Alle Artikel von Prof. Dr. med. Hans-Peter Bruch

Trauerrede für Dr. med. Jürgen Bauch

Verehrte Frau Bauch, Liebe Familie Bauch,
Werte Trauergemeinde,

wir alle kannten ihn seit Jahrzehnten. Wir schätzten ihn als herausragende Persönlichkeit in der Chirurgengemeinschaft. Mir selbst war es leider erst vor etwas mehr als drei Jahren vergönnt, Dr. Jürgen Bauch näher kennenlernen zu dürfen. Dr. Jürgen Bauch war damals bereits ein Mann deutlich jenseits der 80, dabei sicheren Schrittes, ausgestattet mit einem messerscharfen schnellen Verstand. Stets spielte ein feines Lächeln um seine Lippen. Den Kopf hielt er nicht selten leicht nach rechts geneigt, so als wolle er die Welt ein wenig von der Seite betrachten – als würde er sich wundern über die lächerlichen Unzulänglichkeiten und Zwistigkeiten, die so häufig unseren Lebensrhythmus bestimmen.

Ich wusste um die außerordentlichen Verdienste, die sich Jürgen Bauch im Laufe eines langen arbeitsreichen Lebens erworben hatte – Verdienste und Ehrungen, die aufzuzählen die Zeit nicht hinreichen würde.

Der Berufsverband der Deutschen Chirurgen dankt ihm dabei außerordentlich viel. Ohne seinen unermüdlichen selbstlosen Einsatz im Sinne aller Chirurgen wäre der BDC sicher nicht das, was er heute ist – der größte Chirurgenverband in Europa. Sein Geist war elastisch bis in die letzten Tage. Er war stets bereit, Positionen zu Gunsten fortschrittlicherer und für die Gemeinschaft besserer Ideen zu räumen und Neues schnell zu adaptieren. So hat er den Wert einer guten Weiterbildung sehr früh erkannt und gegen den Widerstand der etablierten Lehrmeinung die Rubrik Weiterbildung in „Der Chirurg“ verankert. Und er war es, dem wir es zu verdanken haben, dass wir im Langenbeck-Virchow-Haus wieder unsere chirurgische Heimat fanden. Der Erfolg hat immer viele Väter und nur allzu leicht wird dann der eigentliche Urheber einer Entwicklung vergessen.

Es war mir bekannt, dass ich in Jürgen Bauch eine Persönlichkeit vor mir hatte, für die noch eherne Gesetze von Moral, Anstand, Freundschaft und Pflicht gegenüber dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft galten. Ich wusste um die Hochachtung, mit der ihm Freunde und Bekannte, erstaunlicherweise aber auch Widersacher, begegneten. Sein Rat war gefragt, wo es sich um allzu Menschliches handelte, wo es galt in schwierigen Situationen das rechte Maß zu bewahren, eine Problemlösung zu finden, die dem intendierten Ziel gerecht wurde und doch allen Beteiligten erlaubte, das Gesicht zu wahren.

Ich war gespannt, wie dieser Jürgen Bauch aus der Nähe sein würde, wie es sich anfühlen würde, mit ihm über kontroverse Ansichten zu diskutieren, wie sie in großen

Organisationen nun einmal vorkommen. Und – ich war vom ersten Augenblick an angenehm berührt, denn es gab keine Fremdheit, keine Notwendigkeit des sich aneinander Annäherns – es gab keine Veranlassung Positionen aufzubauen, die einer Verteidigung bedurft hätten. Die Gegenstände der Diskussion wurden in hoher Stimmlage klar und präzise angesprochen und vom ersten Augenblick an herrschte ein tiefes Vertrauen, wie ich es so unmittelbar selten in meinem Leben, wenn überhaupt je, erfahren habe.

Wenn ich es in kurzen Worten zusammenfassen wollte, würde ich sagen: Ich hatte das seltene Glück, einem noblen Herren begegnet zu sein und wer auf einige Lebenserfahrung zurückblicken kann, der weiß, wie selten man diesen Begriff, der so voller Hochachtung ist, mit Recht verwenden darf.

Von Stund’ an war Jürgen Bauch für mich so etwas wie eine moralische Instanz, deren Rat ich in schwierigen Situationen immer wieder gesucht habe. Lassen sie mich daher schließen mit einem Wort von Johann Wolfgang von Goethe: „Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man nicht durch den Tod verlieren!“

Prof. Dr. med. Hans-Peter Bruch
Präsident des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen

Bruch HP. Trauerrede für Dr. med. Jürgen Bauch. Passion Chirurgie. 2011 Oktober; 1(10): Artikel 10_01.

Vom Leid der Zinseszins Geplagten

Vor Jahren trat Prof. Kurt Biedenkopf anlässlich einer Quo Vadis Tagung des BDC in Dresden an das Mikrofon, lächelte und begann sinngemäß mit folgender Geschichte:

“Ich stamme aus einer sehr alten Familie. Meine Vorfahren haben um das Jahr 0, ganz genau lässt sich das nicht mehr rekonstruieren, einen großen Klumpen Goldes zur Bank getragen. Heute liegt mir die Welt zu Füßen. Ich bin mit grossem Abstand der reichste Mann der Welt! – Kunstpause – Und diesen Unsinn glauben Sie Ihren Banken jeden Tag.”

Man sollte denken, dass wir nach verschiedenen Bankenkrisen und einer Reihe von drohenden Staatspleiten klüger geworden wären.

Was die Banken anlangt, so hält sich unser Vertrauen unterdessen in sehr überschaubaren Grenzen. Erscheinen aber neue Spieler auf der Bildfläche, die unter anderem Namen dieselben Gedanken verkaufen, sind wir wiederum geneigt erst einmal mitzuspielen, in der Hoffnung unter günstigen Bedingungen doch zu den Gewinnern zu gehören.

Eine für uns Ärzte wichtige neue Spezies immer mächtigerer Akteure sind die Medizin-Ökonomen. Sie wirken immer stärker in Krankenversicherungen und Krankenhäusern. Sie entwickeln flächendeckende Bezahl- und Dokumentationssysteme. Sie stellen Optimalregeln auf, wie Patienten zu behandeln seien. Sie verfügen, wer in ein Krankenhaus aufgenommen werden darf und wessen Aufnahme, und sei er oder sie auch noch so hinfällig, aus ökonomischen Gründen theoretisch, und spätestens nach Prüfung der Aufnahmediagnose durch den ärztlichen Dienst der Krankenkassen auch praktisch, eher abzulehnen wäre.

Die Ideenwelt und das Wissen der Ökonomen sind in vielen Fällen nicht kompatibel mit den Vorstellungen der Mediziner. Und noch weniger mit den Bedürfnissen der Patienten. Nicht der Patient oder die leidende Kreatur stehen im Mittelpunkt. Es ist vielmehr und vor allem das ökonomische Ziel, dem Alles untergeordnet werden soll.

Rückt das Individuum aus dem Focus? Zählen nur noch Patientenströme, die es zu lenken gilt, Patientenbindungsmassnahmen, Patientenaufwertung, Ressourcenminimierung, Prozessoptimierung, Betriebsergebnis und Ähnliches mehr?

Grundsätzlich ist anzuerkennen, dass bei immer begrenzteren Kapitalressourcen Veränderungen notwendig sind. Diese sollten aber das Ergebnis eines vernünftigen, zielgerichteten und vertrauensvollen Dialoges zwischen den Leistungsträgern und den Ökonomen widerspiegeln. Die Fachebene kann als gemeinsamer Ansatz durchaus schnell weiterentwickelt werden, ohne dass es zu inakzeptablen Ziel-Disparitäten kommen muss.

