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Bilderrätsel März 2025

WELCHER MEDIZINISCHE FACHBEGRIFF VERSTECKT SICH HINTER DIESEM BILD?

… HABEN SIE ES ERRATEN?

Schicken Sie Ihre Antwort unter dem Stichwort „Passion Chirurgie 03/QI/2025“ an bilderraetsel@bdc.de. Einsendeschluss ist der 01. Juni 2025. Die Auflösung dieses Rätsels finden Sie in der nächsten gedruckten Ausgabe im Sommer.

Unter allen richtigen Einsendungen der ersten drei Quartalsausgaben (QI, QII, QIII) verlosen wir Ende 2025 wieder ein Android-Tablet. Die Auslosung wird Anfang November stattfinden und der Gewinner in der Dezemberausgabe bekannt gegeben.

Teilnahmebedingungen: Jedes BDC-Mitglied darf mitmachen, ausgenommen sind BDC-Mitarbeiter und Mitarbeiter von schaefermueller publishing GmbH sowie deren Angehörige. Bei der Gewinnauslosung sind der Rechtsweg und Barauszahlung ausgeschlossen. Wer gewonnen hat, wird schriftlich benachrichtigt. Wir danken für die Teilnahme und wünschen viel Glück.

Chirurgie im Wandel: Für lebensfreundliche Arbeitsbedingungen

Ein Aufruf zur Veränderung

Die Arbeitsbedingungen in der Chirurgie unterliegen einem stetigen Wandel, der durch gesellschaftliche Entwicklungen und demografische Veränderungen geprägt ist. Um den aktuellen Herausforderungen zu begegnen, müssen alternative Beschäftigungsverhältnisse und lebensfreundliche Arbeitsbedingungen in den Fokus rücken. Die Ursachen für den Nachwuchsmangel in der Chirurgie sind vielfältig – dazu zählen Arbeitsverdichtung, ungünstige Arbeitszeiten und unzureichender Ausgleich für Bereitschaftsdienste. [3]

Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben

Die Diskussion um die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist zentral für die Anwerbung und Bindung junger Ärztinnen und Ärzte. Die anstehenden Herausforderungen erfordern, bestehende Modelle neu zu denken und die eigene Berufstätigkeit sowie die Aufgabenverteilung in der Partnerschaft neu zu interpretieren. So können wir der neuen Generation gerecht werden und die Attraktivität der chirurgischen Fächer steigern.

Die Möglichkeit während der Elternzeit in Teilzeit zu arbeiten, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Diese Regelungen in der medizinischen Realität umzusetzen, scheitert jedoch noch allzu oft an den festgefahrenen Strukturen in Kliniken. Das Fortbestehen der medizinischen Versorgung hängt jedoch davon ab, dass wir auch die Teilzeitkräfte erfolgreich in den Alltag integrieren und ein Arbeitsumfeld schaffen, das sowohl die Gesundheit als auch das Wohlbefinden unserer Ärztinnen und Ärzte fördert.

Bedürfnisse der neuen Generation

Die Generation der heutigen Mediziner hat andere Ansprüche an die Arbeitswelt als ihre Vorgänger. Viele junge Ärztinnen und Ärzte streben eine ausgewogene Work-Life-Balance an. Die unflexiblen Arbeitsbedingungen, die in vielen Kliniken herrschen, stehen im Widerspruch zu diesen Wünschen. Eine Veränderung der Arbeitskultur, die auf Flexibilität und Verständnis für private Belange setzt, ist notwendig, um die Attraktivität des Berufs zu erhöhen.

Ein weiteres Problem ist die ungleiche Verteilung der unbezahlten Sorgearbeit, die nach wie vor hauptsächlich von Frauen getragen wird. Um eine gerechte Aufteilung zu erreichen, müssen sowohl Männer als auch Frauen die Verantwortung für Haushalt und Erziehung gleichermaßen übernehmen.

10 geforderte Thesen der Sektion BerufsLEBEN des Jungen Forum O und U [adaptiert nach 1, 2]

  1. Elternzeit und Teilzeitarbeit sind für alle Arbeitnehmer selbstverständlich möglich.
  2. Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben erfordert das Einhalten von Arbeitszeiten und offene Kommunikation, auch für Vollzeitkräfte.
  3. Kliniken sollten Teilzeitkonzepte entwickeln, die klare Aufgabenverteilungen und Übergaben berücksichtigen.
  4. Teilzeitkräfte dürfen bezüglich Weiterbildung und Karrierechancen nicht benachteiligt werden und müssen operativ tätig sein können.
  5. Homeoffice-Möglichkeiten sind auszubauen.
  6. Die konsequente Umsetzung des Konsensuspapiers OPidS ist erforderlich.
  7. Während der Schwangerschaft muss eine Unterstützung des Teams für die Dienste gewährleistet sein.
  8. Temporär freiwerdende Stellen müssen umgehend durch neue Kolleginnen und Kollegen in Elternzeitvertretung nachbesetzt werden.
  9. Elternzeit kann für Fort- und Weiterbildung genutzt werden; das Fortbildungsbudget sollte auch dafür eingeplant werden.
  10. Klinikinterne Abläufe für den Wiedereinstieg nach und das Ausscheiden in die Elternzeit sollten entwickelt werden, um das Team zu entlasten.

Teilzeitmodelle als Lösung?

Im Fach Chirurgie stehen Fachkräfte vor besonderen Herausforderungen, die den Arbeitsalltag oft unvorhersehbar und belastend gestalten. Der oft schlecht planbare Verlauf eines OP-Tages, die Notwendigkeit, auf akute Notfälle schnell zu reagieren und die Unmöglichkeit, einfach „den Haken fallen zu lassen“, wenn die Arbeit nicht erledigt ist, erfordern ein hohes Maß an Flexibilität und Engagement.

Um den Herausforderungen zu begegnen können verschiedene Teilzeitmodelle in Betracht gezogen werden. Das klassische Teilzeitmodell mit täglicher Stundenreduzierung bietet eine einfache Handhabung, stößt jedoch in der Praxis häufig an Grenzen. Die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle, die sowohl an den realistischen Arbeitsalltag als auch an die Bedürfnisse der Mitarbeitenden angepasst sind, können die Situation verbessern vgl. Tabelle 1. Essenziell ist, dass Teilzeitkräfte keine Benachteiligung erfahren, insbesondere in Bezug auf Weiterbildung und Karrierechancen. Ein weiteres Modell verteilt die wöchentliche Arbeitszeit auf variable Tage, was den Beschäftigten mehr Freiraum gibt. Auch innovative Ansätze wie Jobsharing und Teamarbeit könnten dazu beitragen, die Arbeitslast besser zu verteilen und gleichzeitig die Teamdynamik zu stärken vgl. Tabelle 1.

Tab. 1: Übersicht verschiedener Teilzeitmodelle, zur Verfügung gestellt von Dr. Lisa Rosch – AN: Arbeitnehmer; AG: Arbeitgeber, publiziert in [4]

Teilzeitmodell

Beschreibung

Pro

Contra

Classic

Das klassische Modell mit täglicher Stundenreduzierung.

regelmäßige Arbeitszeit, planbar für AG und AN

keine Dienste möglich, kaum OP-Tage

Classic Vario

Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 2 bis 5 Tage mit Variation der wöchentlichen oder monatlichen Stundenzahl.

hohe Flexibilität für AN und AG

begrenzte Integration in das Dienstsystem, wenig OP-Tage

Jobsharing

Zwei AN teilen sich eigenverantwortlich eine Stelle. Dies ist besonders für Führungskräfte geeignet.

hohe Flexibilität für AN

Vertrauensverhältnis nötig

Team

Es wird nur vorgegeben, wie viele Mitarbeiter anwesend sein müssen, die Arbeitszeiten werden im Team abgestimmt.

sehr hohe Flexibilität, kann bei klaren Vorgaben zu hoher Zufriedenheit der AN führen

Schnittstellenprobleme

Invest

Man arbeitet in Vollzeit und füllt sich damit ein Guthaben-Zeitkonto, um ein Sabbatical herauszuarbeiten.

ermöglicht längere Auszeit/Sabbatical bei verlässlicher Bezahlung

Umsetzung für AG im Stellenschlüssel schwierig

Ein „Vorleben“ von Teilzeitmodellen, insbesondere durch weibliche Vorbilder in Führungspositionen, kann dazu beitragen, dass mehr junge Ärztinnen und Ärzte den Schritt in eine familienfreundliche Arbeitswelt wagen. Die positive Erfahrung, Beruf und Privatleben erfolgreich zu verbinden, wird nicht nur die Zufriedenheit der Mitarbeitenden erhöhen, sondern auch die Bindung an den Standort stärken.

Ausblick

Die Veränderungen der Arbeitsbedingungen sind nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Chance für die chirurgische Disziplin, sich neu zu positionieren.

Es ist wichtig, den Kolleginnen und Kollegen zu vermitteln, dass die Einstellung von Teilzeitkräften nicht als Bedrohung für die Vollzeitkräfte betrachtet werden sollte, sondern vielmehr als Chance, offene Stellen zu besetzen und die Arbeitslast zu verteilen. Angesichts des massiven Chirurgenmangels ist es entscheidend, dass wir Teilzeitkräfte nicht als Konkurrenz sehen, die Vollzeitstellen blockieren, sondern als notwendige Ergänzung, um die bestehende Versorgung sicherzustellen. Oftmals sind Stellen unbesetzt, und die Realität ist, dass eine 100%-Kraft nicht alle Aufgaben allein bewältigen kann.

Die Perspektive zu ändern und die Akzeptanz für Teilzeitarbeit zu fördern, ist von zentraler Bedeutung. Diese Veränderung erfordert einen kulturellen Wandel innerhalb der chirurgischen Gemeinschaft, in dem die Vorteile von Teilzeitmodellen und die Notwendigkeit, Personal angemessen zu planen, erkannt und geschätzt werden. Nur so können wir eine zukunftsfähige und nachhaltige Arbeitsumgebung schaffen, die den Herausforderungen der Chirurgie gerecht wird. Arbeitgeber sollten nicht nur den gesetzlichen Anforderungen nachkommen, sondern auch aktiv an der Schaffung lebensfreundlicher Arbeitsbedingungen arbeiten. Dass nachhaltige Qualität in der Patientenversorgung und eine gesunde Wirtschaftlichkeit nicht durch Überlastung und Ausbeutung erreicht werden können, versteht sich von selbst.

Die Chirurgie ist eine facettenreiche Welt, die es verdient, dass wir die Ressourcen und das Potenzial unserer Ärztinnen und Ärzte optimal nutzen – indem wir sie von zeitaufwändigen administrativen Aufgaben und überbordenden Überstunden entlasten und ihnen die Möglichkeit geben, sich auf ihre wesentlichen Aufgaben zu konzentrieren, um letztlich die Vereinbarkeit von Beruf, Privatleben und Familie zu fördern.

Literatur

[1]   Samland M, Rosch L, Hofmann A, Rommelfanger G, Grimaldi G. Sektion Familie und Beruf: Das System läuft nicht rund. 10 provokante Thesen. Z Orthop Unfall. 2021 Jun;159(3):249-251
[2]   Rommelfanger G, Samland M, Hofmann A. Es gibt auch noch ein Leben neben dem Beruf. Aus der JFOU-Sektion „Familie und Beruf“ wurde „BerufsLEBEN“. Orth Unfallchir 2023; 13 (2). 19-21.
[3]   Rommelfanger G, Samland M. Gute Chirurginnen und Chirurgen brauchen einen „Ausgleich“. Die Unfallchirurgie / Ausgabe 4/2023. DOI: doi.org/10.1007/s00113-022-01273-x.
[4]   Samland M, Hofmann A. Arbeitszeitmodelle – ein Wunschkonzert? Ärzteblatt Sachsen, Heft 11/2022, S. 16-19. Herausgeber: Sächsische Landesärztekammer.

Weiterführende Literatur

  • Samland M; Junges Forum O und U. Spezialisiert in der Unfallchirurgie – kein einfacher Weg. Unfallchirurgie (Heidelb). 2024 Dec 9. German. doi: 10.1007/s00113-024-01509-y.
  • Rommelfanger G, Hofmann A, Rosch L, Samland M. Was Familienplanung bedeutet. Checkliste Elternzeit in O und U. Orth Unfallchir 2024; 14 (1), S.38-39. doi: https://doi.org/10.1007/s41785-023-4313-1.
  • Hofmann A, Samland M, Rosch L, Rommelfanger G. Quo vadis: New Work, Elternzeit, Wiedereinstieg und Teilzeit – Ergebnisse der Jahresumfrage des Jungen Forums O und U 2022. Z Orthop Unfall. 2023 Dec;161(6):599-602. German. doi: 10.1055/a-2151-7733.
  • Samland M. Zeit für das Wesentliche. Checkliste für Teilzeitarbeitsmodelle. Orth Unfallchir 2023; 13 (5). S. 45-47. doi: https://doi.org/10.1007/s41785-023-3927-7.
  • Rosch L, Rommelfanger G, Samland M, Hofmann A. Mit Struktur und Gelassenheit die Schwangerschaft planen. Neu veröffentlichte Checkliste der Sektion BerufsLEBEN des JFOU. Orth Unfallchir 2023; 13 (6). S. 42-43. doi: https://doi.org/10.1007/s41785-023-3981-1.
  • Samland M. Mitarbeitergewinnung, Mitarbeiterpflege und Mitarbeiterbindung: ein Appell. Z Orthop Unfall. 2022 Dec;160(6):616-617. German. doi: 10.1055/a-1483-0132.
  • Herbolzheimer M, Samland M, Hättich A. https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/a-1959-7378 Homeoffice in O und U – ein Versuch wert. Z Orthop Unfall. 2023 Feb;161(1):14-15. German. DOI: 10.1055/a-1959-7378.

Dr. med. Marie Samland

Ärztin in Weiterbildung

Orthopädie und Unfallchirurgie

Stellv. Landesvorsitzende BVOU und BDC|Berlin

Leitung Öffentlichkeitsarbeit Junges Forum O und U

jf@marsam.de

Chirurgie

Samland M: Chirurgie im Wandel: Für lebensfreundliche Arbeitsbedingungen. Passion Chirurgie. 2025 März; 15(03/QI): Artikel 03_01.

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CME: Neues aus der aktualisierten S3-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit

Erweitern Sie Ihre CME-Punkte, indem Sie nach dem Lesen des Artikels die Fragen dazu auf der BDC|eAkademie beantworten!

Der Artikel „S3-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit“ ist für BDC-Mitglieder drei Monate kostenlos in ihr Konto gebucht! Loggen Sie sich auf www.bdc-eakademie.de ein: Einfach starten!

Die periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) ist eine häufige Erkrankung, die mit einer signifikanten Morbidität und Mortalität einhergeht. Sie betrifft ca. 237 Millionen Menschen weltweit und jeden vierten Einwohner zwischen 45 und 74 Jahren in Deutschland [1-3]. Das Vorliegen dieser Marker-Erkrankung ist eng mit zahlreichen kardiovaskulären Risikofaktoren verbunden. In den letzten Jahren hat sich das Verständnis der Erkrankung sowie der diagnostischen und therapeutischen Ansätze erheblich weiterentwickelt. Zwischen 2019 und 2024 sind ca. zehn internationale Praxisleitlinien unterschiedlicher Fachgesellschaften veröffentlicht worden. Die in diesem Jahr aktualisierte Version der interdisziplinären S3-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge der pAVK spiegelt diese Fortschritte wider und bietet evidenzbasierte Empfehlungen für die klinische Praxis in Deutschland. Sie wurde in interdisziplinärer Zusammenarbeit aller beteiligten Fachdisziplinen entworfen und im September 2024 final veröffentlicht [4]. Erstmals sind der Leitlinie Schlüsselfragen vorangestellt, die den inhaltlichen Fokus der Literaturrecherche und des Leitlinienupdates darstellen.

Dieser Übersichtsartikel beleuchtet die wesentlichen Änderungen und Neuerungen der Leitlinie und analysiert deren klinische Relevanz für die Versorgung von Patienten mit pAVK in Deutschland. Ziel ist es, ein vertieftes Verständnis der aktuellen Standards zu vermitteln und die Implementierung dieser Leitlinien in die tägliche Praxis zu fördern.

Diagnostik

Das aktualisierte Kapitel zur Diagnose der pAVK legt größeren Wert auf die Spezifizierung der chronischen extremitätengefährdenden (kritischen) Durchblutungsstörung mit dem Ziel, sich stärker auf das Amputationsrisiko zu konzentrieren und dieses möglicherweise abwendbare Ergebnis zu vermeiden. Zu diesem Zweck wurde der Begriff „chronic limb-threatening ischemia“ (CLTI) anstelle des weniger spezifischen und teilweise irreführenden Begriffs „critical limb ischemia“ (CLI) an die internationale Terminologie angepasst. Hierdurch kann der spezifische Verlauf und die Pathogenese der CLTI im Gegensatz zur akuten Extremitätenischämie besser abgegrenzt werden. Sobald der Verdacht auf eine CLTI besteht, sollte eine weiterführende stufenweise Gefäßdiagnostik eingeleitet werden, um die Festlegung des weiteren Vorgehens zu unterstützen. In diesem Zusammenhang hat sich seit mehreren Jahren auch der „Wound, Ischemia, and Foot Infection“ (WIfI) Score etabliert, der neben der Beurteilung der Wunde auch funktionelle Parameter wie Knöchel-Brachial-Index (ABI), Zehen-Brachial-Index (TBI) und transkutanen Sauerstoffpartialdruck (tcPO2) berücksichtigt und somit eine Hilfestellung für die Indikationsstellung als auch eine Prognose für das Amputationsrisiko liefert.

Ein Überblick über den in der Leitlinie empfohlenen Algorithmus zum diagnostischen Vorgehen wird in Abbildung 1 gegeben.

