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Am 1. Mai 1892 ist es soweit: Der D 31/32 rollt vom heutigen Potsdamer Platz, dem damaligen Berlin-Potsdamer Bahnhof vom Gleis. Das Ziel: der Kölner Hauptbahnhof.

Neben den Fahrgästen versammeln sich auf dem Gleis auch zahlreiche Schaulustige. Denn die Möglichkeit des Durchschreitens der Waggons während der Fahrt ist eine kleine Sensation. In den Vorläufermodellen des D-Zugs müssen die Reisenden nämlich noch jedes einzelne Abteil von außen durch Türen betreten. Längs aller Wagen sind Laufbretter mit Haltestangen angebracht, über die der Schaffner zur Fahrkartenkontrolle balancieren und die Türen in akrobatischen Aktionen öffnen muss. Selbst als die früher gemächlich vor sich hin tuckernden Züge Geschwindigkeiten von 100 Stundenkilometern erreichen, ist das noch so. Entsprechend hoch sind die Unfallzahlen: vor allem auch, weil sich in überfüllten Zügen immer wieder Reisende auf die Trittbretter stellen. Es gibt nicht nur Verletzte, sondern auch Tote. [2]

Und nun, der D-Zug! So wurden ausschließlich Züge bezeichnet, deren Wagen durch mit Faltenbälgen geschützte Übergänge untereinander verbunden waren, die sogenannten Durchgangswagen. [3] Zudem sollte der D-Zug besonders pünktlich und bequem sein. Und nicht mehr an jeder „Milchkanne“, sondern nur noch an den wichtigsten Stationen halten.

Leider wissen wir nicht, ob der Begriff „Durchgangsarzt (D-Arzt)“ [1] in Anlehnung an den Durchgangszug gewählt wurde. Vorstellbar ist es aber durchaus: der D-Arzt als Ansprechpartner für die wichtigsten Stationen für gesetzliche Unfallversicherte und Berufserkrankte. Der D-Arzt, der die Behandlungsübergänge überwacht, der dafür sorgt, dass die Behandlungen für die Versicherten bequem und pünktlich durchgeführt werden.

Benutzt wurde der Begriff „Durchgangsarzt“ zum ersten Mal in § 3 der Reichsversichertenordnung (RVO) am 29. November 1921, also fast 30 Jahre, nachdem der erste D-Zug durch Deutschland rollte. Danach hatte die Krankenkasse auf Wunsch der Berufsgenossenschaft deren Unfallverletzte anzuhalten, sofort nach der Krankmeldung und vor der ersten Inanspruchnahme des Kassenarztes einen von der Berufsgenossenschaft bezeichneten Facharzt (Durchgangsarzt) zurate zu ziehen.

Es ist leider nicht nur unbekannt, vor welchem Hintergrund der Begriff „D-Arzt“ gewählt wurde. Auch der Anlass für die Überlegungen zur Einführung eines Durchgangsarztes in der gesetzlichen Unfallversicherung ist nicht genau überliefert. Vielleicht aber steht die Einführung des Durchgangsarztes im Zusammenhang mit dem bislang schwersten Unglück in der Geschichte der deutschen chemischen Industrie und der größten zivilen Explosionskatastrophe in Deutschland: „Am Morgen des 21. Septembers 1921 ereigneten sich im Oppauer Werk der Badischen Anilin- und Sodafabrik im Laboratorium 53 zwei schwere Explosionen. Das ganze Gebäude wurde durch den Luftdruck emporgehoben und stürzte in sich zusammen. In dem Gebäude waren etwa 800 Mitarbeiter beschäftigt, von denen keiner mit dem Leben davongekommen ist. Durch den Luftdruck sind in der weiteren Umgebung von Mannheim bis Heidelberg zahlreiche Fensterscheiben zertrümmert worden. In Mannheim, das vom Explosionsherd weit entfernt ist, sind bis jetzt ein Toter, 36 Schwer- und 20 Leichtverletzte festgestellt worden. Sämtliche Lazarette und Mannheim und Ludwigshafen sind von Verwundeten überfüllt.[4]

Dieses schwere Unglück in der chemischen Industrie könnte tatsächlich der Auslöser für die Implementierung des D-Arzt-Systems gewesen sein – denn die speziellen schweren (Brand-)Verletzungen erforderten eine spezielle medizinische Versorgung.