Unglücklicherweise, und hier bestätigen Ausnahmen die Regel, erfolgt die Steuerung durch die Administration in den allermeisten Fällen aber über die Machtebene. Sogenannte Benchmarks und Kennzahlen dienen als Legitimation. Die Umsetzung erfolgt nach planwirtschaftlicher Gesetzmäßigkeit, häufig ohne den Sachverstand der Leistungsträger zu nutzen und Ziele zu definieren, welche die Motivation erhalten und beschlossene Massnahmen plausibel erscheinen lassen.

Da die Machtebene vor allem in den Kliniken alle Spielregeln bestimmt, die zu erreichenden Ziele definiert und die Leistungsträger nicht selten “motiviert” diese Ziele durch Unterschrift zu bestätigen, verbucht die Administration alle Erfolge für sich. Den Misserfolg haben, dank geschickt angelegter Spielregeln, immer die Leistungsträger zu verantworten. Namhafte Kenner der Medizinlandschaft in Deutschland bezeichnen dies als Schuldzuweisungskultur!

Aber zurück zum Ausgangspunkt. Jedes Jahr steigen die Personalkosten. Die Sachkosten nehmen ebenfalls deutlich zu und auch die Preise für Strom und Heizung sinken in der Regel nicht.

Im Wesentlichen konstant bleiben dagegen die Erlöszuweisungen pro Fall (DRGs) durch die Krankenkassen. Damit aber die Mehrkosten, die Jahr für Jahr zu begleichen sind, erwirtschaftet werden, müssen permanent sogenannte Leistungs- und Effizienzreserven im System gehoben werden.

Auch dafür sind die Spielregeln sehr einfach. Mit immer weniger Ressourcen und immer weniger Personal soll immer mehr geleistet werden. Industriebetriebliches Systemdenken wird als Leitbild propagiert und versuchsweise in die Kliniken importiert. Dies hat in Einzelfällen bereits zu erheblichen Nachteilen für Patienten geführt und bereits Juristen dazu motiviert, von den Tätern hinter den Tätern zu sprechen.

Dabei folgt die Logik ökonomischer Rationalität als Paradigma einer sehr einfachen Zinseszinsrechnung.Bei drei Prozent Mehrleistung jährlich bedeutet dies in etwas über zwei Dekaden 100 % mehr Leistung, also eine Verdoppelung des Ausgangswertes. Bei 7 % Mehrleistung pro Jahr sind in knapp über einer Dekade 100 % und in wenig mehr als zwei Dekaden bereits 400 % der Ausgangsleistung erreicht. Sprechen wir über Zuwachszahlen jenseits von 10 % im Jahr beginnt eine abenteuerliche Reise in die Zukunft der Gesundheitsversorgung.

Die zunehmende Leistungsverdichtung bei gleicher oder gar abnehmender Personalstärke, ungebremster Bürokratisierung und steigenden Anforderungen an Qualität und Patientensicherheit kann auf Dauer schon aus Gründen der Logik nicht in die richtige Richtung weisen. Vor allem jene Fächer, die einen hohen persönlichen Einsatz fordern und dem Einzelnen eine hohe persönliche Verantwortung auferlegen, gewinnen sicher nicht an Attraktivität und werden in einer alternden Gesellschaft sowie gleichzeitig zunehmendem Wettbewerb um die besten Köpfe mit großen Nachwuchssorgen zu kämpfen haben.

Darüber hinaus ist zu fragen, ob der Kernauftrag der Medizin, das Patientenwohl, unter den gegebenen Bedingungen nicht bereits in naher Zukunft gänzlich von rein ökonomischen Überlegungen und Zielsetzungen verdrängt werden könnte.

Bereits heute beklagen wir die überproportionale Zunahme der Operations- und Interventionszahlen in Deutschland, die bei genauer Betrachtung doch nur der Logik der ungebremsten, in vielen Fällen erzwungenen Leistungssteigerung folgen. Wir diskutieren über den Mangel an Pflegepersonal und Ärzten, die um sich greifende Demotivation der Leistungsträger und einen immer ruppigeren Umgangston in unseren Institutionen.

Versucht man das System von außen zu betrachten, weisen all diese Zeichen, auch die zunehmende Zahl von Honorar- und Konsiliarärzten, darauf hin, dass wir über zukunftsweisende Veränderungen im System ganz grundsätzlich nachdenken sollten.

Um ein detaillierteren Überblick zu gewinnen hat der BDC gemeinsam mit Herrn Dipl.-Kfm. Thomas Kapitza (ö.b.u.v.Sachverständiger), eine Umfrage unter den führenden Leistungsträgern in unseren Kliniken konzipiert. Wir laden alle Chefärzte ein, sich an dieser Umfrage zu beteiligen. Ziel ist es, ein objektives und aktuelles Meinungsbild zu erheben.

Auf Basis der Umfrageergebnisse wollen wir gemeinsam eine Diskussion anzustoßen, die sich mit sinnvollen Alternativen, Zielsetzungen und Entwicklungsoptionen beschäftigt.

Wir würden gerne mehr Kooperationsbereitschaft und Handlungsfreiheit für alle gewinnen, einen Beitrag zu größerer Arbeitszufriedenheit leisten und das Patientenwohl wieder in das Zentrum des Denkens und Handelns aller Verantwortungsträger rücken. Eine vertrauensvolle, motivierende Kooperation zwischen ärztlichen, pflegerischen und kaufmännischen Führungskräften ist entscheidend für das Patientenwohl und den nachhaltigen Erfolg des Unternehmens Krankenhaus.

Führung heißt Menschen bewegen und das Kommende vorbereiten, wie Eric Krauthammer definiert. Dies impliziert die Fragen: Wie motiviere ich meine Mitarbeiter? Wie mache ich sie erfolgreicher und wie entwickle ich die Einzigartigkeit meines Unternehmens?

Diesen Zielen will sich die berufspolitische Arbeit des BDC auf Chefarzt- und Führungsebene widmen. Bitte unterstützen Sie uns durch Ihre Teilnahme an der Umfrage.

Mit besten Grüßen, Ihr
Prof. Dr. Hans-Peter Bruch
Präsident des BDC

Bruch H.-P. Vom Leid der Zinseszins Geplagten. Passion Chirurgie. 2011 Oktober; 1(10): Artikel 02_01.

Karrierewege in der Chirurgie

Editorial: Quo vadis Chirurgia?

Dem Älteren, der über einige Lebenserfahrung verfügt, wird gerne aufgetragen, etwas über zukünftige Entwicklungen zu philosophieren. Dabei werden in der Regel die aus Erlebtem, der Tradition, der Familie und dem beruflichen Umfeld gewonnenen Erkenntnisse in die Zukunft fortgeschrieben. Unser Gehirn ist nicht darauf programmiert, plötzliche Veränderungen zu antizipieren und in Zukunftsszenarien einzustellen. Unglücklicherweise verläuft die Entwicklung in biologischen Systemen in der Regel nicht kontinuierlich. Dies führt notwendigerweise – je nach Sachlage – zu sehr zutreffenden, aber auch gänzlich falschen Prognosen.

Grundsätzlich, und dies mag für uns Menschen ein Glück sein, kann Zukunft nie genau vorhergesagt werden. Stellglieder in der Ereigniskette können sich sehr überraschend und nachhaltig verändern.

Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass wir Zukunft soweit als irgend möglich denken und planen müssen. Ich hänge nicht dem berühmten Satz von Helmut Schmidt an, der einmal sagte, der Visionär gehört ins Krankenhaus. Denn ich bin der Überzeugung, dass es nicht falsch sein kann, in Zukunftsprojektionen Entwicklungen einzubeziehen, die in der Lage sind, das zu planende Szenario richtungweisend zu beeinflussen.

