Alle Artikel von Matthias Richter-Turtur

GIEESC (Global Initiative for Essential and Emergency Surgical Care)

Die Belastung durch chirurgische Erkrankungen lässt sich zwar weltweit schwer exakt bemessen. Chirurgie, so wurde inzwischen geschätzt, trägt weltweit zur Vermeidung von ca 11 % aller sogenannter Daly’s bei. Verletzungen durch Verkehrsunfälle stellen z. B. bei Männern jüngeren Alters zwischen 14 bis 44 Jahre die zweithöchste Todesursache nach HIV/AIDS dar (WHO 2011). Chirurgische Eingriffe sind auch unumgänglich und vielfach lebensrettend bei Verletzungen, akuten Baucherkrankungen, Tumoren, Missbildungen oder auch Katarakten. Verlässlichkeit der chirurgischen Versorgung ist dabei eine wichtige Voraussetzung für die Effektivität und Akzeptanz.

Für Frauen sind die häufigsten Todesursachen in armen Ländern schwangerschaftsbegleitende Komplikationen, die nur durch dringliche operative Eingriffe (Curettage, Kaiserschnitte etc.) lebensrettend behandelt werden können. Man geht davon aus, dass jährlich etwa 234 Millionen chirurgische Eingriffe durchgeführt werden (Weiser 2008). Die ungleiche Verteilung der Verfügbarkeit chirurgischer Versorgung führt aber dazu, dass für 70 % der Weltbevölkerung in den LMIC (Low and Middle Income Countries) nur weniger als 10 % aller operativen Eingriffe vorgenommen werden. Nach Schätzungen der WHO haben über zwei Milliarden Menschen auf unserem Globus keinen Zugang zu einer funktionierenden chirurgisch-operativen Versorgungsmöglichkeit. Dieser Mangel erstreckt sich in gleichem Maße auf die vorklinische Versorgung. Transport und Rettungssysteme für Verletze und Notfallerkrankte sind in ländlichen Regionen der Entwicklungsländer weitgehend inexistent (Jayaraman 2009). Entgegen früherer Behauptungen, dass Chirurgie teuer und ineffektiv sei, hat sich chirurgische Basisversorgung dabei als höchst kosteneffektiv erwiesen (Gosselin 2008, 2006).

Abb. 1: Blick in den “Kreissaal” einer Entbindungsstation im Norden Haiti’s

Viele kleine Krankenhäuser der ersten Grundversorgungsstufe in Entwicklungsländern verfügen nicht über das notwendige operativ ausgebildete Personal, das in der Lage wäre, die weite Bandbreite der Indikationen adäquat zu versorgen. Darüber hinaus erfordern die meisten chirurgischen Basisversorgungen, wie Frakturbehandlungen, Kaiserschnitte und Laparotomien bei akuten Baucherkrankungen, die Anwendung von grundlegenden Narkosetechniken, die nicht verfügbar sind. Nicht nur bei uns, sondern auch in vielen Entwicklungsländern fehlt es dabei auch an der adäquaten Ausbildung für die breit gefächerte Tätigkeit im Bereich der „Tropenchirurgie“ (Cotton 2010).

Abb. 2: unbrauchbares Narkosegerät im OP eines ghanaischen District Hospitals

Auch die technische Ausstattung der Versorgungskrankenhäuser weist schwerste Defizite auf, die eine ordnungsgemäße und verlässliche Versorgung verunmöglichen. Eine Untersuchung bei 132 Krankenhäusern der Grundversorgung in acht armen Ländern (LMIC) zeigte schwerwiegende Mängel in folgenden Bereichen der technischen Austattung: Verfügbarkeit von frischem Wasser (50 %), Elektrizität (36 %), Sauerstoff (21 %) und funktionsuntüchtige Narkosegeräte (32 %). In über 50 % der Einrichtungen erwies es sich als nicht möglich, lebenserhaltende chirurgische Notfalleingriffe wie das Anlegen einer Thoraxdrainage vorzunehmen und selbst eine ordnungsgemäße Behandlung von Frakturen zur Vermeidung lebenslanger Invalidität war fehlend. Dramatisch war damit auch der Mangel an Verfügbarkeit verlässlicher Möglichkeiten für die Durchführung von Kaiserschnitten.

