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BDC-Praxistest: Viszeralchirurgische Zentren statt isolierte Mindestmengen

Vorwort „Viel hilft viel“

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

es gehört zu den großen Schwächen sowohl wissenschaftlicher Arbeiten als auch öffentlicher Diskussionen, gravierende Fragen über die isolierte Betrachtung singulärer Parameter klären zu wollen – und zwar endgültig. Der Wunsch nach einer eindeutigen, allumfassenden und unumstößlichen Lösung scheint so tief im humanen Genom verankert, dass in diesen Fällen jede differenzierte, multilaterale Betrachtung verlassen und im fortgeschrittenen Stadium gar bekämpft wird. Die vielfältigen Debatten zu den Anti-Corona-Maßnahmen im Rahmen der Pandemie sind hier ein beredtes Beispiel, das sich aber auch in vielen anderen medizinischen Kontroversen wiederfindet.

Auch der Diskurs um Mindestmengen von chirurgischen und auch anderen ärztlichen Leistungen ist ein Beispiel, wie man eine komplexe Fragestellung – hier die medizinische Qualität – möglichst simpel mittels einer einzigen Stellschraube – hier die Mindestmenge – löst und normativ beendet. Dass das in umfassenden Betrachtungen fluider Systeme intellektueller Unsinn ist, wissen wir alle. Und trotzdem gelingt es den Protagonisten unter dem Beifall ihrer nutznießenden Claqueure, die Grundstruktur des Deutschen Gesundheitssystems dieser einer Frage zu unterwerfen und ebenbürtige Systembestandteile wie z. B. bauliche Strukturen medizinischer Zentren und Krankenhäuser oder die Sicherstellung von kompetentem ärztlichen Nachwuchs auszublenden.

Doch wir können ein qualifiziertes, erfolgreiches und ökonomisch vertretbares Gesundheitssystem nicht allein an Mindestmengen ausrichten. Die medizinische Vorhaltepflicht von Staat und Gesellschaft umfasst weit mehr. Gehen wir weiter diesen Weg, dann bleibt die aktuelle Krise in der Medikamentenversorgung nicht das letzte selbstfabrizierte Defizit. Stattdessen sind große, nachhaltige Probleme infrastruktureller und personeller Art geradezu vorprogrammiert.

Es ist also Zeit für einen Wandel in der öffentlichen Diskussion auch in Fragen der Gesundheit weg von einer normativen, terminierenden Haltung zurück zu einer deliberativen Politik alter Prägung, der eine vielfältigere Betrachtung zugrunde liegt und die einen argumentativen Austausch und am Ende einen konsensuellen Beschluss ermöglicht. Keine Rechtfertigung ist endgültig, kein Beschluss unausweichlich und keine Maßnahme alternativlos.

Um also auf die Erfolgsspur deliberativer Politik zurückzukehren, sind nuanciert erarbeitete Beiträge wie das anhängende Thesenpapier der Kollegen Benz und Staib zum Thema Viszeralchirurgische Zentren von großer Bedeutung. Wir sind stolz, dieses wertvolle Elaborat zur notwendigen Qualitätsdiskussion in der Chirurgie hier präsentieren zu dürfen. Die zugrunde liegende Idee muss auch noch nicht der Weisheit letzter Schluss sein, doch sie bietet einen sehr bedeutsamen Beitrag in einer mittlerweile stark emotionalisierten Auseinandersetzung um die Zukunft des Deutschen Gesundheitssystems. Wer sich tiefer mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit und deliberativer Politik beschäftigen möchte, dem sei zur Lektüre der jüngsten Publikation von Habermas geraten, der sich noch im hohen Alter von über 90 genötigt sah, den aktuellen Diskussions- und Entscheidungsformen einen konstruktiven Konterpart entgegenzustellen. Welch Segen, solche Denker in den Reihen zu wissen. Für’s Erste ist der Beitrag von Benz und Staib aber auch schon ein sehr guter Anfang. Die Kollegen haben gut vorgelegt, für die Verbreitung der Idee sind wir dann alle selbst zuständig.

