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Das neueste Bürokratie-Monster für die niedergelassenen Vertragsärzte fährt langsam schon die Krallen aus und auch die Chirurgen werden ihm möglicherweise nicht entkommen können.

Die Vorgeschichte der ICD-Kodierung

In Deutschland hätte bereits 1996 die vertragsärztliche Abrechnung ausschließlich auf Basis der Verschlüsselung nach ICD erfolgen sollen. Nach massivem Widerstand aus der Ärzteschaft wurde die ICD zunächst als freiwillige Option eingeführt, die Verwendung einer überarbeiteten Version ist jedoch seit 2000 Pflicht. Sie alle kennen diese lästige Tätigkeit aus der täglichen Praxis und wissen daher sicher auch um die fragwürdige Genauigkeit und Validität der für die KV Abrechnung angegebenen ICD Schlüssel. Man hat sich arrangiert, denn ohne ICD Code gab und gibt es kein Honorar. Die Software Firmen haben die Kodierung mehr oder weniger erleichtert und so werden schon seit Jahren die ICD Codes auch für die chirurgischen Patienten mitgeschleppt. Bisher gab es keine Veranlassung, an der Qualität der Verschlüsselung zu feilen, denn bis auf einige wenige Ausnahmen hat der eingetragene ICD Schlüssel keinen Einfluss auf das vertragsärztliche Honorar.

Was steckt dahinter?

Wie Sie vielleicht wissen, wurde mit der Neuordnung der vertragsärztlichen Vergütung (NVV) im Jahr 2009 die bis dahin gültige Anbindung der von den Krankenkassen zur Verfügung gestellten Gesamtvergütung für die ambulante Versorgung an die Entwicklung der Grundlohnsumme beendet. Stattdessen wurde eine langjährige Forderung der Ärzteschaft umgesetzt und die „Mobiditätsgewichtete Gesamtvergütung (MGV)“ eingeführt. Für das Jahr 2009 wurde die Morbidität (teilweise zu hoch!) geschätzt und für das Jahr 2010 lediglich mit den Faktoren Alter und Geschlecht adjustiert. Um den gesetzlichen Vorgaben nachzukommen, muss nunmehr auch ein geeignetes Messverfahren der Morbidität gefunden werden. Das technokratische Prinzip sieht vor, zusätzlich zu den vorgenannten demographischen Faktoren die jeweils relevanten ICD Ziffern einer „Grouper-Software“ zuzuführen und als Ergebnis jeden Versicherten einer bestimmten Risiko-Gruppe zuzuführen.
Besondere Bedeutung haben dabei jene 80 Diagnosen, die seit 2009 für den Risiko-Strukturausgleich der Krankenkassen herangezogen werden. Die Kassen haben naturgemäß ein massives Interesse daran, dass insbesondere in diesem Bereich „richtig“ kodiert wird, da dies erheblichen Einfluss auf ihre Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds hat. Diese Kodierung ist zum Beispiel auch essenzieller Bestandteil von Hausarztverträgen. Vor einem Jahr gab es große öffentliche Empörung, als einige Kassen versuchten, Vertragsärzte nachträglich zur Korrektur und „Verbesserung“ ihrer ICD-Verschlüsselung zu motivieren und dafür eine „Verwaltungspauschale“ in Höhe von 10 € pro nachkodiertem Fall auslobten. Dies mag illustrieren, dass die Qualität der ICD Kodierung von entscheidender Bedeutung für die Geldflüsse im ambulanten Bereich ist. Das Schicksal der Vertragsärzte ist dabei leider eng an das der regionalen Krankenkassen gekoppelt, denn, geht es der Kasse finanziell gut, steht auch mehr Geld für Honorare zur Verfügung.

Der aktuelle Stand

Das Institut beim Bewertungsausschuss (InBA) hat schon Ende letzten Jahres die Berufsverbände angeschrieben und um konstruktive Kommentare zu einer ersten Rohfassung der Kodier-Richtlinien gebeten. Der BDC hat in seiner Antwort die grundsätzliche Kritik an den Richtlinien formuliert und erneut darauf hingewiesen, dass der ICD zahlreiche Schwächen aufweist und für chirurgische Diagnosen teilweise ungeeignet ist. Dies insbesondere deswegen, weil die ICD nicht medizinischen oder praktischen Gesichtspunkten entspricht, sondern lediglich statistischen Erfordernissen folgt. Weiterhin wird nicht klar zwischen Diagnosen und Symptomen unterschieden und nicht jede Symptomatik entspricht einem Krankheitsbild nach ICD.

