Alle Artikel von Mechtild Hartmann

Safety Clip: Multidisziplinäres Konzept – Ein Muss in der Onkologie

 Die onkologische Chirurgie unterscheidet sich im Wesentlichen von den anderen chirurgischen Teilbereichen durch ihre Multidisziplinarität sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie. Zur bildgebenden und funktionellen Diagnostik kommen die morphologisch-pathologische Beurteilung der Tumorart sowie das Staging hinzu. Bei der Entscheidung, welche Behandlung jeweils die optimale ist, fällt in vielen Fällen die Wahl auf die klassische Trias Stahl-Strahl-Chemo. Die Instrumentarien dazu liegen heute in verschiedenen Händen, was dazu führt, dass das Behandlungsergebnis maßgeblich von der Abstimmung der 01einzelnen Experten untereinander beeinflusst wird.

Gerade dieser Aspekt, die richtige Einschätzung von Stärken und Grenzen der angebotenen Therapiemöglichkeiten, ist bei gerichtlichen Auseinandersetzungen immer wieder Diskussionsgegenstand.

Casus

Geschildert wird hier der Fall einer Operation, die zu Beginn der 1990er Jahre stattgefunden hat. Nach längerer gerichtlicher Auseinandersetzung, die mehrere Instanzen durchlief, ergeht das abschließende Urteil erst 2008.

Hergang

In der Klinik A, einer anerkannten Lungenfachklinik, wird bei einer Patientin die Punktion eines zervikalen Lymphknotens vorgenommen. Das Ergebnis erhärtet die Verdachtsdiagnose eines Morbus Hodgkin Lymphoms mit mediastinaler Tumormasse. Da Klinik A nicht über ausreichende strukturelle Möglichkeiten verfügt, überweist der behandelnde Arzt die Patientin zur weiteren Abklärung in die thorax-chirurgische Abteilung der Klinik B.

Statt der beauftragten diagnostischen Thorakotomie erfolgt dort eine vollständige Resektion des faustgroßen Mediastinaltumors – unter Inkaufnahme der Resektion des Nervus phrenicus, des Nervus laryngeus recurrens, eines Teils des Herzbeutels sowie des linken Lungenoberlappens. Der Eingriff wird vorgenommen, ohne dass im Vorfeld eine weitere Ausbreitungsdiagnostik erfolgte und ohne dass ein weiterer Spezialist konsultiert wurde.

Nach der Operation tritt im linken Arm der Patientin eine Thrombose auf. Des Weiteren entwickelt sich eine Stimmbandlähmung. Zudem leidet die Klägerin postoperativ unter einer chronischen Bronchitis sowie einem Pilzbefall, der sich über große Teile des Oberkörpers erstreckt.

Rechtsstreit

Im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens bei der Gutachterkommission der Ärztekammer kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die Operation unnötig gewesen sei und die daraus resultierenden Beschwerden der Klägerin – eine Verminderung der Lungenfunktion, eine vermehrte Infektionsneigung und eine Stimmbandverletzung – somit vermeidbar gewesen wären.

Die Patientin verklagt daraufhin das Krankenhaus B. Auch der vom Gericht bestellte Sachverständige kommt zu dem Schluss, dass es keine medizinische Indikation für die Operation gegeben habe. Zudem sei der Eingriff insgesamt fehlerhaft verlaufen. Ein Hodgkin Lymphom sei in 80 % der Fälle durch Chemotherapie heilbar. Das gewählte Operationsverfahren sei in derartigen Fällen in keiner Weise gerechtfertigt. Chirurgische Eingriffe hätten bei diesem Krankheitsbild keine Aussicht auf Heilungserfolg.

Urteil

Die Richter werten das Vorgehen des Operateurs, der bei der Verdachtsdiagnose Morbus Hodgkin statt der gebotenen kombinierten Chemo- und Strahlentherapie eine maximalinvasive Operation vornahm, als groben Behandlungsfehler. Der Patientin wird neben einem Schmerzensgeld in Höhe von 60.000 Euro der Ersatz aller zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden zugesprochen, welche auf die fehlerhafte Operation zurückzuführen sind.

Der Fall wirft die Frage auf, ob Patientinnen und Patienten heute, vor dem Hintergrund des modernen, multidisziplinären Behandlungsansatzes, vor derartigen Fehlbehandlungen geschützt sind.

Aspekte zu multidisziplinären Tumorkonferenzen

In der onkologischen Behandlung wird die multidisziplinäre Zusammenarbeit, besonders in den vergangenen Jahren, systematisch vorangetrieben. Zertifizierungsverfahren (OnkoZert) unterstützen das Bestreben, die Behandlungsweise zu strukturieren und zu kontrollieren.