Erhellende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Positionspapier des Konvents der leitenden Krankenhauschirurgen (KLK)

Für den Großteil der komplexen operativen Eingriffe im Fachgebiet der Allgemein- und Viszeralchirurgie hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) beginnend mit dem Jahr 2023 neue Mindestmengen (MM) festgelegt oder bereits geplant (Ösophagus-, Pankreas-, Leber-, Dick-/ Enddarm- und Magenchirurgie). Dies betrifft Kliniken aller Versorgungsstufen, aber insbesondere die Schwerpunktversorger, die bisher die Hauptlast der Versorgung tragen. Es ist aus Sicht der Unterzeichner unverständlich, dass die Konsequenzen dieser tiefgreifenden Intervention für die Klinik- und Versorgungsstruktur bisher nicht angemessen untersucht wurden. Auf dem Boden der folgenden Kernthesen möchten wir daher einen Vorschlag unterbreiten, der sowohl dem Qualitätsinteresse, als auch dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung der viszeralchirurgischen Versorgungsstruktur Rechnung trägt [1].

Thesen

  • Die aktuellen Mindestmengenänderungen sind aufgrund der vorliegenden Evidenz nicht begründbar. Für die Ösophaguschirurgie fußt sie auf einer Arbeit, die keinen signifikanten Unterschied zwischen der jetzigen (n=10) und der ab 2023 gültigen Mindestmenge (n=26) gezeigt hat [2]. Hingegen wäre die aktuelle Erhöhung der MM Pankreaschirurgie (n=20) zu niedrig, wenn ausschließlich der Mengenaspekt zugrunde gelegt würde [3].
  • Die aktuellen MM-Regelungen sind nicht verhältnismäßig: Für die Ösophaguschirurgie könnte ein -nichtsignifikanter – Rückgang um 46 Todesfälle pro Jahr auf 264 erwartet werden. Nach kolorektalen Eingriffen versterben aber im Jahr um den Faktor 20 mehr Patienten, nämlich n= 6.186 (!). Hier besteht keine MM-Regelung oder eine offizielle Empfehlung zur Behandlung in zertifizierten Zentren mit ihren nachgewiesen besseren Behandlungsergebnissen [4]. Ebenso ist der Eingriff mit der höchsten Letalitätsrate, die Gastrektomie (Letalität 11,4%), nicht berücksichtigt [5].
  • Bei der Erstellung der MM-Regelungen blieb der „positive Kollateraleffekt“ von ähnlich komplexen Operationen, die in einer Klink durchgeführt werden, unberücksichtigt. In einer US-amerikanischen Arbeit konnte gezeigt werden, dass die Sterblichkeit bei Pankreaseingriffen sinkt, wenn zusätzlich andere komplexe Operationen in der Klinik durchgeführt werden [6].
  • Bei den aktuellen Regelungen bleiben die nachgewiesenen Einflussfaktoren der Struktur- und Prozessqualität unberücksichtigt, die für einen Großteil der infrage stehenden MM den Haupteinfluss auf die Ergebnisqualität darstellen [7].
  • Fehlanreize, die durch MM-Regelungen entstehen, können sehr leicht den gewünschten Qualitätseffekt konterkarieren. Dies gilt besonders für eine möglicherweise sinkende Resektionsrate nach Einführung von MM (z.B. Ösophagusresektion, Pankreasresektion). Diese ist bei mehreren Tumorentitäten als ein wichtiger Einflussfaktor für das Behandlungsergebnis auf epidemiologischer Ebene nachgewiesen [8, 9].
  • Der Verlust der Expertise für die komplexe Oberbauchchirurgie in den Kliniken der Schwerpunktversorgung (mit der Ausbildung von isolierten Organchirurgen/-innen als „Schmalspurexperten nach angloamerikanischem Vorbild“) hat unabsehbare Folgen für die Diagnostik und Behandlung von Patienten/-innen mit unklaren und gleichermaßen dringlichen abdominellen Erkrankungen. Es ist unklar, wer die Behandlungsführung für diese Fälle in Zukunft übernehmen soll.
  • Das Fachgebiet der Viszeralchirurgie und damit der Zuschnitt viszeralchirurgischer Abteilungen in Kliniken ist unter den genannten Voraussetzungen nicht mehr zu halten. Auch die Weiterbildung des chirurgischen Nachwuchses wird empfindlich eingeschränkt werden. Derzeit gibt es keine systematischen Überlegungen, wie diese Herausforderung adressiert werden soll.

Hieraus ergibt sich, dass isolierte MM-Regelungen den komplexen Anforderungen zur qualitativen Verbesserung der medizinischen Versorgung nicht gerecht werden können. Vielmehr zerstört die unkoordinierte Umsetzung einer Vielzahl von MM medizinische Infrastruktur und Expertise und greift unvernünftig in die derzeit schon labile Krankenhauslandschaft ein. Es sind daher intelligentere Denkansätze als isolierte MM gefragt.

