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Safety Clip: Sicherheitsmanagement: Mit dem Unerwarteten umgehen. Die Konzepte Safety-I und Safety-II unter der Lupe

Seit der Veröffentlichung des Berichtes „To Err Is Human: Building a Safer Health System“ [1] im Jahr 1999 ist das Thema Patientensicherheit von Jahr zu Jahr bedeutender geworden. Gesetzgeber, nationale und internationale Organisationen und auch Patientenorganisationen stellen immer weitere Anforderungen an ein klinisches Risikomanagement, sie wollen damit die größtmögliche Patientensicherheit erreichen. Gesundheitseinrichtungen – ambulante wie stationäre – stehen vor der Herausforderung, dem nachzukommen. Erschwerend ist dabei, dass sich Verantwortliche zur Umsetzung des Risikomanagements immer wieder mit neuen Begrifflichkeiten und Modellen auseinandersetzen und dabei vielleicht sogar bewährte Praktiken in Frage stellen müssen.

Dieser Artikel befasst sich mit den Konzepten Safety-I und Safety-II. Der Psychologe und Professor für Patientensicherheit Erik Hollnagel hat diese Begriffe mit seiner Veröffentlichung „From Safety-I to Safety-II: A White Paper“ im Jahr 2015 eingeführt. Das Whitepaper über die Vergangenheit und die Zukunft des Sicherheitsmanagements hat er zusammen mit zwei weiteren Experten für Patientensicherheit ausgearbeitet, seinen Kollegen Robert L. Wears, Professor für Notfallmedizin, und Jeffrey Braithwaite, Professor für Gesundheitssystem-Forschung (Health System Research).

Safety-I: die Fehler analysieren

Im Wörterbuch wird Sicherheit unter anderem als „höchstmögliches Freisein von Gefährdungen“ [2] definiert. Diese Definition entspricht grundsätzlich dem Safety-I-Ansatz: Das Fehlen von unerwünschten Ereignissen, also Zwischenfällen, Unfällen oder Verletzungen, ist gleichzusetzen mit Sicherheit. Anders gesagt, das Fehlen beziehungsweise das Freisein von Risiken bedeutet, dass ein hohes Maß an Sicherheit besteht. Bei der Anwendung von Safety-I wird Sicherheit indirekt durch das Fehlen von Negativem gemessen. Der Fokus liegt auf dem entstandenen Fehler beziehungsweise dem eingetretenen Ereignis. Eine Reaktion findet erst nach Eintreten eines unerwünschten Ereignisses statt [3].

Viele herkömmliche Instrumente des klinischen Risikomanagements arbeiten nach dem Safety-I-Ansatz, zum Beispiel das Critical Incident Reporting System (CIRS) oder jedwede Art von Fallanalysen (M&M-Konferenzen, London Protokoll, FMEA). Diese Instrumente zielen auf die Ursachenanalyse eines Ereignisses ab, um mögliche Sicherheitsmaßnahmen abzuleiten. Hierdurch soll das Ereignis einmalig bleiben und die Wahrscheinlichkeit, dass ein gleiches oder ähnliches Ereignis auftritt, so gering wie möglich gehalten werden. Ein weiteres Merkmal von Safety-I ist, dass Prozessabläufe mit schriftlichen Vorgaben erstellt und befolgt werden müssen, um auf diese Weise Patientensicherheit herzustellen beziehungsweise unerwartete Ereignisse zu vermeiden. In unserer Beratungstätigkeit zeigt sich, dass im deutschen Gesundheitswesen überwiegend der Safety-I-Ansatz verfolgt wird.

Safety-II: aus Erfolg lernen

Der Safety-II-Ansatz konzentriert sich auf die Art und Weise, wie gearbeitet wird. Hier werden Möglichkeiten gesucht, wie Mitarbeitende sich an Belastungen, Herausforderungen und Unerwartetes anpassen können und wie sie dabei ihre Aktivitäten synchronisieren können, um Konflikte zu lösen und gemeinsame Ziele zu erreichen. Safety-II ermöglicht den Mitarbeitenden, ein dynamisches – nicht starres, festgeschriebenes – Streben nach Sicherheit und Effektivität. Das ist gerade vor dem Hintergrund konkurrierender Ziele, begrenzter Ressourcen und Arbeitsdruck hilfreich [4].

Im Gegensatz zu Safety-I verfolgt Safety-II einen proaktiven Ansatz. Negativen Ereignissen soll vorgebeugt werden. So kann eine qualitativ hochwertige Versorgung gewährleistet werden, auch – oder gerade – wenn es Druck und konkurrierende Anforderungen gibt. Aufgrund der Komplexität des Gesundheitswesens und der Interdisziplinarität bei der Versorgung der Patientinnen und Patienten haben sich die Mitarbeitenden im Gesundheitswesen eine hohe Flexibilität erworben. Hollnagel sagt: In einem komplexen adaptiven System, wie es das Gesundheitssystem ist, sind es die Mitarbeitenden, die „die Dinge zum Funktionieren bringen“, und zwar, indem sie Probleme lösen und sich an die Belastungen in ihrer Umgebung anpassen. Dieser Resilienz – also der Widerstandsfähigkeit der Mitarbeitenden gegenüber Störungen – wird im Safety-II-Ansatz große Bedeutung beigemessen [5].

Safety-II legt das Augenmerk auf das Erkennen, wie und warum Dinge richtig und nicht falsch laufen. An dieser Stelle ist grundsätzlich festzustellen: Es laufen viel mehr Dinge positiv als negativ. Jedoch darf die Kommunikation der positiven Ereignisse beziehungsweise Ergebnisse nicht vernachlässigt werden. Denn dadurch wird eine positive Verstärkung bei den Mitarbeitenden erzielt.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Der Safety-II-Ansatz konzentriert sich auf die Dinge, die richtig laufen, und stellt sicher, dass weiterhin so viel wie möglich richtig läuft. Dabei legt der Safety-II-Ansatz sein Augenmerk auf die Ressource Mensch. Er ist der wesentliche Erfolgsfaktor einer Organisation in Hinsicht auf Flexibilität und Belastbarkeit. Prozessabläufe und schriftliche Vorgaben nimmt er nicht starr hin, sondern kann sie an die Situation anpassen [6, 7].