Fachverbände und Ärztevertreter befürworten diese Entwicklung. Man geht davon aus, dass dieses Verfahren der multidisziplinären Entscheidungsfindung zu einer gezielteren Patientenversorgung führt und das Risiko einer Fehlbehandlung verringert.

Die European Partnership Action Against Cancer Consensus Group hat hierzu zum Jahresbeginn ein Statement veröffentlicht. In dem heißt es, dass der Förderung der Arbeit in multidisziplinären Teams ethische Priorität einzuräumen sei [1]. Borras et al. definieren in dieser Erklärung multidisziplinäre Teams als „Allianz“ von Medizinern und anderen, am onkologischen Behandlungsprozess beteiligten Mitarbeitenden. Der Behandlungsansatz dieser Allianzen ist auf evidenzbasierte Entscheidungen und auf eine koordinierte Patientenversorgung während des gesamten Behandlungsverlaufs ausgerichtet. Dabei werden die Patientinnen und Patienten fortlaufend ermutigt, eine aktive Rolle bei ihrer Behandlung einzunehmen.

Die Autoren postulieren, dass es einen deutlichen Wandel zu verzeichnen gebe, weg von der pathologiegesteuerten Behandlung, hin zu einer Versorgung, welche die zu behandelnden Personen in den Mittelpunkt stelle. Therapieentscheidungen würden zunehmend unter Heranziehung zusätzlicher Daten getroffen. So würden etwa die psychosoziale Situation, die vorhersehbare Lebensqualität, die vorhandenen Begleiterkrankungen oder auch die Erwartungshaltung der Erkrankten berücksichtigt. Dieser Behandlungsansatz basiert auf einem Patient-Arzt-Verhältnis, bei dem Ersterem die Rolle eines kompetenten und eigenverantwortlichen Partners zuteilwird [2].

Dass die multidisziplinäre Teamarbeit von vielen Akteuren in der (onkologischen) Chirurgie befürwortet wird, heißt nicht, dass man die propagierte Arbeitsweise nicht kritisch hinterfragen darf. Immerhin erfordert ein solches Zusammenspiel der Handelnden einen hohen organisatorischen Aufwand, ist zeitintensiv und bindet Ressourcen, wird doch der Fortgang der individuellen Behandlungspläne nach den Agenden der Teams ausgerichtet.

Keating et al. etwa konnten bei ihren Untersuchungen im Jahr 2013 keinen positiven Einfluss von Tumorkonferenzen auf die Behandlungsqualität und das Resultat von Tumorbehandlungen nachweisen [3]. Die Autoren hatten die Daten von 138 medizinischen Zentren der Veterans Affairs analysiert, die im Zeitraum von 2001 bis 2004 an der Behandlung von Tumoren (hämatologische Tumore sowie Tumore im Kolorektalbereich und im Bereich von Brust, Lunge und Prostata) beteiligt waren. In ihrer Veröffentlichung von 2013 erwähnen Keating et al. u.a. eine US-amerikanische, nationale Studie, laut derer in den 1990er Jahren bereits in 1.700 US-Krankenhäusern Tumorkonferenzen etabliert waren [4]. Gemäß dieser Studie wurden monatlich mehr als 50 Arztstunden der Teilnahme an Tumorkonferenzen zugeschrieben.

Obwohl sie keine eindeutige Korrelation der Konferenzen zum Behandlungsergebnis nachweisen konnten, räumen die Autoren ein, dass die Aussagekraft ihrer Studie beschränkt sei, da keine Aussagen zur Arbeitsweise der Tumorkonferenzen – weder zur Struktur noch zur Häufigkeit der Treffen – gemacht werden konnten. Die Autoren konstatieren daher, dass Tumorkonferenzen nur so gut oder so schlecht arbeiteten, wie die strukturellen und funktionellen Gegebenheiten dies erlaubten.

Shah et al. präsentierten 2013 auf der Jahrestagung der Amerikanischen Gesellschaft der Gastroenterologen die Ergebnisse einer Meta-Analyse zur Effektivität von Tumorkonferenzen [5]. Die verfügbare Literatur weist hierzu aus, dass Tumorkonferenzen häufig nicht wöchentlich stattfänden und dass zentrale Entscheidungsträger oft nicht an den Besprechungen teilnähmen.