Vorschlag

Zunächst sollte eine Gesamtbetrachtung des chirurgischen/medizinischen Versorgungsangebots mit Quantifizierung und Priorisierung der Qualitätsproblematik erfolgen.

Dabei lauten die beiden Kernfragen:

  1. Wie viele Patienten/-innen versterben in den einzelnen Krankheits- bzw. Operationsgruppen ohne Umsetzung der MM?
  2. Wie viele Patienten/-innen würden – potenziell – durch Umsetzung der MM in Kombination mit Strukturmaßnahmen inklusive Zertifizierungen überleben?

Zudem sollten der oben erläuterte positive Kollateraleffekt und die Auswirkung möglicher Fehlanreize (s. o.) in die Analyse einbezogen werden. Weiterhin müssen die Auswirkungen auf den Zuschnitt des chirurgischen Versorgungsangebots und Fahrzeiten betrachtet werden.

Diesem Ansatz entsprechend wird ein Drei-Stufen-Modell vorgeschlagen (Tabelle 1). Die MM unterteilen sich in eher geringe Einzel-MM (z. B. n=20 für Schilddrüsenoperationen) und in größere MM-Pakete für eine gesamte Komplexitätsgruppe (z. B. n=100 für die genannten komplexen viszeralchirurgischen Eingriffe im Haus der Stufe 2). Diese Mengenvorgaben müssen entsprechend der oben vorgeschlagenen Analyse modifiziert werden. Zusätzlich zu den genannten Vorgaben sollten hochwertige Zertifizierungen finanziell gefördert werden. Ein Qualitätsmanagementsystem mit Dokumentation der Ergebnisqualität nach aktueller Evidenzlage ist obligat, ebenso interdisziplinäre Teams (Tumorboard, Ernährung, Schmerztherapie etc.) Für hochkomplexe Eingriffe sind regelmäßige Teamtrainings zum Komplikationsmangement und für chirurgische Skills verbindlich [10]. Subspezialisierungen innerhalb von Kliniken bzw. Verbünden sollten ebenso unterstützt werden.

Tab. 1: Drei-Stufen-Modell einer gestaffelten viszeralchirurgischen Versorgung in Deutschland, die in jeder Stufe neben wenigen Einzel-Mindestmengen (MM, z.B. n= 10 Rektumesektionen) ein stufenadaptiertes viszeralchirurgisches „Gesamtpaket“ beinhaltet (z.B. in Stufe 3 insgesamt n=65 komplexe Resektionen Ösophagus, Magenmalignome, Leber, Pankreas); BD 24/7 = Bereitschaftsdienst 24h, 7 Tage; FA-VC (RD) = Facharzt Viszeralchirurgie im Rufdienst; ITS = Intensivtherapie-Station

Komplexität

OP-Spektrum stationär

MM

Strukturvorgaben

Notall-/ Intensivversorgung

Stufe 1

niedrig

Primäre Bauchwandhernien

Cholezystektomien

Benigne Koloproktologie

Kleinere laparoskopische Eingriffe

MM Summe n=100

keine

BD 24/7

Keine VC-Notfälle

Stufe 2

mittel

Rektumresektionen

Kolonresektionen

Bariatrische Chirurgie

Antirefluxchirurgie

Komplexe Narbenhernien

Schilddrüsenchirurgie

Mageneingriffe (benigne)

MM Summe n=100

n=10

n=20

BD 24/7

FA-VC 24/7 (RD)

Interventionelle Endoskopie

G-BA Stufe 1

Reguläre VC-Notfallversorgung

ITS mit Beatmungsmöglichkeit

Stufe 3

hoch

Ösophaguseingriffe

Lebereingriffe

Pankreaseingriffe

Mageneingriffe (maligne)

MM Summe n=65

n=10

n=10

n=10

n=10

FA-VC 24/7 (BD)

CT, MRT 24/7

Interventionelle Angiografie 24/7

Interventionelle Endoskopie 24/7

G-BA Stufe 2

Reguläre VC-Notfallversorgung

ITS entsprechend Komplexbehandlung

Mit diesem Modell sehen wir die Möglichkeit, einerseits eine weitere geforderte Qualitätsverbesserung für die Allgemein- und Viszeralchirurgie umzusetzen und andererseits eine nachhaltige und flexible Entwicklungsmöglichkeit für die Versorgungsstruktur und das Fachgebiet zu schaffen. Auch die Weiterbildung in der Allgemein- und Viszeralchirurgie muss breit gefächert und damit attraktiv bleiben.