Konservative Therapie

Aufgrund der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft (demografische Entwicklung) und der Zunahme der Prävalenz anerkannter Risikofaktoren wie Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, Übergewicht und Dyslipidämie ist in den nächsten Jahren mit einem weiteren Anstieg der Prävalenz der pAVK zu rechnen [5]. Es gilt außerdem als anerkannt, dass ca. 7 % der asymptomatischen Betroffenen innerhalb von fünf Jahren eine Claudicatio intermittens bzw. von diesen wiederum etwa 21 % eine CLTI entwickeln werden, was den potenziell progressiven Charakter dieser Erkrankung illustriert [6]. Nur durch ein konsequentes Management der etablierten Risikofaktoren und eine optimale Arzneimitteltherapie lässt sich diese Progression verlangsamen oder sogar aufhalten.

Die Säulen der Behandlung der pAVK sind die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des arteriellen Blutflusses zu den Extremitäten und die Behandlung der kardiovaskulären Risikofaktoren und Begleiterkrankungen. Zu diesem Zweck wird in erster Linie eine konservative Therapie eingesetzt, die alle invasiven Maßnahmen flankieren muss.

Abb. 1: Diagnostischer Algorithmus aus [4]

Die Basisbehandlung umfasst die Anleitung zu körperlicher Aktivität und systematischem Gehtraining, Gewichtsreduktion bei übergewichtigen Patienten, Rauchentwöhnung und die Behandlung von relevanten Komorbiditäten, wie arterielle Hypertonie, Dyslipidämie und Diabetes mellitus.

Aufgrund fehlender Informationen und daraus resultierenden Fehleinschätzungen wird die Adhärenz von Menschen mit pAVK oft als gering eingeschätzt. Dies macht die konservative Behandlung besonders schwierig, da erwartete positive Effekte (z. B. Erhöhung der Mobilität, Linderung von Schmerzen) nicht unmittelbar bzw. spürbar einsetzen. Das systematische Gefäßtraining als anerkannte Grundlage der Gefäßtherapie wird nur von etwa 10 % der Patienten regelmäßig und effektiv durchgeführt [7]. Eine begleitete Rauchentwöhnungsmaßnahme wird nur in ca. 30 % der Fälle angeboten bzw. wahrgenommen. Warnsignale hinsichtlich einer symptomatischen Verschlechterung der pAVK werden häufig falsch interpretiert oder negiert. Der Grundsatz jeglicher Therapie der pAVK ist ein streng stadiengerechtes Vorgehen.

Spezielle Neuerungen der konservativen Therapie spiegeln sich in folgenden Empfehlungen wider.

Rauchen

Patientinnen und Patienten mit pAVK sollen das Tabakrauchen (in jeglicher Form) einstellen. (Grad A LoE 1)

Raucherinnen und Rauchern soll ein Programm aus ärztlicher Betreuung, Gruppentherapie, Nikotinersatz sowie evidenz-basierten Rauchentwöhnungspräparaten (Varenicline, Bupropion) angeboten werden. (Grad A LoE 1)

Dyslipidämie

Bei Patientinnen und Patienten mit pAVK soll eine lipidsenkende Therapie durchgeführt werden. Dabei soll ein High-Intensity-Statin angewandt werden. (Grad A LoE 1)

Der LDL-Zielwert sollte kleiner 55 mg/dl bzw. kleiner 1,4 mmol/l und ≥ 50 % Senkung des Ausgangswertes bei Erkrankten mit pAVK betragen. (Konsensempfehlung)

Antithrombotische Therapie

Für die antithrombotische Therapie stabiler Patienten sowie zur postoperativen bzw. postinterventionellen Behandlung fehlen bis heute robuste und einheitliche Daten aus hochwertigen randomisierten kontrollierten Studien. Neben der grundsätzlichen Empfehlung zur Einleitung einer thrombozytenaggregationshemmenden Therapie bei allen symptomatischen Patienten konkurrieren daher heute zahlreiche Alternativstrategien, teilweise auf dem Boden einer schwachen Evidenzbasis: Einfache vs. duale Thrombozytenaggregationshemmung, therapeutische Antikoagulation (z. B. mit Vitamin-K-Antagonisten) und die Kombination von ASS 100mg mit Rivaroxaban in vaskulärer Dosis (2,5mg) [8–10]. Bei allen Therapieerwägungen sollte grundsätzlich das individuelle Blutungsrisiko erhoben werden, wobei bis heute nur ein extern mehrfach validierter Risikoscore zur Verfügung steht ([11]). Folgende Empfehlungen haben Einzug erhalten:

  • Patientinnen und Patienten mit symptomatischer pAVK sollen mit einem Thrombozytenaggretationshemmer behandelt werden. (Grad A LoE 1)
  • Dabei sollte Clopidogrel 75 mg/d gegenüber ASS 100 mg/d bevorzugt werden. (Grad B LoE 2)
  • Bei vaskulären Hochrisikopatientinnen und -patienten sollte unter Beachtung von Blutungsrisiken eine kombinierte antithrombotische Therapie (Dual-Pathway Inhibition) mit ASS 100 mg/d und Rivaroxaban 2x 2,5 mg/d erwogen werden. (Grad B LoE 1)
  • Bei frisch operierten Gefäßpatientinnen und -patienten mit pAVK sollte unter Beachtung von Blutungsrisiken eine kombinierte antithrombotische Therapie (mit ASS 100 mg/d und Rivaroxaban 2x 2,5 mg/d) erwogen werden. (Konsensempfehlung)

Gefäßspezifisches Bewegungstraining

Zum Konzept der stadienadaptierten Behandlung der pAVK gehört, dass allen Patientinnen und Patienten mit pAVK im Stadium II (Claudicatio intermittens) als Initial-Therapie ein Gehtraining, idealerweise in strukturierter und angeleiteter Form, einschließlich einer Best Medical Therapy (BMT), empfohlen wird. Die Dauer der konservativen Therapie (Gehtraining+BMT) soll mindestens drei bis sechs Monate betragen und anschließend reevaluiert werden. Bei Verbesserung der Claudicatio intermittens Symptomatik ist die Fortführung der konservativen Therapie empfohlen, bei Stagnation oder Verschlechterung kann eine Revaskularisation erwogen werden. Entsprechend dieses Vorgehens haben sich folgende Empfehlungen ergeben:

Strukturiertes Gehtraining unter qualifizierter Anleitung ist wirksamer als unstrukturiertes Gehtraining und soll allen Patientinnen und Patienten mit Claudicatio als Bestandteil der Basisbehandlung angeboten werden. (Grad A LoE 1)

Alternatives Bewegungstraining unter Anleitung ist hinsichtlich der schmerzfreien und maximalen Gehstrecke dem traditionellem Gehtraining unter Anleitung gleichwertig und sollte erwogen werden, wenn überwachtes Training nicht möglich ist. (Grad A LoE 2)

Ein gefäßspezifisches Bewegungstraining bei Patientinnen und Patienten mit Claudicatio soll mindestens dreimal wöchentlich in Übungseinheiten von 30 bis 60 Minuten über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten erfolgen. (Grad A LoE 2)

Neuere Ansätze zur Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit eines Gehtrainings sind z. B. Aktivitätssensoren und Fitness-Apps die sich zum Monitoring von körperlicher Aktivität und als Mittel zur Steigerung der schmerzfreien und maximalen Gehstrecke bei Patientinnen und Patienten mit pAVK eignen.

Ergänzend muss aber erwähnt werden, dass trotz der überragenden Evidenz für die Wirksamkeit eines strukturierten Gehtrainings bundesweit eine Unterversorgung an Angeboten spezieller Gefäßsportgruppen besteht. Idealerwiese sollten Rahmenbedingungen geschaffen werden, die häusliches strukturiertes Training mit entsprechendem Monitoring des Trainingsfortschritts und Begleitung des Trainings ermöglichen, um damit eine Alternative zum strukturierten Bewegungstraining in Gefäßsportgruppen zu eröffnen.

Revaskularisierende Therapie

Das Kapitel „Revaskularisierende Therapie“ wurde in der aktualisierten Form der Leitlinie neu strukturiert und umfasst nun erstmals die endovaskulären und offenen chirurgischen Therapieformen in einem Kapitel. Hierdurch wird dem behandelnden Team ein besserer Überblick über die möglichen Revaskularisationsoptionen und deren Evidenzbasis in den verschiedensten Patientenkonstellationen ermöglicht. Untergliedert ist das Kapitel dabei anhand der verschiedenen anatomischen Regionen (aorto-iliakal, Leistenregion, femoro-popliteal und crural). Dabei ist gerade die Frage der bestmöglichen Revaskularisation im Falle einer CLTI durch neue Evidenz belegt. Hierzu wurden im Rahmen der Leitlinienerstellung zwei neue randomisiert kontrollierte Studien veröffentlicht (BEST-CLI und BASIL-2), die in die Empfehlungen Einzug hielten [12, 13]. Diese beiden Studien, die auf den ersten Blick konträre Schlussfolgerungen zogen wurden diskutiert sowie bewertet. Folgende Empfehlungen sind dabei besonders relevant:

Aorto-ilikale Strombahn

Die Wahl des Behandlungsverfahrens bei aorto-iliakalen Läsionen soll unter Hinzuziehung endovaskulärer und offen-operativer Expertise interdisziplinär erfolgen. Die Entscheidung soll unter Berücksichtigung der Gefäßmorphologie, der Begleiterkrankungen und der Prognose getroffen werden. (Grad A LoE 3)

Femoralisgabel

Verschlussprozesse der Femoralisgabel sollen primär gefäßchirurgisch behandelt werden. (Grad A LoE 3)

Bei Patientinnen und Patienten mit hohem patientenspezifischem Risiko bei offen-chirurgischem Vorgehen sollte ein endovaskuläres Vorgehen zur Behandlung von Läsionen der A. femoralis communis erwogen werden. (Grad B LoE 2)

Femoro-Poplitale/Crurale Strombahn

Patientinnen und Patienten im Stadium der kritischen Ischämie mit komplexen, langstreckigen infrainguinalen Verschlussläsionen können primär offen-chirurgisch oder interventionell therapiert werden.

Hierbei sind zu berücksichtigen: Vorhandensein einer geeigneten Vene, Gefäßmorphologie, Begleiterkrankungen, Lebenserwartung sowie die lokale Expertise. (Grad 0 LoE 2)

Im Bereich der endovaskulären Verfahren werden Empfehlungen zu den jeweils technisch sinnvoll zur Verfügung stehenden Verfahren gegeben. Hierzu zählen u. a.:

  • Bei endovaskulärer Behandlung femoropoplitealer Läsionen sollen adjuvant Paclitaxel-beschichtete Ballons eingesetzt werden, da sie nachweislich die Restenoserate sowie die Reinterventionsrate im Vergleich zu Angioplastie mit unbeschichteten Ballons senken. (Grad A LoE 1)
  • Bei der Behandlung langstreckiger (> 20 cm) oder stark verkalkter femoropoplitealer Läsionen können aufgrund höherer Offenheitsraten im Vergleich zu herkömmlichen Nitinolstents heparinbeschichtete Stentgrafts eingesetzt werden. (Grad 0 LoE 3)

Im Falle eines offen-chirurgischen Vorgehens sind speziell folgende Empfehlungen von Relevanz:

  • Bei gegebener Indikation eines femoro-poplitealen Bypasses soll die Vena saphena magna (möglichst aus einem Segment bestehend) verwendet werden, sowohl bei Claudicatio als auch bei kritischer Ischämie, da sie alternativem Bypassmaterial überlegen ist. (Grad A LoE 1)
  • Falls keine geeignete Vena saphena magna vorhanden ist, sollte alternatives Material (körpereigene Venen, PTFE, Dacron) als Bypassmaterial verwendet werden. (Grad B LoE 2)

Fußarterien

Die offen-chirurgische pedale Revaskularisierung soll bei anders nicht revaskularisierbarer CLTI angeboten werden. (Konsensempfehlung)

Weiterhin behandelt dieses Kapitel erstmals das Vorgehen im Rahmen von Infekt Situationen und gibt Empfehlungen im Falle der Notwendigkeit von Amputationen. Folgende Empfehlungen sind dabei hervorzuheben.

Vor jeder Amputation soll durch eine gefäßmedizinische Facharztbeurteilung ein Gefäßstatus erhoben, ein lokaler Infekt saniert und im Falle einer Ischämie eine Revaskularisation durchgeführt werden. (Konsensempfehlung)

Die Amputationshöhe sollte durch die Perfusion, die zu erwartende Mobilität und Funktionalität der Extremität sowie die orthopädische Belastbarkeit des Stumpfes bestimmt werden. (Konsensempfehlung)

Der geriatrische Patient

Ein komplett neues Kapitel der Leitlinie beschäftigt sich erstmals mit Aspekten in der Behandlung von geriatrischen Patienten. Im Fokus steht hierbei im Speziellen die für diese Patienten typische Multimorbidität, welche sich durch folgende Merkmale auszeichnet: Immobilität, Sturzneigung und Schwindel, kognitive Defizite wie Demenz, Inkontinenz, Dekubitalulcera, Fehl- und Mangelernährung, Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt, Depression und Angststörungen, chronische Schmerzsyndrome, Sensibilitätsstörungen, Seh- und Hörbehinderungen, Medikationsprobleme. Daher ist gerade bei geriatrischen Patienten mit einer CLTI die Frage einer Revaskularisation individuell zu beantworten, wobei eine patientenzentrierte Festlegung realistischer Therapieziele maßgeblich ist. Hierzu haben folgende Empfehlungen Einzug gehalten:

Das Tasten der Fußpulse soll bei geriatrischen Patientinnen und Patienten im Rahmen der Gesundheitsuntersuchung auch ohne Symptome der pAVK-Bestandteil der körperlichen Untersuchung sein, um das Gefährdungspotential vor allem für pedale Druckläsionen zu erkennen. Bei nicht tastbaren Fußpulsen sollte bei Risikopatientinnen und -patienten eine nicht-invasive weitere Abklärung der arteriellen Perfusion erfolgen. (Konsensempfehlung)

Bei geriatrischen Patienten mit CLTI soll überprüft werden, ob ein Frailty- Syndrom vorliegt. Ist dies der Fall, soll die Indikation revaskularisierender Maßnahmen restriktiv gestellt werden unter Berücksichtigung der zu erwartenden Invasivität des Eingriffs und im Einklang mit dem primären Therapieziel einer Beschwerdelinderung. (Konsensempfehlung)

Abb. 2: Epidemiologischer Hintergrund der pAVK

Bei geriatrischen Patienten mit pAVK sollten nach Hospitalisierung oder invasiven Eingriffen die Voraussetzungen für eine indikationsübergreifende geriatrische (Früh) Rehabilitation geprüft werden. (Konsensempfehlung)

Zusammenfassung

Die vorliegende Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge der pAVK stellt einen interdisziplinären Konsens dar, der sich mit den zahlreichen Facetten und Herausforderungen des oftmals kritisch kranken Patientenguts beschäftigt. Die aktuell vorhandene Evidenz wird kritisch bewertet und versucht, dies in praktisch relevante Handlungsempfehlungen für den Alltag zu übersetzen. Nicht zuletzt auch aufgrund demographischer Entwicklungen wird die Häufigkeit arteriosklerotisch bedingter Erkrankungen jedoch auch zukünftig weiter zunehmen und die zu behandelnden Patientinnen und Patienten aufgrund ihrer Multimorbidität insgesamt „komplexer“, sodass die vorliegende Leitlinie nur den aktuellen Status optimaler Handlungsempfehlungen darstellen kann. Ob und wenn ja, wie neue technische Entwicklungen, wie z. B. medikamentöse und minimalinvasive Therapien sowie therapieunterstützende Maßnahmen, wie z. B. der Einsatz von KI und „Wearables“ zur individuellen Überwachung und Steuerung gesundheitsbezogener Maßnahmen diese Handlungsempfehlungen zukünftig beeinflussen werden, bleibt abzuwarten. Gleichwohl – eine ganzheitliche, optimierte und stadiengerechte der pAVK ist und bleibt eine interdisziplinäre Aufgabe, die es weiterhin gemeinsam interdisziplinär zu bewältigen gilt!

LITERATUR

[1]   Fowkes, F.G., et al., Comparison of global estimates of prevalence and risk factors for peripheral artery disease in 2000 and 2010: a systematic review and analysis. Lancet, 2013. 382(9901): p. 1329-40.
[2]   Diehm, C., et al., High prevalence of peripheral arterial disease and co-morbidity in 6880 primary care patients: cross-sectional study. Atherosclerosis, 2004. 172(1): p. 95-105.
[3]   Song, P., et al., Global, regional, and national prevalence and risk factors for peripheral artery disease in 2015: an updated systematic review and analysis. Lancet Glob Health, 2019. 7(8): p. e1020-e1030.
[4]   S3-LEITLINIE ZUR DIAGNOSTIK, THERAPIE UND NACHSORGE DER PERIPHEREN ARTERIELLEN VERSCHLUSSKRANKHEIT. 2024, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).
[5]   Sogaard, M., et al., Epidemiological Trends and Projections of Incidence, Prevalence, and Disease Related Mortality Associated With Peripheral Arterial Disease: Observations Using Nationwide Danish Data. Eur J Vasc Endovasc Surg, 2023. 66(5): p. 662-669.
[6]   Nordanstig, J., et al., Editor‘s Choice — European Society for Vascular Surgery (ESVS) 2024 Clinical Practice Guidelines on the Management of Asymptomatic Lower Limb Peripheral Arterial Disease and Intermittent Claudication. Eur J Vasc Endovasc Surg, 2024. 67(1): p. 9-96.
[7]   Li, Y., et al., A prospective survey study on the education and awareness about walking exercise amongst inpatients with symptomatic peripheral arterial disease in Germany. Vasa, 2023. 52(4): p. 218-223.
[8]   Bonaca, M.P., et al., Rivaroxaban in Peripheral Artery Disease after Revascularization. N Engl J Med, 2020. 382(21):
p. 1994-2004.
[9]   Committee, C.S., A randomised, blinded, trial of clopidogrel versus aspirin in patients at risk of ischaemic events (CAPRIE). CAPRIE Steering Committee. Lancet, 1996. 348(9038): p. 1329-39.
[10] Debus, E.S., et al., Effect of Rivaroxaban and Aspirin in Patients With Peripheral Artery Disease Undergoing Surgical Revascularization: Insights From the VOYAGER PAD Trial. Circulation, 2021. 144(14): p. 1104-1116.
[11] Behrendt, C.A., et al., The OAC(3)-PAD Risk Score Predicts Major Bleeding Events one Year after Hospitalisation for Peripheral Artery Disease. Eur J Vasc Endovasc Surg, 2022. 63(3): p. 503-510.
[12] Farber, A., et al., Surgery or Endovascular Therapy for Chronic Limb-Threatening Ischemia. N Engl J Med, 2022. 387(25): p. 2305-2316.
[13] Bradbury, A.W., et al., A vein bypass first versus a best endovascular treatment first revascularisation strategy for patients with chronic limb threatening ischaemia who required an infra-popliteal, with or without an additional more proximal infra-inguinal revascularisation procedure to restore limb perfusion (BASIL-2): an open-label, randomised, multicentre, phase 3 trial. Lancet, 2023. 401(10390): p. 1798-1809.

