Alle Artikel von Giovanni Maio

Zum Geist der Chirurgie im Zeitalter der Industrialisierung der Medizin

Wir leben in einer Zeit, in der die Identität der Medizin weggespült zu werden droht, denn die moderne Medizin wird heute vollkommen unreflektiert nach dem Modell der industriellen Produktion gesteuert und nach rein ökonomischen Gesichtspunkten bewertet. Dadurch gerät die Medizin in einen Strudel, der ihre eigenen Werte geradezu auf den Kopf stellt, denn in einem ökonomisierten und industrialisierten System wird das Anliegen der Ärzte, weswegen sie sich für einen Helferberuf entschieden haben, immer mehr zur Nebensache. Den Ärzten wird heute nicht mehr erlaubt, nach ärztlich-medizinischen Gesichtspunkten zu entscheiden, sondern ihnen wird durch entsprechende Anreize suggeriert, dass die medizinische Logik korrigiert werden muss. Aber das ist grundlegend falsch.

Herrschaft betrieblicher Rationalität

Das Grundproblem der modernen industrialisierten Medizin besteht darin, dass die Ärzte ihre eigentliche Leistung jeden Tag unter Wert verkaufen und deswegen glauben, sich dem System beugen zu müssen und aktivistisch zu werden. Man darf sich aber den Blick auf den Kern der ärztlichen Leistung, die jeden Tag unsichtbar vollzogen wird, durch die irrationalen Vorgaben nicht versperren lassen.

Die Normen des ökonomisierten Systems stammen aus der industriellen Massenproduktion und, bedingt durch eine solch vereinfachende Vorstellung von ärztlicher Betreuung, wird in den Köpfen der Verantwortlichen die Leistung der Ärzte auf das Anbieten standardisierter Behandlungsschablonen reduziert. Diese Konzeption steht in Zusammenhang mit einer politischen Ideologie, das Handeln der Ärzte über bürokratische Normierung restlos steuerbar zu machen. Dass man überhaupt eine solche Steuerungsfantasie entwickeln konnte, macht deutlich, dass das System die Ärzte insgeheim zu Ingenieuren für den Menschen umdefiniert hat. Das ist einer der vielen eklatanten Denkfehler, die dem Gesamtsystem zugrunde liegen. Gerade weil man irrtümlich davon ausgeht, dass die Behandlung von Patienten einer Technik am Objekt gleichkomme, übernimmt man nicht nur eine gesamte Qualitätssicherung, die ursprünglich für den ingenieurwissenschaftlichen Kontext konzipiert war, sondern viel gravierender noch, man unterwirft die gesamte Medizin einer Checklisten-Rationalität, die zu einer verhängnisvollen Überformalisierung, Überregulierung und Überbürokratisierung führt.

Über die Verbürokratisierung erfolgt eine numerische Wirklichkeitskonstruktion, die sukzessiv zu einem radikalen Umbau der Legitimationsstrukturen führt, dergestalt, dass nicht mehr soziale Werte, sondern nackte Zahlen als einzige Legitimation medizinisch-pflegerischen Handelns gelten. Nicht die Verwirklichung einer genuin sozialen Praxis gilt als Rechtfertigung des Handelns, sondern die Maximierung der Zahl und was nicht gezählt werden kann, gilt als wertlos. Es wird so getan, als sei ein System jenseits der betriebswirtschaftlichen Logik ein von Grund auf dysfunktionales System. Vorherrschend ist der implizite Glaube daran, dass nur die betriebswirtschaftliche Logik Funktionierendes hervorbringen kann. Dass die Ärzte ihre eigene Logik haben, wird vollkommen ausgeblendet, ja direkt negiert. Die Hegemonialmacht betriebswirtschaftlichen Denkens führt sukzessive zu einer Delegitimierung aller nicht-instrumentellen Rationalitätsformen. Und so wird alles Verhalten unter ein ökonomisches Tribunal gestellt, durch das der soziale Gehalt der ärztlichen Tätigkeit vollkommen ignoriert wird und somit sukzessive aus dem Bewusstsein der Ärzte verdrängt werden soll.

Leitbild dieser Vorgaben ist die FlieSSbandproduktion standardisierter Routineübungen.