Tab. 1: Unterschiede von Safety-I und Safety-II6 [7]

Safety-I

Safety-II

Definition von Sicherheit

Es dürfen so wenige Dinge wie möglich schiefgehen.

So viele Dinge wie möglich sollen gut laufen.

Sicherheits-Management-Prinzip

Reaktives System: Man reagiert, wenn etwas vorgefallen ist oder wenn ein inakzeptables Risiko identifiziert wurde.

Proaktives System: Man antizipiert kontinuierlich – man ahnt, nimmt vorweg – Entwicklungen und Ereignisse und geht damit um.

Unfall-

Untersuchung

Unfälle sind das Ergebnis von (menschlichen) Fehlern und Funktionsversagen. Die Unfallanalyse soll diese Defizite aufdecken.

Prozesse laufen grundsätzlich auf die gleiche Weise ab, unabhängig vom Ergebnis. Die Unfallanalyse soll helfen zu verstehen, wie Dinge meistens richtig ablaufen, um zu erklären, warum sie manchmal schiefgehen.

Bedeutung des »Faktors Mensch«

Menschen werden mehrheitlich als Gefahr angesehen oder für schuldig befunden.

Menschen sind eine Ressource, die für die Flexibilität und Resilienz des Systems unerlässlich ist.

Welches ist das geeignetere System?

„Safety-I ist die Minimierung des Schlechten und Safety-II die Maximierung des Guten.“ [8] Dieses Zitat aus einer Buchkritik macht deutlich, dass die Systeme Safety-I und Safety-II nicht in Konflikt miteinander stehen – sie ergänzen sich. Ziel ist eine gelebte Sicherheitskultur.

Die herkömmlichen Instrumente des Risikomanagements können weiterhin verwendet werden, allerdings mit neuer Ausrichtung. Beispielsweise sollten die Mitarbeitenden motiviert werden, im Fehlermeldesystem CIRS nicht nur kritische Ereignisse oder Beinahe-Fehler zu melden, sondern über dieses System auch positive Rückmeldungen zu geben. Gleiches gilt für M&M-Konferenzen. Warum? Weil es wichtig ist, über den Arbeitsalltag zu sprechen und positive Ergebnisse aufzuzeigen. Das ist deswegen wichtig, weil die menschliche Natur so angelegt ist, sich eher auf die negativen Dinge zu konzentrieren als auf die positiven.

Prozessorganisation bekommt mit dem Safety-II-Ansatz eine neue Bedeutung, man möchte fast von einem „agilen Vorgehen“ sprechen. Aber auch neue Instrumente wie „Learning from Excellence“, Storytelling, das Lernen von allen Ereignissen und Sicherheitsgespräche sind in den Methodenkoffer des Risikomanagements aufzunehmen [9].

Zusammenfassung

Zusammenfassend kann man sagen, dass Einrichtungen im Gesundheitswesen die Patientensicherheit steigern können, wenn die Ansätze Safety-I und Safety-II gemeinsam angewendet werden. Zudem hat die Kombination einen ökonomischen Vorteil, da die Kosten von Komplikations- und Fehlbehandlungen erheblich reduziert werden können – laut OECD-Studie [10] aus dem Jahr 2017 liegen diese bei 15 Prozent der Gesamtausgaben.

Die Herausforderung wird bei der Umsetzung des Safety-II-Ansatzes in der Stärkung der Resilienz von Mitarbeitenden und somit im Aufbau von widerstandsfähigen Teams liegen. Denn zur Stärkung der Resilienz bei den Mitarbeitenden ist das Vertrauen der Führungskraft gegenüber den Angestellten unabdingbar.

Die wahrscheinlich größere Herausforderung besteht deshalb in der positiven Kommunikation der Führungskräfte mit den Mitarbeitenden. Denn im deutschen Gesundheitswesen herrschen immer noch überwiegend starre und ausgeprägte Hierarchieebenen vor. Der Ausbau der Interdisziplinarität und der Respekt vor dem Gegenüber müssen zwingend gefördert werden. Der Abbau von Hierarchieebenen wird sich positiv auf die Umsetzung des Safety-II-Ansatzes auswirken.

Quellen

[1]   To Err Is Human: Building a Safer Health System, Linda T. Kohn, Janet M. Corrigan, Molla S. Donaldson, Institute of Medicine (US) Committee on Quality of Health Care in America, Washington (DC): National Academies Press (US); 2000.

[2]   https://www.duden.de/rechtschreibung/Sicherheit, Letzter Zugriff: 22.04.2020.

[3]   Hollnagel, E.; Wears, R.L; Braithwaite, J., „From Safety-I to Safety-II: A White Paper“, First published in 2015 by the Authors printed and bound.

[4]   http://resiliencecentre.org.uk/fact-sheets/safety-i-and-safety-ii/, Letzter Zugriff: 27.04.2020.

[5]   Weick, K. E., Sutcliffe, K. M., „Managing the unexpected: assuring high performance in an age of complexity“, San Francisco: Jossey-Bass; 2001.

[6]   Hollnagel, E., „A tale of tool safeties, Nuclear Safety and Simulation“, Vol. 4, Number 1, March 2013.

[7]   Staendera, S., Kaufmann, M., Sicherheitsmanagement 2015: „Von ‚Safety-I‘ zu ‚Safety-II‘“, Schweizerische Ärztezeitung – Bulletin des Médecins Suisses – Bollettino dei Medici Svizzeri 2015; 96 (5): 154–157.

[8]   www.mindtherisk.com/literature/81-uk-safety-i-and-safety-ii-the-past-and-future-of-safety-management-by-erik-hollnagel, 27.04.2020, eigene Übersetzung.