Korrespondierender Autor:

PD Dr. med. Ulrich Rother

Gefäßchirurgische Abteilung

Universitätsklinikum Erlangen

Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg

Ulrich.rother@uk-erlangen.de

PD Dr. med. Nasser Malyar

Sektion Angiologie, Klinik für Kardiologie I, Universitätsklinikum Münster

Dr. med. Hartmut Görtz

Fachbereich Kardiologie und Gefäßmedizin

Fachklinik Bad Bentheim

Prof. Dr. med. Markus Steinbauer

Klinik für Gefäßchirurgie

Barmherzige Brüder Regensburg

Prof. Dr. med. Andreas Maier-Hasselmann

Klinik für Gefäßchirurgie

Klinik Bogenhausen, München

Dr. med. Hinrich Böhner

Klinik für Chirurgie

St. Rochus-Hospital in Castrop-Rauxel

Prof. Dr. med. Tomislav Stojanovic

Klinik für vaskuläre und endovaskuläre Gefäßchirurgie

Klinikum Wolfsburg

Prof. Dr. med. Mathias Wilhelmi

Klinik für Gefäßchirurgie

St. Bernward Krankenhaus Hildesheim

PD Dr. med. Christian-Alexander Behrendt

Abteilung für Allgemeine und Endovaskuläre Gefäßchirurgie

Asklepios Klinik Wandsbek

Asklepios Medical School Hamburg

Chirurgie

Rother U, Malyar N, Grözinger G, Görtz H, Steinbauer M, Maier-Hasselmann A, Böhner H, Stojanovic T, Wilhelmi M, Behrendt CA: CME-Artikel: Neues aus der aktualisierten S3-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit. Passion Chirurgie. 2025 März; 15(03/I): Artikel 03_07.

Mehr CME-Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de), Rubrik Wissen | Aus-, Weiter- und Fortbildung | CME-Artikel.

Nachwuchsmangel und Geschlechterunterschiede – Wie der Kongress, so das Fach?

Wie der Kongress, so das Fach?

Nachwuchsmangel im ärztlichen Dienst bleibt als Thema ein Dauerbrenner. Im Jahr 2023 waren in Deutschland rund 23 % der Ärztinnen und Ärzte 60 Jahre oder älter. Prognosen besagen, dass bis 2040 zwischen 30.000 bis 50.000 Ärzt:innen in Deutschland fehlen werden (siehe: www.bit.ly/ÄBÄrztestatistik2023). Doch wer ist dieser Nachwuchs? Aktuell sind in Deutschland über 100.000 Studierende im Fach Humanmedizin zugelassen, von denen mehr als zwei Drittel weiblich sind, Tendenz steigend ( siehe: www.bit.ly/GesundheitsdatenKBV).

Zu Beginn des Studiums können sich in der aktuellen Umfrage Berufsmonitoring Medizinstudium immerhin noch rund 35 % der Studierenden vorstellen, später eine chirurgische Weiterbildung zu absolvieren. Nach dem Praktischen Jahr (PJ) fällt dieser Anteil auf 19 % [1]. Erlaubt man den befragten Studierenden nur noch eine mögliche Weiterbildung zur Auswahl, liegt die Chirurgie sogar bei nur noch 8,4 % zum PJ. Sowohl für weibliche als auch männliche Studierenden zählen zu den motivierenden Faktoren, eine spezifische Facharztweiterbildung zu ergreifen, vor allem anderen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (> 90 %). Diese liegt knapp zehn Prozentpunkte vor dem nächst wichtigsten Faktor und unterscheidet sich auch zwischen den Geschlechtern vor allem bezogen auf den Punkt Kinderbetreuung zunehmend weniger (w: 83,6 %, m: 72,3 %).

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zählt auch für die Kolleg:innen in Weiterbildung zu den elementaren Anforderungen an ihren Arbeitsplatz, wird aber ähnlich wie andere wesentliche Faktoren, welche die Rahmenbedingungen unserer Tätigkeit ausmachen, vielerorts nur unzureichend berücksichtigt [2]. In Zusammenschau, ist daher die Herleitung naheliegend, dass die zunehmende Exposition der Studierenden gegenüber der beruflichen Realität in der Chirurgie ein hohes abschreckendes Moment darstellt. Dazu kommt, dass in unserer patriarchalisch geprägten Gesellschaftsstruktur immer noch der Großteil der Care-Arbeit von Frauen und damit auch von Ärztinnen geleistet wird. Daher ist ein geringer Frauenanteil in Fachrichtungen, die sich aufgrund der oftmals bestehenden Rahmenbedingungen nicht für ein familienfreundliches Leben und Arbeiten qualifizieren, nicht verwunderlich.

In chirurgischen Fächern sind nur rund 23 % Ärztinnen tätig, die Frauenquote im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie liegt sogar nur bei 18,6 % [3]. In der akademischen Chirurgie sind Frauen ebenso deutlich unterrepräsentiert, wie regelmäßige Erhebungen des Deutschen Ärztinnenbundes bestätigen. Aufgrund des hohen Frauenanteils im Medizinstudium und des allgemeinen, geschlechtsunabhängigen Mentalitätswandels der Studierenden hin zu mehr Selbstfürsorge und Fokussierung auf private und berufliche Selbstverwirklichung ist ein Umdenken und vor allem ein Überdenken und Anpassen der bestehenden Strukturen dringend erforderlich. Die Gewinnung, Förderung und Bindung von Chirurginnen sowohl in der Klinik als auch in der akademischen Chirurgie sind dabei zentrale Punkte, die dem Nachwuchsmangel entscheidend entgegenwirken können.

Während die Rahmenbedingungen der ärztlichen Tätigkeit zunehmend in den Fokus der Fachpresse und auch der allgemeinen Medien rücken, kommt dem Faktor Wissenschaft und Repräsentanz von Chirurginnen auf Fachkongressen bisher allenfalls eine Nebenrolle zu. Wir wollen daher mit der aktuellen Arbeit die Geschlechterdisparitäten in den Abstract Einreichungen zu einem der größten Medizinkongresse Europas, dem Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie, untersuchen und Trends und Lösungsmöglichkeiten diskutieren.

Methodik

Diese retrospektive Studie analysiert die geschlechtsspezifische Verteilung bei der Abstract Einreichungen für den Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) im Zeitraum von 2015 bis 2024. Die anonymisierten Daten wurden von Intercongress bereitgestellt und umfassen alle Einreichungen innerhalb des Untersuchungszeitraums. Zur Analyse wurden die Daten nach Geschlecht, Rolle bei der Abstract Einreichung (einreichende Person, Autor:in, Co-Autor:in), sowie akademischem Titel (cand. med., Master, Promotion, Habilitation, PhD, Professur, Universitätsprofessur, sonstige, kein Titel angegeben) kategorisiert. Die statistische Auswertung umfasst für diesen Artikel lediglich deskriptive Statistik. Da die Daten anonymisiert und frei von personenbezogenen Informationen sind, war keine zusätzliche ethische Genehmigung erforderlich.

Ergebnisse

Zwischen 2015 und 2024 wurden von insgesamt 82.813 Personen Abstracts beim DKOU eingereicht. Der Frauenteil lag hier insgesamt bei 20 % (16.534). Im Beobachtungszeitraum stieg der Anteil von 16,7 % im Jahr 2014 auf 21,7 % im Jahr 2024 (Abb. 1). Auch die Rolle der Einreichung unterschied sich zwischen den Geschlechtern. Während unter allen Männern 71 % als Co-Autoren und je 15 % als Einreichender oder Präsentierender geführt wurden, waren dies bei den Frauen 63 % als Co-Autorinnen, 18 % als Einreichende und 19 % als Präsentierende.

Abb. 1: Das Flächendiagramm zeigt die Entwicklung des Anteils (y-Achse in %) von Frauen (F, blau) und Männern (M, orange) an den Gesamteinreichungen beim DKOU über die Jahre 2015-2024 (x-Achse in Jahren).

Auch in der Verteilung der Titel der Einreichenden gab es signifikante Unterschiede. Während die Geschlechterverteilung bei Anmeldenden mit cand. med. (w: 44,7 % m: 55,3 %), oder Master Titel (w: 48,6 % m: 51,4 %) nahezu ausgeglichen war, lag diese bei allen anderen Titeln zu Ungunsten des weiblichen Geschlechts (PhD: 35,3 % vs. 64,7 %; Promotion: 20,7 % vs. 79,3 %; Habilitation: 7,4 % vs. 92,6 %; Professur: 7,6 % vs. 92,4 %; Universitätsprofessur: 5,2 % vs. 94,8 %). Dabei zeigte sich sowohl bei den Einreichenden mit abgeschlossener Habilitation oder Professur, wie auch bei allen Einreichenden ohne Habilitation/Professur eine Zunahme weiblicher Einreichender über den Beobachtungszeitraum (Abb. 2).

Abb. 2: Das Liniendiagramm zeigt die Entwicklung des Anteils (y-Achse in %) von Frauen insgesamt (F insgesamt, blau), Frauen mit abgeschlossener Habilitation oder Professur (F mit PD/Prof, orange) und Frauen ohne abgeschlossene Habilitation oder Professur (ohne mit PD/Prof, grün) an den Gesamteinreichungen in den jeweiligen Kategorien beim DKOU über die Jahre 2015-2024 (x-Achse in Jahren).

Diskussion

Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass Frauen bei den Abstract-Einreichungen für den DKOU deutlich unterrepräsentiert sind. Der Anteil von Frauen liegt hier bei 20 % und entspricht damit in etwa dem Frauenanteil in der klinischen Orthopädie und Unfallchirurgie, der 2022 bei 18,6 % lag [3]. Diese Verteilung ist ein direkter Spiegel des generellen Zustandes in der Chirurgie, wo Frauen trotz ihrer hohen Präsenz im Medizinstudium (über 60 %) deutlich seltener vertreten sind.

Die Gründe hierfür sind in erster Linie struktureller, aber auch kultureller Natur, wie die aktuelle nationale und internationale Literatur zeigt [4–6]: Studien zeigen, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie dabei sowohl für Frauen als auch für Männer mitunter der wichtigste Faktor bei der Berufswahl ist [1, 2]. Allgemein aber stellt dieser Punkt für Frauen eine größere Herausforderung dar, da sie in der Gesellschaft weiterhin den Großteil der Care-Arbeit übernehmen, was sich auch bedingt in der Medizin fortzusetzen scheint [7, 8]. Darüber hinaus spielen geschlechtsspezifische Vorurteile, stereotype Vorstellungen und eine wahrgenommene „Ellenbogen-Mentalität“ in der Chirurgie eine entscheidende Rolle [2, 9]. Alle diese Faktoren tragen dazu bei, dass Frauen sich seltener für eine chirurgische Laufbahn entscheiden. Hinzu kommen die allgemeinen Unzufriedenheitsfaktoren für das Ergreifen eines chirurgischen Faches, wie der hohe Anteil prinzipiell delegierbarer Tätigkeiten im Arbeitsalltag und die vielen Stunden, die nicht direkt für die Patientenversorgung genutzt werden [2].

Auf der anderen Seite gibt es motivierende Faktoren, welche die Wahl einer chirurgischen Karriere fördern können. Der Zugang zu Mentor:innen und gezielte Förderprogramme wurden als entscheidend für den Einstieg und den Verbleib in der Chirurgie identifiziert [10, 11]. Strukturelle Maßnahmen, wie flexible Arbeitszeitmodelle, Kinderbetreuung und weitere Maßnahmen, welche die Rahmenbedingungen zur Berufsausübung verbessern, können ebenfalls helfen, den Beruf für beide Geschlechter attraktiver zu gestalten [2]. Es ist davon auszugehen, dass sich die Verbesserung der Rahmenbedingungen, neben der allgemeinen Attraktivitätssteigerung der Chirurgie, auch in der Steigerung der Attraktivität einer akademischen Karriere und damit letztlich auch den Abstract-Einreichungen beim Kongress, insbesondere auch bei Chirurginnen, auswirken wird. Insbesondere die Förderung und Ermutigung von Chirurginnen hin zu einer klinischen und wissenschaftlichen Karriere durch Mentoring und strukturierte Programme ist hier eine wesentliche Stellschraube zur Attraktivitätssteigerung des Faches, wie auch einer akademischen Karriere [11–14].

Die Ergebnisse unserer Trendanalyse zeigen, dass der Anteil von Frauen an den Einreichungen jährlich langsam um etwa 0,5 % zunimmt. Ob diese Tendenz jedoch tatsächlich die Wirkung gezielter Maßnahmen widerspiegelt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Sie könnte auch auf den allgemeinen Anstieg des Frauenanteils im Medizinstudium zurückzuführen sein. Bei steigendem Bedarf an Nachwuchs-Chirurg:innen, auch im Kontext des hohen Frauenanteils im Medizinstudiums, muss sich die Chirurgie auch um die Gewinnung und Bindung von Frauen bemühen, um letztlich auch in Zukunft eine hohe Versorgungs- und Forschungsqualität gewährleisten zu können. Ein jährlicher Zuwachs von lediglich 0,5 % ist dafür schlichtweg zu wenig. Um die Zukunft der Chirurgie nachhaltig zu sichern, sind sowohl die oben genannten allgemeinen strukturellen Veränderungen als auch gezielte Fördermaßnahmen für Frauen in der akademischen Chirurgie unverzichtbar.

Natürlich ist die im Rahmen dieser Arbeit vorgestellte Analyse letztlich ungenau. Nur anhand der Titel auf den Weiterbildungsstand oder auch nur auf einen ärztlichen Beruf zu schließen kann Ungenauigkeiten nicht ausschließen. So kann es sich zum einen bei den Professuren, Promotionen und insbesondere bei den PhD-Titel-Träger:innen auch um andere naturwissenschaftliche Professionen handeln und damit den Frauenanteil als zu hoch einschätzen. Gleichzeitig ist ein vermeintlich höherer Titel nur ein indirekter Hinweis auf die bisherige Berufsausübungsdauer. Trotzdem kann gerade für die Einreichenden mit Titel cand. med. eine angestrebte Approbation angenommen werden und gleichzeitig für Einreichende mit Habilitation eine gewisse höhere Berufserfahrung, wie in den einzelnen Landeshochschulgesetzen vorgesehen. Alleine die hier bestehenden Differenzen mit nahezu vollständiger Parität beim angehenden chirurgischen Nachwuchs, bis hin zur großen Differenz bei den Professor:innen unterstreichen die Ergebnisse der Arbeit in ihrer grundsätzlichen Tendenz.

Schlussfolgerung

Ob es einer exakten Parität bedarf, bleibt letztlich ein offener Diskussionspunkt. Klar ist aber, dass wir unser Fach für alle Ärzt:innen attraktiver gestalten müssen, wenn wir dem Nachwuchsmangel effektiv begegnen wollen. Der Interessensverlust der Medizinstudierenden an der Chirurgie über den Fortgang des Studiums hinweg spiegelt sich auch in den Einreichungszahlen beim DKOU, wenn man die wissenschaftlichen Titel als Maßstab nimmt. Ist initial das Geschlechterverhältnis der Studierenden bei der Abstract-Einreichung (cand. med.) noch ausgeglichen, so fällt diese bis auf unter 10 % bei den habilitierten Einreichenden. Wenngleich die Verteilung bei den Einreichungen über die vergangenen Jahre einen ausgleichenden Trend aufzeigt, so ist dieser extrem langsam und es würde bei dieser Geschwindigkeit mehr als 50 Jahre dauern, bis eine Parität erreicht ist. Die Umsetzung von Diversitätsstrategien unter gleichzeitiger Verbesserung der Rahmenbedingungen für unsere allgemeine Berufsausübung stellen dabei Maßnahmen dar, die dazu beitragen können, nicht nur eine Geschlechterparität herzustellen, sondern insgesamt die Attraktivität unseres Faches beim Nachwuchs zu steigern. Ziele und Zufriedenheitsfaktoren sind ungeachtet des Geschlechts oftmals sehr ähnlich. Wir können von diesen Maßnahmen alle profitieren.

Weitere detaillierte Auswertungen zur Umfrage werden noch veröffentlicht, wir werden Sie über den Zeitpunkt und die PASSION CHIRURGIE informieren.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via passion_chirurgie@bdc.de.