Im durchbürokratisierten System wird die detaillierte Regulierung an die Stelle der individuellen Lösung gesetzt, das deduktive Ableiten an die Stelle des induktiven Erschließens. Leitbild dieser Vorgaben ist die Fließbandproduktion standardisierter Routineübungen. Dass es zu einer solchen Bürokratisierungsspirale kommen konnte, liegt an einem weiteren folgenschweren Gedankenfehler; so hat man aus der Erkenntnis, dass die Dokumentation des Messbaren etwas Sinnvolles ist, kurzerhand geschlossen, dass alles Sinnvolle auch dokumentierbar sein muss. Dass dies einer mechanistischen Verengung des Denkens entspringt, wird einfach übersehen.

Überregulierung, Überformalisierung, Überbürokratisierung

Mit diesen Überlegungen soll verdeutlicht werden, dass in der gesamten modernen Medizin eine betriebswirtschaftliche Formallogik etabliert wird, mit der nicht nur Abläufe, sondern auch Werte vorgegeben werden. In einem betriebswirtschaftlich abgerichteten sozialen System findet eine Umwertung der Werte statt; hochgeschätzt werden formalisierungsaffine Werte wie Stromlinienförmigkeit und Reibungslosigkeit, unterschätzt und aus dem Wahrnehmungsmuster verbannt werden alle interaktionsbezogenen und reflexiven Werte. Gefördert wird somit nicht die individuelle Anpassung, sondern das Repetitive, nicht das Singuläre, sondern das Standardisierte, nicht das Besondere, sondern das Gewöhnliche. Finale Folge ist die Beförderung eines Trends zur Entdifferenzierung ärztlichen Denkens.

All das sind grundlegende Veränderungen, die die Identität der Chirurgie in ihrem Kern erschüttern. Denn die echte Herausforderung im Alltag der Chirurgie entzieht sich der Enge der Formalisierung. Das Reglement kann das Sich-Kümmern nicht ersetzen, weil ärztliches Handeln von Grund auf etwas anderes ist als technisches Produktionshandeln. Was für den einzelnen Patienten wirklich Hilfe bedeutet, das lässt sich nicht auf dem Reisbrett entwerfen, sondern das lässt sich erst über das Gespräch mit dem Patienten erschließen.

Ziel des gegenwärtigen Systems ist eine panoptische Kontrolle aller Handstriche in der Medizin. Das Vertrauen soll durch den Vertrag ersetzt werden und deswegen soll das individuelle Ermessen des Arztes durch scharf umrissene Handlungsvorgaben ersetzt werden. Ärztliches Handeln wird hier implizit wie ein Vertragsabschluss verstanden, bei dem alle Entscheidungen und Handlungen einen expliziten, schematischen und einklagbaren Charakter haben. Die ärztliche Hilfe wird zur rein formalen Leistungserbringung mit Garantiestempel. Diese Vorstellung aber reduziert die ärztliche Tätigkeit auf einen schematischen Ablauf und sie entwertet die eigentliche Leistung des Arztes, weil diese produktionstechnische Vorstellung von Medizin gar nicht berücksichtigt, was Medizin überhaupt ist und wie Medizin wirklich arbeitet.

Der Dreierschritt der ärztlichen Logik

Ärztliches Handeln besteht immer aus drei Schritten [1]; die Diagnostik als ersten Schritt; ein induktiver Prozess, bei der Erfahrungsmomente eine große Rolle spielen, weil man einfach darauf kommen muss, was es sein könnte. Schon die Diagnostik ist nicht restlos schematisierbar, weil man Muster erkennen können und auf Zusammenhänge kommen muss, die nicht restlos in Algorithmen abgebildet werden können. Nach der Diagnostik erfolgt aber der entscheidende zweite ärztliche Schritt, nämlich der Reflexionsschritt; dieser reflektierte Beurteilungsschritt erfordert ein Zusammenbringen der objektiven Diagnose mit der Lebenswelt des Patienten. Das ist die eigentliche ärztliche Leistung, auf der einen Seite die Zahlen, die Evidenz, die Studien im Blick zu haben und zugleich nah an der individuellen Lebenswelt und der subjektiven Befindlichkeit des einzelnen kranken Menschen zu bleiben. Der gute Arzt ist somit immer Experte des formalisierbaren Wissens und gleichzeitig menschlicher Ansprechpartner für die nicht formalen lebensweltlichen Fragen des kranken Menschen. Hier geht es eben nicht primär um die Frage von richtig und falsch, sondern es geht um die Frage, was am besten zu dem einzelnen Patienten passt, was das speziell für ihn Geeignete ist. In diesen entscheidenden zweiten Schritt fällt der Schritt der Indikationsstellung [2].