[9]   Glaister, K., „Safety-I and Safety-II – Sharing Outstanding Excellence (SOX) “, Salisbury NHS Foundation Trust, 2017 (www.wessexahsn.org.uk/img/projects/Safety%201%20Safety%202%20August%202017.pdf, Letzter Zugriff: 27.04.2020).

[10] OECD-Studie „The Economics of Patient Safety“, vorgestellt am „Second Global Ministerial Summit on Patient Safety“, 2017, Bonn.

Manig-Kurth, N: Sicherheitsmanagement: Mit dem Unerwarteten umgehen. Die Konzepte Safety-I und Safety-II unter der Lupe. 2020 September, 10(09): Artikel 04_04.

Safety Clip: Risikomanagement in der Luftfahrt und im Krankenhaus

Vergleichende Betrachtung zum Stand der Umsetzung

Die Gewährleistung der Patientensicherheit stellt nach wie vor eine der wichtigsten Aufgaben für das Krankenhausmanagement dar. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, den Reifegrad des klinischen Risikomanagements mittels geeigneter Kennzahlen messbar und somit transparent zu machen. Ist der Reifegrad bekannt, kann rechtzeitig mit geeigneten Maßnahmen den potenziellen Gefahren für die Patientensicherheit entgegengewirkt werden. In den letzten 20 Jahren ist die Patientensicherheit in den Krankenhäusern immer mehr in den Fokus der handelnden Akteure gerückt. Die Krankenhäuer sind von Gesetzgeber verpflichtet, ein Qualitätsmanagementsystem zu etablieren, einschließlich der Instrumente des Risikomanagements [1].

In diesem Artikel vergleicht die Autorin ausgewählte Instrumente bzw. Methoden des Risikomanagements, die in der Luftfahrt wie auch im Krankenhaus angewendet werden. Es wird dargestellt, welcher Grad der Umsetzung dieser Instrumente in den Krankenhäusern erreicht ist. Der Beitrag ist aus Sicht einer Risikoberaterin geschrieben, die als Flugbegleiterin und Gesundheits- und Krankenpflegerin tätig war.

Entwicklung Risikomanagement

„In den Kindertagen der Luftfahrt bestand das Risikomanagement- und Frühwarnsystem des Piloten (neben dem Kompass) im Wesentlichen aus drei Instrumenten: Schal, Krawatte und Brille. An der Art, wie der Schal flatterte, konnte der Pilot Geschwindigkeit und Seitenwind abschätzen“ [2]. Die Flugbegleiterinnen mussten aus „gutem Haus“ und unverheiratet sein. Neben einem ansprechenden Äußeren sollten sie auch die Qualitäten von guten Gastgeberinnen besitzen.

In der Luftfahrt wie auch im Gesundheitswesen gab es auslösende Ereignisse, die sichtbar machten, wie wichtig es ist, ein funktionierendes Risikomanagementsystem, inkl. der Anwendung von geeigneten Instrumenten, zu etablieren. Das Datum 27. März 1977 markiert eines von mehreren katastrophalen Ereignissen in der Luftfahrt. An diesem Tag kollidierten auf dem Flugfeld von Santa Cruz de Tenerife (Kanaren) zwei Flugzeuge vom Typ Boeing 747, eine KLM- und eine Pan American-Maschine, und gingen in Flammen auf. 583 der 644 Insassen beider Flugzeuge kamen ums Leben.

Im Gesundheitswesen war solch ein auslösender Moment die Veröffentlichung des Berichts „To Err Is Human – Building a Safer Health System“ des Institute of Medicine (IOM) 1999. Der Bericht stellte auf Basis mehrere Studien dar, wie viele Patienten im amerikanischen Gesundheitssystem aufgrund von „Adverse Events“ (unerwünschten Ereignis) starben. Von da an wurde Patientensicherheit ein immer wichtigerer Faktor in der Behandlung von Patienten in den USA wie auch in Europa.

Die Beschäftigung mit dem Aufbau des klinischen Risikomanagements führt automatisch in die Luftfahrt. Nicht nur, weil es verschiedene Angebote zu Fort- und Weiterbildungen unter der Leitung erfahrener Piloten gibt, sondern weil in der Luftfahrt nützliche Instrumente für ein aktives wie proaktives Risikomanagement gut und stringent implementiert sind und konsequent, im Cockpit wie auch in der Kabine, angewendet werden.

Im Folgenden werden ausgewählte Instrumente des Risikomanagements verglichen.

Checklisten und standardisierte Prozesse

„Checklisten beinhalten eine festgelegte Abfrage von sicherheitsrelevanten Prüfpunkten.“ Voraussetzung für die Entwicklung guter Checklisten ist das Standardisieren und Kennen von Prozessen. Das Anwenden von Checklisten, z. B. zur Vorbereitung auf den Start bzw. die Landung oder auf eine Notlandung, sind aus dem Cockpit nicht mehr wegzudenken.

Im Krankenhaus kommen Checklisten u. a. bei Operationen zum Einsatz, z. B. OP-Vorbereitungscheckliste im stationären Bereich, OP-Sicherheitscheckliste bei Einschleusen in den OP (oft angelehnt an die OP-Sicherheitscheckliste der WHO). Im Rahmen von Sicherheits- und Risikoanalysen in Krankenhäusern zeigt sich jedoch, dass die Durchdringung und Durchführung der Abarbeitung der Checklisten oft mangelhaft ist. Patienten werden immer noch mit unvollständigen Unterlagen oder fehlender Seitenmarkierung in den OP eingeschleust. Gleiches gilt für die Kontrolle des Patientenidentifikationsarmbandes. Zudem sind die Checklisten nicht immer vollständig ausgefüllt.

Notfallsituationen, insbesondere Reanimationssituationen, stellen immer eine besondere Herausforderung dar. Für diese Situationen bieten sich Checklisten in Form eines Ablaufschemas an, um den Algorithmus der jeweiligen Notfall-/Reanimationssituation zu durchlaufen. Die Praxis zeigt jedoch, dass diese in den seltensten Fällen verwendet werden. Als Gesundheits- und Krankenpflegerin auf Intensivstationen habe ich an vielen Reanimationen teilgenommen. Dabei zeigte sich, dass die Notfall-/Reanimationsbehandlungen, bei denen der Teamleader aktiv das Ablaufschema mit dem jeweiligen Algorithmus zu Hilfe nahm, durchgängig die strukturiertesten Notfall-/Reanimationssituationen waren.