Diese erschreckenden Defizite in der klinischen Grundversorgung sind offensichtlich eine der Hauptgründe für die bisher noch unbefriedigenden Erfolge in Hinblick auf das Verwirklichen der Milleniumsziele 4 und 5, also der Verminderung der Mutter- und Kind-Sterblichkeit und der Verbesserung ihrer Gesundheit. Allein in westafrikanischen Ländern wird über unverändert hohe jährliche Raten von 400 000 postpartialen Fistelbildungen, auch in Verbindung mit den daraus folgenden schweren psychosozialen Traumatisierungen, berichtet. Dieses schwerste geradezu epidemische Krankheitsbild ist ausschließlich eine Folge der mangelnden operativen Grundversorgung.

Unter Berücksichtigung dieser gravierenden Versorgungsdefizite in den LMIC’s wurde 2005 auf Initiative des Departments für Essential Health Technologies der WHO die GIEESC gegründet. Inzwischen verzeichnet diese Initiative 460 Mitglieder aus 73 WHO-Mitgliedstaaten.

Aufgabe der Initiative ist es, mit allen verfügbaren medizinischen, organisatorischen, personellen und politischen Mitteln auf eine Verbesserung der flächendeckenden chirurgisch-operativen Versorgung in den LMIC’s hinzuwirken (WHO 2011).

Inzwischen haben vier internationale Treffen in Genf, Ulan-Bator, Daressalam und zuletzt in San-Diego stattgefunden. Gastgebende Fakultät war die US San Diego Faculty (UCSD), die mit diesem Treffen ihr nagelneues Zentrum für Medical Education and Telemedicine einweihte. Die Haupt-Organisatoren Dr.Cherian von der WHO und Professor Bickler von der UCSD schlugen 10 Arbeitsgruppen zu folgenden Themen vor:

I           Organisation und Planung

II         Finanzierung und Sponsor-Mobilisierung

III        Erziehung und Ausbildung

IV        Chirurgische Erkrankungslast

V         Einsatzchirurgie und Partnerschaft

VI        GIEESC als Teil der Stärkung des Gesundheitssystems

VII       Forschung und Publikationen

VIII     Anästhesie und Stärkung des Gesundheitssystems

IX        Technologie und Technologietransfer

X         Aufklärung und Werbung

In vielen Mitgliedsländern wie Äthiopien, Tanzania, Ghana, Mongolia wurden inzwischen Trainingskurse durchgeführt, mit denen auch die von der WHO entwickelten elektronischen Tools für die weitere Didaktik im Bereich der angepassten chirurgisch operativen Methoden vorgestellt und eingeführt werden konnten. Diese von der WHO gratis zur Verfügung gestellten Lehrfilme umfassen inzwischen eine fast vollständige und anschauliche Darstellung der gesamten operativen Notfallmedizin und ermöglichen so eine ständig verfügbare Standardisierung der operativen Versorgungstechniken. Nachdem Laptops heute fast überall vorhanden sind, kann dieses Material gerade auch von weniger erfahrenen Operateuren zur bequemen Repetition in der Notfallversorgung peripherer Krankenhäuser abgerufen werden.

Neben der direkt klinischen Verbesserung einer angepassten chirurgischen Methodik verfolgt die GIEESC auch eine konkrete politische Zielsetzung: Die nachhaltige Verbesserung der peripheren klinischen Versorgungsstrukturen in den LMIC’s wird nur unter Steigerung des politischen Druckes Erfolg haben. Deswegen führt der Weg über die Verabschiedung einer entsprechenden Richtlinie für alle Mitgliederregierungen der WHO in der World Health Assembly (WHA). Dazu muss jedoch ein vollwertiges Mitglied, also ein Mitgliedstaat, zunächst den Antrag auf Befassung mit diesem Thema in der WHA stellen. Dies ist aus unterschiedlichen Gründen noch nicht geschehen. Die Länder des Nordens fühlen sich nicht zuständig oder sind – nach Angaben aus dem deutschen Gesundheitsministerium – heute vermehrt auf den Aufbau nachhaltiger Gesundheitsstrukturen fokussiert. Konkrete Verbesserungen klinischer Einrichtungen in Entwicklungsländern zählten dabei nicht zu den Themen auf dem Level der internationalen Strukturdiskussion. Es wird also noch ein Stück Überzeugungsarbeit auch in den eigenen Reihen zu leisten sein. Denn nur, wenn es zu einer Verabschiedung eines für alle Mitgliedsländer bindenden Maßnahmenkataloges kommen würde, wäre die Chance für eine nachhaltige Umsetzung gegeben.