Nichtsdestoweniger beurteilten die ärztlichen Mitarbeitenden der Chirurgie die Arbeit in multidisziplinären Tumorkonferenzen im Allgemeinen als nützlich. Die Therapieentscheidung würde damit zunehmend mit geeigneter Bildgebung und pathologischen Befunden untermauert und orientiere sich an den aktuellen klinischen Empfehlungen und Richtlinien.

Die Autoren der Meta-Analyse weisen zudem darauf hin, dass die Arbeit in Tumorkonferenzen mit einem verbesserten MRI/TRUS-Einsatz zum lokalen Staging in Korrelation steht. Zusätzlich wurden ähnliche Zusammenhänge gesehen bezüglich der Reduktion von positiven Resektionsrändern und einer verbesserten Überlebensrate (plus drei Jahre).

Van Hagen et al. berichteten 2013 über die Resultate einer prospektiv durchgeführten Studie, die gezeigt hatte, dass ein Drittel der Behandlungspläne von Patientinnen und Patienten mit Tumoren des oberen Gastrointestinaltrakts nach der Tumorkonferenz geändert wurde. In den meisten Fällen wurde die Art der Behandlung abgeändert [6]. Die Anpassungen erfolgten in der Regel aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse, zusätzlicher klinischer Daten oder korrigierter Befunderhebung. In 6,4 % der Fälle wurde die Behandlungsintention (kurativ versus palliativ) revidiert. Tumorkonferenzen boten die Gelegenheit, aktuelles Wissen zu kommunizieren und zu vernetzen.

Sarff et al. untersuchten bereits 2008 den Nutzen von multidisziplinären Tumorkonferenzen für die Weiterbildung der Teilnehmenden [7]. In der vorliegenden Untersuchung wird die Teilnahme an sich nicht in Frage gestellt, der edukative Nutzen konnte jedoch aufgrund der begrenzten Antwortrate nicht ermittelt werden. Die Autoren empfehlen eine regelmäßige und systematische Evaluation der Sitzungen durch die Teilnehmenden.

Simcock berechnete die Kosten für 1.315 Behandlungspläne bei Mammakarzinomen am Brighton and Sussex University Hospital. Die Pläne korrelierten mit 2.343 Tumorkonferenzen. Der Autor beziffert den finanziellen Aufwand mit £ 87,41 pro Behandlungsplan bei einem Gesamtvolumen von £ 114.948 pro Jahr [8]. Diese Beträge seien, so Simcock, weitgehend deckungsgleich mit dem Referenzbetrag des National Health Service‘ (NHS) von £ 85,62.

Jalil et al. gingen der Frage nach, wieso Tumorkonferenzempfehlungen im Beobachtungszeitraum nur partiell umsetzt wurden [9]. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen fassten sie in einer Veröffentlichung von 2013 zusammen: Am häufigsten als Gründe für die Nichtumsetzung wurden genannt: zu wenig Information über das Krankheitsbild, (neue) Beurteilung auf Basis von Bildmaterial und pathologischen Befunden, fehlende Berücksichtigung von Patientenwünschen, Entscheidung in Abwesenheit des hauptverantwortlichen Therapeuten sowie Zeitdruck.

In der anschließenden Publikation aus 2014 gaben Jalil et al. Behandelnden ein Assessmentinstrument an die Hand mit Empfehlungen, die helfen sollen, die Qualität von Tumorkonferenzen zu evaluieren, da die Verbesserung der Tumorkonferenzen letztlich auch zu einer verbesserten Behandlungsqualität für Tumorpatienten führe [10]. Die Autoren wiesen explizit darauf hin, dass das Instrument nicht geeignet sei, die Leistung von einzelnen Teammitgliedern zu beurteilen, sondern vielmehr die Leistung des Gesamtteams.

Als Gründe für eine suboptimale Leistung von multidisziplinären Teams und für ein erhöhtes Fehlentscheidungsrisiko nennen die Autoren Mängel in der Teamkommunikation, Koordinationsprobleme und Führungsschwächen.

Als zentrales Ergebnis der Studie konnte der Anteil der vertagten Entscheidungen über einen Behandlungsplan von 20 % auf 7 % reduziert werden. Dabei lassen die Autoren allerdings nicht unerwähnt, dass dieses Resultat bis zu einem gewissen Grad dem Hawthorne-Effekt – dem bekannten Phänomen, dass Studienteilnehmende im Wissen um ihre Teilnahme ihr übliches Verhalten ändern – geschuldet sein könnte.

Fazit

Vor dem Hintergrund der weithin diskutierten und vielerorts bereits etablierten multidisziplinären Tumorkonferenzen bleibt die Eingangsfrage zu klären, ob Patientinnen und Patienten nach den heutigen Vorgaben vor einer Situation, wie im oben vorgestellten Fall beschrieben, verschont bleiben würden. Eine eindeutige Antwort darauf gibt es, wie so oft, nicht, ein klares „Jein“ also.