Standardisierung

Mit Standardisierung ist meist das Etablieren von Standard Operating Procedures (SOPs) und pflegerischer/multidisziplinärer Behandlungsstandards gemeint. Darüber hinaus geht es auch um die Standardisierung der Arbeitsumgebung. Jedes Flugzeug eines bestimmten Typs (Boeing 737, Airbus A380) ist nach den Vorgaben der jeweiligen Airline standardisiert eingerichtet. So ist z. B. explizit festgelegt, wo sich das Notfallequipment befindet, einschließlich Kennung durch Piktogramm. Jeder Trolley oder jede Box ist entsprechend der Bestimmung gleich beladen und wird immer an der gleichen Stelle im Flieger aufbewahrt. Dieses Vorgehen vereinfacht das Arbeiten, dient der Flexibilität der Mitarbeiter und fördert die Sicherheit.

In den Krankenhäusern findet man eine Standardisierung der Arbeitsumgebung nur im OP-Bereich, in größeren Endoskopie-Einheiten und in den Behandlungsräumen der Notfallambulanzen. Die stationären Bereiche sind in der Regel nicht standardisiert – bis auf die Definition der Nutzung jedes Raumes und der Einrichtung der Fäkalienräume. In Anbetracht der Tatsache, dass aufgrund von Personalmangel oft Poolkräfte zum Einsatz kommen oder Mitarbeiter auf anderen Stationen aushelfen müssen, sollte zur Steigerung der Patientensicherheit in diesen Bereichen zwingend eine Standardisierung erfolgen. So könnten Medikationsschränke bzw. die Bevorratung der Medikamente einschließlich der Infusions- und Ernährungslösungen in den gleichen Räumlichkeiten und an den gleichen Stellen stehen und einheitlich bestückt sein (z. B. nach Handelsnamen oder Wirkstoff).

Das Notfallequipment ist im stationären Bereich zwar oft standardisiert, doch erfolgt die Aufbewahrung uneinheitlich. Sicherheits- und Risikoanalysen zeigen immer wieder, dass es oftmals keine Kennung der Räumlichkeit gibt, wo das Notfallequipment aufbewahrt wird. Häufig wissen ärztliche Mitarbeiter nicht, wo das Notfallequipment zu finden ist. Daher besteht ein hohes Risiko, dass im Notfall erst nach dem Notfallequipment gesucht oder gefragt werden muss und lebensrettende Erstmaßnahmen verzögert eingeleitet werden.

Eine Standardisierung der Arbeitsumgebung im klinischen Umfeld würde also die Patientensicherheit markant erhöhen. Zugleich würde Zeit gespart. Mitarbeitende, die auf anderen Stationen aushelfen, müssten nicht gesondert in die Örtlichkeiten eingeführt werden.

Fehlermanagement/Critcal Incident Reporting System (CIRS)

„Ein Critical Incident Reporting System (CIRS) (deutsch: Berichtssystem über kritische Vorkommnisse) ist ein Berichtssystem zur anonymisierten Meldung von kritischen Ereignissen (englisch: critical incident) und Beinahe-Schäden (englisch: near miss) in Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Luftfahrt.“[3] „Der Ursprung der systematischen Erfassung und strukturierten Fehleranalyse im Sinne eines CIRS findet sich Ende des zweiten Weltkrieges in der Fliegerei (Flanagan 1954) [4].“

„In Deutschland wurden Mitte der 90er Jahre erste CIRS-Systeme, damals noch „papiergestützt“, durch die Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH (GRB) in verschiedenen Krankenhäusern implementiert.“ Jahre später hat der G-BA in der sektorenübergreifenden Qualitätsmanagementrichtlinie Vorgaben definiert, die ein CIRS erfüllen muss (z. B. Anonymität, Sanktionsfreiheit).

Die durch CIRS gewonnenen Erkenntnisse über fehlerhafte Prozesse, Schwachstellen und mangelnde Verantwortlichkeiten dienen dazu, Verbesserungsmaßnahmen abzuleiten. Diese erhöhen die Sicherheit von Prozessen sowie der Organisation. Im Ergebnis führen die Maßnahmen zu einer Steigerung der Patientensicherheit und dem Aufbau einer Sicherheitskultur – im Sinne einer lernenden Organisation. Dabei geht es in erster Linie um den sachlichen Inhalt der Meldung, nicht um die meldende bzw. beteiligte Person.

Während in der Luftfahrt das CIRS ein etabliertes Instrument ist, das konsequent genutzt wird, stellt sich die Situation in den deutschen Krankenhäusern differenzierter dar. In der Regel haben alle Krankenhäuser ein CIRS installiert, ob nun elektronisch oder in Papierform. Beobachtungen zeigen aber, dass die Akzeptanz dieses wertvollen Instruments insbesondere bei den ärztlichen Mitarbeitern schlecht ist. Die Ursachen sind vielschichtig: Die Zurückhaltung reicht von einer schlechten Vorbildfunktion des Vorgesetzten bis hin zum Vorwurf der Nestbeschmutzung in Verbindung mit der Weigerung des Verantwortlichen für den risikobehafteten Prozess, an der Entwicklung von Verbesserungsmaßnahmen teilzunehmen. Aber auch die Unkenntnis darüber, dass es ein solches Instrument im Haus überhaupt gibt und was meldewürdige Ereignisse sind, tragen zur mangelnden Nutzung bei. Hinzu kommt eine mangelnde Rückmeldung der Ergebnisse aus bearbeiteten CIRS-Meldungen, was die Akzeptanz weiter schwächt.