Genau für die Indikationsstellung ist es notwendig, sich auf den individuellen Patienten einzulassen. Die medizinische Indikation ist ja ein aktiver Entscheidungsvorgang, der eine Abwägung erforderlich macht. In diese Abwägung fließen mehrere Gesichtspunkte hinein. Die Indikation ist unabdingbar gebunden an objektive Parameter, an den Sachstand der Wissenschaft, an den innerfachlichen Standard. Das macht deutlich, dass die Indikation im Grunde verhindern soll, dass Beliebigkeit herrscht in der Medizin. Für die Indikationsstellung ist es aber in gleicher Weise notwendig, die Individualität des Patienten in die ärztliche Beurteilung einzubeziehen. Das heißt, dass der Vorgang der Indikationsstellung unweigerlich eine singuläre Entscheidungsfindung voraussetzt. Die Indikationsstellung ist deswegen grundsätzlich nicht vollends standardisierbar, sondern sie erfordert unabdingbar eine individuelle Beurteilungskunst, bei der es um das Zusammenführen von standardisiertem Wissen und einzelfallbezogenen Erwägungs- und Ermessensprozessen geht. Zu diesen Erwägungsprozessen gehört die Berücksichtigung der individuellen Situationslage des Patienten, seine lebensgeschichtliche Situation mit all den daran anknüpfenden Annahmen über die möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen der Maßnahme.

Erst die Berücksichtigung des konkreten Patienten kann eine Prognoseaussage als Grundlage für die Indiziertheit möglich machen. Einerseits ist die Indikation das Resultat eines Entscheidungsprozesses, der immer rückgebunden wird an Indikationsregeln, die zu einem gewissen Grad formalisiert sind und nicht beliebig kreiert werden können, aber die Indikationsstellung kann andererseits nicht als eine schematische Umsetzung eines Algorithmus verstanden werden, weil sie neben den harten Fakten und Zahlen zwangsläufig auch die lebensweltlichen Aspekte des Patienten berücksichtigen muss und genau diese Berücksichtigung kann nur als Resultat eines ärztlichen individuellen Abwägungsprozesses verstanden werden. Das ist das, was man seit der Antike als ärztliche Kunst umschrieben hat. Eine Kunst, die nichts mit dem Künstlerischen zu tun hat, sondern die übersetzt werden muss als eine praktische Könnerschaft. Die ärztliche Kunst, die darin besteht, die Situation des Patienten verlässlich zu beurteilen, um dann mithilfe einer Problemlösungskompetenz einen guten Rat für den Patienten zu erteilen; die ärztliche Kunst, die in ihrem Kern eine Beurteilungskunst meint. Es geht um das Kennenlernen des Patienten, um das persönliche Sich-Interessieren, es geht um die Übernahme persönlicher Verantwortung im Sinne dessen, dass man sich schlichtweg um den Patienten kümmert. Und wenn man das leistet, dann wird man aus den oft vielfältigen therapeutischen Möglichkeiten diejenigen wählen, die nicht nur richtig, sondern auch und vor allen Dingen passend ist. All dies macht eine reflektierende Urteilskraft notwendig. Der dritte Schritt ist dann der Eingriff, der kunstgerechte Vollzug der individuell herausgesuchten Therapiemethode.

Für obsolet erklärt werden die ärztliche Beurteilungskunst, die ärztliche Erfahrung, das ärztliche Gespräch, die ärztliche Problemlösungskompetenz.