Also sollten wir uns vielleicht mit folgenden Fragen beschäftigen, soweit dies möglich ist:

  • Wo stehen wir?
  • Welches sind die zu erwartenden Störgrößen und Einflussfaktoren?
  • Wie sollen wir Zukunft planen, damit wir unserem Kernauftrag, dem Patientenwohl, weiterhin gerecht werden und uns die Freude am Beruf nicht abhanden kommt?

Werfen wir einen Blick auf unser Medizinsystem. Dieses System wird mit gewaltigem Aufwand finanziert, es zählt, wie neueste Untersuchungen beweisen, zu den besten in der Welt. Schwerstkranke Patienten besitzen in Deutschland die größten Überlebenschancen. Nach einer Studie der OECD ist es aber auch das uneffektivste Medizinsystem. Die Vorhaltekosten unserer Krankenhäuser sind, verglichen mit dem Rest der Welt, geradezu astronomisch. Die Zahl der Klinikbetten ist deutlich zu hoch. Experten sprechen von 20 bis 30 Prozent. Die manchmal geradezu feindliche Dualität zwischen dem niedergelassenen Bereich und der Klinik ist Kollegen aus anderen Ländern nicht zu vermitteln, und insgesamt leidet unser ineffektives System unter zunehmendem Kapitalmangel.

Wie verhält sich die Politik? Sie verfährt nach einem relativ einfachen Muster, welches in verschiedenen Veröffentlichungen und Büchern nachzulesen ist. Man verknappe das Kapital in einem System, man schaffe Gruppen unterschiedlichen Interesses, man statte diese Gruppen mit nicht hinreichenden finanziellen Mitteln aus und zwinge sie so, gegeneinander Stellung zu beziehen. Im Zweifelsfalle, wenn die Unterfinanzierung dramatisch wird, Priorisierung und harte Rationierung notwendig werden, befindet sich der Staat in der komfortablen Lage als Retter in der Not das System zu übernehmen und die Gaben nach Kassenlage zu verteilen. Das völlig unterfinanzierte Staatssystem in den skandinavischen Ländern und in Großbritannien markiert dann den vorläufigen Endpunkt einer solchen Entwicklung.

Nun werden die Optimisten unter Ihnen einwenden, dass dies ein sehr unwahrscheinliches Szenario sei und, wenn es denn eintreten würde, wohl irgendwann in ferner Zukunft.

Lassen Sie uns deswegen einen Blick werfen auf die Tatsachen, die bereits heute als unumstößlich gelten, weil sie durch Entwicklungen in der Bevölkerung und auf dem Kapitalmarkt auf lange Jahre definiert sind.

Mit dem Jahr 2010 hat Deutschland ganz unbemerkt eine historische Wendemarke überschritten. Während der Jugendquotient weiter linear fällt, steigt der Altersquotient in unserem Volk exponentiell an. Erst im Jahre 2036 erreicht er ein Plateau, wenn die Generation der Babyboomer endgültig in Rente gegangen sein wird. Die Wirtschaft wird dann auf 32 Prozent weniger Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zurückgreifen können. Es fehlen unserer Republik die Arbeiter, es werden aber auch die Unternehmer fehlen.

Im Jahre 2016, wenn die Generation der Babyboomer beginnt, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen, verliert Deutschland innerhalb eines einzigen Jahres 500.000 wohlbezahlte aktive Mitglieder der Gesellschaft. Unsere Sozialsysteme werden damit unter einen Stress gesetzt, dem sie, wenn überhaupt, nur sehr mühsam standhalten können.

Dem gegenüber steht eine zunehmende Lebenserwartung der Bevölkerung, die bis zum Jahre 2200 durchaus die Marke von 120 Jahren im Schnitt erreichen könnte. Die Menschen bleiben länger jung, dennoch werden bereits bis zum Jahre 2020 die großen Volkskrankheiten erheblich zunehmen. Hierzu gehören Krebserkrankungen, Diabetes mellitus, Myokardinfarkt und vor allem die Demenz. Der durchschnittlich sehr alte Patient wird drei bis fünf Nebendiagnosen mitbringen.

Gleichzeitig rechnen wir damit, dass die Zahl der Blutspender – es handelt sich meist um jüngere Bürger – um 30 bis 35 Prozent abnimmt, während die Zahl der potentiellen Blutempfänger um 25 Prozent ansteigen wird.

Wollten wir dieser Problematik entgegenwirken, müssten wir, wie dies Hans Werner Sinn berechnet hat, sofort bis zum 77. Lebensjahr arbeiten. Alternativ bedürfte Deutschland einer Zuwanderung von im Minimum 34 Millionen Gast- oder Fremdarbeitern. Sofern diese wiederum in das deutsche Sozial- und Rentensystem streben, nicht nur einmal, sondern mehrmals. Die Deutschen würden zur Minderheit im eigenen Land. Beides ist wohl keine vernünftige Lösung des Problems.

Um die derzeitige Bevölkerung aufrecht zu erhalten, müsste jede Frau durchschnittliche mindestens 2,1 Kinder gebären. Ein Bevölkerungsaustausch mit den hochzivilisierten Ländern Europas ist nicht möglich, da sich diese mit einer Zeitverzögerung zwischen 7 und 15 Jahren auf dem gleichen Weg befinden wie Deutschland. Hinzu kommt, dass Familien mit Kindern durch eine 3- bis 4-fache finanzielle Belastung besonders betroffen sind und sich daran wohl in einer zunehmend gerontokratisch geprägten Gesellschaft in absehbarer Zeit nichts ändern wird.

Diese demographischen Veränderungen werden erhebliche Auswirkungen auf unsere Sozialsysteme haben. Es ist allen Spezialisten klar, dass unsere Sozialsysteme zwischen 2016 und 2026 in sich zusammenbrechen werden, da sie der finanziellen Grundlage beraubt sein werden. Es nimmt daher nicht wunder, dass alle derzeitigen Prognosen vor den kritischen Zeitpunkten enden.

Würden wir sorglos nach bekanntem Muster in die Zukunft leben, müssten wir wohl im Jahre 2040 43 bis 50 Prozent unseres Bruttolohnes allein für Krankenversicherung aufwenden, wie dies Prof. Beske aus Kiel errechnet hat.

Und last but not least sollten wir noch einen Blick auf die Schuldenlast werfen, die wir künftigen Generationen hinterlassen und ich erlaube mir, in diesem Sachzusammenhang an das verschuldete Griechenland zu erinnern. Die Vertreter unserer Medien sind nicht müde geworden, auf die Verantwortungslosigkeit der griechischen Regierung und der griechischen Administration hinzuweisen. Dabei wird gern auf die 78 Prozent des BIP abgehoben, die wir als Schuldenlast zu bewältigen haben. Dabei wird vergessen, dass wir unverdrossen und ohne sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen, Wechsel auf die Zukunft ausstellen. Addieren wir zur Staatsverschuldung die Renten und Pensionsansprüche sowie die Zuschussansprüche der Krankenversicherungen, liegt Deutschland bereits heute bei einer Verschuldung von 418 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und damit um mehr als 300 Prozent höher als die Griechen.

Wir wissen jetzt, wo wir stehen und wohin sich unser Staatsgebilde bewegen wird. Kommen wir also zur zweiten Frage: welches sind die zu erwartenden Störgrößen und Einflussfaktoren im Medizinsystem selbst? Die Demographie wird uns einen Pflege- und Kranken-Tsunami bescheren. Gleichzeitig wird eine Fachkräfte-Ebbe auftreten und auf dem Markt wird ein Wettbewerb um die besten Köpfe entstehen. Vorsichtige Prognosen rechnen in den nächsten 10 Jahren mit einem Ärztemangel in der Größenordnung von 20.000 bis 35.000, mit einem Pflegemangel in der Größenordnung von 150.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Dies, obwohl wir in unseren Krankenhäusern von Jahr zu Jahr 2 Prozent mehr Ärzte zählen. Es ist aber zu bedenken, dass sich das gesellschaftliche Umfeld zunehmend verändert. Die Gesellschaft hat den Arztberuf von seinem hohen Sockel gestoßen, was dazu führt, dass die Ärzte dem System immer weniger Arbeitskraft zur Verfügung stellen.