Fazit

In der Luftfahrt wie auch im Krankenhaus können Menschen zu Schaden kommen. In beiden Bereichen ist es daher wichtig, auf einem hohen Sicherheitsniveau zu arbeiten und eine Sicherheitskultur zu etablieren. Dies kann durch die Implementierung eines Risikomanagementsystems erreicht werden. Im direkten Vergleich ausgewählter Instrumente des Risikomanagementsystems zeigt sich, dass die Umsetzung bzw. die Durchdringung in deutschen Krankenhäusern im Vergleich zur Luftfahrt bei weitem nicht ausreichend ist und daran weiter intensiv gearbeitet werden muss.

Das kann etwa durch regelmäßige Schulungsmaßnahmen, z. B. themenspezifisch, erfolgen. Zudem sollte klinisches Risikomanagement Teil der Ausbildung sein, also z. B. in das Medizinstudium integriert werden. Wichtig für ein erfolgreiches klinisches Risikomanagement ist, dass jeder Einzelne den Wert erkennt und verinnerlicht. Klinisches Risikomanagement ist Teamarbeit und geht alle an, denn niemand ist frei von Fehlern.

Literatur

[1] Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die grundsätzlichen Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser (Qualitätsmanagement-Richtlinie Krankenhäuser – KQM-RL)“ 2014 und Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über grundsätzliche Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement für Vertragsärztinnen und Vertragsärzte, Vertragspsychotherapeutinnen und Vertragspsychotherapeuten, medizinische Versorgungszentren, Vertragszahnärztinnen und Vertragszahnärzte sowie zugelassene Krankenhäuser (Qualitätsmanagement-Richtlinie/QM-RL) 2016

[2] Romeike, F. (2018): Risikomanagement. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, Seite 218

[3] https://www.google.de/search?rlz=1C1GGRV_enDE751DE751&q=cirs+definition&sa=X&ved=0ahUKEwju1a6Uhr3dAhXrpYsKHR2BAdQQ1QIIcigA&biw=1920&bih=894

[4] Meilwes, M. (2015): Patientensicherheitsmanagement. Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston, Seite 317

Manig-Kurth N: Safety Clip: Risikomanagement in der Luftfahrt und im Krankenhaus. Passion Chirurgie. 2019 Januar, 9(01): Artikel 04_04.

Safety Clip: Frühmobilisation auf der chirurgischen Intensivstation

 

Der Gesetzgeber bezieht klar Stellung zur Mobilisation von Patienten bei Krankenhausaufenthalten. In § 39 Sozialgesetzbuch V (SGB V), heißt es: „…die akutstationäre Behandlung umfasst auch die im Einzelfall erforderlichen und zum frühestmöglichen Zeitpunkt einsetzenden Leistungen zur Frührehabilitation“. [1] Die Vorgabe, den Patienten im Rahmen seiner Behandlung so zeitig wie möglich zu mobilisieren, macht auch vor der Intensivstation nicht Halt. Die Herausforderung bei intensivpflichtigen Patienten ist dabei, dass diese neben ihrer Grunderkrankung häufig weitere Einschränkungen haben. Sie werden meist beatmet und sind durch ihre Diagnose und/oder die Sedierung und Analgesie zur Bettruhe gezwungen. Des Weiteren ist die Gefahr, dass es zu einer Minderung der Vigilanz oder zu instabilen Kreislaufverhältnisse kommt, bei diesen Patienten erhöht.

Bevor erläutert wird, was Frühmobilisation auf der chirurgischen Intensivstation bedeutet und wie sinnvoll diese ist, sollen einige theoretische Grundlagen vermittelt werden.

Mobilisation

„Die Mobilisation fördert die Bewegungsfähigkeit des Pflegebedürftigen. Sie umfasst gezielte Bewegungsübungen mit dem Ziel:

Wiederherstellung der Beweglichkeit

Verminderung des Krankheitsempfindens

Steigerung des Selbstwertgefühls

Vermeidung von Folgeerkrankungen (Dekubitus, Kontraktur, Pneumonie)“ [2]

Mobilisation besteht nicht nur aus einer Übung, sondern ist eine Kombi nation aus verschiedenen Maßnahmen am chirurgischen Patienten, welche die Beweglichkeit fördern.

Rehabilitation

Rehabilitation wird im Duden als „[Wieder]eingliederung einer/eines Kranken, einer körperlich oder geistig behinderten Person in das berufliche und gesellschaftliche Leben“ [3] definiert. Alle Maßnahmen, die pflegerische und therapeutische Mitarbeitende im Rahmen der Mobilisation eines Patienten ergreifen, zielen darauf ab, dessen körperliche bzw. geistige Wiederherstellung zu fördern, um eine Teilnahme am Leben zu ermöglichen.

Frühmobilisierung

Das deutsche Netzwerk für Frühmobilisierung beatmeter Patienten definiert den Begriff „Frühmobilisierung“ wie folgt: „Alle Mobilisierungsformen und -prozesse, die die Rehabilitation beatmeter IntensivpatientInnen zum Ziel haben.“ [4]

OEBPS/images/Savety_Clip_Logo.jpgImmobilität/Bettruhe fördert Sekundärkomplikationen wie Dekubitalulzera, Thrombose, Pneumonie, Kontrakturen und Verwirrtheitszustände (Delir). Eine der häufigsten Sekundärkomplikationen bei Patienten auf der Intensivstation ist die Muskelatrophie. Morris et. al. nehmen Bezug auf Studien, die gezeigt haben, dass der Muskelkraftverlust eines Patienten pro Tag bei fünf bis sechs Prozent liegt. Hat der Patient zusätzlich eine kritische Erkrankung, z. B. eine Sepsis, ist der Verlust noch drastischer. [5] Folge der Muskelatrophie ist eine verminderte Immunabwehr, einhergehend mit erhöhtem Infektionsrisiko, verlangsamter Wundheilung und Komplikationen bei der Entwöhnung des Patienten von der Beatmung. Weitere Sekundärkomplikationen, die bei intensivpflichtigen Patienten auftreten können, sind neuromuskuläre Erkrankungen wie Critical Illness Polyneuropathie (CIP) und Critical Illness Polymyopathie (CIM).