Diesen Dreischritt also, den man auch beschreiben könnte als Induktion – Reflexion – Aktion, macht die ärztliche Logik aus. Anhand dieses Dreischritts kann deutlich werden, wie die Überformalisierung der Medizin nach dem Modus der industriellen Produktion diesen Dreischritt einfach reduziert. Denn die industrielle Denkweise sorgt dafür, dass der so notwendige zweite Reflexionsschritt als Überbrückungskompetenz zwischen Diagnose und Therapie einfach ausgeschaltet wird. An die Stelle der ärztlichen Urteilskraft werden im gegenwärtigen System schlichtweg standardisierte Kategorien und Verfahrensweisen gesetzt; nach einer von Grund auf verbürokratisierten Vorstellung von Medizin hat sich die Therapie eindeutig aus der Diagnose zu ergeben. Das heißt also, dass mit der Industrialisierung der Medizin im Grunde ein Kurzschluss hergestellt wird zwischen Diagnose und Therapie und die ärztliche Urteilskraft damit stillschweigend für obsolet erklärt wird.

Für obsolet erklärt wird die ärztliche Beurteilungskunst, die ärztliche Erfahrung, das ärztliche Gespräch, die ärztliche Problemlösungskompetenz. Aus der zentralen Problemlösungskompetenz des Arztes wird die technische Ausführungskompetenz gemacht, aus dem eigentlichen Arzt ein bloßer Leistungserbringer, aus der Komplexität des Patienten ein standardisierter Symptomträger, aus der medizinischen Praxis ein technischer Herstellungsprozess. Das ist der eigentliche gedankliche Hintergrund, vor dem es so selbstverständlich erscheint, die ärztliche Leistung wie eine technische Produktionsleistung zu bewerten. Kaum jemand erkennt den schwerwiegenden Kurzschluss, den so entscheidenden klinischen Blick und die genuin professionelle Identität als Beurteilungskunst durch eine industrielle Mentalität zu ersetzen. Das System zielt letzten Endes darauf ab, die nicht sichtbar zu machende ärztliche Könnerschaft als Beurteilungskunst zu ersetzen durch eine strikte organisatorische und formalisierbare Handreichungslogik. Am Ende dieses reduzierten Medizinverständnisses steht eine Medizin, die nicht mehr selbst medizinisch agiert, sondern nur noch nicht-medizinisch verwaltet wird. Die sukzessive Deprofessionalisierung der Medizin mit dem Ziel ihrer Totalverwaltung im Sinne der effektiven Steuerung aller medizinischen Maßnahmen, das ist die implizite Vision moderner Gesundheitspolitik in allen westlichen Ländern und das ist der eigentliche Hintergrund für die totale Entwertung ärztlicher Leistung.

Der Geist der Chirurgie

Die gegenwärtige Tendenz, nur das sichtbare Ergebnis, nicht aber den unsichtbaren ärztlichen Entscheidungsprozess zu berücksichtigen, wertet die eigentliche chirurgische Leistung der Indikationsstellung radikal ab. Das ist fatal, denn die Qualität der Chirurgie hat etwas mit der Qualität des ärztlichen Rates zu tun, den man dem Patienten erteilt und nicht allein mit der Qualität des operativen Eingriffs per se. Heute wird die Chirurgie auf den Eingriff reduziert und damit entwertet man die geistige Leistung des Chirurgen, die sich in der guten Indikationsstellung und damit in der guten Beratung niederschlägt.

Wie will man nun das weitsichtige und patientengerechte Nichtoperieren als Leistung messen?

In einer durchindustrialisierten Medizin werden Aktionen gezählt und gemessen, aber der Sinn der Chirurgie erschöpft sich nicht in der Aktion, sondern in der Reflexion, in der Reflexion darauf, ob diese Aktion oder eine andere sinnvoll ist, ob überhaupt eine Aktion sinnvoll ist oder vielleicht ein Zuwarten oder Seinlassen des Eingriffs sinnvoller erscheint. Wie will man nun das weitsichtige und patientengerechte Nicht-operieren als Leistung messen? Wie will man den erfahrungsgeleiteten Nachdenkprozess, der zu dieser Einschätzung führte, formalisieren? Und doch muss man anerkennen, dass es viele Situationen gibt, in denen man seinen Patienten am ehesten dadurch helfen kann, dass man ihn beruhigt und ihm rät, von einem Eingriff abzusehen, weil der Nichteingriff langfristig besser für sein Leben ist als die kurzfristige Aktion. Deutlich wird: man kann zwar Komplikationen zählen, aber nicht die guten Indikationen. Man kann den Outcome messen, aber ob der Eingriff auch sinnvoll war, das kann man nun mal nicht messen, sondern nur ermessen.