Außerdem ist zu konstatieren, dass die Medizin weiblich wird. Aus biologischen Gründen und Gründen des Anstandes müssen in Zukunft für 2 ausscheidende Kollegen mindestens 3 Kolleginnen, besser 3,4 Kolleginnen, eingestellt werden. Das System hat sich auf diesen Wandel in keiner Weise vorbereitet. Einige Fächer, wie die Viszeralchirurgie und die spezielle Unfallchirurgie, werden durch die Veränderung der Lebenseinstellung besonders hart getroffen. Andere Fächer, wie etwa die Innere Medizin, Radiologie etc., werden folgen.

Bereits heute arbeiten in 40 Prozent der deutschen Krankenhäuser Honorar- und Konsiliarärzte, die entstehende Lücken auffüllen. Das zeigt, dass das heile Medizinsystem nur noch in unseren Köpfen existiert. In den Kliniken, aber auch in den KVen wird versucht, mit weniger Personal jedes Jahr mehr Leistung von 3 bis 7 Prozent zu erzielen. Dies würde bei gleichem Personal in einem Zeitraum zwischen 12 und 20 Jahren zu einer Produktivitätssteigerung von 100 Prozent führen. Eine, wie ich meine, surreale Zumutung, die nur in den Köpfen halbgebildeter Ökonometriker entstehen kann, denen der Blick für das Gesamtsystem verlorengegangen ist.

Grundsätzlich aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sollten wir die Frage beantworten, wie wir denn mit weniger Kapital, weniger Personal dem medizinischen Fortschritt gerecht werden wollen und wie es uns gelingen mag, im Sinne des Humanismus und der christlichen Soziallehre dafür Sorge zu tragen, dass der unverschuldet in Not Geratene, unabhängig von Ansehen und Einkommen, die nötige Hilfe erhält. Wollen wir also nicht unmittelbar in eine rationierte, unterfinanzierte Staatsmedizin abgleiten, werden kleine Korrekturen am System nicht hinreichen, um diesem hohen Anspruch gerecht zu werden. Wir werden darüber befinden müssen, wie viel Medizin in welcher Spezialisierung auf welchem Niveau und in welchen Kooperationsstrukturen wir an welchem Ort vorhalten wollen und können.

Man mag Herrn Lauterbach schätzen oder nicht, die Frage, wie lange wir uns eine doppelte Facharztschiene und die Dualität von Klinik und Praxis noch werden leisten können, muss beantwortet werden und, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sollten sie beantworten. Die großen Krankenkassen rechnen damit, dass 20 bis 30 Prozent der klinischen Leistungen in den nächsten Jahren in den niedergelassenen Bereich abwandern müssen, und dies bedeutet einen erheblichen Abbau von Kliniken und Klinikbetten. Dies bedeutet aber auch, dass wir ganz neue Strukturen der Kooperation zwischen Klinik und Praxis definieren müssen.

Wenn die weniger aufwendigen Leistungen in die Praxen abwandern, muss auch die Weiterbildungsermächtigung folgen. Wir werden also kooperative Weiterbildungsermächtigungen zwischen Kliniken und Praxen erleben und dies wahrscheinlich in kurzer Frist.

Wie sollen wir also Zukunft planen? Mit der Novellierung der Weiterbildungsordnung im letzten Jahr wurde in unserem Fachgebiet, der Viszeralchirurgie, ein Schritt in die richtige Richtung unternommen. Das Curriculum wird erfüllbar, und mit der Zusatzweiterbildung „spezielle Viszeralchirurgie“ werden alle hochkomplexen, in der Regel selteneren Eingriffe in einen zweiten Abschnitt verlagert. Dieser wird in Zukunft wohl nur noch von den Vertretern größerer Häuser erfüllt werden.

Man könnte sich darüber hinaus eine weitere Spezialisierung vorstellen wie etwa oberer Gastrointestinaltrakt, unterer Gastrointestinaltrakt, Leber/Galle/Pankreas, Koloproktologie, endokrine Chirurgie, Transplantationschirurgie, chirurgische Intensivmedizin, chirurgische Endoskopie, Hernienchirurgie etc. Diese Superspezialisierung mag in Kliniken sinnvoll sein, die zwischen 4.000 und 7.000 operative Interventionen im Jahr zu leisten haben. In Ballungsräumen mag die eine oder andere Superspezialisierung, wie zum Beispiel Proktologie oder Koloproktologie auch im niedergelassenen Bereich Erfolg versprechen. Bedenken wir jedoch, dass die Lebenserwartung derzeit pro Jahr um mehrere Monate ansteigt, werden wir zukünftige Ärztegenerationen nicht mehr für 35 sondern für 45 bis 50 Jahre Berufsleben weiter- und fortzubilden haben. Wenn die derzeitige Wissensexplosion nicht durch katastrophale Ereignisse auf der Welt beeinflusst wird, wird die Medizin am Ende des Berufslebens mit der zu Beginn eines Berufslebens nur noch wenig zu tun haben.

Würden wir das allzu rigide Weiterbildungssystem der Jetztzeit, das gleichzeitig auch ein Abrechnungssystem bedingt, fortschreiben und würden die Fächergrenzen weiterhin bewacht wie die Grenzen verfeindeter Staaten, würde ein nicht unerheblicher Teil der Medizin am Markt vorbei weiter- und fortgebildet werden. Wir sollten die Spezialisierung und Superspezialisierung daher als Chance erkennen und die Einzelmodule in eine modulare Weiterbildung integrieren. Diese modulare Weiterbildung dürfte allerdings vor Fächergrenzen nicht Halt machen. Unter den Bedingungen des Pflege- und des Kranken-Tsunami bei gleichzeitigem Ärztemangel werden uns in diesem Sachzusammenhang auch die Argumente ausgehen.

Wollen wir die Zukunft mitgestalten, werden wir auch über unsere eigenen Strukturen, die Fachgesellschaften, die Berufsverbände und insbesondere auch die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie nachdenken müssen. Trotz des absehbaren Kapitalmangels leisten wir uns eine Vielzahl teurer, ineffektiver Parallelstrukturen.

  • Wäre es nicht sinnvoll, alle Aus-, Fort- und Weiterbildungsaktivitäten in einer Akademie zusammenzufassen, um Kapital und Arbeitskraft optimal zu nutzen und der nachwachsenden Generation pädagogisch professionelle Strukturen zur Verfügung zu stellen?
  • Wird es auf die Dauer möglich sein, Wissenschaft, Forschung, Leitlinienerstellung, Studienplanung etc. neben dem klinischen Alltag zu organisieren, wenn die Leistungsverdichtung weiter zunimmt?
  • Wie organisiert man Öffentlichkeitsarbeit und nimmt sinnvoll Einfluss auf die Gesundheitspolitik?
  • Wie soll die Kooperation mit der Gesundheitswirtschaft geregelt werden?
  • Wie werden sinnvolle Modelle zur Kooperation, Klinik und ambulanter Behandlung geschaffen und erprobt?
  • Wie kreiert man attraktive berufliche Perspektiven?
  • Wer kümmert sich um Genderfragen, Finanzen, Recht, Versicherung, Kommunikation und Organisation?