Korrespondierender Autor:

apl. Prof. Dr. med. Benedikt Braun, MBA

Stellv. Leiter Themen-Referat Nachwuchs im BDC

Mitglied im BDC-Themen-Referat Digitalisierung und technische Innovation

Beauftragter für die Nachwuchsförderung in der Gemeinsamen Weiterbildungskommission Chirurgie

Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie

Eberhard Karls Universität Tübingen

BG Klinik Tübingen

bbraun@bgu-tuebingen.de

Vera Bertsch

Assistenzärztin

Unfall- und Wieder­herstellungs­chirurgie

BG Klinik Tübingen

PD Dr. med. MIPH Mika Rollmann

Stv. Ärztliche Leitung des klinischen Studienzentrums

BG Klinik Tübingen

Prof. Dr. med. Tina Histing

Ärztliche Direktorin

Klinik für Unfall-, Hand-und Wiederherstellungschirurgie

Eberhard Karls Universität Tübingen

BG Klinik Tübingen

Dr. med. Carolina Vogel

Assistenzärztin

Unfall- und Wieder­herstellungs­chirurgie

BG Klinik Tübingen

Chirurgie

Braun BJ, Bertsch V, Rollmann MF, Histing T, Vogel C: Nachwuchsmangel und Geschlechterunterschiede – Wie der Kongress, so das Fach? Passion Chirurgie. 2025 März; 15(03/QI): Artikel 03_02.

Mehr zum Thema „Nachwuchs und Karrieregestaltung“ lesen Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Aus- und Weiterbildung.

Karriere: Operative Tätigkeiten in der Schwangerschaft und Stillzeit

Die Frage, ob und in welchem Umfang schwangere und stillende Chirurginnen operativ tätig sein können, bewegt nicht nur die betroffenen Kolleginnen, sondern auch Betriebs- und Arbeitsmediziner:innen, Führungskräfte und Teammitglieder. Auch unter dem Aspekt, dass ggf. wertvolle Weiterbildungszeit und -inhalte durch ein betriebliches Beschäftigungsverbot nicht erlangt werden können, werden die Rechtfertigung von Beschäftigungs- und OP-Verboten immer mehr hinterfragt und die gesetzlichen Grundlagen betrachtet. Ziel allen Handelns sollte eine Verhinderung von schwangerschafts- und mutterschaftsassoziierten Nachteilen in der persönlichen Karriere und von Verzögerungen in der Weiterbildung bei gleichzeitig bestmöglichem Schutz von Mutter und Kind sein.

Mit der Novellierung des Gesetzes zum Schutz von Müttern bei der Arbeit, in der Ausbildung und im Studium (Mutterschutzgesetzes; MuSchG) im Jahr 2018 sind die beiden gleichwertigen Schutzziele bekräftigt worden: zum einen die Verhinderung von unverantwortbarer Gefährdung und zum anderen die Verhinderung von beruflicher Benachteiligung, während die individuelle Situation der Ärztin in den Mittelpunkt gestellt, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefördert und gleichzeitig der bestmögliche Gesundheitsschutz von Mutter und Kind während der Schwangerschaft, nach der Entbindung und in der Stillzeit gewährleistet werden sollen. Das MuSchG gilt nicht nur für angestellte Ärztinnen, sondern auch für Studentinnen. [1]

Durch eine Anpassung und/oder Umgestaltung der Arbeitsbedingungen sind eine berufliche Teilhabe während der Schwangerschaft und Stillzeit in der Regel möglich und Beschäftigungsverbote vermeidbar. Pauschalierte betriebliche Beschäftigungsverbote ohne Einhalten der Rangfolge der erforderlichen Schutzmaßnahmen nach § 13 MuSchG sind rechtswidrig und begründen möglicherweise sogar Schadensersatzansprüche z. B. wegen Diskriminierung. Anders formuliert, sind operative Tätigkeiten von Schwangeren und Stillenden mit einer individuellen Gefährdungsbeurteilung ausdrücklich erlaubt (s. Abb. 1). [1]

Abb. 1: Eskalationsstufen bei Schwangeren und Stillenden: juristisch verbindliche Rangfolge der Schutzmaßnahmen (§ 13 Abs. 1 MuSchG)

Zum Nachlesen (mit Klick auf das Bild)

„Fächerübergreifender Konsens in der Chirurgie – Operative Tätigkeiten in Schwangerschaft und Stillzeit“ – Ein Leitfaden für Personen, die schwanger sind oder es werden wollen, an Chefärzt:innen und Personalverantwortliche sowie an Arbeitgeber:innen mit ihren zuständigen Fachkräften für Arbeitssicherheit, Betriebsmedizin sowie an Hygiene- und Strahlenschutzbeauftragte.

Das Konsensuspapier: Ein Meilenstein für die Chirurgie

Ein bedeutender Fortschritt in der praktischen Umsetzung des MuSchG ist das fächerübergreifende Konsensuspapier zum Thema „Operative Tätigkeiten in Schwangerschaft und Stillzeit“. [2] Es adressiert die Unsicherheit, die oft zu pauschalen betrieblichen Beschäftigungsverboten führt und bietet umfassende Informationen und Empfehlungen für schwangere Chirurginnen, Betriebs- und Arbeitsmediziner:innen, Führungskräfte und Behörden. Zusätzlich dient es als praktische Hilfestellung und Leitfaden für die Erstellung der im MuSchG geforderten individuellen Gefährdungsbeurteilung und soll dabei helfen, diese immer wieder an die schwangerschafts- und mutterschaftsbezogenen Besonderheiten im Laufe der Schwangerschaft und Stillzeit anzupassen. Durch die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie wurde es den für Arbeits- und Mutterschutz zuständigen obersten Landesbehörden sowie den zuständigen Berufsgenossenschaften zur Kenntnis gegeben.

Neben den „Mutterschutz-Basics“ (wie grundlegende Aspekte zur Sicherheit am Arbeitsplatz, Arbeitszeitregelungen, Schutzfristen, Arten von Gefährdungsbeurteilungen und Beschäftigungsverboten) werden Empfehlungen und Erläuterungen zu Risikothemen wie Infektionsgefahr, Strahlenschutz und Narkosegase gegeben und die sogenannten Positivlisten aufgeführt. Aus Platzgründen soll in diesem Artikel nur am Rande auf die „Mutterschutz-Basics“ eingegangen werden. Diese werden ausführlich im Konsensuspapier beschrieben, wo auch weitere Informationen und Gesetzestexte per QR-Codes und Links abrufbar sind (s. Abb. 5). [2, 6]

Zum Nachhören (mit Klick auf das Bild)

Podcast der Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts zum Thema „Operieren in der Schwangerschaft“

Abb. 2: Vertretene chirurgische Fächer in den Positivlisten

Was Chirurginnen operieren dürfen

Als besonders wertvoll werden die Positivlisten angesehen. Hierbei werden von 14 chirurgischen Fächern Operationen und Eingriffe aufgelistet, die von den jeweiligen Fachgesellschaften freigegeben wurden und die von Schwangeren und Stillenden unter Einhaltung entsprechender Schutzmaßnahmen unbedenklich durchgeführt werden können (s. Abb. 2). Die Positivlisten sind als Orientierungshilfen mit Empfehlungscharakter zu verstehen und ersetzen nicht die Prüfung und Empfehlung durch die zuständige Aufsichtsbehörde (s. Abb.3). Erfahrungsgemäß bestehen in den meisten Bundesländern keine Bedenken der zuständigen Aufsichtsbehörden gegen den Einsatz der Schwangeren, wenn die Vorgaben der Positivlisten beachtet werden. In einer ganzen Anzahl an Fachgebieten sind alle der laut Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer notwendigen Operationen und Weiterbildungsinhalte durchführbar. [2]

Grundsätzlich sollten Voraussetzungen, die sich aus § 9, § 10, § 11 MuSchG ergeben, geschaffen werden (s. Abb. 4). [1, 2]

Abb. 3: Beispiel Positivliste Viszeralchirurgie

Abb. 4: Empfohlene fächerübergreifende Schutzmaßnahmen

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Podcast von OPidS – Operieren in der Schwangerschaft „Ein ganz normaler Knochenjob“

Spezifische Empfehlungen und Sicherheitsaspekte

Strahlenschutz

Der Umgang mit ionisierender Strahlung erfordert besondere Vorsichtsmaßnahmen. Im gebärfähigen Alter darf ein Grenzwert für die Exposition gegenüber Strahlung von 2 mSv in einem Monat, in der Schwangerschaft ein Grenzwert von 1 mSv für die gesamte Dauer der Schwangerschaft nicht überschritten werden. Jede Schwangere sollte ein zusätzliches, ggf. direkt ablesbares, elektronisches Dosimeter auf Uterushöhe tragen, das wöchentlich ausgelesen werden muss.

Wann immer es möglich ist, sollten der Kontrollbereich verlassen, strahlungsarme Bildgebungsverfahren verwendet, die Expositionszeit begrenzt und die Positionierung im OP-Saal zur Minimierung der Strahlenexposition optimiert werden. Der Zutritt zum Kontrollbereich ist Schwangeren nur gestattet, wenn eine schriftliche Zutrittsberechtigung der bzw. des Strahlenschutzbeauftragten vorliegt und sichergestellt ist, dass durch geeignete Schutz- und Überwachungsmaßnahmen der Grenzwert eingehalten wird.

Nicht möglich in Schwangerschaft und Stillzeit ist der Umgang mit offenen Radionukliden mit der Möglichkeit einer Inkorporation. [2, 3]

Infektionsschutz

Der Schutz vor Infektionen ist ein zentraler Aspekt bei der Beschäftigung schwangerer und stillender Chirurginnen. Die Beurteilung des Infektionsschutzes am Arbeitsplatz erfolgt zwingend unter Berücksichtigung der reichlich vorhandenen gesetzlichen Vorgaben und Empfehlungen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Prävention von Infektionen, wobei ein ausreichender Impfschutz gegen die impfpräventablen Krankheiten im Idealfall bereits vor dem Eintritt einer Schwangerschaft bestehen und die nach der Gefährdungsbeurteilung festgelegte persönliche Schutzausrüstung (PSA) getragen werden sollte (s. auch Abb. 4). Wertvolle Details sind im Hintergrundpapier zu „Information zur Relevanz von Infektionserregern in Deutschland aus Sicht des Mutterschutzes“ und FAQ zu „Mutterschutz bei luftgetragenen Infektionserregern“ des Ausschusses für Mutterschutz (AfMu) des Bundesministeriums für Soziales, Familien und Jugend zu finden. [2, 4, 5]

Narkosegase

Ende Februar 2025 veröffentlichte der Ausschuss für Mutterschutz die zweite Mutterschutzregel (MuSchR 11.1.01 “Tätigkeiten von schwangeren Frauen mit Isofluran, Desfluran und Sevofluran in der humanmedizinischen Versorgung” im Gemeinsamen Ministerialblatt (Ausgabe 7/2025, 28.02.2025)). Da Narkosegase oder Inhalationsnarkotika zu den Gefahrenstoffen zählen, wurden hier durch den Ausschuss für Mutterschutz entsprechende Empfehlungen und vorzunehmenden Maßnahmen für die verantwortbare Beschäftigung schwangerer Frauen im OP-Bereich bei Einsatz von volatilen Anästhetika erarbeitet. Kurz zusammengefasst, stellen Tätigkeiten in der humanmedizinischen Versorgung mit Expositionen gegenüber den Inhalationsanästhetika Isofluran, Desfluran und Sevofluran nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen bei Einhaltung des Standes der Technik gemäß TRGS 525 in der Regel keine unverantwortbare Gefährdung im Sinne des § 11 MuSchG dar. Dabei ist die Einhaltung des Standes der Technik bei der Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung nach Gefahrstoffverordnung sowie MuSchG und unter Beachtung von TRGS 400 und TRGS 402 sicherzustellen. Unzulässige Tätigkeiten wären beispielsweise Tätigkeiten, bei denen volatile Anästhetika systembedingt offen verabreicht oder am Narkosegerät frei werden oder durch Abatmung des Patienten/der Patientin freigesetzt werden, wie sie bei operationstechnisch bedingten und nicht verhinderbaren Undichtigkeiten z. B. in der Larynxchirurgie oder Thoraxchirurgie vorkommen können. [9, 10]

Auch durch einen Verzicht auf den Einsatz von Narkosegasen mit Eingriffen in einer totalen intravenösen Anästhesie (TIVA) oder einer Lokal-/Regionalanästhesie sowie durch bautechnisch geforderte Raumausstattung, wie z.B. laminar airflow, kann ein sicherer Arbeitsplatz im OP geschaffen werden.

In Aufwachräumen mit Klimatisierung besteht bei den modernen volatilen Anästhetika und adäquater technischer Raumausstattung in der Regel keine Gefahr erhöhter Belastung. [2, 7, 9]

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Podcast von Surgeon Talk – Sweet Child O’Mine – Hallo Kind – Karriere ade?

Praktische Umsetzung

Zur praktischen Umsetzung der Empfehlungen wurden Checklisten als Hilfestellung entwickelt, die in Zusammenarbeit mit der schwangeren Chirurgin, Vorgesetzten und Fachkräften für Arbeitsmedizin/-sicherheit bzw. Betriebsmedizin ausgefüllt werden können, um eine fundierte Entscheidungsgrundlage für die individuelle Gefährdungsbeurteilung bzw. Einsatzfähigkeit zu schaffen (s. z. B. Webseite OpidS: www.opids.de). [8]

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Berücksichtigung der emotionalen und mentalen Beanspruchung. Jede Chirurgin sollte selbst entscheiden, ob und in welchem Ausmaß sie während der Schwangerschaft und Stillzeit operativ tätig sein möchte, natürlich ohne ihre Arbeitnehmerpflichten zu verletzen.

Haftung

Viele Entscheidungsträger haben Bedenken bei der Haftungsfrage. Arbeitgeber bzw. Arbeitsschutzverantwortliche haften lediglich bei Vorsatz oder sorgfaltswidrigem Verhalten. Wichtig ist hierbei der Begriff der „unverantwortbaren Gefährdung“, der durch § 9 Abs. 2 S. 2 MuSchG definiert wird. In diesem Sinne ist sowohl die anlasslose als auch die individuelle, anlassbezogene Gefährdungsbeurteilung eine Risikoabwägung und das Eruieren notwendiger Anpassungen sowie die Weitergabe von Informationen und bedarfsgerechte Überprüfung und Anpassung – kurz gesagt ein Verhalten im Sinne des MuSchG kein sorgfaltswidriges Verhalten (§ 9, Abs. 2 S. 3). Kommt es zum Schadensfall trotz Einhalten der Schutzmaßnahmen und der gebotenen Sorgfalt, tritt keine Schadensersatzpflicht ein (fehlender Pflichtenverstoß). Im Falle einer Gesundheitsschädigung durch einen Unfall oder eine Berufskrankheit kommt die Unfallversicherung des Arbeitgebers auf (§ 12 SGB VII).[1, 6]

FAZIT

Die Einhaltung des MuSchG, der Empfehlungen und entsprechenden Gesetze ermöglichen schwangeren und stillenden Chirurginnen unter Berücksichtigung individueller Schutzmaßnahmen die Durchführung der meisten elektiven Operationen.

Auch wenn es inzwischen viele Beispiele für operierende schwangere bzw. stillende Chirurginnen gibt, liegt die Herausforderung in der flächendeckenden Umsetzung. Dies erfordert nicht nur die Anpassung von Arbeitsabläufen und -umgebungen, sondern auch einen Mentalitätswandel in Kliniken und Behörden. Mit der zunehmenden Etablierung hat die Chirurgie die Chance, sich als modernes und familienfreundliches Fach zu positionieren. Dies ist angesichts des demographischen Wandels und des zunehmenden Anteils weiblicher Medizinstudierender von entscheidender Bedeutung für die Zukunft unseres Faches. Die kontinuierliche Evaluation und Weiterentwicklung der Konzepte sowie der offene Dialog zwischen allen Beteiligten werden entscheidend sein, um die Sicherheit und Praktikabilität des Operierens in der Schwangerschaft und Stillzeit weiter zu optimieren, Karrierechancen von Chirurginnen zu verbessern und die Attraktivität des Faches insbesondere für den weiblichen Nachwuchs zu steigern.

Zum Nachhören (mit Klick auf das Bild)

Die Chirurginnen e.V. auf Instagram: „Interview der DGOU mit Dr. Maya Niethard zum Thema: Lösungsmöglichkeiten für einen zeitgemäßen Umgang mit dem Mutterschutzgesetz in der Chirurgie“.

Literatur

[1]   Gesetz zum Schutz von Müttern bei der Arbeit, in der Ausbildung und im Studium (Mutterschutzgesetzes; MuSchG); https://www.gesetze-im-internet.de/muschg_2018/; letzter Zugriff am 19.01.2025
[2]   https://dgou.de/fileadmin/OPidS/Dokumente/Fächergreifender_Konsens_in_der_
Chirurgie_operative_Tätigkeiten_in_Schwangerschaft_und_Stillzeit.pdf
; letzter Zugriff am 19.01.2025
[3]   https://www.gesetze-im-internet.de/strlschv_2018/StrlSchV.pdf; letzter Zugriff am 19.01.2025
[4]   https://www.ausschuss-fuer-mutterschutz.de/fileadmin/content/Dokumente/MuSchH_01-2022_
Information_zur_Relevanz_von_Infektionserregern_in_Deutschland_aus_Sicht_des_Mutterschutzes.pdf
; letzter Zugriff am 19.01.2025
[5]   https://www.ausschuss-fuer-mutterschutz.de/arbeitsergebnisse/faq; letzter Zugriff am 19.01.2025
[6]   https://www.bmfsfj.de/resource/blob/229382/7f53927d39aa783ef9791d96bf5fc495/afmu-regel-gefaehrdungsbeurteilung-data.pdf; letzter Zugriff am 19.01.2025
[7]   https://www.ai-online.info/images/ai-ausgabe/2024/01-2024/AI_01-2024_Verbaende_BDA_Mutterschutz.pdf; letzter Zugriff am 19.01.2025
[8]   https://www.opids.de/fileadmin/OPidS/Dokumente/Checkliste-OPIDS-Schwanger-was-nun.pdf; letzter Zugriff am 19.01.2025
[9] https://www.ausschuss-fuer-mutterschutz.de/fileadmin/content/Dokumente/AfMu_MuSchR_11.1.01_Narkosegase.pdf; letzter Zugriff am 17.03.2025
[10] Zweite Mutterschutzregel des Ausschusses für Mutterschutz, MuSchR 11.1.01 “Tätigkeiten von schwangeren Frauen mit Isofluran, Desfluran und Sevofluran in der humanmedizinischen Versorgung” im Gemeinsamen Ministerialblatt (Ausgabe 7/2025, 28.02.2025)

Korrespondierende Autorin:

Prof. Dr. med. habil. Doreen Richardt, LL.M.