Kombination aus handwerklicher Fertigkeit, wissenschaftlicher Expertise und Zuhörbereitschaft

Die eigentliche Könnerschaft der Chirurgie besteht im gekonnten Umgang mit Komplexität, sie besteht in der Verwirklichung einer Komplexitätsbewältigungskompetenz, die nichts anderes bedeutet als Problemlösungskompetenz. Diese Kompetenz, Komplexität im Sinne des Patienten zu erfassen und in eine gute Lösungsstrategie umzumünzen, diese Kompetenz kann nicht in Zahlen gegossen werden, weil diese Kompetenz mit der unzählbaren Fähigkeit zu tun hat, das Gesamtproblem zu erfassen, die Fähigkeit zum synthetischen Denken, die Fähigkeit zum integrativen Denken. Und für dieses Denken gibt es schlichtweg keine Zahl. Der Chirurg ist kein Handwerker, der ein perfektes Produkt abzuliefern hat, das man im Vorhinein genau bestellen kann, sondern er ist ein Professioneller, der seine Arbeit nur in der Verbindung von Aktion am und Interaktion mit dem Patienten verwirklicht sieht.

Schlussfolgerung

Es gilt zu bedenken, dass das, was für die produzierende Industrie Gültigkeit haben kann, für den ärztlichen Beruf des Chirurgen schlichtweg nicht stimmt. Die Qualität des Chirurgen bemisst sich in der Kombination aus handwerklicher Fertigkeit, wissenschaftlicher Expertise und Zuhörbereitschaft. Die gegenwärtige Industrialisierungsära reduziert die Güte der Chirurgie auf den ersten Pfeiler und ignoriert vollkommen die beiden anderen Pfeiler, obwohl nur die beiden letzten darüber entscheiden, ob man eine gute Indikation gestellt hat. Eine alleinige Fokussierung auf die handwerkliche Fertigkeit ohne Berücksichtigung der Kunst der Indikationsstellung kommt daher einer Reduktion der Chirurgie auf ein reines Handwerk gleich, und das sollte die Chirurgie nicht mit sich machen lassen. Deswegen sollte die Chirurgie gerade heute im Zeitalter einer ökonomischen Überformung der gesamten Medizin entschieden dafür kämpfen, dass in ihrem Hoheitsgebiet nicht etwa primär produktionstechnische Werte gefördert werden, sondern genuin ärztliche Werte. Zur ärztlichen Logik gehört nicht primär Effizienz, Stromlinienförmigkeit und Beschleunigung, sondern zur ärztlichen Logik gehört Sorgfalt, Ruhe, Weitblick, Geduld, Reflexivität und Zuwendung – alles Werte, die heute abgebaut werden und die doch neu in den Mittelpunkt gestellt werden müssen, um den Geist der Chirurgie zu bewahren.

Literatur

[1] Maio G (201) Werte für die Medizin. Warum die Heilberufe ihre eigene Identität verteidigen müssen. München: Kösel

[2] Maio G (2017) Mittelpunkt Mensch. Lehrbuch der Ethik in der Medizin. 2. Auflage. Stuttgart: Schattauer, 2017

Maio G: Zum Geist der Chirurgie im Zeitalter der Industrialisierung der Medizin. Passion Chirurgie. 2019 Dezember, 9(12): Artikel 09_01.

Pure Ökonomie bedeutet das Ende der Medizin

Gekürzte Fassung des Vortrags auf der Tagung „Quo vadis chirurgia“, am 15. Februar 2013 in Berlin; eine ausführlichere Version erscheint in Heft 3 der Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.