Die Anforderungen an die Professionalität von Strukturen haben in den letzten Dezennien erheblich zugenommen. Wir werden uns diesen Herausforderungen stellen müssen. Dabei werden wir es nicht allein mit innerer Notwendigkeit oder Sinnhaftigkeit zu tun haben. Vielmehr wirken auf uns und unser Gesundheitssystem in den nächsten Jahren unausweichliche Veränderungen ein, die uns wohl keine allzu lange Zeitspanne lassen werden, auch notwendige innere Entwicklungsprozesse anzustoßen.

Aus all diesen Fragen ergibt sich für mich die zwingende Notwendigkeit, Gruppen und persönliche Interessen, Machtstrukturen und Machtansprüche hintan zu stellen, die Einheit der deutschen Chirurgie zu verwirklichen, um so mit einer vernehmlichen Stimme in die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse eingreifen zu können.

Bruch HP. Quo vadis Chirurgia? Passion Chirurgie. 2011 April; 1(4): Artikel 01_01.

Einheit der Deutschen Chirurgie

Das Projekt „Einheit der Deutschen Chirurgie“ wird die Herausforderung für den Berufsverband und die chirurgischen Fachgesellschaften im Neuen Jahr. BDC-Präsident Prof. Hans-Peter Bruch reflektiert in seinem Jahresbericht 2010 die wesentlichen Aktivitäten des BDC des ablaufenden Jahres und entwirft ein Programm für die Arbeit unseres Verbandes in den kommenden Jahren.

50 Jahre BDC

Ein halbes Jahrhundert Berufsverband der Deutschen Chirurgen – dies ist auch in geschichtlicher Dimension eine erkennbare Zeitspanne. Der BDC ist unter seinen Präsidenten, Vorständen und Präsidien kontinuierlich gewachsen. Er zählt heute über 16.000 Mitglieder, 2/3 aller in Deutschland tätigen Chirurgen fühlen sich damit vom BDC gut vertreten und im BDC gut aufgehoben. Und – worauf die Chirurgengemeinschaft besonders stolz sein kann – es sind die jungen Kolleginnen und Kollegen, die dem BDC ihr Vertrauen schenken.

Dieses Vertrauensverhältnis zu bewahren und der neuen Generation wie den etablierten Chirurgen in wichtigen Fragen der Weiter- und Fortbildung, der Berufspolitik, des Rechts und der alltäglichen Probleme Anregungen und Unterstützung zuteil werden zu lassen, zählt zu den vornehmlichen Aufgaben des BDC.

Neuwahl des Präsidiums

Mit der Wahl des neuen Präsidenten hat ein Generationswechsel stattgefunden. Damit übernimmt die Nachkriegsgeneration die Verantwortung – eine Generation, die die Aufwärtsentwicklung aller Systeme und das unbegrenzte Heilsversprechen des Staates als Selbstverständlichkeit wahrnimmt. Alle haben sich in diesem System bequem eingerichtet, im irrigen Glauben an den immerwährenden Wohlstand auf Kinder verzichtet und die Leistungsbereitschaft durch allerlei mehr oder weniger sinnvolle bürokratische Maßnahmen begrenzt.

Projekt „Einheit der Deutschen Chirurgie“

Im Angesicht des demografischen Wandels sehen wir nun Veränderungen entgegen, auf die wir in keiner Weise vorbereitet sind. Darüber hinaus wird in den Gesprächen mit den Verbänden, Gesellschaften und den Repräsentanten der Kammern überdeutlich, dass wir Chirurgen in unserer derzeitigen Verfassung kaum Einfluss nehmen können auf die kommenden Entwicklungen. Unsere Argumente werden von einem vielstimmigen Chor in unterschiedlichen Tonarten vorgetragen und unterschiedliche Melodien zu einem schwer erträglichen Quodlibet verbunden.

Wer Einfluss nehmen will, muss in der Lage sein, seine Ziele eindeutig zu definieren und kraftvoll vorzutragen. Diesem Ziel näher zu kommen, hat sich eine kleine Gruppe von Chirurgen zusammengefunden, die primär ohne Mandat die Vision einer „Einheit der Deutschen Chirurgie“ entwickelt hat. Diese Vision wurde in einer Präambel zusammengefasst, die im Folgenden auszugsweise wiedergegeben werden soll.

„Die Chirurgischen Fächer sehen sich großen Herausforderungen gegenüber. Chirurgen in Deutschland arbeiten am meisten verglichen mit den Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern. Die Lebensqualität in der modernen Gesellschaft, was die Work-life-balance anlangt, ist verbesserungsfähig. Die Honorierung der hohen Leistung wird als nicht angemessen empfunden. Nachwuchssorgen in bestimmten chirurgischen Fächern sind die logische Folge. Zusätzlich befindet sich die Ökonomie auf dem Wege zur alles bestimmenden Macht. Die Demografie verändert sich schnell. Mit dem Jahr 2010 steigt der Altersquotient nicht mehr linear, sondern exponentiell. Würden wir so tun als veränderte sich nichts, würde allein die Gesundheitsvorsorge im Jahr 2050 zwischen 40 und 50 Prozent des Bruttolohnes verzehren.

Notgedrungen wird man also über Priorisierung und Rationierung diskutieren müssen, man wird die Frage beantworten müssen, wie die Krankenhauslandschaft zu gestalten sei, wie die Organisationsform der Krankenhäuser aussehen muss und wie viel von welcher spezialisierten Leistung an welchem Ort vorzuhalten ist […]

Der Kapitalmangel wird nicht ohne Auswirkungen bleiben auf die Gewinnmargen der Industrie. Dies wiederum wird das Sponsoring, die Kongresslandschaft und die Möglichkeiten der Weiter- und Fortbildung nachhaltig verändern. Bislang haben die chirurgischen Fachgesellschaften und Verbände den notwendigen Prozess der Spezialisierung begleitet und vorangetrieben und eine „Corporate Identity“ entwickelt, die notwendig ist, um die eigene Position in der chirurgischen Gemeinschaft zu behaupten.

Logischerweise entstanden so teure Parallelstrukturen, die sich mit ganz ähnlichen Verwaltungs-, Lehr- und Wissenschaftsaufgaben beschäftigen. In der öffentlichen Wahrnehmung entstand ein vielstimmiges Ensemble ohne nachhaltigen politischen Einfluss. Dies gilt für die Ärztekammern und den Deutschen Ärztetag ebenso wie für die politischen Gremien.

Es erscheint daher sinnvoll und geboten, die Aktivitäten der chirurgischen Fachgesellschaften und Verbände […] zu bündeln, so wie es die Engländer mit dem Royal College of Surgeons seit langem vorleben. Auch unser Ziel muss es sein, dass die deutsche Chirurgie in absehbarer Zeit von einer allseits wahrnehmbaren Stimme vertreten wird.

Als weiteres Ziel sollte ein gemeinsamer Kongress/eine gemeinsame chirurgische Woche als Ergebnis der „Einheit der deutschen Chirurgie“ entstehen. […]“ Die Präsidien sowohl der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie als auch des Berufsverbandes haben die Präambel zur Kenntnis genommen und mit der Maßgabe, bestimmte Veränderungen vorzunehmen und bestimmte Regeln zu definieren, das Plazet erteilt, an der „Einheit der deutschen Chirurgie“ weiterzuarbeiten.

Es wird jetzt darauf ankommen, ein allseits akzeptiertes Kooperationsmodell zu entwickeln und Projektgruppen zu etablieren, die sich mit den wichtigen Aufgaben der Fachgesellschaften und Berufsverbände auseinandersetzen. Am Ende des Arbeits- und Diskussionsprozesses wäre es wünschenswert, professionalisierte Strukturen zu etablieren, die der Chirurgengemeinschaft helfen, die Zukunft zu gewinnen. Im Rahmen des Kooperationsmodells werden sich die Verbände und Gesellschaften Verfahrensregeln geben, man wird die offenen Fragen diskutieren.