BDC-Themenreferat Familie und berufliche Perspektiven

Universitätsklinikum Schleswig-Holstein

Campus Lübeck

Klinik für Chirurgie

Klinik für Herzchirurgie

doreen.richardt@uksh.de

Dr. med. Maya Niethard

HELIOS Klinikum Berlin-Buch

Tumororthopädie

maya.niethard@helios.de

Dr. med. Andrea Kreuder

Ärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe

Die Chirurginnen e. V.

Initiative OPidS (Operieren in der Schwangerschaft)

kreuder.andrea@gmail.com

Chirurgie+

Richardt D, Niethard M, Kreuder A: Operative Tätigkeiten in der Schwangerschaft und Stillzeit. Passion Chirurgie. 2025 März; 15(03/QI): Artikel 04_02.

Weitere Artikel zum Thema finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Karriere | Chirurginnen.

BDC-Praxistest: Erfolgreiches Ärzt:innen-Recruiting

Was zählt wirklich und wie man es richtig macht

Immer näher rückende Altersruhestände, eine steigende Abwanderung ins Ausland, begrenzte Ausbildungskapazitäten und sinkende Wochenarbeitsstunden – um nur einige Punkte zu nennen – setzen Krankenhäuser und Medizinische Versorgungszentren im Personalmanagement zunehmend unter Druck. Doch worauf kommt es wirklich an, um Ärzt:innen erfolgreich zu rekrutieren? Moderne Tools und Technologien allein reichen nicht aus. Entscheidend ist, die Zielgruppe zu verstehen und gezielt auf ihre Bedürfnisse einzugehen.

Im Rahmen einer groß angelegten Studie haben wir das Vorgehen von mehr als 3.900 Ärzt:innen bei der Jobsuche analysiert. Dabei wurden angestellte Ärzt:innen verschiedenster Funktionen und Fachrichtungen befragt. In diesem Beitrag stelle ich einige der wichtigsten Erkenntnisse unserer aktuellen Studie vor und erläutere, was diese für das Recruiting von Ärzt:innen bedeuten.

Wechselbereitschaft und Motivation: Was treibt Ärzt:innen an?

Ein besonders spannendes Ergebnis unserer Studie zeigt, dass 82,2 Prozent der Ärzt:innen grundsätzlich bereit wären, den Job zu wechseln. Interessant dabei: Nur 15,4 Prozent suchen aktiv nach einer neuen Stelle. Das heißt, die meisten Ärzt:innen fühlen sich zwar in ihrem aktuellen Job wohl, sind aber offen für einen Wechsel, sobald ein passendes Angebot auf sie zukommt.

Ein Großteil der Ärzteschaft ist somit „latent suchend”. Man könnte sagen, sie sind nicht aktiv auf der Jagd, aber sie haben Pfeil und Bogen stets griffbereit – für den Fall, dass sich eine lohnende Gelegenheit bietet.

Was bedeutet das für das Recruiting? Diese Erkenntnis zeigt, dass sich Recruiter:innen nicht nur auf die aktiv Suchenden konzentrieren sollten. Erfolgreiches Recruiting bedeutet, die unterschiedlichen Zielgruppen gezielt anzusprechen und Stellenanzeigen dort zu platzieren, wo Ärzt:innen sie sehen – sei es in Fachpublikationen, auf Online-Portalen oder in sozialen Netzwerken. Ziel ist es, auch die latent Suchenden zu erreichen, die nicht aktiv nach neuen Stellen schauen, aber durch ein interessantes Angebot neugierig werden könnten.

Unterschiedliche Mediennutzung je nach Hierarchiestufe

Ein weiteres spannendes Ergebnis unserer Studie betrifft die Mediennutzung. Denn die Nutzung von Medien zur Stellensuche variiert stark je nach beruflicher Position und digitalem Mindset der Zielgruppe.

Warum ist das so? Die nachrückenden Generationen, wie die Generation Y (1981–1997) und Generation Z (ab 1998), sind als „Digital Natives“ mit digitalen Medien aufgewachsen und mit den Vorteilen digitaler Plattformen vertraut, die ihnen eine flexible und intuitive Möglichkeit bieten, sich über offene Stellen zu informieren. Ärzt:innen in höheren beruflichen Positionen, insbesondere auf Oberarzt- und Chefarztebene, zeigen hingegen eine höhere Affinität zu traditionellen Medien, wie beispielsweise Fachzeitschriften.

Was bedeutet das für das Recruiting? Für eine effektive Ansprache unterschiedlicher Zielgruppen ist ein ausgewogener Medienmix entscheidend. Um Ärzt:innen in Weiterbildung ebenso wie erfahrenere Fachkräfte in leitenden Positionen zu erreichen, sollten Stellenanzeigen sowohl auf digitalen Plattformen als auch in etablierten Fachzeitschriften erscheinen. Auf diese Weise können die spezifischen Medienpräferenzen der jeweiligen Zielgruppen optimal berücksichtigt und die Reichweite maximiert werden. Die Faustregel lautet: Mit steigender Hierarchiestufe steigt die Printaffinität.

Geografische Präferenzen: Regionale Stellenanzeigen als Schlüssel

Unsere Studie zeigt, dass mehr als zwei Drittel der Ärzt:innen (68,5 Prozent) in ihrer Region nach einer neuen Stelle suchen. Vor allem Fach- und Oberärzt:innen haben eine starke Bindung an ihren Wohnort. Ärzt:innen beim Berufseinstieg suchen hingegen überdurchschnittlich häufig eine Stelle für die Facharztweiterbildung in ganz Deutschland.

Warum ist das so? Die Gründe sind oft familiär oder lebensqualitätsbedingt. Viele Ärzt:innen haben ihre Familie, ihren Freundeskreis und ihre sozialen Strukturen in der Region, und ein Umzug kommt für sie nur selten in Frage.

Was bedeutet das für das Recruiting? Für Recruiter:innen bedeutet das: Regionalmarketing wird in Stellenanzeigen zunehmend zum entscheidenden Erfolgsfaktor. Es reicht längst nicht mehr aus, nur die fachlichen Qualifikationen und die Vorteile der Stelle aufzuzählen. Stattdessen müssen auch die Vorzüge der Region gezielt hervorgehoben werden. Denn insbesondere bei schwierigen Fachbereichen mit einer begrenzten Anzahl potenzieller Kandidat:innen ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass passende Bewerber:innen direkt aus der Region kommen – vor allem, wenn sie nicht aktiv auf Jobsuche sind.

Hier kommt die überregionale Ansprache ins Spiel: Was macht die Region oder Stadt attraktiv? Wie ist die Lebensqualität vor Ort? Gibt es gute Schulen, Kinderbetreuung und Freizeitmöglichkeiten? Wie sieht die Verkehrsanbindung aus? Vielleicht liegt der ICE-Bahnhof nur wenige Minuten vom Arbeitsplatz entfernt – ein Aspekt, der gerade für Pendler:innen interessant sein könnte. Für Ärzt:innen, die ihre aktuelle Wohnsituation nicht verändern möchten, kann eine optimale Anbindung an den Fernverkehr den Job attraktiv machen. Wenn dazu noch ein Benefit wie eine BahnCard angeboten wird, könnte dies den Ausschlag geben, den neuen Arbeitsplatz anzunehmen – ohne den Wohnort wechseln zu müssen.

Recruiter:innen müssen also überregional denken und gezielt Lokalmarketing betreiben, um Fachkräfte von außerhalb für die Region zu begeistern. Der Standort wird so zum zentralen Argument in der Stellenanzeige – und kann die entscheidende Hürde zwischen Interesse und tatsächlicher Bewerbung überwinden.

Das Arbeitsklima: Ein unterschätzter Faktor

98,6 Prozent der Ärzt:innen gaben an, dass das Arbeitsklima für sie von größter Bedeutung ist. Doch nur wenige Stellenanzeigen heben diesen Aspekt ausreichend hervor.

Warum ist das so? Ärzt:innen suchen nicht nur nach einem gut bezahlten Job, sondern auch nach einem Arbeitsplatz, an dem sie sich wohlfühlen und sich weiterentwickeln können. Ein gutes Arbeitsklima kann entscheidend dafür sein, ob sich Ärzt:innen langfristig binden.

Was bedeutet das für das Recruiting? Arbeitgeber sollten in Stellenanzeigen nicht nur Angaben zu Gehalt und Arbeitszeiten machen, sondern das Arbeitsklima und die Teamarbeit stärker in den Vordergrund rücken. Authentische Einblicke in den Arbeitsalltag, Mitarbeitendenstimmen und die Unternehmenskultur können dabei helfen, das Arbeitsklima bereits in der Stellenanzeige zu vermitteln.

Stressfaktor Bewerbung: Weniger Hürden, mehr Bewerbungen

Einer der häufigsten Kritikpunkte in unserer Studie war die Komplexität des Bewerbungsprozesses. 44,3 Prozent der Ärzt:innen gaben an, dass sie nur wenig Zeit für Bewerbungen haben und sich einfachere Prozesse wünschen.

Warum ist das so? Der Arbeitsalltag von Ärzt:innen ist stark ausgelastet, und ein komplizierter Bewerbungsprozess kann abschreckend wirken. Viele wünschen sich, dass auf langwierige Anschreiben und komplizierte Bewerbungsschritte verzichtet wird.

Was bedeutet das für das Recruiting? Um die Hürden zu senken und mehr Ärzt:innen zu motivieren, sich zu bewerben, sollten Arbeitgeber den Bewerbungsprozess so einfach wie möglich gestalten. Zum Beispiel auf das klassische Anschreiben verzichten und den Fokus auf schnelle, effiziente Bewerbungsschritte legen. Allein der Verzicht auf ein Anschreiben hätte einen erheblichen Effekt: Die Studie ergab, dass sich mehr als die Hälfte der Befragten eher auf eine Stelle bewerben würde, wenn kein Anschreiben erforderlich wäre.

Unterschiedliche Prioritäten je nach Lebensphase

Generell zeigt sich, dass die Prioritäten bei der Jobsuche von Ärzt:innen stark von ihrer Position und Lebensphase abhängen. So spielt das Gehalt für Oberärzt:innen und Chefärzt:innen eine sehr wichtige Rolle und steht in der Umfrage an zweiter Stelle, während es für den ärztlichen Nachwuchs zwar auch wichtig ist, aber erst nach den Weiterbildungsmöglichkeiten kommt. Die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit ist für Frauen (70 Prozent) häufiger „sehr wichtig“ als für Männer (52 Prozent), genauso wie dieser Faktor für Ärzt:innen in Weiterbildung wichtiger ist als für Chefärzt:innen.

Warum ist das so? Jede der angesprochenen Zielgruppen befindet sich in unterschiedlichen Lebensphasen, in denen Gehalt, Work-Life-Balance oder Vereinbarkeit unterschiedlich wichtig sind.

Was bedeutet das für das Recruiting? Recruiter:innen sollten sich bewusst darüber sein, welche Zielgruppe sie mit einer Stellenanzeige genau ansprechen und diese dann daraufhin optimieren.

Was alle Stellenanzeigen gemeinsam haben sollten, ist Transparenz. Bewerbende schätzen möglichst klare Formulierungen und keine Floskeln in der Stellenanzeige. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass Stellenanzeigen, die explizit das Gehalt oder eine Gehaltsspanne nennen, deutlich schneller zum Rekrutierungserfolg führen. Die Klinik lebt eine familien- und lebensphasenbewusste Personalpolitik? Das sollte in der Stellenanzeige hervorgehoben werden. Teilzeitmodelle, Jobsharing, langfristig geplante Dienstpläne, Unterstützung pflegender Angehöriger, Vermittlung von Kinderbetreuungslösungen – all das sind überzeugende Argumente, sich für einen Arbeitgeber bzw. eine Klinik zu entscheiden.

Transparenz bezieht sich aber nicht nur auf die „Benefits”. Wochenend- und Nachtdienste? Kein Problem – auch hier lohnt sich Transparenz und eine offene Kommunikation über die Arbeitszeiten und die Anzahl der Wochenend- und Bereitschaftsdienste. So bewerben sich nur Ärzt:innen, die sich mit den jeweiligen Arbeitszeiten arrangieren können. Dies spart sowohl den Arbeitgebern als auch den interessierten Fachkräften viel Zeit.

Beschäftigen Sie sich mit Ihrer Zielgruppe!

Bevor Sie sich für einen Recruiting-Kanal entscheiden und die Stellenanzeige verfassen, sollten Sie sich folgende Frage stellen: Wer ist meine Zielgruppe?

Was bedeutet das für das Recruiting? Für Personalverantwortliche ist es unerlässlich, den eigenen Markt inklusive aller Daten und Fakten gründlich zu kennen, insbesondere in Bezug auf die Anzahl und Verteilung der Fachärzte in verschiedenen Bereichen. Und je nach Fachrichtung gibt es große Unterschiede, was die passgenaue Ansprache betrifft.

Ein Beispiel: Sie suchen einen Facharzt/-ärztin für Viszeralchirurgie. Hiervon gibt es in Deutschland bundesweit ca. 5.400 berufstätige Ärzt:innen. Mehr als jeder zweite berufstätige Arzt/Ärztin ist älter als 50 Jahre und 70 Prozent sind männlich.

Für dieselbe Klinik suchen Sie auch einen Facharzt/-ärztin im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin. Hier sieht es hingegen ganz anders aus: knapp 17.000 berufstätige Ärzt:innen gibt es bundesweit, 64 Prozent sind weiblich und knapp die Hälfte ist jünger als 50 Jahre.

Für das erfolgreiche Recruiting braucht es entsprechend eine differenzierte Betrachtung und das Eintauchen in die jeweilige Fachrichtung. Es ist unerlässlich, die spezifischen Merkmale, Interessen und Bedürfnisse der Zielgruppen zu verstehen.

Fazit

Unsere Studie zeigt, dass Ärzt:innen je nach Alter, Hierarchie und Lebensphase unterschiedliche Prioritäten haben – von der regionalen Bindung bis hin zur Work-Life-Balance. Während Ärzt:innen in Weiterbildung vor allem online nach Stellen suchen, bevorzugen Ärzt:innen in Leitungsfunktionen gedruckte Fachzeitschriften. Auch Aspekte wie das Arbeitsklima und einfache Bewerbungsprozesse spielen eine wichtige Rolle.

Die aktuellen Herausforderungen im Ärzt:innen-Recruiting erfordern ein tiefes Verständnis der Zielgruppe und ihrer Bedürfnisse. Wer als Arbeitgeber erfolgreich Ärzt:innen rekrutieren will, muss auf diese Bedürfnisse eingehen.

Zur Person

Konstantin Degner ist Recruiting-Experte bei „ÄRZTESTELLEN“, dem Stellenmarkt des Deutschen Ärzteblatts. Er engagiert sich für eine bessere Patient:innen-Versorgung und gegen den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen.

Konstantin Degner

Senior Expert Business Development & Market

Recruiting Solutions @ ÄRZTESTELLEN

Deutscher Ärzteverlag GmbH

degner@aerzteverlag.de

Gesundheitspolitik

Degner K: BDC-Praxistest: Erfolgreiches
Ärzt:innen-Recruiting. Passion Chirurgie.
2025 März; 15(03/QI): Artikel 05_01.

Mehr zu diesem Thema lesen Sie auf
BDC|Online (www.bdc.de) unter der
Rubrik Wissen | Aus-, Weiter- & Fortbildung.

Aktuelle Ausgabe PASSION CHIRURGIE: Hernienchirurgie im Wandel

Zur Januar-/Februarausgabe 2025: Hernienchirurgie im Wandel

„Hernienchirurgie im Wandel” ist unser erstes Schwerpunktthema 2025. Sie lesen über den aktuellen und zukünftigen Stand der Weiterbildung, über Hernien- und Hybrid-DRG, die neuen Trends der Ventral- und Narbenhernienchirurgie aus dem Herniamed Register und zu guter Letzt über den neuen „Volker-Schumpelick-Preises” und seinen ersten Preisträger.

Wir beginnen das Jahr in neuem Gewand und haben unseren Newsletter für Sie aufgefrischt. Im Inhaltsverzeichnis unten finden Sie unser ganzes Themenspektrum, wie immer direkt verlinkt zum Artikel auf BDC|Online. Viel Spaß beim Lesen!

Am 21. und 22. Februar findet der Bundeskongress Chirurgie für niedergelassene Chirurginnen und Chirurgen in Nürnberg statt und der BDC ist mit einem Stand vor Ort. Wenn Sie auch vor Ort sind, laden wir Sie ein, die BDC-Sitzungen oder unseren Stand zu besuchen. Wir freuen uns darauf!

Viele Grüße, das Redaktions-Team

P.S.: Unterschreiben Sie unsere Petition zur Sicherung der Weiterbildung in der Chirurgie! Hier geht’s zur BDC-Petition „Kein Weiter ohne Bildung”!  Leiten Sie unsere Kampagne gerne weiter, jede Stimme zählt! Vielen Dank.

 

Zukunft der hernienchirurgischen Weiterbildung

Hernien sind ein sehr häufiges chirurgisches Krankheitsbild. So gehört die Leistenhernienversorgung weltweit zu den am häufigsten durchgeführten Operationen. Sie ist das „täglich Brot” einer jeden Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie [1].