Wir empfehlen daher dringend, die Einführung isolierter Mindestmengen zugunsten des hier beschriebenen integrativen Prozesses mit einem Drei-Stufen-Modell zu beenden, bevor die in Deutschland hochentwickelte Kliniklandschaft irreversiblen Schaden genommen hat.

Böblingen und Esslingen am Neckar, den 4. Januar 2023

Literatur

[1]   Benz S, Mindestmengen aus der Sicht des Spezialisten am kleineren Haus. Der Chirurg 2022 (angenommen)
[2]   Nimptsch U, Haist T, Krautz C, Grutzmann R, Mansky T, Lorenz D. Hospital Volume, In-Hospital Mortality, and Failure to Rescue in Esophageal Surgery. Deutsches Arzteblatt International 2018; 115: 793-800.
[3]   Krautz C, Nimptsch U, Weber GF, Mansky T, Grutzmann R. Effect of Hospital Volume on In-hospital Morbidity and Mortality Following Pancreatic Surgery in Germany. Annals of Surgery 2018; 267: 411-7.
[4]   Trautmann F, Reissfelder C, Pecqueux M, Weitz J, Schmitt J. Evidence-based quality standards improve prognosis in colon cancer care. European journal of surgical oncology: the journal of the European Society of Surgical Oncology and the British Association of Surgical Oncology 2018; 44: 1324-30.
[5]   Baum P, Diers J, Lichthardt S, Kastner C, Schlegel N, Germer CT, et al. Mortality and Complications Following Visceral Surgery: A Nationwide Analysis Based on the Diagnostic Categories Used in German Hospital Invoicing Data. Deutsches Arzteblatt International 2019; 116: 739-46.
[6]   de Geus SWL, Hachey KJ, Nudel JD, Ng SC, McAneny DB, Davies JD, et al. Volume of Pancreas-Adjacent Operations Favorably Influences Pancreaticoduodenectomy Outcomes at Lower Volume Pancreas Centers. Annals of Surgery 2020
[7]   Hoshijima H, Wajima Z, Nagasaka H, Shiga T. Association of hospital and surgeon volume with mortality following major surgical procedures: Meta-analysis of meta-analyses of observational studies. Medicine 2019; 98: e17712.
[8]   De Jong EJM, Geurts SME, Van Der Geest LG, Besselink MG, Bouwense SAW, Buijsen J, et al. A population-based study on incidence, treatment, and survival in ampullary cancer in the Netherlands. European Journal of Surgical Oncology 2021; 47: 1742-9.
[9]   Benitez Majano S, Di Girolamo C, Rachet B, Maringe C, Guren MG, Glimelius B, et al. Surgical treatment and survival from colorectal cancer in Denmark, England, Norway, and Sweden: a population-based study. The Lancet Oncology 2019; 20: 74-87.
[10] Hanna GB, Mackenzie H, Miskovic D, Ni M, Wyles S, Aylin P, et al. Laparoscopic Colorectal Surgery Outcomes Improved After National Training Program (LAPCO) for Specialists in England. Annals of Surgery 2020

Benz S, Staib L: BDC-Praxistest: Viszeralchirurgische Zentren statt isolierte Mindestmengen. Passion Chirurgie. 2023 Januar/Februar; 13(01/02): Artikel 05_01.

Zertifizierung zum Darmkrebszentrum – Wie und von wem werden die Vorgaben festgelegt

Hintergrund

In der EUROCARE II Studie wurden zum Jahrtausendwechsel die Überlebensraten maligner Erkrankungen in verschiedenen europäischen Staaten miteinander verglichen. Es zeigten sich erhebliche Unterschiede in den Mitgliedsstaaten und Deutschland lag dabei – sowohl in Bezug auf das Mammakarzinom als auch beim kolorektalen Karzinom – nur im Mittelfeld. Die Ursache wurde in den unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu den Teilen der Versorgungskette vom Screening bis hin zur Palliation sowie in einem Abweichen von Behandlungsleitlinien gesehen. Eine Arbeitsgruppe des europäischen Parlaments forderte daraufhin in einem Report die Entwicklung von Vorgaben bzw. Leitlinien für multidisziplinäre Brustkrebszenten und den Ausbau der Krebsregistrierung.

Die Deutsche Krebsgesellschaft hat dies aufgenommen und begonnen inhaltliche Vorgaben für ein Zertifizierungssystem von Brustkrebszentren (2003) und Darmkrebszentren (2006) zu entwickeln.