Aufgrund der unzureichenden Bewegung ist eine ausreichende Durchblutung des gesamten Organsystems nicht gewährleistet. Mangeldurchblutung und ein gestörter Stoffwechsel im Gewebe sind die Folgen. Diese wiederum wirken sich negativ auf die Wundheilung aus und können zu Wundheilungsstörungen führen. Diese Problematik ist besonders bei chirurgischen Patienten von Bedeutung, da hier i. d. R. ein größeres Wundgebiet vorliegt.

Ziele der Frühmobilisation auf der chirurgischen Intensivstation

Erhalt und Wiederherstellung der Fähigkeiten (Bewegungsfähigkeit) des Patienten

Wiedererlangung seiner Selbstständigkeit

Reduktion der Liegedauer, damit verbunden die Erhöhung der Wirtschaftlichkeit durch Kostenreduktion

Reduktion der Sekundärkomplikationen

schnellstmögliche Entwöhnung vom Beatmungsgerät

Outcome-Verbesserung

Frühmobilisation auf der chirurgischen Intensivstation

„Die frühzeitige Mobilisierung kann für einige Patienten eine Chance sein, deutlich schneller die Intensivstation, und damit eine individuell als sehr bedrohlich empfundene Lebenssituation, zu verlassen. Ebenso bietet es möglicherweise eine Option, den Schweregrad einer Erkrankung positiv zu beeinflussen.“ [8]

Schaut man sich auf deutschen Intensivstationen um, zeigt sich, dass die meisten Patienten den größten Teil der Zeit im Bett liegend verbringen. Schwerkranke und beatmete Patienten mit einem chirurgischen Krankheitsbild werden von den Physiotherapeuten oft nur „passiv beübt“. Oftmals ist letztlich die Pflege die auslösende Kraft, welche die Mobilisierung des Patienten vorantreibt.

Eine aktive Frühmobilisation einschließlich Mobilisation an der Bettkante oder im Mobilisationsstuhl erfolgt meist erst im fortgeschrittenen Behandlungsverlauf, i. d. R. erst dann, wenn die Verlegung des Intensivpatienten auf eine weiterbehandelnde Station geplant ist. Die Gründe sind mannigfaltig: Knappe Personal- und Zeitressourcen gehören ebenso dazu wie nicht erfolgte ärztliche Anordnungen, aber auch Unsicherheiten von ärztlichen Mitarbeitenden, besonders, wenn diese noch unerfahren im Umgang mit Intensivpatienten sind, sowie das Festhalten an „alten Zöpfen“. Äußerungen wie „Früher haben die Patienten die ersten Tage auch immer im Bett gelegen“ oder „Bettruhe macht gesund“ sind auch heute noch vielfach zu hören.

Doch nicht immer ist das ärztliche und pflegerische Personal für eine verzögerte oder unterbleibende Mobilisation verantwortlich. Auch mangelnde Motivation aufseiten des Patienten, z. B. wegen Erschöpfung, kann ein Grund sein. [9]

Im Folgenden wird geschildert, was bei der Mobilisation von Patienten auf der Intensivstation zu beachten ist.

Teamwork

Die Frühmobilisation auf der Intensivstation ist Teamwork. Ein gutes interdisziplinäres Zusammenspiel von Pflegenden und Physiotherapeuten ist unabdingbar, ebenso wie eine gute Schulung aller Beteiligten.

Anordnung und Planung

Zu Beginn der Mobilisation eines Patienten – das gilt besonders auch für intubierte Patienten – ist Rücksprache mit dem behandelnden Arzt bzw. dem Ärzteteam zu halten, um zu klären, ob etwaige Kontraindikationen vorliegen, die gegen eine Frühmobilisation sprechen, etwa im Zusammenhang mit der Diagnose stehende Kontraindikationen oder andere, wie z. B. Schlaganfall, vorherige Immobilität oder CPR (= Cardiopulmonary resuscitation/Kardiopulmonale Reanimation) bei Aufnahme.

Tab. 1: Marburger Stufenkonzept

Stufe
Aktivität
Ziele

1

passiv

Prophylaxe

Anbahnung

2

passiv-assistiv

Wahrnehmung

Koordination

3

assistiv-aktiv

Kraft

4

aktiv

ADL

5

aktiv

Gang

Selbstständigkeit

Steht aus ärztlicher Sicht einer Frühmobilisierung nichts im Weg, ist im interdisziplinären Team das gemeinsame Vorgehen zu planen. Ein Mobilisierungskonzept sollte erstellt werden, in dem die Ziele klar definiert sind. Das Marburger Stufenkonzept (Tab. 1) oder der Stufenplan zur Frühmobilisation nach Nydhal (Abbildung 1) können dabei eine gute Orientierung sein. Sicherheitskriterien (Tab. 2) für die Durchführung der Mobilisation sowie Toleranzkriterien (Herzfrequenz < 150, systolische RR zwischen 90 und 200, O2-Sättigung > 90, bei Dyspnoe evtl. FiO2 + 0,2 & PEEP + 2) [10] sind festzulegen und in das Mobilisierungskonzept aufzunehmen. Der Zeitpunkt der täglichen Mobilisation ist bindend zu terminieren, um die Mobilisation auch aus personeller Sicht sicherzustellen.

Abb. 1: Stufenplan der Frühmobilisation nach Nydhal [11]

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Tab. 2: Sicherheitskriterien für die Mobilisation [12]

Kriterien für eine sichere Kommunikation

Sind vaskuläre und respiratorische Reserven in ausreichendem Maße vorhanden?

Sind Zugänge vorhanden, die eine Mobilisation kontraindizieren, z. B. eine intraaortale Ballonpumpe?

Bestehen neurologische, orthopädische oder sonstige Kontraindikationen?

Bekommt der Patient Medikamente, welche die Mobilisation beeinflussen?

Ist der Bewusstseinszustand des Patienten stabil? Ist er mit der Mobilisation einverstanden?