Die Mehrheit der hernienchirurgischen Eingriffe wird in Deutschland in einem elektiven Setting behandelt. Daneben sind aber auch in pathophysiologischer Hinsicht klinische Bilder und Manifestationen der Einklemmung und Inkarzeration möglich, die – zeitgerecht – ein dringliches bzw. Notfallmanagement erfordern und dann mit einer erhöhten postoperativen Morbidität und Mortalität einhergehen können.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass jede/r Allgemein- und Viszeralchirurg/in eine Hernie sowohl

  • klinisch suffizient zu beurteilen und einzustufen,
  • perioperativ zu „managen“ verstehen (sowie)
  • operativ adäquat, d. h. fallspezifisch und befundgerecht zu versorgen

in der Lage sein muss.

Die Hernie muss so auch im (ggf. anspruchsvollen) Notfall operiert werden können, wenn die auf die Hernienchirurgie spezialisierten Kollegen nicht anwesend sind. Ausbildungsassistenten sollten dabei auch besondere Befundkonstellationen kennen. Aus diesen Gründen ist die hernienchirurgische Weiterbildung obligatorischer, ja herausragender Bestandteil der Facharztausbildung zum Allgemein- und Viszeralchirurgen.

Besondere Manifestationen/Fallkonstellationen

Bei den häufigen Manifestationen inguinal und femoral sind besondere Befunde beschrieben, die dem häufig operierenden Kollegen früher oder später diese besonderen Fallkonstellationen „bescheren“:

  • manifeste Tumorläsion der Peritonealkarzinose (wie z. B. des Nebennierenrinden-Karzinoms als Bruchsackinhalt [2]),
  • De-Garengeot-Appendizitis (akute Appendizitis in einer Femoralhernie [3]) – 5 % [3],
  • Amyand-Hernie – besondere Manifestation der inguinalen Herniation mit entzündlich veränderter Appendix vermiformis (akute Appendizitis: 0,10 %; ohne Inflammation: 0,51 % [4] im Bruchsack als eher untypische Ursache rechtsseitiger Unterbauchbeschwerden sowie seltene Differenzialdiagnose des akuten Abdomens [5],
  • Scheidbach et al. [6] mit zwei Fällen, bei denen im Zuge einer laparoskopischen Hernienversorgung intraoperativ eine im Bruchsack entzündete Appendix auffiel und nach Resektion dieser und des Bruchsacks die Hernienversorgung als TAPP (transabdominelle präperitoneale Hernioplastik) erfolgte – bezüglich der Versorgung von Amyand-Hernien resümieren Scheidbach und Mitarbeiter, dass bei einer Amyand-Hernie mit Appendicitis bei geplanter TAPP neben der Appendektomie die Verwendung eines synthetischen Netzes erwägenswert sei,
  • Littré-Hernie (Meckel-Divertikel im inguinalen Bruchsack) [7],
  • inkarzeriertes Meckel‘sches Diverticulum in einer Femoralhernie mit erfolgreicher laparoskopischer Behandlung [8],
  • akute inguinale Schwellung als ungewöhnliche Präsentation einer (postoperativen) nekrotisierenden Pankreatitis [9],
  • seltener Befund von varikös erweiterten und teilthrombosierten Venen
    (para-)inguinal bei schwangerschaftsbedingter venöser Stauung bis in die große Labie mit Varizen des Ligamentum teres uteri im Leistenkanal als Differenzialdiagnose der Leistenhernie, geklärt erst mittels (Duplex-)Sonografie und (gegebenenfalls) MRT bei Wöchnerinnen [10].
  • Weiterhin wurden als ungewöhnlicher inguinaler Bruchsackinhalt Ovar, Tuba ovarica (beide: 2,9 %) und Vesica urinaria (0,36 %) als auch Harnblasendivertikel (n=1/1.950) beschrieben [6].

Die Hernie – theoretisch-praktischer Vermittlungsansatz in der chirurgischen Facharztweiterbildung

Neben einem theoretischen Kenntnisstand ist auch auf die frühzeitige aktive Teilnahme am hernienchirurgischen Op-Geschehen zu orientieren, zunächst als

1. Assistent im laparoskopischen oder offen-chirurgischen Herangehen von

  • Leisten-/Femoralhernien, zunehmend auch im Rezidivfalle,
  • Nabelhernien,
  • „einfachen“ Narbenhernien (oder)

2. (später 1.) Assistent bei komplexen Narbenhernien.

Sukzessive ist die Vermittlung des hernienchirurgischen Profils auch durch demonstrierend-praktische Teilnahme/Assistenz an der operativen Hiatushernienversorgung zu komplettieren.

Zügig und verlässlich ist die Einteilung von (Jung-)Assistenten in OP-Teams zu realisieren. Verlässlich ist die beidseitige Registrierung von Teilnahmezahlen von Ausbilderseite und Seite des Auszubildenden zu führen und mit dem Ausbildungskatalog – natürlich nicht nur in der Hernienchirurgie – abzugleichen.

Ausbilderseite

Der hohe ausbildungsbezogene Stellenwert der Hernienchirurgie sollte jedem Facharzt voll bewusst sein und ihm insbesondere seine „neue“ Rolle klarwerden lassen, wenn die Facharztqualifikation erreicht wurde. So wie ihm eine ansprechende hernienassoziierte Ausbildung zuteilwurde, so erwächst nunmehr diese Verpflichtung auch nach Erwerb der Facharztqualifikation recht unmittelbar und direkt weiterführend auch für die Ausbildung der (noch Nicht-)Fachärzte.

Die nicht selten anspruchsvolle und herausfordernde Umsetzung im klinisch-operativen Alltag klang dahingehend schon in Anbetracht von stetigem Zeit- und Kostendruck an.

Aktueller Stand der hernienchirurgischen Weiterbildung in Deutschland

Derzeit werden im Rahmen der Weiterbildung für die Allgemeinchirurgie und für die Viszeralchirurgie eine definierte Anzahl von Herniotomien gefordert. Hierbei findet zum Teil keine Differenzierung zwischen Bauchwand- und Leistenhernienversorgung statt. Auch der Zugangsweg (robotisch-assistiert, laparoskopisch, offen) ist hierbei nicht von Bedeutung (Tab. 1 und 2).

Tab. 1: Übersicht über die aktuellen Weiterbildungsordnungen bezüglich Hernien für den „Facharzt für Viszeralchirurgie”, aufgeteilt nach Bundesländern.

Bundesland

Hernien gesamt

davon Leistenhernien

davon Bauchwandhernien

davon
Narbenhernien

Baden-Württemberg

60

40

10

10

Bayern

60

40

10

10

Berlin

80

40 (davon 20 minimal-invasiv, 20 offen)

20

20

Brandenburg

50

Bremen

60

40

10

10

Hamburg

60

40

10

10

Hessen

60

40

10

10

Mecklenburg-Vorpommern

60

40

10

10

Niedersachsen

60

40

10

10

Nordrhein-Westfalen

60

40

10

10

Rheinland-Pfalz

60

40

10

10

Saarland

60

40

10

10

Sachsen

60

40

10

10

Sachsen-Anhalt

60

40

10

10

Schleswig-Holstein

60

40

10

10

Thüringen

60

40

10

10

In Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen sind insgesamt 60 Hernieneingriffe (davon 40 Leistenhernien, 10 Bauchwandhernien und 10 Narbenhernien) vorgesehen.
In Berlin werden insgesamt 80 Hernieneingriffe (davon 40 Leistenhernien- jeweils 20 minimal-invasiv und 20 offen-20 Bauchwandhernien und 20 Narbenhernien) vorgeschrieben.
In Brandenburg werden 50 Herniotomien (unabhängig von der Lokalisation der Hernie) vorausgesetzt.

Es besteht zudem seit 2021 die Möglichkeit, sich durch die European Union of Medical Specialists (UEMS) als Spezialist/Spezialistin der Bauchwandrekonstruktion (Abdominal Wall Reconstruction) zertifizieren zu lassen. Bei Erfüllung der Voraussetzungen (siehe HIER) und nach der erfolgreichen Ablegung einer mündlichen und schriftlichen Prüfung wird schließlich der Titel FEBS AWS (Fellow of the European Board of Surgery, Abdominal Wall Section) verliehen.

In enger Kooperation der BDC|Akademie und der Deutschen Herniengesellschaft (DHG) wurde die „DHG Hernienschule“ entwickelt. Diese beinhaltet die Module

  • „Hernie kompakt“ (seit 2011), als Basiskurs für junge Chirurgen,
  • „Hernie konkret“ (seit 2016) für fachspezialisierte Hospitationen (sowie)
  • „Hernie komplex“ (seit 2018) für fortgeschrittene Hernienchirurgen.

Seit der Coronapandemie wurde im Jahr 2020 das Modul „Hernie kontakt“ entwickelt. Hier werden aktuelle und kontroverse Themen der Hernienchirurgie aufgegriffen, vertieft und zur Diskussion gestellt [2]. Auch bietet der HernieKompakt-Kurs jungen Kollegen die Möglichkeit, sich auf dem Gebiet der Hernienchirurgie praktisch und theoretisch fortzubilden [12 und 13].

Über die „Europäische Herniengesellschaft“– die Mehrheit ihrer Mitglieder kommt aus Deutschland – wird die hernienchirurgische Weiterbildung flankiert mit einem Reisemittelzuschuss (Travel Grant) für Hospitationen im europäischen Ausland. Insgesamt können 1.250 Euro eingeworben werden (bzw. „Extended Surgical Stay Grant“: 3500 Euro), mit denen die Hospitation in einem renommierten europäischen Hernienzentrum bezahlt werden kann.

Weiterbildungsordnungen bezüglich Hernien

  • für den „Facharzt für Viszeralchirurgie”, aufgeteilt nach Bundesländern (Tab. 1)

In Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen sind insgesamt 60 Hernieneingriffe (davon 40 Leistenhernien, 10 Bauchwandhernien und 10 Narbenhernien) vorgesehen.

In Berlin werden insgesamt 80 Herniotomien (davon 40 Leistenhernien – jeweils 20 minimalinvasiv und 20 offen – 20 Bauchwandhernien und 20 Narbenhernien) vorgeschrieben.

In Brandenburg werden 50 Herniotomien (unabhängig von der Lokalisation der Hernie) vorausgesetzt.

  • für den „Facharzt für Allgemeinchirurgie”, aufgeteilt nach Bundesländern (Tab. 2)

Tab. 2: Übersicht über die aktuellen Weiterbildungsordnungen bezüglich Hernien für den „Facharzt für Allgemeinchirurgie“ aufgeteilt nach Bundesländern.

Bundesland

Hernien gesamt

davon Leistenhernien

davon Bauchwandhernien

davon Narbenhernien

Baden-Württemberg

60

40

10

10

Bayern

60

40

10

10

Berlin

60

40

10

10

Brandenburg

25

Bremen

60

40

10

10

Hamburg

60

40

10

10

Hessen

60

40

10

10

Mecklenburg-Vorpommern

60

40

10

10

Niedersachsen

60

40

10

10

Nordrhein-Westfalen

60

40

10

10

Rheinland-Pfalz

60

40

10

10

Saarland

60

40

10

10

Sachsen

60

40

10

10

Sachsen-Anhalt

60

40

10

10

Schleswig-Holstein

60

40

10

10

Thüringen

60

40

10

10

In Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen sind insgesamt 60 Hernieneingriffe (davon 40 Leistenhernien, 10 Bauchwandhernien und 10 Narbenhernien) vorgesehen.

In Brandenburg werden 25 Herniotomien (unabhängig von der Lokalisation der Hernie) vorausgesetzt.

Zukunft der hernienchirurgischen Weiterbildung

Trotz sehr vieler erfolgreicher Projekte der vergangenen Jahre, die insbesondere durch engagierte Mitglieder der „Deutschen Herniengesellschaft“ realisiert wurden, gibt es Verbesserungsbedarf.

Insbesondere zwei Zukunftsprojekte drängen sich auf.

Die Hernienchirurgie entwickelt sich wie andere chirurgische Disziplinen weiter. Hernien werden offen und minimal-invasiv operiert. Der Roboter findet ebenso Anwendung. Minimal-invasiv voroperierte sollten in der Regel offen operiert werden und umgekehrt. Die Patientenmorbidität und –konstitution spielen bei der Findung des besten operativen Vorgehens eine Rolle. Kurz – der sogenannte „tailored approach“ hat längst Einzug in die Hernienchirurgie gehalten. Er soll den Alltag der Hernienchirurgie bestimmen und sich auch in der Weiterbildung widerspiegeln. Vor diesem Hintergrund sollte in Zukunft eine Aufschlüsselung der geforderten Herniotomien im Facharztkatalog erfolgen. Denkbar wäre es, in Zukunft zu fordern, dass beispielsweise 20 minimal-invasive und 20 offene Leistenhernienversorgungen durchzuführen sind. Gleiches könnte für die Narben- und Nabelhernien gelten. Hierbei ist anzumerken, dass es sich ja um häufige Eingriffe handelt und es hier wohl zu keinem „Flaschenhals” in der Ausbildung kommen sollte. Auch eine ggf. verpflichtende Weiterbildung im Verbund ist zu diskutieren. An einer Universitätsklinik angestellte Ärztinnen und Ärzte könnten dann in einer festen z. B. 6-monatigen Rotation in die ambulante Chirurgie sich auf dem Gebiet der Hernienchirurgie fortbilden.

Zusätzliche, weiterführende Aspekte

Die hernienchirurgische Weiterbildung sollte zukünftig auch das Lehren wissenschaftlichen Arbeitens zum Ziel haben („Good clinical [and research] practice“; Wie designe ich eine randomisierte Studie; Wie und wo werbe ich Drittmittel ein etc.).

Im internationalen Vergleich werden wenige randomisierte Studien auf dem Gebiet der Hernienchirurgie durchgeführt. Dies scheint der Tatsache geschuldet zu sein, dass die Hernienchirurgie in Deutschland kaum universitär angebunden ist, braucht es doch die wissenschaftlichen Strukturen der Universitätskliniken („study nurse“, Ethikkommission, Studienzentrale, Institut für medizinische Statistik etc.), um diese Studien zu realisieren.

Fazit

Hernienchirurgie ist ein relevantes (Initial-)Thema in der kompetent(geführt)en Facharztausbildung der Allgemein- und Viszeralchirurgie, die sich wesentlich durch theoretische, praktisch-Management-realisierende und -operative Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammensetzt.

Darüber hinaus stellt es eine enorme organisatorische Herausforderung dar, eine zügige, zeitgerechte, kompetente und effektive hernienchirurgische Ausbildung im anspruchsvollen, facettenreichen Klinikalltag verlässlich zu realisieren.

Die Zukunft der hernienchirurgischen Weiterbildung kann aus der Umgestaltung, Konkretisierung und Spezifizierung der Facharztkataloge und der Akademisierung der Hernienchirurgie als Ganzes bestehen.

Literatur

[1]   Primatesta P, Goldacre MJ: Inguinal hernia repair: incidence of elective and emergency surgery, readmission and mortality. International journal of epidemiology,1996; 25(4), 835–839.
[2]   Bachmann M, Peglow S, Petersen M, Schoeder V, Neumann S, Croner RS, Jechorek D, Meyer F: Irreponible Leistenhernie mit manifester Tumorläsion einer Peritonealkarzinose im Bruchsack ungewöhnliche Ursache und seltene Differenzialdiagnose einer symptomatischen Hernie (repräsentative Kasuistik). Verdauungskrankheiten 2021; 39(4):193–201.
[3]   Ring A, Gelis V, Klupsch C, Stern J. [De Garengeot appendicitis–rare variant of a common medical condition]. Zentralbl Chir 2009;134(6):564–6.
[4]   Gurer A, Ozdogan M, Ozlem N, A YildirimH KulacogluR Aydin: Uncommon content in groin hernia sac. Hernia 2006; 10:152–5.
[5]   Hauck F, Arndt S, March C, Eger KI, Croner RS, Meyer F. Amyand-Hernie: Eine besondere Manifestation der inguinalen Herniation und eher untypische Ursache rechtsseitiger Unterbauchbeschwerden sowie seltene Differenzialdiagnose des akuten Abdomens. Verdauungskrankheiten 2021;39(4):185–192.
[6]   Scheidbach H, Blume B, Meyer F. [Laparoscopic Herniotomia and Closure in Case of Appendicitis within the Hernia Sac (Amyand‘s hernia): Is Use of Mesh Contraindicated?]. Zentralbl Chir 2017;142 (3):312–316.
[7]   Clasen K, Kalinski T, Meissner C, Bruns CJ, Meyer F. [77-year-old man with rare Littré‘s hernia]. Dtsch Med Wochenschr 2016; 141(15):1099–101.
[8]   Paasch C, De Santo G, Look P, Boettge K, Hünerbein: M. Laparoscopic Treatment of an Incarcerated Meckel‘s Diverticulum in a Femoral Hernia. Case Rep Surg 2019
[9]   Benedix F, Lippert H, Meyer F. [Acute inguinal swelling–unusual presentation of postoperative necrotising pancreatitis]. Zentralbl Chir 2009; 134 (2):186–8.
[10] Sauerland H, Garlipp B, Wex C, Häusler I, Arndt S, Rabczak J, Urbach A, Meyer F: Ungewöhnliche Differenzialdiagnose einer suspekten inguinalen/femoralen Herniation im Wochenbett. Der Gynäkologe 2019.
[11] Lorenz R, Paasch C: Die Hernienschule –Rück- und Ausblick. Passion Chirurgie.2024 April; 14(04): Artikel 04_01.
[12] Lorenz R, Paasch C, Stechemesser B, Reinpold W, Niebuhr H, Fortelny RH, Mayer F, Köckerling F, Mantke R: Long-term evaluation of the Hernia Compact course of the German Hernia School. Hernia. 2024 Apr;28(2):621–628.

