nur zwei Jahre, der Abstand zur jüngeren Schwester dagegen zehn Jahre ist. Sie war bis zur Geburt der Schwester immerhin zehn Jahre ihres Lebens jüngere Schwester eines Bruders. Schwieriger stellen sich gleichgeschlechtliche Konstellationen mit einem nur geringen Abstand dar wie etwa die folgende: (s)s(s). Wenn diese mittlere Schwester von zwei Schwestern zur älteren und zur jüngeren jeweils nur einen Abstand von zwei Jahren hat, wird sie in ihrer Kindheit möglicherweise Mühe haben, ihre Identität zwischen der Ältesten und der Jüngsten zu präzisieren. Vielleicht ist sie dann später immer wieder in Sorge, übergangen zu werden. Im besseren Fall ist sie besonders gut in der Lage, sich in soziale Systeme zu integrieren. Gerade bei Prognosen für mittlere Geschwister ist es wichtig, die familiäre Gesamtkonstellation zu betrachten.

Bei Einzelkindern geht Toman davon aus, dass sie meistens von klein auf gewöhnt sind, im Mittelpunkt zu stehen und wichtig zu sein. Außerdem neigen sie dazu, die Geschwisterkonstellation des gleichgeschlechtlichen Elternteils zu übernehmen. So würde ein weibliches Einzelkind E mit einer Mutter, die die älteste Schwester einer Schwester war s(s), auch eher wie eine ältere Schwester von Schwestern in Erscheinung treten. Wenn allerdings auch die Mutter schon Einzelkind war, würde Toman annehmen, dass bei dieser Frau Merkmale des Einzelkindes besonders stark ausgeprägt sind.

Bei Zwillingen ist zu unterscheiden, ob es sich um ein- oder zweieiige handelt. Eineiige Zwillinge sind nicht nur zur gleichen Zeit geboren, sie haben jeweils auch den gleichen Entwicklungsstand. Deshalb sind sie meistens extrem stark aufeinander bezogen und haben es auch in späteren Jahren schwer, sich voneinander abzulösen. Bei zweieiigen Zwillingen sind die Beziehungen nicht so dicht, besonders, wenn es sich um einen Jungen und ein Mädchen handelt. Diese Kinder neigen in der Regel dazu, sich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zu identifizieren und damit auch Persönlichkeitsmerkmale von dessen Geschwisterkonstellation zu übernehmen.

Die Beziehungsformen

Menschliche Beziehungen differenziert Toman in „Komplementär“- und „Identifikationsbeziehungen“.

(1) Komplementärbeziehungen

Toman (2020, 78 ff) zeigt, dass neu angebahnte Beziehungen umso erfolgreicher und dauerhafter bestehen, je ähnlicher sie früheren und frühesten Sozialerfahrungen der Betreffenden sind. Das bedeutet vor allem für Paarbeziehungen, dass sie umso haltbarer sind, je mehr die jeweiligen Partner ihre frühere Geschwisterkonstellation in der neuen Beziehung wiederfinden. So erweisen sich Partnerbeziehungen eines älteren Bruders von einer jüngeren Schwester b(s) mit einer jüngeren Schwester eines älteren Bruders (b)s als ausgesprochen haltbar,

  • weil jeder der beiden sich schon in der Familie an das Zusammenleben mit einer Person des anderen Geschlechts gewöhnen konnte. Sie haben also nach Toman (2020, 87 ff) keinen „Geschlechtskonflikt“.
  • Außerdem übt der ältere Bruder auch später wie selbstverständlich Dominanz aus, was für die jüngere Schwester als Juniorin durchaus akzeptabel ist. So haben sie also auch keinen „Rangkonflikt.“

Die prognostisch ungünstigste Partnerbeziehung wäre demgegenüber eine, wo sich die älteste Schwester einer Schwester s (s) mit dem älteren Bruder eines Bruders b (b) liiert. Beide sind durch ihre Kindheit nicht gewöhnt, mit Personen des anderen Geschlechts in einem Familienverband zu leben. Sie können sich also nicht spontan in den anderen hineinversetzen. Sie haben nach Toman einen „Geschlechtskonflikt“. Außerdem ist jeder von beiden von früh an gewöhnt zu dominieren, weshalb sie um die Dominanz in der Beziehung rangeln werden, nach Toman also auch einen „Rangkonflikt“ haben. Es sei allerdings angemerkt, dass Paare, die dauerhaft in solchen Konstellationen leben, oft eine Vielzahl gemeinsamer Interessen entwickelt haben, die sie jenseits ihrer Geschwisterkonstellation zusammenhält.

All das gilt im Prinzip auch für berufliche Beziehungen. So wird sich der jüngere Bruder einer älteren Schwester (s) b wahrscheinlich eher von einer älteren Schwester eines Bruders s (b) führen lassen, als von der älteren Schwester einer Schwester s (s). Die ältere Schwester des Bruders s(b) hat nämlich aller Voraussicht nach mehr Verständnis für die spezifischen Extravaganzen eines männlichen Juniors als die ältere Schwester einer Schwester s(s). Letztere ist eher gewöhnt „kleine Prinzessinnen zu hüten als kleine Prinzen.“