Kommunikation

Wichtig für eine gelingende Mobilisation ist es, den Patienten zu informieren und auch zu motivieren. Dabei ist darauf zu achten, dass der Patient wach und ansprechbar ist und dass er der gesprochenen Sprache mächtig ist, um den Anweisungen des Personals folgen und sich auch selbst verständlich machen zu können. In der Leitlinie zum Analgesie-, Sedierungs- und Delirmanagement der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin heißt es dazu: „Der intensivmedizinisch behandelte Patient soll wach, aufmerksam, schmerz-, angst- und delirfrei sein, um an seiner Behandlung und Genesung teilnehmen zu können.“ [13]. Im Rahmen der Aufklärung zur Mobilisation sollte auf Ängste und Befürchtungen des Patienten eingegangen werden. Dem Patienten muss vermittelt werden, dass er zu jedem Zeitpunkt der Mobilisation sicher ist. Die Schaffung einer Vertrauensbasis ist das Fundament für eine erfolgreiche Mobilisation.

Durchführung

Vor jeder Mobilisationsmaßnahme ist der Patient zu informieren. Die festgelegten Sicherheitskriterien zur Durchführung von Mobilisationsmaßnahmen müssen erfüllt sein und sind täglich neu abzuprüfen. Der Umfang der Mobilisation ist abhängig von der Tagesform des Patienten zu gestalten. Die Alarmgrenzen des Überwachungsmonitors und der Beatmungsmaschine sind entsprechend anzupassen. Zu jeder Zeit sollte ein ungehinderter Blick auf das Monitoring möglich sein. Alle für die Mobilisation benötigten Hilfsmittel müssen einsatzbereit sein und griffbereit zur Verfügung stehen. Es empfiehlt sich, weitere Mitarbeiter, die zunächst nicht unmittelbar an der Mobilisation beteiligt sind, zu informieren, sodass bei Bedarf schnell Hilfe verfügbar ist. Zu- und Ableitungen sind so vorzubereiten und zu sichern, dass ein Verlust bzw. eine Dislokation vermieden wird. Erst, wenn alle Vorbereitungsschritte durchlaufen und abgeschlossen sind, kann der Patient mobilisiert werden.

Während der Mobilisation sind die Vitalparameter des Patienten zu überwachen. Auch das Verhalten, z. B. die Gestik und Mimik des Patienten, sollte durchgehend im Auge behalten werden, damit bei Bedarf eine zeitnahe Reaktion, z. B. in Form eines Mobilisationsabbruchs, möglich ist. Wichtig ist, dass der Patient bei der Mobilisation seine Erschöpfungsgrenze nicht überschreitet. Besonders bei hochmotivierten Patienten ist dieser Aspekt von Bedeutung.

Bei erfolgreich verlaufender Mobilisierung kann der im Mobilisierungskonzept vorgesehene nächste Schritt zum Erreichen des Mobilisationszieles in Angriff genommen werden. Jede Mobilisationsmaßnahme ist zu dokumentieren (u. a. Besonderheiten, Zeitrahmen).

Fazit

Die Mobilisation eines chirurgischen und intensivpflichtigen Patienten ist für alle Beteiligten eine große Herausforderung, bei Beachtung der Sicherheitskriterien aber handelbar. Patienten – auch unter Beatmung (invasiv/nicht invasiv) stehende – welche die festgelegten Voraussetzungen erfüllen, können mobilisiert werden. Der oft gehörte Einwand, die Mobilisation von beatmeten Patienten (stehen vor dem Bett/an der Bettkante, gehen) führe zu einer höheren Komplikationsrate im Behandlungsverlauf, ist unbegründet. Verschiedene Studien belegen, dass Zwischenfälle bzw. unerwünschte Ereignisse (Extubation, Ziehen von Zu- und Ableitungen) im Rahmen der Frühmobilisation auf Intensivstationen nicht signifikant häufiger vorkommen als sonst. [14, 15] Bailey et al. haben belegt, dass Frühmobilisierung (sitzen auf der Bettkante, stehen, sitzen im Stuhl, gehen) machbar und sicher ist. Im beobachteten Zeitraum lag die Rate der unerwünschten Ereignisse (auf die Knie Fallen, Blutdruck > 200, SaO2 < 80 Prozent u.a.) bei unter einem Prozent. Es gab zudem keine versehentliche Extubation bei oral intubierten Patienten. [16]

Andere Studien haben gezeigt, dass Patienten, die frühzeitig mobilisiert wurden, eine kürzere Verweildauer auf der Intensivstation, eine kürzere Delirphase sowie mehr beatmungsfreie Tage aufwiesen als andere [17, 18]. D. h. unterm Strich: Der Regenerationsprozess frühmobilisierter Patienten verkürzt sich und auch die Gesamtverweildauer im Krankenhaus wird reduziert. [19]

Patienten, die frühzeitig mobilisiert werden, sind bei Entlassung nachweislich selbstständiger und fitter für die Aktivitäten des täglichen Lebens. Oft können sie direkt nach Hause entlassen werden. [20] Eine frühzeitige Mobilisation hat nicht nur den positiven Effekt einer verkürzten Verweildauer des Patienten, sondern trägt oft auch dazu bei, dass die Medikamentengabe, z. B. Sedativa, reduziert werden kann. Beides zusammen kann sich deutlich positiv auf die Wirtschaftlichkeit des Krankenhauses auswirken.

Needham et. al. nennen Zahlen und Fakten aus ihren Beobachtungen:

Reduktion des Einsatzes von Benzodiazepinen und Morphinen: 24mg/d vs. 71mg/d

Senkung der Delirrate von 53 auf 21 Prozent

Reduktion der ICU-Tage (- 2,1 Tage ø) und der KH-Tage (- 3,1 Tage ø)

Zunahme der Neuaufnahmerate um 20 Prozent (Nettogewinn 4,3 Millionen Dollar) [21]

Neben den eben beschriebenen positiven Auswirkungen beugt eine frühe Mobilisation von Intensivpatienten Sekundärkomplikationen vor, vor allem der Muskelatrophie. Zudem wird das Selbstvertrauen der Patienten nachweislich gestärkt und die Integration in das tägliche Leben gefördert.