Korrespondierender Autor:

Priv.-Doz. Dr. Christoph Paasch

Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie

Universitätsklinikum Brandenburg an der Havel

christoph.paasch@uk-brandenburg.de

Dr. med. Ralph Lorenz, FEBS-AWS

1. Vorsitzender BDC|Landesverband Berlin

Hernienzentrum 3+CHIRURGEN

Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie

Universitätsklinikum Brandenburg an der Havel

lorenz@3chirurgen.de

Dr. med. Felix Rühlmann

Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie

Städtisches Klinikum Karlsruhe

felix.ruehlmann@klinikum-karlsruhe.de

Prof. Dr. med. habil. Frank Meyer

Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Transplantationschirurgie

Universitätsklinikum Magdeburg A. ö. R.

Chirurgie

Paasch C, Lorenz R, Rühlmann F, Meyer F: Zukunft der hernienchirurgischen Weiterbildung. Passion Chirurgie. 2025 Januar/Februar; 15(01/02): Artikel 03_02.

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gematik: Digitale Transformation im Gesundheitswesen

PASSION CHIRURGIE: Herzlichen Glückwunsch, Herr Fuhrmann, Sie haben den Vorsitz der Geschäftsführung der Bereiche Strategie und Standards, Recht und Finanzen der gematik übernommen – wie fühlen Sie sich?

Florian Fuhrmann: Ich bin überzeugt davon, dass es sinnhaft und notwendig ist, unser Gesundheitswesen weiterzuentwickeln. Dafür bin ich auch bereit, Verantwortung zu übernehmen. Natürlich ist mir nach so vielen Jahren im Gesundheitswesen bewusst, dass dies keine leichte Aufgabe ist. Deswegen habe ich mir auch viel Zeit genommen, sie gründlich zu überdenken. Jetzt freue ich mich sehr, diesen Aufbruch im Geschäftsführungstrio, mit dem gematik-Team und mit allen Stakeholdern gestalten zu können. Denn die digitale Transformation im Gesundheitswesen ist der Schlüssel für eine patientenzentrierte Versorgung. Und auch für viele strukturelle Herausforderungen.

PC  Was sind Ihre wichtigsten Ziele?

FF  Gerade erreichen wir beim Großprojekt ePA für alle einen entscheidenden Meilenstein. Die bundesweite Einführung steht bevor – das ist natürlich sehr spannend und zugleich fordernd für das ganze Team. Die ePA wird viele neue Möglichkeiten in der Versorgung und in damit verbundenen Prozessen mit sich bringen, das halte ich für sehr relevant.
In den letzten Wochen haben sowohl ich als auch die gesamte Geschäftsführung viele Antrittsbesuche bei den Gesellschaftern der gematik, bei unseren Partnern und anderen Akteuren im Gesundheitsbereich gehabt. Dabei ging es darum, uns einander vorzustellen, auszutauschen und so die anstehenden Projekte und Planungen gemeinsam weiterzuentwickeln. Diesen Kurs des Dialogs und des Miteinanders wollen wir fortführen und intensivieren. Denn von zentraler Bedeutung bei den bereits vorhandenen und den kommenden TI-Anwendungen ist die Nutzerorientierung. Dafür brauchen wir die Perspektive und das Commitment aller.
Inhaltlich ist es mir wichtig, die ärztliche Kompetenz in der gematik zunächst in Form einer ärztlichen Stabsstelle und eines ärztlichen Beirats weiter auszubauen. So wollen wir in einen noch breiteren Austausch mit den medizinischen Anwenderinnen und Anwendern gehen. Technologisch werden wir uns darüber hinaus mit den Möglichkeiten der KI für die Versorgung und unsere Arbeit beschäftigen.

PC  Inwiefern planen Sie die gematik inhaltlich und strukturell neu auszurichten?

FF  Die Stärke der neuen Geschäftsführung der gematik liegt in den verschiedenen Expertisen, die Brenya Adjei, Dr. Florian Hartge und ich mitbringen und die sich sinnvoll ergänzen. So haben wir die Chance, uns intensiver als zuvor mit wichtigen strukturellen und inhaltlichen Fragestellungen auseinanderzusetzen und selbst zu gestalten. So werden wir die Weiterentwicklung der gematik gemeinschaftlich mit vollem Engagement weiter auf den Weg bringen. Die vereinbarten Roadmaps für die Anwendungen werden wir fokussiert weiterverfolgen. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, und wir gehen sie mit Tempo und Leidenschaft an.

PC  Welche Anwendungen innerhalb der Telematikinfrastruktur sind Ihnen besonders wichtig und wo sehen Sie besonderen Entwicklungsbedarf?

FF  Eine oder mehrere Anwendungen besonders „herauszupicken“, ist nicht nur schwierig, sondern wird der TI nicht gerecht. Denn gerade jetzt, wo die ePA für alle ins Rollen kommt, wird immer deutlicher werden, wie eng verzahnt die einzelnen TI-Anwendungen sind bzw. in Zukunft sein werden. So fließen E-Rezept-Daten beispielsweise in die ePA ein und bilden eine wichtige Grundlage für die Medikationsliste.
Es ist wie ein Puzzle, das sich immer weiter zusammenfügt und in dem jedes einzelne Teil eine wichtige Rolle spielt. Natürlich wird die ePA als eine Art Bindeglied für die verschiedenen Anwendungen und auch die verschiedenen TI-Nutzergruppen eine besondere Funktion haben und auch behalten.
Es ist aber ein großer Fortschritt, dass nach Jahren des infrastrukturellen Aufbaus nun die Anwendungen der TI mehr und mehr an Versorgungsrelevanz gewinnen und weitere Potenziale erschlossen werden können.

PC  Mit welchen Ansätzen wollen Sie dazu beitragen, die Patientenversorgung zu verbessern?

FF  Wie gesagt: Der Nutzen der Anwendungen muss für alle Nutzerinnen und Nutzer spürbar und erlebbar sein. Dafür ist es wichtig, die Bedarfe aller Beteiligten zu kennen und den Zugang zu digitalen Anwendungen so sicher wie nötig, aber so handlich wie möglich zu gestalten. Unsere regelmäßigen Austauschformate mit den Partnern und Stakeholdern in der Versorgung dienen dazu, dieses Ziel zu erreichen. Nicht zuletzt bieten auch die Testerfahrungen aus den beiden gematik-Modellregionen einen großen Mehrwert bei der Betrachtung der Praxistauglichkeit von Anwendungen.
So können wir erreichen, dass die Patientenzentrierung Wirklichkeit wird und Effizienzen, die in der heutigen Organisationszentrierung schwer zu heben sind, erschlossen werden.

PC  Welche Anwendungen können aus Ihrer Sicht insbesondere dazu beitragen, Ärztinnen und Ärzte als Anwender von Bürokratie zu entlasten?

FF  Das ist der Anspruch aller digitalen Anwendungen. Bei der Einführung dieser Anwendungen kann dies auch mit anfänglichen Schmerzen verbunden sein, aber langfristig lohnen sich diese. Ähnlich wie bei einem chirurgischen Eingriff.

PC  Auf welche Anfangsschwierigkeiten beim bundesweiten Rollout der elektronischen Patientenakte (ePA 3.0) sollten sich Ärztinnen und Ärzte schon jetzt vorbereiten?

FF  Der Zeitplan für die Einführung der ePA war und ist ambitioniert. In den letzten Wochen und Monaten haben die gematik und alle beteiligten Partner mit großem Einsatz daran gearbeitet. Es ist großartig zu sehen, dass die Gesellschafter der gematik, die Industrie und alle darüber hinaus Beteiligten hier an einem Strang ziehen. Alle wollen das gemeinsame Ziel, die ePA für alle zum Laufen zu bringen, unbedingt erreichen.
Natürlich gibt es bei einem Projekt dieser Größenordnung immer Herausforderungen. Denn bei der Einführung der elektronischen Patientenakte für alle handelt es sich um das größte IT-Projekt im deutschen Gesundheitswesen, wenn nicht darüber hinaus. Es ist technisch hochkomplex und fußt auf dem Zusammenspiel vieler verschiedener Komponenten, wie beispielsweise den verschiedenen Praxisverwaltungssystemen, die in der Praxis funktionieren müssen.
Wir standen und stehen mit unseren Partnern in der Industrie und den zuständigen Dienstleistern deshalb im intensiven Austausch, damit die neue ePA bestmöglich funktioniert. Es wird aber auch auf den letzten Metern der Einführung immer wieder Bereiche geben, in denen nachgebessert werden muss. Da helfen uns die Ergebnisse aus den Modellregionen Hamburg, Franken und NRW, in denen die ePA für alle vor der bundesweiten Umsetzung zunächst unter realen Bedingungen getestet wird.
Und wie bereits gesagt, lohnen sich die Investitionen in die digitale Transformation.

PC  Welches sind die wichtigsten Inhalte der ePA 3.0 und welche müssen dringend ergänzt werden?

FF  In der ePA können Ärztinnen und Ärzte grundsätzlich alle wichtigen medizinischen Dokumente und Daten im Zuge einer Behandlung speichern. Die standardmäßige künftige Befüllung der ePA beinhaltet: Medikationsdaten, E-Arztbriefe, Befundberichte, Krankenhaus-Entlassbriefe, Laborbefunde und Bildbefunde.
Ebenso werden insbesondere die „Medikationsinformationen“ aus verordneten und eingelösten E-Rezepten auf einen Blick einsehbar; künftig können darüber hinaus „Pflegedokumente“ wie etwa der Pflegeüberleitungsbogen in die ePA hochgeladen werden. Aus Versichertensicht kann die ePA auch genutzt werden, um „Abrechnungsdaten“ oder auch „elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen“ digital vorliegen zu haben.
Die ePA ab 2025 startet zunächst mit der elektronischen Medikationsliste (eML). Der digitale Medikationsplan folgt in einem späteren Schritt.

PC  Grundvoraussetzungen für die Nutzung von Anwendungen ist eine stabile Telematikinfrastruktur. Wie wollen Sie Verbesserungen erreichen?

FF  Wir müssen die bestehende Telematikinfrastruktur, also die TI, gemeinsam mit allen Beteiligten auf das nächste Level heben. Gerade für Versorgungsprozesse wie das E-Rezept ist das essentiell. Wir haben bereits verschiedene Maßnahmen durchgeführt, um Stabilität zu gewährleisten, und werden das auch weiterhin tun. Dazu gehören beispielsweise Hochrechnungen zu Nutzungsannahmen, Lastenprognosen z. B. auf Dienstleisterseite oder auch so genannte „Change-Freezes“ während des Rollouts, um Störungen zu vermeiden. Und wir arbeiten eng mit den Dienstleistern zusammen, damit es künftig weniger manuelle oder prozessuale Schwierigkeiten gibt.

PC  Ab wann werden alle Player, vor allem alle Krankenhäuser, an die Telematikinfrastruktur angeschlossen sein?

FF  Die Krankenhäuser sind, ebenso wie die vertragsärztlichen Niedergelassenen oder die Apotheken, ja bereits an die TI angebunden. Der Pflegebereich kommt ab Mitte 2025 ebenfalls dazu. Andere Nutzergruppen können sich heute schon freiwillig anschließen, wie zum Beispiel Reha-Einrichtungen oder der Öffentliche Gesundheitsdienst, oder kommen in den nächsten Jahren hinzu, etwa die Gesundheitshandwerke.

PC  Wie wollen Sie zukünftig Unstimmigkeiten wie bei der Einführung von eAU und dem eRezept verhindern?

FF  Die gematik ist kein politisch agierendes Unternehmen, wir sind verantwortlich für die technische Umsetzung und den Betrieb. Wir kümmern uns dafür um die fristgerechte Bereitstellung der Konzepte und sind verantwortlich für die Erprobungen, die Zulassungen und die Kontrolle der Anwendungen. All dies tun wir in enger Abstimmung mit unseren Gesellschaftern, allen Playern im Gesundheitswesen und den für die technische Umsetzung zuständigen Industriepartnern.

PC  Welche Bedeutung schreiben Sie dem in der Entwicklung befindlichen TI-Messenger zu?

FF  Die TI-Messenger werden im Alltag zunehmend eine wichtige Hilfestellung in der Versorgung „auf die Schnelle“ leisten. Umso erfreulicher ist es, dass wir in den letzten Monaten bereits TI-Messenger verschiedener Anbieter für die Kommunikation zwischen Leistungserbringenden zulassen konnten.
Erste Auswertungen aus der Modellregion Hamburg und Umland zeigen, dass der TI-Messenger z. B. genutzt wird, um Fragen zu Verordnungen oder Medikationsplänen zu klären, sich bei nicht lieferbaren Medikamenten abzusprechen oder sich rasch zur Wundversorgung und bei organisatorischen Unklarheiten abzustimmen. Hier sind also schon Erleichterungen im Alltag der Versicherten und Leistungserbringenden spürbar.

PC  Wie planen Sie, insbesondere Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenhäuser bzw. deren Vertreter zukünftig besser an den Entscheidungsprozessen zu beteiligen?

FF  Zum einen sind die maßgeblichen Interessensgruppen, auch aus der Ärzteschaft, Teil der Gesellschafter und Gremien der gematik. Aber das Miteinander soll nicht nur „qua Amt“ stattfinden, deshalb sind uns regelmäßige Arbeitsgruppen zu den Anwendungen, Dialogveranstaltungen oder auch der 1:1-Austausch mit unseren Partnern wichtig.
Die Mitarbeitenden der gematik sind außerdem regelmäßig bei Hospitationen in Praxen und in Krankenhäusern zu Gast und erleben hautnah, wie die Digitalisierung im „daily business“ vor Ort läuft bzw. woran es noch hakt. Diese Erfahrungen werden wiederum ins Haus zurückgetragen und ausgewertet, wenn es um die weiteren Entwicklungsschritte geht.
Wichtig sind dafür außerdem die beiden Modellregionen der gematik für digitale Gesundheit. Hier werden einrichtungsübergreifende Verfahren bzw. Vorgänge der TI mit einer bestimmten Anzahl von Arztpraxen, Zahnarztpraxen und Krankenhäusern, aber beispielsweise auch Pflege- oder Rehaeinrichtungen dem Realitätscheck unterzogen und bei Bedarf nachgebessert, damit sie den Anforderungen der Praktikerinnen und Praktiker entsprechen.
Die neue ärztliche Stabsstelle sowie der ärztliche Beirat sollen ebenfalls den Austausch mit Ärztinnen und Ärzten in Krankenhäusern und Praxen intensivieren.

PC  Welche Hoffnungen dürfen sich speziell die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen machen, deren Bedarfe Ihnen aus langjähriger beruflicher Anschauung in besonderem Maße bekannt sind?

FF  Seit Kindesbeinen bin ich stark geprägt von der pragmatischen, kreativen und zugleich lösungsorientierten Herangehensweise eines Chirurgen. Dabei auch in zeitkritischen und komplexen Situationen den Überblick zu behalten und gelassen zu reagieren, sind die besonderen Fähigkeiten von Chirurginnen und Chirurgen. Mein Vater selbst war Chirurg im Krankenhaus und wünschte sich noch in meiner Jugend das Gleiche für meine berufliche Laufbahn. Diesen Gefallen konnte ich ihm leider nicht tun, da meine Talente an andere Stelle liegen. Den Überblick und die Gelassenheit eines Chirurgen kann ich in meinem Beruf aber ebenfalls gut gebrauchen.
Beruflich habe insbesondere Einblicke in die ambulante Versorgung bekommen. Von 2014 bis Ende 2022 habe ich im Auftrag der KBV die KV Telematik (seit 2019 kv.digital) aufgebaut. Aus diesen Jahren bringe ich natürlich viele Erfahrungen und Kontakte in meine aktuelle Tätigkeit ein. Aber ich habe, wie auch die gematik an sich, eine neutrale Position und war ja darüber hinaus auch für verschiedene andere Unternehmen im Gesundheitswesen tätig. Ich sehe also immer möglichst alle Perspektiven, und das ist ein Vorteil.

PC  Was wünschen Sie sich von Ärzten und Berufsverbänden?

FF  Die neue Patientenakte bietet für den medizinischen Versorgungsalltag viele Vorteile für die Behandlung und unterstützt die Anamnese. Es ist großartig, dass sich viele Ärztinnen und Ärzte in den vergangenen Monaten bei der Entwicklung der ePA für alle mit Rat und Tat eingebracht haben. Wir haben die Materialien, die wir bereitstellen, mit ihnen auf Herz und Nieren gegengecheckt.
Nicht nur die ePA, auch alle Anwendungen der Telematikinfrastruktur leben von dem Verständnis, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen von uns allen für uns alle gemacht wird. Das Miteinander bei der Einführung und Weiterentwicklung digitaler Anwendungen ist deshalb entscheidend.
Ein großer Wunsch an die Berufsverbände ist die wohlwollende Begleitung unserer Anstrengungen, die digitale Transformation im Gesundheitswesen real werden zu lassen. Berufsverbände sind wichtige Multiplikatoren für unsere Arbeit und tragen daher zum Erfolg maßgeblich bei.

» Zur Person

Dr. Florian Fuhrmann

Florian Fuhrmann ist seit dem 01.09.2024 Vorsitzender der Geschäftsführung der gematik. Im Unternehmen verantwortet er die Bereiche Strategie und Standards, Recht und Finanzen. Von 2014 bis Ende 2022 baute er im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung die kv.digital GmbH auf. Zuletzt war Herr Fuhrmann tätig als Mit-Gründer von Lillian Care und Geschäftsführer des Telematikanbieters Kosyma.

Vorherige berufliche Stationen umfassen u. a. eine Unternehmensberatung, einen bundesweiten Versorgungsträger und einen internationalen Softwarekonzern. Seine akademische Laufbahn schloss Florian Fuhrmann mit einer Promotion über Krankenhausprozesse ab.