Theoretisch steht es Ärzten nach wie vor frei, eine Behandlung in einer ähnlichen Situation wie der genannten eigenverantwortlich vorzunehmen, also ohne weitere Spezialisten hinzuzuziehen.

Chirurgen, die sich langfristig in ihrem Umfeld bewähren müssen, werden sich den installierten Standards jedoch immer weniger entziehen können. Ist bei einem Patienten oder einer Patientin die Indikation zu einer Tumoroperation gegeben – ein solcher Eingriff ist oftmals mit weitreichenden postoperativen Einschränkungen für den oder die Betroffene verbunden –, wird vielen Ärzten daher daran gelegen sein, sich durch eine multidisziplinäre Entscheidung abzusichern.

Die Haftung für den Eingriff liegt weiterhin in den Händen der behandelnden Operateure. Die Entscheidung des multidisziplinären Teams zur Operation entbindet den verantwortlichen Operateur nicht von der Pflicht, das angestrebte Behandlungsergebnis den vorhandenen Ressourcen und Möglichkeiten gegenüberzustellen. Unter Einbeziehungen aller bekannten Parameter schließlich hat der Operateur abzuwägen, ob eine Operation dem aktuellen Standard entsprechend in der eigenen Abteilung durchgeführt werden kann/soll, oder ob die zu behandelnde Person an ein spezifisch ausgerichtetes Fachzentrum zu überweisen ist.

Um den größtmöglichen Nutzen aus einer multidisziplinären Tumorkonferenz zu ziehen, empfehlen die Autoren der zitierten Studien, die Vorbereitung und Durchführung der Besprechungen streng zu systematisieren.

Aktuelle Publikationen beleuchten die Frage der Effizienz und Effektivität. Dies bedeutet, dass im Rahmen der Tumorkonferenz zusätzlich eingesetzte Ressourcen für das Behandlungsergebnis einen Mehrwert bieten müssen. Die neuere Literatur benennt die Stakeholder explizit, wobei den Patienten zunehmend die Partnerrolle zugesprochen wird. Die Behandlungsteams müssen also nicht nur effiziente Teamtreffen organisieren, sie haben auch eine weitere große Herausforderung zu meistern: die Patientenseite in der Partnerrolle zu akzeptieren und dafür zu sorgen, dass die Behandelten diese (neue) Rolle auch eigenverantwortlich einnehmen können.

Es ist davon auszugehen, dass der Patientin aus unserem Beispielfall, wäre ihr Fall auf einer multidisziplinären Tumorkonferenz präsentiert worden, die Beschwerden und Nachteile der Behandlung erspart geblieben wären.

Tumorzentren bieten onkologisch tätigen Chirurgen die Möglichkeit, sich als festes Mitglied einer Tumorkonferenz anzuschließen oder sich als Kooperationspartner für Rat und kollegialen Dialog an ein Tumorzentrum zu wenden. In Zukunft werden immer mehr Patientinnen und Patienten ihre Partnerrolle ernst nehmen und sich zunehmend trauen, das Angebot einer beratenden Zweitmeinung und des Dialogs anzunehmen.

Eine Konstellation wie im oben beschriebenen Fall ist natürlich nach wie vor weder theoretisch noch praktisch auszuschließen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich desgleichen wiederholt, dürfte sich dank des multidisziplinären Ansatzes aber künftig deutlich reduzieren.

Literatur

[1] Borras J:M: et al. (2014) Policy statement on multidisciplinary cancer care. European Journal of Cancer, 50: 475-480.

[2]Muir Gray J.A., Rutter H. (2002) The resourceful patient: 21st century healthcare. Oxford: eRosetta Press Ltd.

[3] Keating N.L., et al (2013) Tumor Boards and the Quality of Cancer Care. J Natl. Cancer Inst, 105:113-121

[4] Heson DE, et al (1990) Results of a national survey of characteristics of hospital tumor conferences. Surg Gynecol Obstet, 170(1):1-6

[5] Shah S. et al. (2013) Systmatic review and Meta-Analysis of the Effectiveness of Colorectal Caner Tumor Boards. SAGES Meeting 2013, S044, www.sages.org/meeting/annual-meeting/abstracts-archive/systematic-review-and-meta-analysis-of-the-effectiveness-of –colorectal-tumor-boards/; http://www.zoutube.com/watch?v=5dFELsJNVk8