Parallel zu diesen Entwicklungen wurde 2008 der Nationale Krebsplan durch das Bundesministerium für Gesundheit initiiert, der auf Basis des Zertifizierungssystems ein Dreistufenmodel der onkologischen Versorgung beschreibt, das eine Versorgung aller Krebspatienten in zertifizierten Einrichtungen sicherstellen soll. Die Basis bilden die verschiedenen Organkrebszentren, in denen eine leitliniengerechte, multidisziplinäre Behandlung der häufigen Tumorentitäten sichergestellt wird. Die mittlere Hierarchiestufe wird von den Onkologischen Zentren gebildet, die mehrere Tumorentitäten unter einem Dach behandeln und in denen die Expertise gerade auch für seltenere Tumore gebündelt wird. An der Spitze stehen die Comprehensive Cancer Center (CCC), deren Aufgabe insbesondere in der onkologischen Spitzenforschung besteht.

Für die Organkrebszentren und Onkologischen Zentren hat sich das System der Deutschen Krebsgesellschaft etabliert. Die CCCs werden von der Deutschen Krebshilfe evaluiert und gefördert. Das Dreistufenmodell repräsentiert die unterschiedlichen Aufgaben der zertifizierten Zentren, die klinische Versorgung der Patienten erfolgt jedoch auf allen Stufen auf Basis der gleichen Anforderungen.

Anfang dieses Jahres wurde im Rahmen des Nationalen Zertifizierungsprogramms Krebs ein einheitlicher Anforderungskatalog für Onkologischen Zentren und Onkologischen Spitzenzentren veröffentlicht, der die Anforderungen an die klinische Versorgung zusammenfasst [1]. Damit ist in wenigen Jahren ein Modell etabliert worden, das die rasche flächendeckende Umsetzung standardisierter Vorgehensweisen – der S3-Leitlinien – in der Krebsmedizin ermöglicht. Dies ist sicher einer der größten und wichtigsten Fortschritte in der medizinischen Versorgung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten. Aber wie immer liegt der Teufel im Detail, wenn nachvollziehbare, effektive und effiziente Regelungen für ein komplexes System definiert werden müssen. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie eine gesicherte Erkenntnis oder eine konsentierte Vorgehensweise alle Patienten bzw. Ärzte erreichen kann, die erreicht werden müssen, d. h. wie schafft man einen maximalen Durchdringungsgrad der notwendigen Maßnahmen.

Die effektivste Möglichkeit dazu wird in dem Kernelement des Qualitätsmanagements, dem PDCA-Zyklus gesehen. Dieser besagt, dass aus einer Vorgabe (Plan) ein Prozess (Do) abgeleitet wird. Der Erfolg des Prozesses wird anhand von Maßzahlen bzw. Kennzahlen überprüft (Check) und hieraus eine Modifikation des Plans abgeleitet (Act).

Genau dies ist die Grundkonstruktion der Organkrebszentren. Dabei erstellt die Zertifizierungskommission unter der Schirmherrschaft der DKG die Vorgaben, die im Erhebungsbogen niedergelegt sind (Plan). Diese Vorgaben stellen die Rahmenbedingungen für die individuell angepassten internen Prozesse bzw. Behandlungsabläufe der Darmkrebszentren dar (Do). Im jährlichen Audit, das von OnkoZert koordiniert wird, werden die erreichten Ergebnisse evaluiert (Check) und Maßnahmen zur weiteren Verbesserung beschlossen (Act). Damit ist ein Zyklus auf Ebene des einzelnen Darmkrebszentrums geschlossen. Für das Verständnis des Systems ist entscheidend, dass der Qualitätseffekt nicht mit dem Zeitpunkt der Zertifizierung eintritt, sondern dass damit erst ein zielgerichteter Mechanismus zu einer kontinuierlichen Qualitätsverbesserung in Gang gesetzt wird.

Neben dem PDCA-Zyklus auf Ebene der einzelnen Zentren konnte in den letzen Jahren ein kompletter PDCA-Zyklus auf der Ebene des Gesamtsystems etabliert werden. Die wichtigste neue Komponente dabei war die systematische Erfassung und Auswertung der Ergebnisse der Zentren, die im jährlichen Benchmarkingbericht dargestellt werden. Damit ist eine Beurteilung der Qualitätsentwicklung aller Darmkrebszentren im Zeitverlauf möglich (Abb. 1). Die Ergebnisse fliesen zurück an die DKG und die Zertifizierungskommission, so dass auch auf der Metaebene ein sehr potenter Mechanismus zur Verbesserung des Gesamtsystems besteht. Die gerade aktuell beschlossene flächendeckende Einführung klinischer Krebsregister wird zusätzlich einen wichtigen Beitrag leisten, die Versorgungsqualität abzubilden und entsprechende Maßnahmen abzuleiten.