Unter seiner Führung entwickelten seine Teams in den vergangenen Jahren Kommunikations- und Versorgungsplattformen für Arztpraxen, Krankenhäuser, Impfzentren und Organisationen, die mehrfach ausgezeichnet wurden. Dr. Florian Fuhrmann war und ist Mitglied bzw. Beisitzer in verschiedenen Jurys und Gremien in den Bereichen Versorgung und Digitalisierung.

Dr. Florian Fuhrmann

Vorsitzender der Geschäftsleitung

Leitung der Bereiche Strategie und Standards, Recht und Finanzen

Gematik GmbH

Gesundheitspolitik

Fuhrmann F: gematik: Digitale Transformation im Gesundheitswesen. Passion Chirurgie. 2025 Januar/Februar; 15(01/02): Artikel 05_02.

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BDC-Praxistest: Change-Management in der Chirurgie

Warum das Thema
„Change-Management“ heute für Kliniken so relevant ist

Kliniken stehen heute vor vielfältigen Herausforderungen: rasante technologische Entwicklungen, steigende Kosten, strengere Regulierungen, demografischer Wandel, strukturelle Veränderungen der Sektoren, … und ganz nebenbei eine immer besser informierte und anspruchsvolle Patientenschaft. Change-Management ermöglicht es Kliniken, sich diesen sich ständig verändernden Rahmenbedingungen anzupassen, um handlungsfähig zu bleiben. Dies ist entscheidend, um zu überleben, die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern, Prozesseffizienz zu steigern und um innovativ zu bleiben. Kurzum: Es gibt keine Option zum Verzicht auf Change-Mangement, denn dies hätte existenzielle Folgen.

Konkrete Aufgaben im „Change-Management“

Change-Management umfasst die systematische Planung, Umsetzung und Überwachung von Veränderungsprozessen. Die Aufgaben reichen von der Analyse der Ist-Zustände und der Entwicklung von Zukunftskonzepten bis hin zur Steuerung der Veränderungsprojekte und der Verankerung neuer Abläufe im Klinikalltag. Ebenso wichtig ist die Schulung der Mitarbeiter, um neue Kompetenzen zu vermitteln und die Begleitung der emotionalen und mentalen Anpassungsprozesse.

Der Unterschied zwischen Projektmanagement und Change-Management

Während Projektmanagement sich primär auf die technische Abwicklung von Projekten konzentriert, darunter Zeitplanung, Budgetierung und Qualitätskontrolle, fokussiert Change-Management auf die menschliche Seite der Veränderung. Es geht um die Beeinflussung und Gestaltung der Unternehmenskultur, die Motivation von Mitarbeitenden und die Schaffung einer Basis für dauerhafte Veränderungen.

Wichtige Qualifikationen für Change-Manager

Erfolgreiches Change-Management erfordert nicht nur Kenntnisse in Betriebswirtschaft und Organisationsentwicklung, sondern auch in echtem Management, der Psychologie und in Kommunikationswissenschaften. Diese Fähigkeiten kann man durch spezielle Kurse und Zertifikate in Change-Management erwerben, die oft von Universitäten, Fachhochschulen oder privaten Weiterbildungsanbietern angeboten werden.

Obwohl Führungskräfte wesentlich am Change-Management beteiligt sein sollten, da sie Vorbilder sind und die Veränderung vorantreiben, kann die Komplexität und der Umfang des Change-Managements oft den Einsatz spezialisierter Change Manager erfordern. Diese können sich voll auf das Management des Wandels konzentrieren und verfügen über das notwendige spezialisierte Wissen.

Sind die Führungskräfte im Change-Management angemessen qualifiziert?

Die Qualifikation von Führungskräften kann stark variieren. Erfolgreiche Change Leader sind oft diejenigen, die eine klare Vision haben, empathisch kommunizieren und Mitarbeiter motivieren können. Doch ohne spezifische Schulung oder Erfahrungen im Change-Management könnten ihnen wichtige Fähigkeiten fehlen. Führung und Management sind nun mal Berufe der Wirksamkeit, die erlernt werden müssen – ebenso und erst recht ist Change-Management eine Qualifikation zum Leadership-Experten für Veränderung.

In den Managementtrainings der letzten 20 Jahre habe ich häufig jedoch nur sehr selten Führungskräfte des Oberen- oder Mittleren Managements. Ich frage mich, ob bzw. wo diese Qualifikationen erworben wurden oder werden.

Und dann stellt sich noch die Frage, wer die Führungskräfte ausbildet und trainiert – und ob tatsächlich Kenntnisse, Praxis- und Führungserfahrungen der Trainer und Ausbilder vorliegen. Denn Führung im Krankenhaus ist anspruchsvoll und hochkomplex. Aber viele der Führungskräftetrainer haben selbst noch nie geführt, schon gar nicht in Kliniken. Das ist für viele teilnehmenden Führungskräfte dann häufig befremdlich – zurecht, wie ich finde. Ein Fußballtrainer, der noch nie Fußball gespielt hat, wird schwerlich als Trainer erfolgreich sein. In der Regel wird er auch keinen Job bekommen – das läuft im Führungskräfte-Training leider häufig anders. Hier sollten die Anforderungen an Trainer deutlich erhöht werden.

Probleme bei Unsicherheiten oder zu geringer Qualifikation von Führungskräften

In vielen Fällen kommt es zu erheblichen Widerständen, die effektiv gemanagt werden müssen. Hier kommt der Führungskommunikation höchste Bedeutung zu. Das kann sonst zu Verzögerungen, erhöhten Kosten und sogar zum Scheitern von Projekten führen. Mitarbeitende könnten sich dem Wandel widersetzen oder sich entfremdet fühlen, was die Arbeitsmoral und Produktivität massiv beeinträchtigt. Hier schildern Führungskräfte häufig, dass sie mit diesen Situationen verständlicherweise überfordert sind und sich mehr „Handwerkszeug“ wünschen. Dieses lässt sich erfahrungsgemäß, je nach Funktion oder auch Verantwortung, in ein bis zwei Trainingstagen vermitteln. Das ist gut investierte Zeit und kommt einem Fahrsicherheitstraining für schwierige Situationen gleich. Führungskräfte werden dadurch gut vorbereitet. Ich erlebe Auftraggeber solcher Trainings, die sich der Tragweite solcher Maßnahmen bewusst sind und sie gezielt zur Qualifizierung ihrer Führungskräfte einsetzen. Erfolgreich.

Mögliche Fehler und Risiken

Weitere häufige Fehler sind eine unzureichende Risikoanalyse, mangelnde Ressourcenallokation, das Übersehen oder Ignorieren von Feedback der Mitarbeitenden und das Fehlen einer kontinuierlichen Evaluierung und Anpassung des Veränderungsprozesses. Vor allem die Kommunikation ist entscheidend – mit allen Facetten und Aspekten.

Wenn die Geschäftsführung vor die Führungskräfte und Mitarbeitenden tritt und Change verkündet und kommuniziert, so wirkt nicht nur der verbale Anteil, sondern vor allem der non- und paraverbale Anteil. Daher muss eine vollkommene Kongruenz des gesprochenen Wortes mit der Energie und Körperhaltung gegeben sein. Auch die unsichtbare, innere Haltung muss in dem Moment stimmig sein. Es geht um klare Authentizität. Das geht schon über eine normale Führungskommunikation hinaus – es ist eine echte Rhetorik. Es darf kein Glück sein, ob die richtigen Botschaften vermittelt werden. Denn Mitarbeitende lesen diese Kommunikation hochsensitiv aus und bemerken jede Schwäche und Fragwürdigkeit – und beantworten dies ggf. mit Misstrauen und Widerstand. Hier werden häufig viele Fehler gemacht, die nicht mehr aufgeholt bzw. wettgemacht werden können.

Kommunikation mit den Mitarbeitenden

Es ist entscheidend, dass die Kommunikation klar, offen, konsistent, authentisch, glaubwürdig und regelmäßig erfolgt. Mitarbeitende müssen verstehen, warum Veränderungen notwendig sind, welche Ziele verfolgt werden und wie diese die Organisation und sie persönlich betreffen werden. Die Regel lautet: kommuniziere viel und mit allen. Immer und jederzeit. Lieber einmal zu viel als zu wenig. Und vergiss niemanden – sonst droht Widerstand. Widerständen und Ängsten von Mitarbeitenden sollten Führungskräfte offen und verständnisvoll begegnen, um sie in eine konstruktive Energie zu wandeln. Phrasen wie „Machen Sie sich mal keine Sorgen!“ sind respektlos und würdigen nicht die wahrgenommene Situation. Besser ist es, ein Verständnis tiefenwirksamer Führungskommunikation zu besitzen. Ein gutes Beispiel, das sich die Tiefenstruktur der Kommunikation zunutze macht, ist: „Ich lade Sie zur gemeinsamen Veränderung ein! Denn wir sind über das OB hinweg – aber gemeinsam können wir jetzt das WIE gestalten. Bevor irgendjemand kommt und wir dann gestaltet werden.“ Solche Impulse sind sehr wirkungsvoll und unterstützen Führungskräfte in der Kommunikation. Aber auch eine souveräne und gewaltfreie Konfliktkommunikation ist hier eine große Stütze für Führungskräfte, wenn diese erlernt wurde. Sie stellt sicher, dass Konfliktthemen im Change-Management eskalationsfrei angesprochen werden können und in kürzester Zeit Lösungen vereinbart werden. Eine absolute Schlüsselqualifikation in diesen Zeiten, ebenso wie Persönlichkeitsdiagnostik. Das lässt sich alles meist in ein bis zwei Tagen erlernen.

Wie kann man Mitarbeitende davon überzeugen, dass die Veränderungen nötig sind – auch wenn sie manchmal schmerzhaft sein können?

Indem man die Vorteile, den Sinn und Nutzen der Veränderung klar kommuniziert, Unterstützung anbietet und frühzeitig in den Veränderungsprozess einbezieht. Das schafft Vertrauen und ermöglicht es den Mitarbeitern, Teil der Lösung zu sein. Und, ganz wichtig, dass Führungskräfte sicher und souverän in ihrer Haltung und Rolle sind. Das „OB“ darf nicht mehr diskutiert oder durch diese in Frage gestellt werden, lediglich das „WIE“. Das setzt aber voraus, dass Führungskräfte auch gut vom oberen Management „abgeholt“ und informiert wurden. Aber es gibt neben der Bring- auch eine Holschuld, der ich gerecht werden muss, wenn ich noch etwas benötige, um meiner Führungsaufgabe gerecht zu werden.

Man sollte, insbesondere bei verstärkten Ängsten und Widerständen, verstärkt eine Kultur des offenen Dialogs fördern, in der Ängste und Bedenken ohne Nachteile geäußert werden können. Zusätzliche Unterstützung wie Coaching oder Mentoring kann ebenfalls hilfreich sein. Und es ist wichtig, respektvoll mit Bedenken oder Ängsten umzugehen. Auch, wenn ich mich wiederhole, so ist zu betonen, dass es wichtig ist, klarzustellen, dass wir über das OB hinweg sind und es um die gemeinsame Gestaltung des WIE geht. Das löst häufig konstruktive Suchprozesse nach Lösungen aus und erhöht die Beteiligung und das Engagement der Mitarbeitenden – es kanalisiert die Energie von Ängsten hin zu Lösungen.

Warum uns Veränderungen schwerfallen

Menschen sind „Gewohnheitstiere“; Veränderungen bringen Unsicherheit und potenzielles Risiko mit sich, was natürlicherweise Abwehrreaktionen hervorrufen kann. Das Gehirn benötigt zudem im Rahmen von Routinedenken und -arbeiten im sogenannten Automatik-Modus nur ca. 5 % des Gesamtenergieumsatzes des Körpers. Im Rahmen des Change-Managements, also auch des Erlernens von neuen Methoden und Ansätzen, kann bzw. muss es den Energieverbrauch bis auf 20 % erhöhen – aber das Gehirn versucht in der Regel, diese Anstrengung zu vermeiden und „wehrt“ sich. Denn es empfindet Veränderung meist als unfassbar anstrengend und möchte daher lieber die Routine bewahren, da es der ökonomisch günstigere Modus ist. Es ist wichtig, das zu verstehen.

Der Unterschied zwischen Change-Management und Transformation

Change-Management und Transformation sind beides wichtige Konzepte im Bereich des organisatorischen Wandels, unterscheiden sich jedoch in ihrem Umfang, ihrer Tiefe und ihren Zielen.

Change-Management bezieht sich im Allgemeinen auf den Prozess, Veränderungen innerhalb einer Organisation zu planen, zu implementieren, zu steuern und zu stabilisieren. Es geht darum, spezifische Veränderungen zu managen, die oft klar definiert und auf bestimmte Ziele oder Projekte ausgerichtet sind. Change-Management kann sich auf Veränderungen in Prozessen, Systemen, Strukturen oder Technologien beziehen und ist oft reaktiv, d. h., es wird implementiert, um auf interne oder externe Einflüsse zu reagieren. Das Hauptziel von Change-Management ist es, den Übergang von einem bestehenden Zustand zu einem neuen Zustand zu erleichtern, Widerstände zu minimieren und die Akzeptanz unter den Betroffenen zu maximieren.

Transformation hingegen ist weitreichender und bezieht sich auf eine grundlegende Veränderung der Art und Weise, wie eine Organisation funktioniert. Dies kann eine komplette Neugestaltung von Geschäftsprozessen, Unternehmenskultur, Geschäftsmodellen oder der gesamten organisatorischen Struktur umfassen. Transformation ist in der Regel strategisch, tiefgreifend und zielt darauf ab, die Organisation auf lange Sicht zu erneuern oder radikal zu verbessern. Im Gegensatz zum Change-Management, das oft auf spezifische und messbare Ziele ausgerichtet ist, geht es bei der Transformation um eine umfassende Neuausrichtung, die darauf abzielt, die Organisation auf zukünftige Herausforderungen vorzubereiten oder sie wettbewerbsfähiger zu machen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Change-Management oft als ein Werkzeug innerhalb einer größeren Transformationsstrategie angesehen werden kann. Während Change-Management dazu dient, spezifische Veränderungen effektiv zu steuern und umzusetzen, betrachtet Transformation die Veränderung in einem viel breiteren, oft revolutionären Kontext, der die gesamte Organisation betrifft. In der Praxis überschneiden sich diese Konzepte häufig, und die Grenzen können verschwimmen, je nachdem, wie eine Organisation ihre Ziele und Initiativen definiert.

Warum Change-Management und Transformation in guten Zeiten umgesetzt werden sollten

Wirklich gute und erfolgreiche Unternehmen transformieren, wenn es ihnen gut geht, denn genau dann haben sie die in der Regel notwendigen Ressourcen dazu. Und Change benötigt Ressourcen.

Häufig warten Unternehmen jedoch, bis es ihnen immer schlechter geht und der Druck zur Veränderung unausweichlich und groß ist. Sie reagieren eher, als dass sie agieren. Dann haben sie jedoch häufig keine Ressourcen mehr – und schon gar nicht die nötigen Manager. Change-Management und Transformation benötigen jedoch erhebliche Ressourcen.

Zudem werden häufig dann im Rahmen der Notrettung noch die falschen Führungskräfte eingestellt. Ein Betriebswirt oder Volkswirt ist per se noch kein Manager und keine Führungskraft. Es gibt ausreichend exzellente Management-Studiengänge, die das notwendige Wissen vermitteln. Aber die Unterschiede sind den Eigentümern, Betreiber-Gesellschaften, Aufsichtsratsgremien nicht unbedingt bekannt. Auch nicht den Personalberatern. Warum? Keine ausreichende Qualifikation. Daher werden häufig die falschen Führungskräfte eingestellt. Und damit beginnt das Problem.

Proaktives Change-Management kann eine Klinik darauf vorbereiten, auf zukünftige Herausforderungen schnell reagieren zu können. Es ermöglicht eine ständige Anpassung an Best Practices und Innovationen, was langfristig den Erfolg sichert.

Aber auch in schwierigen Zeiten und bei wirtschaftlichem Druck können Veränderungsprozesse aufrechterhalten werden: Durch gut qualifizierte Führungskräfte, die eine klare Priorisierung, effektive Ressourcennutzung und angemessene Kommunikation in den Vordergrund stellen.

Zusammengefasst: Die Faktoren erfolgreichen Change-Managements

Ein klar definiertes Ziel, engagierte und qualifizierte Führungskräfte, effektive Kommunikation, Einbeziehung aller Beteiligten, und eine Kultur, die Veränderungen unterstützt, sind entscheidend für den Erfolg.

Zuerst sollte also eine klare und überzeugende Vision für die Veränderung formuliert werden. Dann sollten strategische Ziele festgelegt und kommuniziert werden. Ein Umsetzungs- und Kommunikationsplan sollte unter Berücksichtigung der vorhandenen und benötigten Ressourcen erstellt werden und Priorisierungen aufweisen. Die aktive Einbeziehung und Schulung der Mitarbeitenden sowie das Monitoring und die Anpassung der Prozesse sind weitere kritische Schritte. Es muss sichergestellt werden, dass sowohl alle Führungskräfte, aber auch die beauftragten Projekt- und Changemanager nicht nur vorhanden, sondern auch qualifiziert sind. Denn diese operieren zwar nicht „im“ aber „am“ Unternehmen. Und das sollte, genauso wie von den echten Chirurgen, methodisch beherrscht werden. Es darf kein Glück sein, wenn es klappt, ein Projekt erfolgreich zu Ende zu führen, denn hier werden letztlich transformative Eingriffe an den Kliniken vorgenommen, die professionell beherrscht, begleitet und verstanden werden müssen.

Dr. med. David Goldberg

DR. GOLDBERG & PARTNER

Führungs- und Organisationsberatung
Akademie für Führungskräfte
Selztalstr. 13
55218 Ingelheim am Rhein

mail@dr-goldberg.com
www.dr-goldberg-partner.de

Gesundheitspolitik

Goldberg D: BDC-Praxistest: Change-Management in der Chirurgie. Passion Chirurgie. 2025 Januar/Februar; 15(01/02): Artikel 05_01.

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