Wir leben in einer Zeit, in der die Politik selbst nicht die Verantwortung übernehmen möchte für die Frage, wo ein Krankenhaus stehen soll und wo nicht. Für die Politik ist es das Einfachste, die Frage nach der Notwendigkeit von Krankenhäusern unbeantwortet zu lassen und es stattdessen dem Markt zu überlassen, wo welches Krankenhaus übrigbleibt oder nicht. Auf diese Weise werden rein ökonomische Parameter ausschlaggebend, und so ist der Politiker entlastet, weil eine Schließung eines Krankenhauses eben dann „selbst verschuldet“ ist. Diese politische Zurückhaltung aber ist gefährlich, weil auf diese Weise die Krankenhäuser einfach ihrem ökonomischen Schicksal überlassen werden und sie alle um ihre Zukunft bangen müssen, wenn sie nicht schwarze Zahlen schreiben. Natürlich ist es notwendig, dass Krankenhäuser wirtschaftlich arbeiten, aber die Güte eines Hauses darf sich nicht allein an wirtschaftlichen Parametern festmachen, sondern an der medizinischen Qualität der Behandlung und der Sorge. Heute aber erheben wir das Schreiben schwarzer Zahlen zum neuen Qualitätsmerkmal der Krankenhäuser, und nicht etwa die gute Versorgung von Patienten. Wenn somit die ganze Existenz des Krankenhauses allein vom Schreiben schwarzer Zahlen abhängt, dann wird klar, dass das Diktat der Einsparung, das Diktat der schnellen Durchschleusung von Patienten, das Diktat der Beschränkung auf das Formale, immer mehr zum leitenden Paradigma wird. Wir haben also eine Situation, in der rein formal die Medizin alles zur Verfügung stellt, aber in der konkreten Ausgestaltung doch dazu angehalten wird, eine subtile Unterversorgung in Kauf zu nehmen, weil es letzten Endes die Bilanzen sind, die über die Weiterexistenz des Hauses entscheiden.

Konkret bedeutet diese ökonomische Logik in den modernen Krankenhäusern, dass das Versorgungsniveau der Bevölkerung nicht dadurch abgesenkt wird, dass notwendige Behandlungen nicht mehr erfolgen. Die Absenkung des Versorgungsniveaus erfolgt viel subtiler. Sie startet schon in den Köpfen. So wird heute den Ärzten subschwellig beigebracht, die Patienten in ökonomische Kategorien aufzuteilen und bei jedem Patienten stets mit zu reflektieren, welche Bilanz er verspricht. Eine schlechte Bilanz versprechen vor allem chronisch Kranke, Patienten mit Mehrfacherkrankungen, Patienten mit Komplikationsrisiken, Patienten mit hohem Versorgungsaufwand. Solche Patienten versucht man eher zu meiden, weil sie aus dem Raster der Effizienz fallen. Gerade bei der Aufnahme zeigt sich das, weil man aus Geldgründen dann dazu neigen wird, lieber relativ gesunde Patienten aufzunehmen und man zugleich dazu tendiert, auf kranke Patienten einen Druck auszuüben, dass sie schnell entlassen werden.

Etwas anderes kommt hinzu. Indem die Ärzte implizit angehalten werden, zu sparen, entsteht eine neue Kultur des Umgangs mit dem Patienten. Die Ärzte sparen dann nicht an den Eingriffen, sondern vor allen Dingen an der Kontaktzeit mit dem Patienten. Wir haben auf diese Weise eine neu eingeforderte formalistische Unpersönlichkeit, die immer mehr die fürsorgende und empathische Zwischenmenschbeziehung zwischen Arzt und Patienten ersetzt. Und so werden die Begegnungen mit dem Patienten, die Begegnungen von Angesicht zu Angesicht aus Gründen der Funktionalität und Effizienz immer mehr reduziert, und das ärztliche Handeln wird immer mehr als ein rein handwerklich-technisches Handeln angesehen. Die Ärzte werden implizit angehalten, sich auf das handwerklich-technische zu beschränken und die Beziehungsqualität zu vernachlässigen. So wird eine Betriebsamkeit etabliert, die es den Ärzten geradezu verunmöglicht, spontan auf den Patienten zu reagieren. Die sozialen Kontakte sind ganz starr in einen vorgegebenen Ablaufplan eingeplant, wodurch die Gespräche mit dem Patienten in gewisser Weise komplett „eingetaktet“ werden (Klinke 2008). So ergibt sich kaum eine Möglichkeit, spontan zu reagieren, sich auch mal mehr Zeit zu nehmen. Es sind dann die schwachen Patienten, die Alten, die Pflegebedürftigen, die hier zu kurz kommen, weil sie mehr Erklärungen brauchen als der formalisierte Zeittakt zulässt. Gerade bei der Entlassung zeigt sich dieses Manko; so fühlen sich heute sehr viele Patienten schlecht auf ihre Entlassung vorbereitet, weil man sich nicht genügend Zeit dafür nimmt, ihnen Hilfestellungen zu geben und Ratschläge. Der Arzt, der Ratschläge gibt, der den Patienten sozusagen hinausbegleitet aus dem Krankenhaus, damit er zuhause gut weiterleben kann, dieser Arzt wird zunehmend abgeschafft. – Genau diese Situation aber bereitet gerade vielen Ärzten zunehmend Bauchschmerzen, und viele Studien belegen, dass sehr viele Ärzte in diesem System immer wieder ein schlechtes Gewissen bekommen, weil sie das Gefühl haben, ihrer ärztlichen Aufgabe nicht richtig gerecht worden zu sein (Braun et al. 2009).