Abb. 1: Das Zertifizierungssystem ist in Form von zwei interagierenden Qualitätsmanagementzyklen konstruiert: Ebene des einzelnen Darmkrebszentrums (Blau) und die Ebene des Gesamtsystem (braun)

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Entstehung der Vorgaben

S3-Leitlinien

Die flächendeckende Umsetzung der S3-Leilinien war eine wichtige Motivation für die Entwicklung des Zertifizierungssystems. Die evidenzbasierten onkologischen Leitlinien werden im Leitlinienprogramm Onkologie, einer Kooperation der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF), Deutscher Krebsgesellschaft (DKG) und Deutscher Krebshilfe in einem methodisch vorgegebenen Evidenz- und Konsensbildungverfahren erstellt. An der Erstellung des aktuellen updates der S3-Leitlinie für das Kolorektale Karzinom [2] waren 21 medizinische Fachgesellschaften, sechs weitere Institutionen (z. B. Hausärzteverband und Stiftung Lebensblicke) und zwei Patientenverbände (ILCO, DCCV) beteiligt. Die Viszeralmedizin wird von der DGCH, der DGAV und der DGVS vertreten. Für die Zentren ist entscheidend, dass die Leitlinien nicht nur im diagnostischen und therapeutischen Segment der verscheiden Fachgebiete umgesetzt werden, sondern alle Aspekte der Darmkrebserkrankung inklusive der Prävention berücksichtigen. Eine wichtige Voraussetzung für den integrativen und interdisziplinären Ansatz der Darmkrebszentren. In welcher Form und mit welchem Nachdruck die einzelnen Aspekte in die konkreten Vorgaben für die Darmkrebszentren einfließen, wird von der Zertifizierungskommission festgelegt. In dem aktuellen (6/2013) S3-Leitlinien update wurden aus den starken Empfehlungen der Leitlinie Qualitätsindikatoren abgeleitet, die in den Erhebungsbogen der Darmkrebszenten übernommen wurden und mit denen die Umsetzung der Leitlinieninhalte im Rahmen der Auditverfahren überprüft werden kann.(Tab.1).

Tab. 1: Qualitätsindikatoren der aktuellen S3-Leilinie (kolorektales Karzinom)

1.  Anteil der Patienten mit Angabe des Tumorabstands zu mesorektalen Faszie in der Schnittbildgebung

2.  Anteil der Patienten mit mindestens 12 untersuchten Lymphknoten im Resektat

3.  Anteil der Patienten mit Angabe der Qualität der TME im Pathologiebericht

4.  Anteil der Patienten mit Angabe des aboralen und zirkumferentiellen Abstands zum Resektionsrand im Pathologiebericht

5.  Anteil der Patienten die prä- bzw posttherapeutisch in einer interdisziplinären Tumorkonferenz vorgestellt wurden.

6.  Anteil der Patienten die eine adjuvante Chemotherapie erhalten haben (Kolon)

7.  Anteil der Patienten die eine neoadjuvante Therapie in Stadium II und III erhalten haben (Rektum)

8.  Anteil der Patienten mit einer Anastomoseninsuffizienz beim Rektumkarzinom

9.  Anteil der Patienten mit einer Anastomoseninsuffizienz beim Kolonkarzinom

10.  Anteil der Patienten bei denen das angelegte Stoma präoperativ angezeichnet wurde

Zertifizierungskommission

Für Darmkrebszentren und Pankreaskarzinomzentren exisitiert eine gemeinsame Zertifizierungskommission, die von der Deutschen Krebsgesellschaft einberufen wird und alle 12 bis 24 Monate tagt. Diese legt die Vorgaben für die Zertifizierung fest und stellt damit das eigentliche legislative Organ für die Zentren dar. Beteiligt sind insgesamt 25 Fachgesellschaften (u. a. DGVS, DGAV) und Verbände, sodass ähnlich wie in der Leitlinienkommission alle Facetten des kolorektalen Karzinoms abgebildet sind. Auch die Zentren selbst sind durch die Arbeitsgemeinschaft deutscher Darmkrebszentren (addz e.v.) beteiligt.