Literatur:

Akram M et al 2007, Health Care services and government spending in Pakistan, In: PIDE working papers, Pakistan Institute of Development economies, Islamabad pp 14-15

Blanchard RJ et al, 1987, The epidemiology and spectrum of surgical care in district hospitals of Pakistan, Am J Public Health 77:1439-1445

Cotton MH, 2010, The Academic Discipline of Tropical Surgery, World J Surg 34:2269-2271

Debas H et al, 2006, Disease control priorities in developing countries, oxford univ.press

Ehrhardt S et al., 2012, Transfer of ecidence-based medical guidelines to low- and middle-income countries, Tropical medicine and International Health 17: 2, 144-146

Gabrysch S et al, 2012, Emergency obstetric care availability: a critical assessment of the current indicator, Topical Med. And Int.Health Vol 17: No 1: 2-8 Blackwell Publishing Ltd.

Gosselin RA et al, 2008, Cost-effectiveness of a district trauma hospital in Battambang, Cambodia, World J Surg 32: 2450-2453

Gosselin RA et al, 2006, Cost/DALY averted in a small hospital in Sierra Leone: what is the relative contribution of different services? World J Surg 30: 505-511

Laxminarayan R et al, 2008, Using evidence about “best buys” to advance global health, http://www.dcp2.org/file/161/dcpp-bestbuys-web.pdf2008

Maitland K et al, 2011, Mortality after fluid bolus in African children with severe infection, New England Journal of Medicine 364, 2483-2495

Mock C., 2009, Strengthening Prehospital Trauma Care in the Absence of Formal Emergency Medical Services, World J Surg 33:2510-2511

Notrica M R et al, Rwanda Surgical and Anaesthesia Infrastructure: A survey of District Hospitals, World J Surg (2011) 35:1770-1780

Weiser TG et al, 2008, An estimation of the global volume of surgery: a modeling strategy based on available data. Lancet 372:139-144

WHO Health statistics, http://www.who.int/research/op/

WHO, 2011,   Integrated Emergency and Essential Surgical Care in Low and Middle Income Countries WHO, EESC Concept Note

Jayaraman S et al, 2009, Current Patterns of Prehospital Trauma Care in Kampala, World J Surg 33:2512-2521

Zafar S N., 2011, Surgery, Public Health, and Pakistan in: World J Surg 35:2625-2634

Global Initiative for Emergency and Essential Surgical Care

Richter-Turtur M. GIEESC (Global Initiative for Essential and Emergency Surgical Care). Passion Chirurgie. 2012 April; 2(04): Artikel 02_06.

Leserbrief

Zum Artikel ‚Vom Leid der Zinseszins Geplagten’ von Prof. Dr. Hans-Peter Bruch, Präsident des BDC, in Passion Chirurgie 10/2011

Sehr geehrter Herr Kollege Bruch,

nach meinen besten Wünschen zum Neuen Jahr möchte ich Ihnen bestätigen, dass Sie mit Ihrem oben genannten Artikel  mir und sicher vielen anderen Kollegen aus der Seele gesprochen haben. Gestatten Sie, dass ich dazu noch ein paar Anmerkungen mache.

Ich stimme Ihnen voll zu, dass die Medizin-Ökonomen immer stärker in unsere Tätigkeit einwirken. Aus eigener, bitterer Erfahrung kann ich darüber hinaus berichten, einige dieser Leute zu einer schwersten existentiellen Bedrohung für uns werden können. Und dagegen müssen wir uns besser als bisher zur Wehr setzen.