Wenn Ärzte nur danach bezahlt und beurteilt werden, was sie dokumentieren können, sind sie frustriert, weil nicht in Anschlag gebracht wird, dass das Eigentliche der ärztlichen Betreuung nicht in dem aufgeht, was man dokumentiert, sondern in all dem Zwischenmenschlichen, das man nicht messen und abbilden kann. Die Bewertung der Ärzte nach dem, was dokumentiert werden kann bedeutet eine totale Entwertung des eigentlichen Sinns des Arztseins, weil die eigentliche ärztliche Arbeit ja gerade darin liegt, in den vielen Gesprächen mit dem Patienten und mit den Kollegen herauszufinden, welche singuläre Lösung für den Patienten die beste ist. Die ökonomische Logik höhlt aber diese ärztliche Logik aus, und die Anreizsysteme sind dann so, dass sie nicht den gewissenhaften Arzt, der sich besonders engagiert, belohnen, sondern den Arzt, der schnelle Entscheidungen fällt, ohne großes persönliches Engagement. Das aber führt sukzessive zu einem Motivationsverlust und zu dem Gefühl, für so eine Form von Medizin eigentlich nicht angetreten zu sein. Das ist fatal, weil es für viele Ärzte gerade der Kontakt zum Patienten ist, aus dem sie Motivation beziehen und Kraft schöpfen, um auch das Mühevolle des Berufes bewältigen zu können. Je mehr dieser Kontakt abgewertet oder gar verunmöglicht wird, desto mehr erleben dann die Ärzte ihren Beruf als zunehmend sinnentleert. Es findet daher nicht weniger als eine Entfremdung der Ärzte von ihrem Beruf statt.

Das System funktioniert aber ganz ohne direkten Druck. Das ist das Gefährliche daran. Die Krankenhausleitungen, sie machen keine klaren Vorgaben, aber durch die allen zugängliche Sichtbarkeit der Bilanzen einer jeden Abteilung und durch die entsprechenden Belohnungssysteme werden die einzelnen Abteilungen automatisch und subschwellig unter Druck gesetzt. Man erpresst sie sozusagen, sagt aber, dass letztendlich die Ärzte selbst entscheiden sollen. Es ist also eine vorgegaukelte ärztliche Freiheit, die sukzessive durch die Rahmenbedingungen ausgehöhlt wird, ohne dies aber zuzugeben. Man tut so, als würde jeder Arzt doch eigenverantwortlich entscheiden können. Ihnen aber bleibt durch das Korsett und durch die implizite Drohung der Klinikschließung oft keine andere Wahl als das Ökonomische dem Medizinischen manchmal doch vorzuziehen.

Gleichwohl lässt sich nicht sagen, dass man eine fachlich-technisch schlechte Medizin hätte. Medizin findet nach wie vor auf hohem fachlichen Niveau statt, aber die Humanität, das Zwischenmenschliche wird ohne dass man es sofort merkt, sukzessive wegrationalisiert. Es wird ausgeblendet, dass die Arzt-Patienten-Beziehung schlichtweg keine geschäftliche Beziehung ist. Es sind soziale Beziehungen, die den Patienten zum Arzt bringen. Es sind Beziehungen in Kontexten der Fragilität. Es geht in der Medizin immer um zerbrechliche Lebensformen. Aus dieser Situation heraus suchen Patienten eben keine Geschäftsbeziehung, sondern sie erwarten eine Sorgebeziehung (Maio 2012).