(2) Identifikationsbeziehungen

Den anderen Beziehungstyp nennt Toman „Identifikationsbeziehungen“. Hier geht es nicht um Ergänzung sondern um Ähnlichkeit. Dabei handelt es sich um narzisstische Wahlen: Jeder liebt im anderen sich selbst. Diesen Typ finden wir bevorzugt bei gleichgeschlechtlichen Personen. So lässt sich beobachten, dass ältere Brüder von Brüdern b(b) als Vertrauensperson häufig auch wieder ältere Brüder von Brüdern b(b) aufsuchen. Oder jüngere Schwestern von Schwestern (s)s präferieren als Freundinnen vielfach auch wieder jüngere Schwestern von Schwestern (s)s. Toman zeigt außerdem, dass sich die Beziehungen zwischen Vater/Sohn sowie Mutter/Tochter ebenfalls nach dem Ausmaß der Identifikation positiv versus negativ gestalten. So wird ein Vater, der als jüngerer Bruder einer Schwester (s)b aufgewachsen ist, einen Sohn, der ebenfalls als jüngerer Bruder einer Schwester (s)b aufwächst, leichter akzeptieren, als ein Vater, der ein älterer Bruder von mehreren Brüdern ist b(bb). Sein Sohn wird ihm möglicherweise dauerhaft als „verzärtelter Bubi“ fremd bleiben.

In Arbeitsbeziehungen begegnen uns ebenfalls Identifikationsbeziehungen. So können Kooperationen zwischen zwei älteren Brüdern von Brüdern (b(b) + b(b) in Pionier- also Aufbaustadien von Organisationen außerordentlich fruchtbar sein. Jeder findet im anderen die an sich selbst realisierte Dominanz und bejaht sie auch im anderen. Ähnliches lässt sich immer wieder bei älteren Schwestern von Schwestern beobachten s (b) + s (b). In der etwas „kernigen“ Dominanz respektiert sich jede der beiden in der anderen. In manchen Konstellationen bilden sie aber genau sie eine Quelle von Konflikten.

Konflikte im OP-Saal und ihre Bewältigung durch Coaching

Manche Konflikte, die sich im OP ergeben, lassen sich auf Komplikationen aus Geschwisterbeziehungen zurückführen (Schreyögg 2015). Konflikte zwischen Operateur und Anästhesist konstellieren sich gar nicht selten als Rivalitätskonflikte. Das geschieht, wenn beide in ihren Familien Senioren waren, und nun jeder die Vorrangstellung im Beruf für sich reklamiert, obwohl sie aktuell doch unterschiedlichen Funktionsbereichen angehören. Es ist auch möglich, dass die OP-Assistenz oder eine OP-Pflegekraft Dominanz reklamieren. Dann wäre ein Team-Coaching sinnvoll, bei dem jeder Mitarbeiter die Möglichkeit erhält, seinen spezifischen fachlichen Beitrag den übrigen Kooperationspartnern darzustellen, damit er/sie ausreichend gewürdigt wird. Dabei wäre es sinnvoll, dass Vorgesetzte die Dominanzansprüche des Mitarbeiters zur Kenntnis nehmen und dann fachspezifisch kanalisieren. Dazu muss man die Stärken des Mitarbeiters tiefer erkunden, und ihm in speziellen Bereichen ein Spezialistentum als „Dominanzbühne“ zugestehen. Problematisch können aber auch ursprünglich komplementäre Beziehungen werden. So geschieht es nicht selten, dass ein älterer Vorgesetzter, der als jüngerer Bruder in einer längeren Geschwisterreiche (sbsb)b aufgewachsen ist, einen neuen Mitarbeiter anheuert, der älterer Bruder in seiner Geschwisterreihe b(sbs) war. Zunächst versteht er sich mit diesem im Sinne von Komplementarität vielleicht ganz wunderbar. Wenn sich die Komplementarität vertieft, erlebt der Vorgesetzte jedoch mit zunehmendem Unbehagen, in der Interaktion mit dem Mitarbeiter sukzessive in eine Juniorenrolle zu rutschen. Diese kollidiert aber heftig mit seiner formalen Position und seinem Selbstverständnis. Hier ist es Aufgabe des Coachings, die gefühlsmäßige Konstellation aufzudecken, sodann alternative Muster einzuüben. Dabei wäre es sinnvoll, anhand imaginierter Interaktionssequenzen mit dem Mitarbeiter neue Sprach- und Handlungsmuster zu erproben, so dass der Vorgesetzte langsam wieder formal adäquatere Beziehungsformen einsteuert.

Zusammenfassung

Die handelnden Personen im komplexen Setting eines Operationssaals funktionieren in einem andauernden gesellschaftlichen Zusammenspiel. Aus unterschiedlichen Gründen kann diese anspruchsvolle soziale Interaktion Auseinandersetzungen produzieren, die ein erfolgreiches und erfüllendes Arbeiten belasten. Oftmals liegen Ursachen und Auslöser der Konflikte völlig fachfremd in persönlichen Erfahrungen, Einstellungen und Erwartungen. In diesen Fällen ist es lohnenswert, das Selbstverständnis und die Lebenseinstellung der Akteure zu erforschen. Geschwisterbeziehungen prägen stark die berufliche Mentalität. Denn Bruder und Schwester sind immer dabei.

Literatur

[1]   Schreyögg, A. (2015): Life-Coaching: Dynamiken der Herkunftsfamilie. In: Die Professionalisierung von Coaching (373-389). Springer.
[2]   Toman, W. (2020): Familienkonstellationen. Ihr Einfluss auf den Menschen. C.H. Beck.

Dr. phil. Astrid Schreyögg

Professionelles Coaching in Praxis und Ausbildung

Salzachstr. 67

14129 Berlin

[email protected]

Schreyögg A: BDC-Praxistest: Warum sind meine Geschwister im OP-Saal immer dabei? Passion Chirurgie. 2022 November; 12(11): Artikel 05_01.

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