Um einen wirklichen Konsens als Ausgangspunkt der weiteren Arbeit zu gewinnen, ist Mitte Januar ein Konklave der Fachgesellschaften und Verbände geplant, damit weitere Schritte im absoluten Konsens unternommen werden. Der Dank der Initiatoren gilt den Vorständen und Präsidien, den Präsidenten und Sekretären der wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Verbände, ohne deren Mitwirkung und Zustimmung eine weitere Arbeit nicht möglich wäre. Im Rahmen der anstehenden Diskussionen wird es nötig sein, eine Vertrauensbasis zu schaffen und die Selbstständigkeit der Gruppen bei aller Gemeinsamkeit der Zielsetzung zu erhalten.

Gemeinsamer Kongress BNC – BDC – BAO

Ein erster Erfolg wurde auf dem Weg zur Einheit der deutschen Chirurgie bereits erzielt. In sehr freundschaftlichen und fruchtbaren Diskussionen ist es gelungen, gestützt von den Kollegen Dieter Haack, Axel Neumann und Jörg Rüggeberg sowie dem Leiter der Kongresskommission, Kollegen Stephan Dittrich, eine Übereinkunft zwischen BNC, BDC und BAO zu erzielen, einen gemeinsamen Kongress zu organisieren. In diesem Kongress wird auch unser traditionsreicher Chirurgentag aufgehen.

Das Hauptprogramm des ersten gemeinsamen Bundeskongresses, der vom 04. bis 06. März 2011 in Nürnberg stattfinden wird, liegt dieser Ausgabe unserer Mitgliederzeitschrift bei. Parallel wird es dem ChirurgenMagazin, der Zeitschrift des BNC, beiliegen. Weitere Informationen finden Sie unter www.chirurgentag.de. Wir freuen uns schon heute auf möglichst viele Gäste aus Klinik und Praxis, die unter dem Kongressmotto „Nur Kommunikation und Integration sprengen Sektoren“ den Weg nach Nürnberg finden. Setzen auch Sie mit Ihrer Teilnahme ein Zeichen für die Einheit der Deutschen Chirurgie!

Gemeinsamer Nachwuchskongress­ „Schnittpunkt Chirurgie“

Daneben haben die Akademieleiter Schröder und Krones gemeinsam mit den Fachgesellschaften, besonders befördert durch den Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie und Orthopädie, Hartmut Siebert, einen Nachwuchskongress aus der Taufe gehoben, der vom 18. bis 19. März 2011 im Langenbeck-Virchow-Haus Berlin stattfinden wird.

Quo vadis Sozialstaat?

Schon heute möchte ich außerdem alle BDC-Mitglieder zur Veranstaltung „Quo vadis Sozialstaat?“ am 04.02.2011 in das Langenbeck-Virchow-Haus Berlin einladen. Gemeinsam mit Fachgesellschaften der Chirurgie und anderer Disziplinen, Berufsverbänden, dem Deutschen Krankenhausinstitut, den Leitenden Krankenhausärzten und vielen weiteren Verbänden wollen wir über die „Daseinsfürsorge vor dem Hintergrund des demografischen Wandels“ diskutieren. Es ist uns gelungen, Referenten aus Philosophie, Wissenschaft, Sozialverbänden und Krankenkassen sowie der Politik zu gewinnen. Am Ende der Veranstaltung wird eine Podiumsdiskussion stehen, die sich der Frage widmen soll, wie man den Herausforderungen, der absehbaren Veränderungen in unserem Sozialsystem vernünftig begegnen kann.

Neue Wege in der chirurgischen Weiterbildung

In diesem Sachzusammenhang gehören auch Überlegungen und Diskussionen, die in der Weiterbildungskommission und in der Kooperation mit den großen Verbänden und der Bundesärztekammer begonnen haben. Wir müssen darüber nachdenken, ob die regiden Strukturen des derzeitigen Weiterbildungssystems aufrechterhalten werden können. Wir müssen uns der Tatsache bewusst sein, dass Mediziner derzeit für ein mindestens 30jähriges Berufsleben weitergebildet werden.

Je allgemeiner diese Weiterbildung erfolgt, je elastischer das System ist und je besser modulare Weiterbildungsinhalte den Wechsel zwischen Spezialdisziplinen ermöglichen, umso eher wird man den zukünftigen Bedarf treffen. Je spezieller die Weiterbildung, desto größer ist die Gefahr, das man den künftigen Entwicklungen nicht gerecht wird. Als Beispiel sei hier die Chiptechnologie genannt, mithilfe derer es in absehbarer Zeit möglich sein könnte, Tumorvorstufen und frühe Tumore aus dem peripheren Blut zu diagnostizieren. Derartige medizinisch-technische Entwicklungen werden den Fächerkanon und die Weiterbildung in den einzelnen Fächern dramatisch beeinflussen.

In Zeiten des allgemeinen Personalmangels und der Konkurrenz zwischen verschiedensten Disziplinen um die klugen Köpfe wird dem Weiterbilder in Theorie und Praxis eine besondere Rolle zukommen. Der BDC arbeitet daran, Modelle für die praktische Weiterbildung zu etablieren. Unser besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Training praktischer Fähigkeiten und Fertigkeiten außerhalb des Operationssaales in dry lab, wet lab und virtueller Realität. Es wird angestrebt, die Inhalte gemeinsam mit den Fachgesellschaften zu erarbeiten und zu vermitteln. Ein freiwilliges theoretisches und praktisches Assessment nach zwei, vier und sechs Jahren der Weiterbildung erscheint in diesem Zusammenhang sinnvoll.

Delegation ärztlicher und nicht-ärztlicher Tätigkeiten

Die zunehmende Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sowie der sich in den kommenden Jahren noch verschärfende Nachwuchsmangel werden uns auch dazu zwingen, ärztliche und nicht-ärztliche Leistungen zu delegieren. Alle Umfragen machen deutlich, dass insbesondere die überbordenden administrativen Aufgaben Aus- und Weiterbildungszeit vernichten und die Zuwendung zum Patienten über Gebühr einschränken. Hinzu kommen rein mechanische Aufgaben im Operationsbereich, die keinen wesentlichen positiven Effekt für die Weiterbildung haben.

Einige dieser Aufgaben könnten durch medizinisch-administrative Assistenten (Arbeitstitel des BDC) auf Station sowie entsprechend ausgebildetes Assistenzpersonal im OP (CTA, Physician Assistant der DGU) übernommen werden. Das Curriculum eines berufsbegleitenden Fortbildungsangebotes für erfahrenes Pflegepersonal zum medizinisch-administrativen Assistenten (MAA) wurde durch den BDC unter Leitung von Kollegen Ansorg in Kooperation mit erfahrenen Partnern weitgehend fertig gestellt. Es wird derzeit mit dem Berufsverband der Deutschen Internisten (BDI) und anderen Verbänden diskutiert, und soll im ersten Quartal 2011 im Rahmen eines Pilotkurses erstmalig angeboten werden. In absehbarer Zeit kann daraus ein neues, überaus sinnvolles Berufsbild entstehen.

Neue Internetangebote und Kommunikationswege ­im BDC

Im Sinne der optimalen Weiterbildung werden die E-Learning- und E-Book-Plattformen des BDC rasant ausgebaut. Die BDC-Fortbildungsplattform (www.ecme-center.org) bietet mittlerweile knapp 700 E-Learning-Kurse an und hat sich als größte Plattform ihrer Art im deutschsprachigen Internet etabliert. Die BDC-Mitgliederzeitschrift wird ab Januar monatlich als elektronisches Magazin für PC und Tablet-Geräte erscheinen und es werden nur noch vier Quartalsausgaben in gedruckter Form herausgegeben. Durch die gleichzeitige Trennung vom bisherigen Verlagspartner können wir dadurch erhebliche Kostenvorteile verzeichnen und die Mitgliedsbeiträge stabil halten.