[6] Hagen van P. et al. (2013) Impact of a multidisciplinary tumour board meeting for upper-GI malignancies on clnical decision making: a prospective cohort study. Int J Clin Oncol 18:214-219

[7] Sarff M et al (2008) Evaluation of the Tumor Board as a Continuing Medical Education (CME) Activity: Is it Useful? J Cancer Educ. 23:51-56

[8] Simcock R. (2012) Costs of multidisciplinary teams in cancer are small in relation to benefits. BMJ 344:e3700

[9] Jalil et al. (2013) Factors that can make an impact on decision-making and decision implementation in cancer multidisciplinary teams: An interviey studz oft he provider perspective. Internatl J Surgery 11:389-394

[10] Jalil et al (2014) Validation of Team Performance Assessment of Multidisciplinary Tumor Boards. J Urol 192:1-8 (in press: http://dx.doi.org/10.1016/j.juro.2014.03.002)

Hartmann M. E. / Behrens M. Safety Clip: Multidisziplinäres Konzept – Ein Muss in der Onkologie. Passion Chirurgie. 2014 September; 4(09): Artikel 03_02.

Safety Clip: Indikation zur Arthroskopie – Vom Schaden zur Prävention

Die ärztliche Behandlung ist stets auf Heilung ausgerichtet. Dieses Ziel wird jedoch nicht immer erreicht. Manchmal kommt es zu einer unerwünschten – mitunter vermeidbaren – Schädigung der behandelten Person. Die Gründe sind unterschiedlicher Natur. Umso wichtiger ist es, aus Situationen, die zu einem Patientenschaden geführt haben, Erkenntnisse zur Verbesserung der Behandlungsabläufe zu gewinnen, um Wiederholung derartiger Ereignisse zu vermeiden.

Die nachfolgend dargestellten Kasuistiken, die arthroskopische Operationen betreffen, zeigen Risiken, die vorab identifiziert werden müssen, um daraus klinische Präventionsmaßnahmen abzuleiten.

Fall 1:

Nach einem Arbeitsunfall stellt sich der 51-jährige Patient mit Schmerzen in der Schulter in der Notaufnahme vor. Mittels Röntgenuntersuchung wird eine Fraktur ausgeschlossen. Im weiteren Verlauf werden ein MRT und ein CT gefertigt. Aufgrund des Verdachts einer Bizeps-Sehnenruptur wird eine Arthroskopie der Schulter vorgenommen. Intraoperativ bestätigt sich der Verdacht jedoch nicht. Der Eingriff wird als explorative OP beendet.

Eine in der Folge vorgenommene Re-Arthroskopie bringt die Ruptur schließlich doch noch ans Licht. Der Patient beanstandet die zusätzliche OP und die Verzögerung des Heilungsverlaufs.

Im Verfahren vor der Schlichtungsstelle stellt der Gutachter fest, dass dieser Befund – Bizeps-Sehnenruptur – keine Indikation zur Operation darstelle. Der Fachmann beanstandet zudem, dass bei der ersten OP der Zugangsweg nicht korrekt gewählt worden sei, sodass die Ruptur intraoperativ nicht aufgefunden werden konnte.

Der Versicherer hat mittlerweile 17.000 € gezahlt.

Fall 2:

Aufgrund eines Sturzes aufs Knie ist bei dem 69-jährigen Patienten ein Hämarthros diagnostiert. Zudem weist das Knie eine Schürfwunde vom Vortag auf. Um einen – gegebenenfalls vorzufindenden – Kniebinnenschaden zu sanieren, erfolgt eine Kniegelenksspiegelung. In der Folge entwickelt sich eine Kniegelenksinfektion. Die Sepsis führt zu einem Multiorganversagen, an dem der Patient schließlich stirbt. Die Witwe verklagt das Krankenhaus.

Der Sachverständige kommt zu dem Schluss, dass die Arthroskopie nicht indiziert gewesen sei. Der blutige Erguss sei bereits unmittelbar nach dem Unfall andernorts abpunktiert worden. Neben seinem hohen Alter hätten zudem die Begleiterkrankungen des Patienten (Diabetes mellitus Typ II, arterielle Hypertonie, Adipositas) gegen eine OP gesprochen.

Zur Abklärung eines möglichen Kniebinnenschadens wären nach Ansicht des Sachverständigen nichtinvasive Maßnahmen (MRT) vorrangig gewesen.

Das Gericht bewertet deshalb den gesamten Verlauf als fehlerbedingt und verurteilt das Krankenhaus zur Zahlung von 65.000 €.