Zahlreiche Berufsverbände, der Hartmannbund, die „Potsdamer Runde“ und andere haus- und fachärztliche Organisationen lehnen die Einführung der Kodier-Richtlinien aus gutem Grund grundsätzlich ab. Zuletzt hat der 113. Deutsche Ärztetag 2010 in Dresden dazu folgenden Beschluss gefasst:

„Der Deutsche Ärztetag fordert die Kassenärztliche Bundesvereinigung auf, die geplante Einführung der neuen Diagnose-Kodierrichtlinien umgehend zu stoppen. Hier werden Daten dazu missbraucht, um Honorarverteilung zu organisieren. Dabei geht man von der irrigen Meinung aus, der Wert und die Intensität der täglichen Arbeit in der Arztpraxis an den kodierten Diagnosen ablesen zu können. Darüber hinaus wird hier von Funktionären ein weiteres bürokratisches Monstrum geschaffen, vergleichbar mit den Kodierungen im Zusammenhang mit den Diagnosis Related Groups (DRGs) im Krankenhaus. So wie im Krankenhaus ganze Arztstellen für die Kodierung geschaffen werden mussten, wird eine geordnete Praxisverwaltung durch diese unsinnigen Kodierrichtlinien unmöglich gemacht und Zeit für die notwendige Patientenbetreuung gestohlen. In der Arztpraxis wird der Patient in der Gesamtheit seiner Beschwerden behandelt und es werden nicht irgendwelche Diagnosen zur Abrechnungsbegründung formuliert.“

Besser kann man die Gegenargumente nicht zusammenfassen. Der bisherige Widerstand hat immerhin schon zu einer deutlichen zeitlichen Verzögerung geführt. Die gesetzliche Grundlage ist der § 295 des SGB V, wo es u. a. heißt: „…die Vertragsparteien nach Satz 1 vereinbaren erstmalig bis zum 30. Juni 2009 Richtlinien für die Vergabe und Dokumentation der Schlüssel nach Absatz 1 Satz 5 für die Abrechnung und Vergütung der vertragsärztlichen Leistungen (Kodierrichtlinien); ….“.Dieser Termin war offensichtlich nicht zu halten und auch die ursprünglich für den 1.7.2010 geplante Einführung ist bereits wieder auf den 1.1.2011 verschoben worden. Allerdings gibt es eine verbindliche Vereinbarung der Partner der Gesamtverträge, diese Richtlinie zum genannten Datum flächendeckend, d. h. in sämtlichen KV-Bereichen einzuführen. Eine Testphase soll mit ausgewählten Praxen in der KV Bayern ab 1.7.2010 erfolgen.

Was käme auf Sie zu?

Allein das Studium der Kodierrichtlinien macht jedem klar, welches bürokratische Monstrum da auf die Vertragsärzte losgelassen werden soll. Sie können die Kodier-Richtlinen von der Internet Seite der KBV herunterladen (http://www.kbv.de/kodieren/pdf-download.php). Dort wird Ihnen auf 161 Seiten in feinstem Bürokraten-Deutsch erklärt, wie Sie in Zukunft die ICD Kodierung durchzuführen haben.

Es wird in Zukunft eine bis dahin unbekannte und sicher auch nicht routinemäßig durchgeführte Tiefe und Vollständigkeit der Diagnosenverschlüsselung gefordert. Das trifft besonders auch die Chirurgie und Orthopädie. Bei Chirurgen steht z. B. an 3. Stelle der häufigsten ICD Codes „T14 – Verletzung an einer nicht näher bezeichneten Körperregion“. Bei Orthopäden steht an erster Stelle der Hitliste die ICD „M54 – Rückenschmerzen“. Beide Verschlüsselungen wären nicht mehr zulässig. Statt der T14 müsset Sie also z. B. eine Gesichtsplatzwunde am Unterkiefer rechts mit „S01.43R“ (Offene Wunde: Unterkieferregion) verschlüsseln. Darüber hinaus gilt dies für sämtliche Diagnosen, die einzeln in dieser Tiefe codiert werden müssten. Sie werden wahrscheinlich Ihre komplette Verschlüsselungs-Datei überarbeiten müssen.