Neue Vorgaben für den Erhebungsbogen müssen u.a. unter folgenden Aspekten geprüft werden:

  • Evidenzbasierung der Vorgaben
  • Quantitative Überprüfbarkeit
  • Vorhandenes Verbesserungspotenzial

Dabei sind Regelungen, die auf Empfehlungen der S3-Leitlinen beruhen in der Regel unstrittig. Schwieriger ist die Konsensfindung, wenn eine Regelung sinnvoll erscheint, es hierfür aber keine ausreichende Evidenz gibt. Ein typisches Beispiel sind die Vorgaben für Mindestzahlen beim kolorektalen Karzinom (30 Kolon-, 20 Rektumkarzinome/Jahr). Es ist bekannt, dass es einen positiven Effekt hoher Fallzahlen gibt [3], der Zusammenhang ist weniger stringent als beim Pankreas- oder Ösophaguskarzinom und ein klarer Cut-off ist naturgemäß nicht ableitbar.

In der Zertifizierungskommission besteht Konsens darüber, dass eine Mindestanzahl für Darmkrebszentren erforderlich ist. Die Vorgaben müssen sich dabei an Kriterien wie der Evaluierbarkeit der Ergebnisse und der fraglichen Sinnhaftigkeit des komplexen Qualitätsmanagements für geringe Fallzahlen orientieren. Die Implementierung politisch motivierter Vorgaben kann zwar nie völlig ausgeschlossen werden, durch die sehr breite Besetzung der Zertifizierungskommission und die Beteiligung der Zentren selbst ist dies aber eher unwahrscheinlich.

OnkoZert

Das Unternehmen OnkoZert ist ein unabhängiges Institut und nicht an der Erstellung der Vorgaben bzw. der Inhalte des Erhebungsbogens beteiligt. OnkoZert ist von der Deutschen Krebsgesellschaft beauftragt, die Auditdurchführung und die Schulung der Fachexperten zu organisieren. Zudem organisiert OnkoZert das Datenmanagement mit Erstellung der Benchmarkberichte. Mit den genannten Aufgaben repräsentiert OnkoZert die Exekutive innerhalb des Zertifizierungssystems. Auf diese strikte Trennung legen die DKG aber auch die zertifizierten Zentren und die Fachgesellschaften größten Wert, da nur durch ein klare Gewaltenteilung die Vermengung von fachlichen, politischen und wirtschaftlichen Interessen so weit als möglich reduziert werden kann.

Ausschuss Zertifikaterteilung

Ob nach einem absolvierten Audit das Zertifikat der Deutschen Krebsgesellschaft erteilt werden kann, wird durch den Ausschuss Zertifikaterteilung festgelegt. Dieses Gremium ist pro Auditverfahren mit drei Fachexperten (Auditoren) in wechselnder Zusammensetzung besetzt, wobei die Auditoren keinen inhaltlichen und räumlichen Bezug zu dem zu bewertenden Verfahren haben dürfen. Auf Basis des Auditberichts wird durch den Ausschuss entschieden, ob ein Zertifikat erteilt werden kann. In grenzwertigen Fällen kann der Ausschuss auch eine limitierte Laufzeit des Zertifikats oder spezielle Auflagen anordnen. Er entspricht mit dieser Aufgabe der Judikative des Zertifizierungssystems.

Arbeitsgemeinschaft deutscher Tumorzentren e.V. (ADT)

Die ADT ist als Dachverband der klinischen Krebsregister in der Zertifizierungskommission vertreten und engagiert sich für den Aufbau und die Verbesserung von interdisziplinären Versorgungsstrukturen. Die ADT hat sich stark für die Umsetzung des Nationalen Krebsplans und hier insbesondere für die flächendeckende Einführung klinischer Krebsregister eingesetzt, die mit dem in Kraft treten des Krebsregisterfrüherkennungsgesetzes im April dieses Jahres die entscheidende legislative Unterstützung erhalten hat. Ein wichtiger Schritt in diesem Zusammenhang ist die Definition eines einheitlichen Datensatzes für alle Tumorerkrankungen, dem ADT-Basisdatensatz. Inzwischen ist dieser Datensatz auch mit den epidemiologischen Registern (Dachverband GEKID) abgestimmt, sodass er nun als ADT/GEKID-Datensatz bezeichnet wird. Zu diesem allgemeinen Datensatz gibt es organspezifische Module (z. B. kolorektales Karzinom), die in verschieden Arbeitsgruppen weiterentwickelt werden. Ein Ziel dieser Module ist es, sämtliche Kennzahlen und Qualitätsindikatoren abzubilden, die für die Zertifizierung erforderlich sind. Perspektivisch soll so die Notwendigkeit von lokalen Datenbanken entfallen, um die Kliniken durch die Krebsregister von ihren Dokumentationspflichten zu entlasten. Diese eigentlich sehr positive Perspektive für die Kliniken hat erhebliche Rückwirkungen auf das Zertifizierungssystem: Wenn die Zertifizierungskommission neue Regelungen bzw. Kennzahlen beschließt, die im ADT/GEKID Datensatz nicht abgebildet werden, können durch die Verbindung von Kennzahlen für die Zertifizierung einerseits und dem Datensatz für die klinischen Krebsregister andererseits erhebliche logistische Herausforderungen auftreten. Daher sollten abgesehen vom Aufwand für die Kliniken, Kennzahlen und Qualitätsindikatoren langfristig angelegt sein, um die Stabilität des Gesamtsystems nicht zu gefährden.