Zusätzlich wird mit Unterstützung des BDC-eigenen Chirurgen-Netzwerkes (www.cNetz.org) die Entwicklung einer weiteren Web-2.0-Basis für die chirurgische Forschung entwickelt. Dieses vom BMBF geförderte Projekt namens SurgeryNet wird dem Nutzer viele Vorteile bieten und Instrumente zur Verfügung stellen, die den chirurgischen Alltag in Forschung und Lehre beflügeln. Die immer knapper werdenden Ressourcen sollen in diesem chirurgischen Wissenschaftsnetz gebündelt werden.

Die Chirurgie wird weiblich

Die Leopoldina hat ein sechsbändiges Werk über die Zukunft der alternden Gesellschaft in Auftrag gegeben, das von herausragenden Wissenschaftlern erstellt wurde. Daraus geht eindeutig hervor, dass wir in unserer Gesellschaft die Zukunft nur dann gewinnen können, wenn wir die schulische und universitäre Ausbildung straffen, die Weiterbildung in kürzester Zeit durchlaufen, die Lebensarbeitszeit deutlich zunimmt und wenn es gelingt, daß unsere Kolleginnen und Kollegen Familie und Beruf harmonisch vereinbaren können, um nach einem erfüllten Familien- und Arbeitsleben von der Gesellschaft geplant und konsentiert aus dem Berufsleben auszuscheiden.

Ganz besonderes Augenmerk werden wir deshalb in Zukunft der Integration unserer Kolleginnen in der Chirurgie schenken müssen. Ein entsprechendes Forschungsprogramm wurde uns bereits genehmigt. Wir haben uns zusätzlich der Unterstützung und Kooperation des Deutschen Krankenhausinstitutes versichert. Erste Ansatzpunkte zur Problemlösung zeigen die Ergebnisse einer gemeinsam Umfrage mit der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (Frau Kollegin Welcker), dem Ärztinnenbund (Frau Prof. Schrader) und dem BDC (Kollege Ansorg) auf, die in der Oktoberausgabe unserer Mitgliederzeitschrift veröffentlicht wurden.

Im Ergebnis werden Weiterbildungscurricula erstellt werden müssen, die Ausfallszeiten zur Familiengründung und –erweiterung harmonisch berücksichtigen. Es muss für Kinderbetreuung und Arbeitszeitregelungen gesorgt werden, die praktikabel und akzeptabel sind.

Ökonomisierung der Medizin

Ein zunehmendes Problem in unserer Gesellschaft ist die Ökonomisierung, auch der Medizin. Von den Administrationen erwartete jährliche Produktivitätssteigerungen in der Größenordnung von drei bis zehn Prozent, möglichst noch bei schrumpfendem Personalbestand und gleichbleibenden finanziellen Ressourcen sind für jeden, der die Zinseszinsrechnung beherrscht, eine surreale Zumutung.

Darüber hinaus ist die Frage zu stellen, ob denn die von der Gesellschaft geforderte medizinische Spitzenleistung in verschiedenen medizinischen Berufsgruppen eine identische Bezahlung rechtfertigt. In einem Markt, der von der Konkurrenz um die besten Köpfe bestimmt wird, hat Leistung ihren Preis und will Leistung anerkannt sein.

Nach allen bekannten Umfragen, haben wir hier insbesondere, auch was den menschlichen Umgang miteinander anlangt, erhebliche Defizite zu beseitigen. Lassen Sie uns die skizzierten Herausforderungen im neuen Jahr gemeinsam angehen. Wir hoffen auf Ihre aktive Mitarbeit bei den vor uns liegenden Aufgaben und laden alle, die guten Willens sind, herzlich ein, aktiv mitzuwirken.

Der Vorstand des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen wünscht Ihnen und Ihren Familien eine weitgehend geruhsame Weihnachts- und Neujahrszeit.

Bruch, H.-P., Einheit der Deutschen Chirurgie, Passion Chirurgie, 01/2011, Artikel 02_01

Der Neue stellt sich vor

1947 wurde ich – eine Mischung aus Chirurg und Mathematikerin – in Erlangen geboren. In Amberg in der Oberpfalz und in Rothenburg ob der Tauber bin ich aufgewachsen. Frühzeitig geprägt durch das Vorbild meines Vaters, galt mein besonderes Interesse der Medizin, aber auch der Biochemie. Nach dem Physikum in Würzburg folgte ein Studienaufenthalt im Institut für Eiweiß und Leder in München. Ernst Helmreich eröffnete mir dann in Würzburg die Möglichkeit, im Rahmen eines DFG-Projektes, gesichert durch eine gute Finanzierung, parallel zum Medizinstudium Biochemie zu studieren und biochemisch zu arbeiten.

Nach Staatsexamen und Bundeswehrzeit trat ich eine Assistentenstelle bei Prof. Demmling in Erlangen an, der damals sicher einer der bedeutendsten Gastroenterologen weltweit war. Nach kurzer Zeit wurde mir jedoch klar, dass ich beim „Leisten“ meiner Väter, der Chirurgie, doch besser aufgehoben sein würde. Ich wechselte daher zu Prof. Kern nach Würzburg, der mich in allen Belangen intensiv förderte, sodass ich in Patientenversorgung, Forschung und Lehre eine profunde Ausbildung erhielt. So konnte ich mich kurz nach der Facharztanerkennung habilitieren, durfte drei Teilgebietsbezeichnungen erwerben und wurde schließlich zum leitenden Oberarzt ernannt. 1990 erfolgte dann der Ruf an die Universitätsklinik in Lübeck.

Immer wieder wurde ich mit organisatorischen Aufgaben betraut. So war ich beratender Arzt des Heeresterritorialkommandos Süd. Ich durfte die chirurgische Arbeitsgemeinschaft Proktologie, die zur Arbeitsgemeinschaft Koloproktologie der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie wurde, acht Jahre lang führen. Ich war Sprecher des Konventes der Lehrstuhlinhaber für Viszeralchirurgie, Sekretär der Deutschen Gesellschaft für Viszeralchirurgie, die sich zur Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie hin entwickelte, und deren Präsident im folgenden Jahr. Die Probleme der Kliniken kenne ich aus eigener Anschauung, aber auch durch die Aufgabe als Sprecher der Zentren in Lübeck, Aufsichtsrats- und Universitätsbeiratsmitglied.

Als Kurator der Fraunhofer Gesellschaft und Mitglied in der Leopoldina habe ich gelernt, wie in Technik, Naturwissenschaft und Medizin Zukunft übergreifend gedacht wird.

In den letzten beiden Jahren hatte ich das große Glück, dass mich mein Mentor und Freund Michael Polonius in die Aufgaben des BDC einführte. Viele Entwicklungslinien des BDC, stets orientiert am Kernauftrag berufspolitischer Vertretung, Beratung und Unterstützung der Mitglieder, Weiter- und Fortbildung, sind durch den Präsidenten, aber auch durch den Vorstand und das Präsidium vorgezeichnet. Dies gilt es weiterzuführen. Dabei sehen wir wahrscheinlich schwierigeren Zeiten entgegen. Der stille Staatsstreich der Banken hat vieles verändert. Alle Organisationen werden auf absehbare Zeit mit deutlich weniger Kapital auskommen müssen. Dies wird uns zwingen, über unsere Kernaufgaben neu nachzudenken. Wir müssen gemeinsame Ziele definieren und wir werden diese Ziele wohl nur dann erreichen, wenn die Kernkompetenz der Berufsverbände und der wissenschaftlichen Gesellschaften so zusammengeführt werden, dass sie sich sinnvoll ergänzen. So könnten Doppel- und Vielfachstrukturen vermieden werden, die sich um ähnliche oder gar gleiche Aufgaben bemühen. Freiwerdendes Kapital könnte für Aus- und Weiterbildung der nachrückenden Chirurgengenerationen verwandt werden. Dies wird nicht unmittelbar gelingen. Die bestehende Vertrauensbasis muss erweitert, gemeinsame Zielprojektionen müssen definiert werden. Kompromisse von allen Seiten sind nötig, um gemeinsamen Zielen näher zu kommen.