Leider reicht es auch nicht, sich auf die fachspezifischen Kapitel zu beschränken, denn auch alle internistischen und sonstigen Neben-Diagnosen müssen nach den gleichen Grundsätzen kodiert werden. Einzige „Erleichterung“ ist die Vorgabe, dass fachärztliche Diagnosen außerhalb des eigenen Fachgebietes nur bis zur 4. Stelle verschlüsselt werden brauchen.

Totalverweigerung oder kritische Distanz?

Aufgrund der mit den Kassen getroffenen Vereinbarungen verfolgen die KBV und die Landes KVen unverändert mit viel Engagement die Einführung der Kodierrichtlinien. Warum? Die KBV benötigt diese Daten um die Steigerung der Morbidität gegenüber den Kassen nachzuweisen und die jährliche Erhöhung der Gesamtvergütung auszuhandeln. Die Landes-KVen wiederum sind abhängig von der Aufteilung der bundesweiten Gesamtvergütung auf die Regionen, die in Zukunft ebenfalls von der „gemessenen“ Morbidität abhängig sein wird.

Sie können sich vorstellen, dass die oben geschilderte Bürokratie bei den Kollegen landauf landab auf massive Ablehnung stoßen wird. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass eine fehlerhafte Kodierung zunächst keine Auswirkungen auf das individuelle Honorar des einzelnen Arztes haben wird. Allerdings würde sich eine mangelhafte Darstellung der Morbidität im darauf folgenden Jahr negativ auf die Gesamtvergütung für die betreffende Region und damit auch auf das für die ärztlichen Honorare zur Verfügung stehende Geldvolumen auswirken. Ein solcher hochgradig abstrakter Zusammenhang dürfte nur schwerlich geeignet sein, die Ärzte zu stundenlangen zusätzlichen Kodier-Arbeiten zu motivieren.

Hier kommt jetzt der Bumerang der Neuordnung der vertragsärztlichen Vergütung zur KBV zurück, die in der Konzeption davon ausgegangen war, diesen bürokratischen Schritt der Ärzteschaft im Hinblick auf höhere Honorare schmackhaft machen zu können. Doch gerade dies wird in der aktuellen politischen Diskussion ad absurdum geführt: Die Honorare der niedergelassenen Ärzte stehen wieder einmal völlig zu Unrecht in der Kritik und statt der Orientierung an der Morbidität wird angesichts der Krankenkassendefizite über Nullrunden oder Kürzungen der ärztlichen Honorare diskutiert. Es bleibt das Geheimnis der KBV, wie sie angesichts dieser Gemengelage die niedergelassenen Ärzte motivieren will, neue und extreme bürokratische Belastungen auf sich zu nehmen. Dies auch noch in krassem Widerspruch zu der KBV-Forderung, die Bürokratie in der vertragsärztlichen Versorgung abzubauen. Auf die Unterstützung der Berufsverbände kann sie dabei jedenfalls nicht hoffen.

Es steht somit außer Frage, dass auch der BDC die Einführungen der Kodier-Richtlinien in der jetzt vorgesehenen Form strikt ablehnt. Gleichwohl muss bei aller Kritik ein Auffang-Szenario konzipiert werden für den Fall, dass die KBV und die regionalen KVen die Umsetzung der Kodierrichtlinien mit hoheitlicher Gewalt durchsetzen würden. Da es sich letztlich um die Umsetzung von gesetzlichen Vorgaben aus dem SGB V handelt, dürfte in diesem Fall eine juristische Anfechtung wenig Ziel führend sein. Die KVen würden bei der zwangsweisen Umsetzung der Richtlinie wahrscheinlich rechtskonform handeln.

Die KBV hätte eine elegante Möglichkeit die Daumenschrauben anzulegen: Wie Sie wissen, muss jede Abrechnungs-Datei von einem KBV-Prüfmodul freigegeben werden. EDV-technisch wäre es ein leichtes, alle Datensätze als fehlerhaft zurückzuweisen, die keine mindestens 4-stellig kodierte ICD enthalten. Mit einer solchen dirigistischen Maßnahme würde die KBV allerdings den allerletzten Rest ihres Ansehens bei den Vertragsärzten verspielen, so dass auf einen Kompromiss gehofft werden darf. Gleichwohl wird sich der BDC darauf einrichten, Ihnen ggf. mit sachdienlicher Unterstützung zur Seite zu stehen für den Fall, dass sich trotz aller Proteste die genannte Richtlinie doch nicht verhindern lässt.

Autor des Artikels

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Dr. med. Peter Kalbe

Vizepräsident des BDCGelenkzentrum SchaumburgStükenstraße 331737Rinteln kontaktieren
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