Arbeitsgemeinschaft deutscher DKG-zertifizierter Darmkrebszentren e.V. (addz)

Die addz stellt als Dachverband der zertifizierten Darmkrebszentren die Interessensvertretung der Zentren dar und hat derzeit 321 Mitglieder (179 Zentren). Sie ist sowohl in der Zertifizierungskommission als auch in der Arbeitsgruppe Daten für das kolorektale Karzinom der ADT vertreten. Die addz sieht es als ihre Aufgabe, im Sinne der Zentren potenzielle Neuregelungen auf ihre Alltagstauglichkeit und ihr reelles Verbesserungspotenzial zu überprüfen. Dabei ist die Stabilität der Vorgaben eine wesentliche Voraussetzung für die Planungssicherheit der Zentren.

Neben der Mitarbeit in der Zertifizierungskommission, ist eines der wichtigsten Ziele der addz, die klinischen Krebsregister für das Datenmanagement der Darmkrebszentren zu nutzen. Damit soll die derzeit noch vielfach übliche Doppeldokumentation entfallen. Dieses Ziel wird auch von der ADT unterstützt. Der Einstieg in diese Entwicklung ist mit dem Abgleich der Datensätze für die Kennzahlen der Darmkrebszentren bereits gelungen.

Zusammenfassung

Die Deutsche Krebsgesellschaft hat für die wichtigsten soliden Tumoren in den vergangen zehn Jahren ein flächendeckendes System von zertifizierten Zentren geschaffen, das den Vorgaben des Nationalen Krebsplans entspricht. Neben der Abbildung der gesamten Versorgungskette innerhalb des zertifizierten Netzwerkes, ist die Umsetzung der S3-Leitlinien in der Fläche wichtiges Ziel des Zertifizierungssystems. Grundkonzept für die Zentren ist dabei die transparente Darstellung der Behandlungsqualität auf Basis von Kennzahlen. Die sich anschließende Reflexion und Diskussion im Rahmen der Auditverfahren ist wichtige Voraussetzung, um gezielte Verbesserungsmaßnahmen umsetzen zu können.

Zentrales Merkmal des Systems ist die Aufteilung der Kompetenzen analog der staatlichen Gewaltenteilung in Zertifizierungskommission (Legislative), OnkoZert (Exekutive) und Ausschuss Zertifikaterteilung (Judikative). Die für die konkreten Vorgaben entscheidende Zertifizierungskommission ist interdisziplinär und interprofessionell besetzt und integriert über die Mitwirkung der Fachgesellschaften, Patientenorganisationen und der ADT alle, für die Zentren relevanten Aspekte. Durch die Einführung des Benchmarking der Darmkrebszentren und die Rückspiegelung der Ergebnisse an die Zertifizierungskommission ist ein PDCA-Zyklus für das Gesamtsystem etabliert worden. Davon und von der aktuell beschlossenen flächendeckenden Einführung klinischer Krebsregister dürfen weitere Impulse für die onkologische Versorgung in Deutschland erwartet werden.

Literatur

[1] Deutsche Krebsgesellschaft Pressemitteilung (Zugriff: 28.07.2013)

[2] Leitlinienprogramm Onkologie, S3 LL Kolorektales Karzinom, Version 1.0 (2013), (Zugriff: 28.07.2013)

[3] Archampong D, Borowski D, Wille-Jørgensen P, Iversen LH. Workload and surgeon´ s specialty for outcome after colorectal cancer surgery. Cochrane Database of Systematic Reviews 2012, Issue 3. Art. No.: CD005391. DOI:10.1002/14651858.CD005391.pub3.

Benz S. / Wesselmann S. Zertifizierung zum Darmkrebszentrum. Passion Chirurgie. 2013 Oktober, 3(10): Artikel 02_04.