Fall 3:

Wegen anhaltender Schmerzen im linken Knie erfolgt bei dem 53-jährigen Patienten ein arthroskopischer Eingriff in Allgemeinanästhesie. Eine Knorpelglättung und eine Meniskusteilresektion werden vorgenommen. Vier Wochen später wird der Patient wegen akuten Leberversagens erneut stationär aufgenommen. Eine Autoimmunhepatitis I (ANA-positiv) wird diagnostiziert und in der Folge immunsuppressiv behandelt.

Im Verfahren vor der Gutachterkommission kommt der Sachverständige zu folgendem Ergebnis: Die präoperativen Laborwerte hätten stark erhöhte Leberenzymwerte gezeigt. Eine Leberzellerkrankung ungeklärter Ursache sei seit Jahren bekannt gewesen. Zudem hätten Ösophagusvarizen auf eine beginnende Leberzirrhose hingewiesen.

Diese Anzeichen eines sich anbahnenden Leberversagens seien, so der Sachverständige, bei Indikationsstellung zum elektiven Eingriff nicht hinreichend berücksichtigt worden. In jedem Fall hätten sie einer vorherigen internistischen Abklärung bedurft, sodass die Arthroskopie – zumindest zu diesem Zeitpunkt – nicht indiziert gewesen sei.

„Primum non nocere“: Aktiv Schäden abwenden

Den gebetsmühlenartig zitierten Grundsatz „primum non nocere“ übersetzen wir in der Regel mit den Worten „zuallererst einmal nicht schaden“. Ist dieser Satz zu verstehen im Sinne von: Kann man Schaden von einer Person durch Nicht-Tun abwenden?

Eine Person kommt zur ärztlichen Konsultation und klagt über chronische Schmerzen im Knie (Fall 3) oder Schmerzen im Bereich des Schultergelenks nach einem Arbeitsunfall (Fall 1) oder Schmerzen im Knie nach einem Sturz (Fall 2). Die erkrankte Person betritt das Behandlungszimmer mit der eindeutigen Erwartung, auf irgendeine Weise vom Schmerz befreit zu werden oder doch wenigstens Linderung zu erlangen.

Da der tägliche Auftrag an den Behandelnden lautet, Patientinnen und Patienten von ihrem Leiden zu befreien, erscheint der Ansatz des Nicht-Tuns wenig zielführend.

Prävention bedeutet, aktiv Maßnahmen zu ergreifen, um schädliche Einflüsse zu vermeiden oder die Verschlechterung einer Situation zu verhindern. Das Postulat „primum non nocere“ wäre dann dahingehend zu interpretieren, dass etwas zu tun sei, damit kein Schaden einträte.

Prävention: die Indikation auf eine breite Informationsbasis stellen

Die drei geschilderten Fälle unterscheiden sich in der Ätiologie, im Verlauf und im Resultat. Die gemeinsame Komponente besteht in der gutachterlichen Einschätzung, dass die Eingriffe jeweils nicht nichtindiziert waren. Mehr noch: In allen drei Fällen urteilen die Sachverständigen, dass die Indikationstellung zur Arthroskopie in ursächlichem Zusammenhang zu dem nachfolgenden negativen Verlauf der Erkrankung stehe.

Wären die Schäden vermeidbar gewesen?

Betrachtet man alle drei Fälle in der Rückschau unter Präventionsaspekten, wird klar, dass eine sorgfältige Berücksichtigung der jeweils relevanten Parameter die Indikationsstellung bereits im Vorfeld als falsch entlarvt hätte. Mit anderen Worten: Die Indikationen für die Durchführung einer Arthroskopie hätten sich bei kritischem Hinterfragen bereits vor den Eingriffen als Fehlentscheidungen herausgestellt.

Fall 1 – Rückschau und Prävention:

In Fall 1 bewertet der Gutachter die Art des Eingriffs als nicht zielführend, da anderweitige diagnostische Verfahren zur Verfügung gestanden hätten, mit denen die Arbeitsdiagnose „Bizepssehnenruptur“ auf nicht invasivem Wege bestätigt hätte werden können. Da der Operateur sich außerdem für einen Zugangsweg entschieden hat, der aufgrund der anatomischen Gegebenheiten nicht geeignet war, die Arbeitsdiagnose zu bestätigen, wird im konkreten Fall noch ein zweites Moment angeführt, das zur suboptimalen Versorgung des Patienten geführt habe.