Mein Krankenhaus (Kreisklinik Wolfratshausen) wurde Ende 2006 von einem sogenannten Effizienzberater auf Veranlassung des in der Geschäftssatzung allein entscheidungsberechtigten Geschäftsführers “begutachtet”. Der Mann (Peter Milde von PMP) behauptete in der Fernsehsendung “Hart aber Fair” seine Beratung führe in jedem Fall zu einer 30 % Effizienz- (sprich Erlös-) steigerung. Aus seiner völlig intransparenten und nicht nachvollziehbaren Begutachtung formulierte er Zielvorgaben für alle Chefärzte, die von vornherein nicht umsetzbar und völlig realitätsfremd waren. Durch die von Ihnen angesprochene Machtebene, auf der der Geschäftsführer gemeinsam mit dem “Gutachter” auch mühelos den medizinisch unbedarften kommunalen Aufsichtsrat einbeziehen konnte, wurden die von mir als ärztlichem Direktor geäußerten Bedenken vom Tisch gefegt. Das Ende vom Lied war meine fristlose Kündigung wegen betrieblichem Geheimnisverrat. Leider ist man in so einer Situation rettungslos verloren, denn der daraus folgende Arbeitsgerichtsprozess dauert ewig. In meinem Fall stellte das Gericht nach einem Jahr fest, dass die Kündigung zu Unrecht erfolgte. Das nützt dem Delinquenten aber nichts, da sie nach einem Jahr natürlich ihrem Arbeitsplatz entfremdet sind, inzwischen darauf spezialisierte Anwälte bereits neue Kündigungsgründe an den Haaren herbei gezogen haben und selbst wenn Sie endgültig den Prozess gewinnen sollten, dem “Auflösungsantrag” vom Gericht mit Verständnis zugestimmt wird, denn wer könnte einem Dienstherrn zumuten, einen Arbeitnehmer wieder an den Arbeitsplatz zurückkehren zu lassen mit dem er jahrelang vor Gericht gestritten hat.

“Mein” Effizienzberater entpuppte sich als regelrechter Betrüger und Hochstapler (das ist juristisch belegt!). Die späte Erkenntnis darüber half mir nichts, da kommunale Aufsichtsräte keineswegs einmal getroffene Entscheidungen rückgängig machen wollen, auch wenn man sie über den Tisch gezogen hat.

Warum berichte ich dieses? Weil ich glaube, dass wir in Zukunft öfters in solche Situationen geraten könnten und weil ich glaube, dass man daraus Einiges lernen muss:

Möglich war all dies leider nur, weil es keinerlei Solidarität unter meinen eigenen Chefarzt- und Oberarztkollegen gab. Wenn die Ärzteschaft es zulässt, sich von den Medizin-Ökonomen auseinander dividieren zu lassen, dann haben wir keine Chance. Als ärztlicher Direktor habe ich für und im Sinne der Ärzteschaft die Bedenken geäußert. Ich würde es als Aufgabe des Berufsverbandes sehen, allen Kollegen klar zu machen, wie wichtig es wäre, in solchen Situationen dem eigenen Vertreter den Rücken zu stärken, statt schweigend seiner beruflichen Existenzvernichtung zuzuschauen.

Vielleicht hatte ich das Pech, auf eine besonders ungünstige Konstellation zu treffen. Trotzdem hätte ich meinen Rauswurf niemals für möglich gehalten. Piloten haben für ihre Berufsgruppe erreicht, dass auch bei einer außerordentlichen Kündigung bis zum Zeitpunkt der endgültigen arbeitsrechtlichen Klärung das Gebot der Weiterbeschäftigung auf dem Wege einer einstweiligen Verfügung gilt. Dies wäre auch eine verdienstvolle Aufgabe unseres Berufsverbandes, den Arbeitsrechtlern klar zu machen, dass ein Chirurg auf die kontinuierliche Ausübung seines Berufes angewiesen ist. Er sollte genau wie die Piloten solange “fliegen” dürfen, bis die Sache rechtskräftig geklärt ist. Das würde auch die quälenden Verzögerungstaktiken vor Gericht sofort abstellen.

Und schließlich müssen wir die Nachvollziehbarkeit von medizin-ökonomischen Beratungen einfordern. Hierin haben Sie in Herrn Kapitza einen ausgezeichneten Partner gefunden. Er hat mich damals hervorragend beraten und kennt gewiss noch die damaligen Vorgänge. Leider konnte die Kraft seiner Argumente damals auch nichts gegen die Machenschaften der kommunalpolitischen Akteure ausrichten.

Ein kleiner, wirtschaftlich leider unwirksamer Trost für mich war damals, dass ich in den nachfolgenden bayerischen Kommunalwahlen zum Kreisrat gewählt wurde und nun unbequemer Weise im gleichen Gremium sitze, das mich vernichtet hat. Eine Konstellation, die manchen gar nicht schmeckt. Ich meine übrigens, dass wir uns als Mediziner auch in Hinblick auf die zunehmende Schieflage der Ökonomie und der von Ihnen zu recht beklagten Machtebenen in diese Gremien mehr als bisher einbringen sollten.

Mit besten kollegialen Grüßen

Ihr
Matthias Richter-Turtur

Vom Leid der Zinseszins Geplagten (Passion Chirurgie 10/2011)