Wir werden uns noch mehr als bislang schon um das berufliche Umfeld der Chirurgie kümmern müssen. Immer mehr Ökonomie, immer mehr medizinische Leistung und mehr Bürokratie mit weniger Leistungsträgern, geknebelt durch ein rigides Arbeitszeitgesetz, gefordert durch immer ältere und multimorbide Patienten macht unseren Beruf schwieriger und bringt die sogenannte Work-Life-Balance aus dem Gleichgewicht – ganz besonders dann, wenn Kliniken ganz selbstverständlich auf unbezahlte Mehrarbeit zum Wohle des Patienten zählen.

Unsere Aufmerksamkeit wird aufs Höchste gefordert, wenn Hedge-Fonds ihr Interesse am Medizinmarkt anmelden. Fonds, die mit schier unbegrenzter Kapitalmacht agieren und Renditen jenseits der 10-Prozent-Marke erwarten. Mit der Standardisierung von Prozessen – qualitätsbezogen als „standard operation procedures“ bezeichnet – kann man sich anfreunden. Ein Problem entsteht für die Chirurgie, wenn unter dem Deckmantel „best practice Prozessmodell“ die quasi industrielle Prozess- und Ressourcensteuerung mit bedarfsgerechter Nutzung von Technologien eingeführt wird, wobei offen bleibt, wessen Bedarf damit gemeint sein mag. Die Industrialisierung der chirurgischen Disziplinen nach dem Fließbandmodell muss auf Masse und Ergebnis abstellen, um zu lohnen. Dies bedeutet für den Chirurgen, vielleicht aber auch für ganze Kliniken Fokussierung auf wenige Prozeduren – Kernkompetenzen genannt. Hohe Sicherheit und hohes Tempo sind gefordert. Prozessdurchlaufzeiten in allen Bereichen der Kliniken werden zum Glaubensbekenntnis, Personalbindungszeiten pro Fall zum Credo.

Humanität, ärztliches Handeln und generalistisches Wissen verkommen so leicht zur Sekundärtugend. Das Affix „sozial“ geht der Marktwirtschaft verloren. Subsidiarität fixiert allzu leicht auf den Mehrwert. Es wird der untaugliche Versuch unternommen, Medizin – und speziell die Chirurgie – mit ihren teuren Operations- und Intensiveinheiten auf deren ökonomischen Erfolg zu reduzieren. Dabei bleiben alle wichtigen Fragen offen.

Ist das Medizinstudium zeitgemäß strukturiert? Brauchen wir ein Bachelor-/Mastersystem, das sich primär der medizinischen Biologie widmet, um jenen 40 Prozent der Ärzte, die nicht im ärztlichen Bereich tätig sein wollen, den Weg in Industrie, Naturwissenschaft, Beratungsfirmen etc. zu eröffnen? Ist unser Weiterbildungssystem zukunftsfest?

Wie können wir Weiterbildung in enger Absprache mit den Kammern organisieren, sodass wir schneller auf sich verändernde Wissens- und Umfeldbedingungen reagieren und Entscheidungen kurzfristig folgen können, die im Konsens der Fachgesellschaften getroffen wurden?
Wie müssen die Ergebnisse einer zukünftigen Versorgungsforschung in unsere Überlegungen eingehen? Sind unsere Krankenhausstrukturen angepasst? Wie viele Chirurgen welcher Fachdisziplin werden wir in Zukunft wo brauchen und wie viel Chirurgie ist sinnvoll?

Folgt man dem Leitgedanken von Meinhard Miegel, dass wir uns auf Wohlstand ohne Wachstum einstellen müssen, wird eine Vermehrung der Ressourcen in Einzelbereichen nur noch durch Allokation möglich sein. In einem sechsbändigen Werk, das Spitzenforscher der Leopoldina zur alternden Gesellschaft aufgelegt haben, steht zu lesen, dass wir unseren Wohlstand und unser Sozialsystem nur dann werden aufrecht erhalten können, wenn Frauen eine vollständige Ausbildung und Arbeitsbiographie durchlaufen. Wo aber sind die familiengerechten Dienstpläne und Arbeitsbedingungen in der Chirurgie – wo die Ganztagsbetreuung für Kinder zu erschwinglichen Bedingungen für junge Kolleginnen, die Familie und Beruf verbinden wollen? Wie sollen Nacht- und Schichtdienste familienverträglich organisiert werden? Wie gestaltet man Weiterbildung, die alle technischen Grundkenntnisse außerhalb des OPs vermitteln muss, ohne spezielle Finanzierung? Wie verhindert man, dass die Weiterzubildenden im medizin-industriellen Komplex zum primär hochspezialisierten ‚Lernling‘ degenerieren, der schon aus Zeitmangel eine persönliche Bindung zu leidenden Patienten nicht mehr aufbauen kann.

Wie soll die ambulante Versorgung der Bevölkerung organisiert werden? Wollen wir ein Medizinsystem sozialistischer Prägung mit dem Ambulanz- und Polikliniksarzt auf Lebenszeit ohne Chancen der Weiterentwicklung und des Aufstieges? Oder sollten wir nicht vielmehr nach Wegen sinnvoller Arbeitsteilung und entsprechender Honorierung zwischen Kliniken und Praxen suchen – eine Arbeitsteilung, die im Sinne der sozialen Marktwirtschaft Kooperation nach qualitätsgesicherten „standard operation procedures“ vorsieht – Motivation und Arbeitsfreude auf allen Seiten schafft und ganz nebenbei den Wert des Lebenswerkes niedergelassener Kolleginnen und Kollegen erhält?
Glücklicherweise werden die Menschen immer älter. Sie bleiben immer länger gesund. Irgendwann aber werden viele polymorbide und bedürfen der menschlichen Fürsorge und Zuwendung.

In einem System des „Pay for Performance“ haben sie keine Chance. Zentrenbildung, Qualitätssicherung, Effizienzsteigerung, Innovationsleistung und Investitionsmöglichkeit sind hohe Ziele, denen wir uns vernünftig annähern müssen. Gerade diese Erkenntnis aber zwingt uns, darüber zu diskutieren, was wir wie finanzieren wollen.

Wollen wir komplexe chirurgische Prozeduren noch erhalten, die einen begrenzten Einfluss auf die Lebenserwartung haben? Sind die sogenannten Quality adjusted life years die Zauberworte der Zukunft? Eines wird uns jedenfalls täglich vor Augen geführt, das Medizinsystem wird weitgehend ungeschützt vom demographischen Wandel erfasst und erschüttert und es ist ein Märchen, wenn man behauptet, Prozessoptimierung und Leistungssteigerung in den chirurgischen Fächern würden ausreichen, bei gleichbleibender Finanzierung, steigender Qualität und Komplexität der Eingriffe, Ausweitung der technischen Möglichkeiten in einer alternden Gesellschaft jedem zu jeder Zeit eine angemessene oder auch nur ausreichende Behandlung angedeihen zu lassen.

Mehr Fragen als Antworten, die uns in Zukunft beschäftigen werden. Sinnvolle Antworten werden wir nur dann erhalten, wenn wir sie in gemeinsamer Anstrengung im Sinne der Sache, die über den Personen stehen muss, zu beantworten versuchen.