Über das postoperative Ergebnis hinaus enthält Fall 1 eine weitere Komponente, die mit zu dem allgemein negativen Resultat beigetragen hat: Der Patient äußert sich unzufrieden über die Art und den Ablauf der Operation. Seine Erwartungen weichen vom tatsächlichen Ergebnis der Maßnahmen ab, obwohl Operateur und zuständiger Anästhesist im Vorfeld der OP mit ihm gesprochen hatten.

Die drei entscheidenden Faktoren, Pathologie, Patientenentscheidung und Therapiemöglichkeiten, die zur Indikationsstellung beitragen (siehe Grafik), hat das betroffene Team vorliegend nicht vollständig abgeklärt. Dennoch wurde operiert. Im Sinne eines aktiven Nicht-Schädigens hätte das Team den pathologischen Befund bei etwaigen Widersprüchen der bildgebenden Diagnostik (MR, klinischer Befund und CT) eher mit der Wiederholung der nichtinvasiven Befunderhebung klären müssen. Es besteht Konsens und Evidenz, dass explorativ durchgeführte Arthroskopien heute nur noch in wenigen Ausnahmefällen indiziert sind.

Abb. 1: Beeinflussende Faktoren der Indikationsstellung

OEBPS/images/03_04_A_11_2013_Ind-arth_image_01.jpg

Der Einsatz vorhandener Therapiemöglichkeiten wird heute nicht mehr nur am erzielten Ergebnis gemessen. Es muss vorab geklärt sein, ob die Therapie zielführend und nachweislich sinnvoll ist. Hierdurch ist die Behandlung letztlich zu rechtfertigen. Beides verneint der Gutachter in Fall 1. Weder die Exploration noch die chirurgische Intervention (Sehnennaht) hätten die Heilungschancen verbessert. Die Entscheidung des Patienten, eine Arthroskopie durchführen zu lassen, habe in erster Linie auf der Erwartung einer Schmerzreduktion basiert. Die Resultate indes, die durch eine arthroskopische Intervention bei chronisch vorgeschädigtem Gelenk erreicht werden können, würden diesen Erwartungen in keiner Weise gerecht.

Prävention heißt, dass Behandelnde sich fragen müssen: Ist der geplante Eingriff ergebnisorientiert und evidenzbasiert? Lautet die Antwort – wie hier – nein, sind alternative Wege zu beschreiten.

Fall 2 – Rückschau und Prävention:

Wenden wir ein solches Präventionsmodell auf Fall 2 an, wird deutlich, dass hier aufgrund der akuten Pathologie die Indikation zur Arthroskopie nicht gestellt werden konnte. Es bestand vorliegend keinerlei Dringlichkeit, im Gelenk eine Blutungsquelle zu identifizieren, da der blutige Gelenkerguss bereits vor der stationären Aufnahme punktiert worden war und sich kein neuer Erguss gebildet hatte. Die blutige Schürfwunde am betroffenen Knie findet bei der Indikationsstellung zur Arthroskopie keine Berücksichtigung.

Aus der Dokumentation geht hingegen hervor, dass das Gelenk 14 Tage nach der Aufnahme wegen neuer Flüssigkeitsansammlung zum dritten Mal punktiert worden ist. Dabei zeigten sich erste Symptome einer schweren Infektion. Im Verlauf des Klinikaufenthaltes wurde die Kniewunde des Patienten mit MRSA-positiven Keimen besiedelt. Das Knie musste wiederholt offen revidiert werden.

Die allgemeinen Komorbiditätsparameter (Diabetes, Hochdruck etc.) sind nach Ansicht des Sachverständigen bei der Indikationsstellung nur unvollständig berücksichtigt worden – obwohl bei beschriebener Konstellation begleitende Mykosen bzw. Dekubitalgeschwüre bei leicht irritabler Haut, keine ungewöhnlichen Komplikationen sind.

Im Gutachten wird konstatiert, dass der Patient starb, da vor der Indikationsstellung keine objektive Risiko-Nutzen-Analyse unter Berücksichtigung der beeinflussenden Faktoren erfolgt ist. Auch in Fall 2 entstand also dadurch Schaden, dass eine Aktion unterblieb, nämlich die präventive Berücksichtigung der wesentlichen Faktoren, die dem Krankheitsverlauf nach der Arthroskopie die entscheidende Richtung gaben.

Fall 3 – Rückschau und Prävention:

Dasselbe gilt für Fall 3. Auch hier hat die unzureichende Berücksichtigung der akuten und anamnestischen Daten – hier: die chronische Veränderung der Leberfunktion des Patienten – zu einem inadäquaten Krankheitsverlauf geführt. In diesem Verfahren wird im Übrigen hervorgehoben, dass das Team die Indikationsstellung zu verantworten hat: Der Chirurg stellt die Indikation zur Arthroskopie und dabei muss er zwingend die beeinflussenden Faktoren berücksichtigen, gleich dem Anästhesisten, der seinerseits die Indikationsstellung zur beatmeten Narkose zu verantworten hat. Auch er hat die Zeichen einer schweren Lebervorschädigung nicht adäquat in seine Entscheidung mit eingebaut.