Daher muss bei aller Notwendigkeit auch wirtschaftlichen Denkens, in der Zukunft viel mehr investiert werden in die Etablierung einer Medizin, die sich als Beziehungsmedizin versteht, als eine sprechende Medizin, die anerkennt, dass es letzten Endes die Form der Zuwendung ist, die eine heilenden Kraft im Patienten freisetzt. Die Zuwendung, das Gespräch, das ist eben nicht, wie suggeriert wird, ein betriebswirtschaftlicher Luxus, sondern es ist der Kern der ärztlichen Tätigkeit, weil nur über das Gespräch ein tragendes Vertrauensverhältnis entstehen kann. Deswegen wäre es unabdingbar notwendig, nach Möglichkeiten zu suchen, wie dieses Gespräch und die sorgende Beziehung zum Patienten wieder gestärkt werden kann, wie es aufgewertet werden kann, damit die Ärzte, die ihren Beruf als Dienst am Menschen begreifen und sich hineingeben in diesen Beruf, dass diese Ärzte nicht auch noch ermahnt und bestraft werden, sondern gewertschätzt werden dafür, dass sie sich mit Hingabe der Betreuung der ihnen anvertrauten hilfsbedürftigen Patienten widmen.

Die Betreuung von Kranken darf nicht einer Herrschaft des bloßen Formalismus und der betrieblichen Unpersönlichkeit geopfert werden. Der einzelne Arzt ist nicht nur ein Funktionsträger, er ist immer zugleich in einer zwischenmenschlichen Beziehung zum Patienten, und jeder Patient sehnt sich danach, nicht nur von einem technischen Könner behandelt zu werden, sondern zugleich von einem Menschen als Persönlichkeit. Die Betreuung von Kranken kann nicht erfolgen ohne Begeisterung für das ärztliche Tun, und vor allem kann sie nicht erfolgen ohne eine Liebe zum Patienten. Ärztliche Betreuung von Kranken erfordert, dass man als ganze Person sich einbringt, und dies geht nur, indem man Freude an dem hat, was man tut. Mit Freude Arzt sein, das ist die Grundlage für eine humane Medizin, und das System muss so strukturiert werden, dass es den Ärzten neu ermöglicht wird, nicht nur zu funktionieren und ihre Pflichten zu erfüllen, sondern durch eine Kultur der Wertschätzung ihres sozialen Engagements wieder neu Freude am Arztsein zu entwickeln. Gerade im Interesse der nachrückenden jungen Generation muss neu ins Bewusstsein gebracht werden, dass der Arztberuf der erfüllendste Beruf sein kann – wenn man nur Freiräume bekommt, um ihn auch als einen zwischenmenschlichen Beruf zu begreifen. Daher muss eine neue Kultur der Sorge gefördert werden, durch die auch und gerade den jungen Ärzten neu vermittelt wird, dass sie in jeder Begegnung mit dem hilfsbedürftigen Menschen eine wunderbare Gelegenheit erhalten, Sinn zu stiften durch die Verbindung von professionellem Können und gelebter Mitmenschlichkeit.

Literatur

Braun, Bernhard / Buhr, Petra / Klinke, Sebastian / Müller, Rolf / Rosenbrock, Rolf: Pauschalpatienten, Kurzlieger und Draufzahler – Auswirkungen der DRGs auf Versorgungsqualität und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus. Bern: Huber Verlag 2009

Klinke, Sebastian: Ordnungspolitischer Wandel im stationären Sektor. 30 Jahre Gesundheitsreform, DRG-Fallpauschalensystem und ärztliches Handeln im Krankenhaus. Berlin: Pro Business, 2008

Maio, Giovanni: Mittelpunkt Mensch – Ethik in der Medizin. Eine Einführung. Stuttgart: Schattauer, 2012

Maio G. Pure Ökonomie bedeutet das Ende der Medizin. Passion Chirurgie. 2013 Juni, 3(06): Artikel 02_03.