Abschließend seien noch einmal die Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Frühmobilisation genannt:

sehr gutes interdisziplinäres Teamwork

regelmäßige Schulungen aller beteiligten Mitarbeiter zu Mobilisationstechniken und Besonderheiten bei der Mobilisation von intensivpflichtigen Patienten

Bereitstellung von geeignetem Equipment in ausreichender Menge (tragbares Beatmungsgerät, Rollator, Mobilisationsstuhl etc.)

Berücksichtigung der individuellen Möglichkeiten des Patienten, einschließlich täglicher Prüfung der Fortschritte und entsprechender Anpassung der Mobilisation

Sicherstellung der gegenseitigen Verständigung (sprachliche Voraussetzungen)

Literatur

[1] Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V), Gesetzliche Krankenversicherung (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988 BGBI. I S 2477), § 39 Krankenhausbehandlung, Absatz 1.

[2] http://www.pflege-abc.info/pflege-abc/artikel/bewegung_und_mobilisation.html, letzter Zugriff 21.12.2015.

[3] http://www.duden.de/rechtschreibung/Rehabilitation, letzter Zugriff 17.12.2015.

[4] http://www.fruehmobilisierung.de/Fruehmobilisierung/Start.html, letzter Zugriff 17.12.2015.

[5] Morris, P.: Moving Our Critically Ill Patients: Mobility Barriers and Benefits. In: Critical Care Clinics. 23 (2007), S. 1-20.

[6] http://www.fruehmobilisierung.de/Fruehmobilisierung/Texte/Eintraege/2011/5/18_Fruhzeitige_Mobilisierung_-_Eine_Chance_auch_fur_schwerstkranke_Patienten.html, letzter Zugriff 05.01.2016.

[7] Berney S, Haines K, Skinner EH, Denehy L, Safety and feasibility of an exercise prescription approach to rehabilitation across the continuum of care for survivors of critical illness. Physical Therapy 2012(Dec):1524 -34.

[8] http://www.fruehmobilisierung.de/Fruehmobilisierung/Texte/Eintraege/2011/5/18_Fruhzeitige_Mobilisierung_-_Eine_Chance_auch_fur_schwerstkranke_Patienten.html, letzter Zugriff 05.01.2016.

[9] Berney S, Haines K, Skinner EH, Denehy L, Safety and feasibility of an exercise prescription approach to rehabilitation across the continuum of care for survivors of critical illness. Physical Therapy 2012(Dec):1524 -34.

[10] http://www.fruehmobilisierung.de/Fruehmobilisierung/Algorithmen_files/AlgorithmusFruehmobilisierungNyFlRo.pdf, letzter Zugriff 05.01.2016.

[11] http://www.fruehmobilisierung.de/Fruehmobilisierung/Algorithmen_files/AlgorithmusFruehmobilisierungNyFlRo.pdf, letzter Zugriff 05.01.2016.

[12] http://www.intensivmedizin.insel.ch/fileadmin/intensivmedizin/intensivmedizin_users/pdf/2014_08_Physioactive_4_2014.pdf, letzter Zugriff 05.01.2016.

[13] http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/001-012l_S3_Analgesie_Sedierung_Delirmanagement_Intensivmedizin_2015-08_01.pdf,letzter Zugriff 04.01.2016.

[14] Zeppos L, Patman S, Berney S, Adsett JA, Bridson JM, Paratz JD: Physiotherapy in intensive care is safe: an observational study. The Australian journal of physiotherapy 2007, 53(4): 279–283.

[15] Sricharoenchai T, Parker AM, Zanni JM, Nelliot A, Dinglas VD, Needham DM: Safety of physical therapy interventions in critically ill patients: A single-center prospective evaluation of 1110 intensive care unit admissions. Critical Care Medicine 2014, 29(3): 395–400.

[16] Sricharoenchai T, Parker AM, Zanni JM, Nelliot A, Dinglas VD, Needham DM: Safety of physical therapy interventions in critically ill patients: A single-center prospective evaluation of 1110 intensive care unit admissions. Journal of Critical Care 2014, 29(3): 395–400.

[17] Bailey P, Thomsen GE, Spuhler VJ, Blair R, Jewkes J, Bezdjian L, Veale K, Rodriquez L, Hopkins RO, Early activity is feasible and safe in respiratory failure patients. Crit Care Med 2007, 35(1): 139-45.

[18] Burtin C, Clerckx B, Robbeets C et al. Early exercise in critically ill patients enhances short-term functional recovery. Critical Care Medicine 2009; 37 (9): 2499 – 2505.

[19] Bailey P, Thomsen GE, Spuhler VJ et al. Early activity is feasible and safe in respiratory failure patients. Critical Care Medicine 2007, 35 (1): 139 – 145.

[20] Morris PE, Goad A, Thompson C, Taylor K, Harry B, Passmore L, Ross A, Anderson L, Baker S, Sanchez M et al.: Early intensive care unit mobility therapy in the treatment of acute respiratory failure. Critical Care Medicine 2008, 36(8): 2238–2243.

[21] Needham DM1, Korupolu R, Zanni JM, Pradhan P, Colantuoni E, Palmer JB, Brower RG, Fan E., Early physical medicine and rehabilitation for patients with acute respiratory failure: a quality improvement project., Archives of physical medicine and rehabilitation. 2010 Apr; 91(4):536-42.

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Nicole Manig-Kurth

Risikoberaterin

GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH

Klingenbergstr. 4, 32758 Detmold

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Weitere Artikel zum Thema Hygiene finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de, Rubrik Wissen | Qualität & Patientensicherheit).

Manig-Kurth N. Safety Clip: Frühmobilisation auf der chirurgischen Intensivstation. Passion Chirurgie. 2016 März; 6(03): Artikel 03_03.