Kann ein Präventionsmodel eine fehlerhafte Indikationsstellung verhindern?

Ein Modell wird helfen können, das Auftreten eines Fehlers weniger wahrscheinlich werden zu lassen. Der schematische Ansatz bietet eine Routine, eine Sortierhilfe an, um die richtige Indikation für eine ergebnisorientierte und evidenzbasierte Therapieform stellen zu können. Als Instrument kann die Form einer Checkliste von Nutzen sein (s. u.).

Ein solcher Präventionsansatz kann dazu beitragen, alle beeinflussenden Faktoren herauszufiltern und sie bei der Indikationsstellung systematisch zu berücksichtigen, um Kurzschlüsse in diesem Prozess zu vermeiden:

  1. Die akute Pathologie ist eindeutig geklärt.
    Die Diagnostik ist vollständig und liefert schlüssige Befunde.
  2. Die Anamnese ist erhoben.
    Klinische Parameter liegen vor und sind beurteilt.
    Komorbiditäten sind geklärt und berücksichtigt.
  3. Therapiemöglichkeiten sind ausgelotet (evidenzbasiert, zielführend).
    Ressourcen sind abgeklärt.
    Das Therapieziel ist formuliert.
  • Die Patientenentscheidung basiert auf realistischen Erwartungen und wesentlicher Information zur gewählten Therapieform sowie zu deren Alternativen.
  • Die Indikation zur Arthroskopie ist motiviert.
    Der Entschluss zum Eingriff ist, einschließlich der wichtigsten Teilschritte, vollständig dokumentiert.

Als Zusatznutzen wird die Standardisierung der Indikationsstellung eine Verbesserung bei der Validierung von Therapieformen mit sich bringen. Die Variabilität in der medizinischen Behandlung beruht auf der „Inhomogenität“ der behandelten Population, zum anderen aber auch auf der nicht immer standardisierten Entscheidung zur Therapie. Wird die hier beschriebene oder eine ähnliche Systematik zur Indikationsentscheidung genutzt, sollte dieses förderlich sein, Risikogruppen unter den Patientinnen und Patienten zu identifizieren. Die systematische Dokumentation der Indikationsstellung wird die Behandlungskontinuität, und damit die Patientensicherheit, gewährleisten.

Der Leitsatz „primum non nocere“ kann daher als eine „pro-aktive“ und schadenspräventive Indikationsstellung interpretiert werden. Die wesentlichen, den Krankheitsverlauf beeinflussenden Faktoren werden systematisch abgearbeitet, bevor der weitreichende nächste Schritt unternommen wird.

Das beschriebene Präventionsmodell hat nicht den Anspruch, ein „Allheilmittel“ gegen Fehlentscheidungen zu sein. Aber es kann helfen, sie zu reduzieren.

Interessante Literatur zum Thema

Bohensky, Megan A. et al.(2013). Adverse Outcome Associated With Elective Knee Arthroscopy: A Population-Based Cohort Study. Arthroscopy 29 (4) 716-725

Bohensky, Megan A. et al (2012). Trends in elective knee arthroscopies in a population-based cohort, 2000-2009. MJA 197 (7) 399-403

Schweizer, Marin et al. (2013). Effectiveness of a bundled intervention of decolonization and prophylaxis to decrease Gram positive surgical site infections after cardiac or orthopedic surgery: systematic review and meta-analysis. BMJ 346:f2743

Gurusamy, Kurinchi Selvan et al. (2013). Antibiotic prophylaxis for the prevention of methicillin-resistant Staphylococcus aureus (MRSA) related complications in surgical patients.

Cochrane Database of Systematic Reviews Issue 8 Art. No.: CD010268

Regauer, M.; Neu,J. (2012). Infektion nach arthroskopischer Kreuzbandersatzplastik: schwerer Behandlungsfehler? Unfallchirurg 115:844-847

Marmor, S. (2009). Joint infection after knee arthroscopy: Medicolegal aspects. Orthopaedics & Traumatology 95,278-283
Weiter- und Fortbildung

Hartmann M. / Jaklin J. Safety Clip: Indikation zur Arthroskopie – Vom Schaden zur Prävention. Passion Chirurgie. 2013 November; 3(11): Artikel 03_04.