Abb. 1: D-Arztverfahren der gesetzlichen Unfallversicherung

Und der D-Arzt beurteilte seinerzeit bereits, ob die Fürsorge der Krankenkasse ausreicht oder ob besondere Heilmaßnahmen notwendig sind – Kriterien, die man in ähnlicher Weise noch immer im Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger wiederfindet. Schon damals musste der Durchgangsarzt in der Beurteilung und Behandlung von Unfallverletzten besonders erfahren, fachärztlich ausgebildet (Chirurg oder Orthopäde) und ausschließlich fachärztlich tätig sein. [5]

Hohe Anforderungen an D-Ärzte gerechtfertigt

Auch heute noch ist es im Zusammenhang mit Arbeitsunfällen die Aufgabe der Unfallversicherung, für den Verletzten durch geeignete Behandlungsmaßnahmen sowie durch Geld- oder Sachleistungen die schnellstmögliche Rückführung zur Leistungsfähigkeit sicherzustellen (§§ 26 ff. SGB VII). Hierzu werden in erster Linie Durchgangsärzte (D-Ärzte) bestellt, die nach Diagnosestellung über den weiteren Therapieverlauf entscheiden und den weiterbehandelnden Arzt bestimmen. Nach § 26 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger hält der Arzt „den Unfallverletzten an, sich unverzüglich einem Durchgangsarzt vorzustellen, wenn die Unfallverletzung über den Unfalltag hinaus zur Arbeitsunfähigkeit führt oder die Behandlungsbedürftigkeit voraussichtlich mehr als eine Woche beträgt … Eine Vorstellung beim Durchgangsarzt hat auch dann zu erfolgen, wenn nach Auffassung des behandelnden Arztes die Verordnung von Heil- oder Hilfsmitteln oder außerhalb der Berechtigung nach § 12 die Hinzuziehung eines anderen Facharztes erforderlich ist. Bei Wiedererkrankung ist in jedem Fall eine Vorstellung erforderlich. Der Unfallverletzte hat grundsätzlich die freie Wahl unter den Durchgangsärzten.

Bundesweit sind über 3.700 niedergelassene
sowie an Krankenhäusern und
Kliniken tätige Ärzte in dieses Verfahren
vertraglich eingebunden. Jährlich werden
ca. 2,8 Millionen Versicherte der gesetzlichen
Unfallversicherungsträger im
Durchgangsarztverfahren versorgt.

Auch wenn sich das D-Arzt-System in den vergangenen 100 Jahren mit leichten Modifikationen bewährt hat: Die hohen fachlichen und persönlichen Anforderungen an die Durchgangsärzte sind immer wieder Diskussionspunkt in der Ärzteschaft.

Denn der Durchgangsarzt muss zum Führen der deutschen Facharztbezeichnung „Orthopädie und Unfallchirurgie“ berechtigt und als solcher fachlich und fachlich-organisatorisch weisungsfrei tätig sein. Der Durchgangsarzt muss zudem nach der Facharztanerkennung mindestens ein Jahr in einer Abteilung zur Behandlung Schwer-Unfallverletzter eines zum Verletzungsartenverfahren zugelassenen Krankenhauses vollschichtig unfallchirurgisch tätig gewesen sein. Dies ist durch ein qualifiziertes Zeugnis des für diese Abteilung verantwortlichen Durchgangsarztes nachzuweisen. Ist der Durchgangsarzt an einem Krankenhaus oder einer Klinik tätig, muss er darüber hinaus über die Zusatzbezeichnung „Spezielle Unfallchirurgie“ verfügen. [6] Der Durchgangsarzt ist grundsätzlich verpflichtet, seine Tätigkeiten persönlich zu erbringen. Ferner müssen Durchgangsärzte zusätzlich personelle, apparative und einrichtungsmäßige Voraussetzungen erfüllen und zur Übernahme weiterer Pflichten (insbesondere im Bereich der Berichtserstattung, des Reha-Managements und auf dem Gutachtensektor) bereit sein. [7]

Die Landesverbände der DGUV beteiligen demnach ausschließlich fachlich geeignete Ärzte mit entsprechender Ausstattung der Praxis/Klinik am Durchgangsarztverfahren. Die hohen Anforderungen an den D-Arzt sind aber gewollt und gerechtfertigt, weil die Unfallversicherungsträger nach § 34 Abs. 1, 2 SGB VII alle Maßnahmen zu treffen haben, um eine möglichst frühzeitige und sachgemäße Heilbehandlung Versicherter zu gewährleisten. Diese Anforderungen sind gesetzeskonkretisierende Berufsausübungsregelungen zur Sicherung der Gleichbehandlung, die zur Qualitätssicherung gerechtfertigt sind, wie auch das Bundessozialgericht 2006 entschied. [8]

In einem späteren Urteil hat der Bundesgerichtshof zudem entschieden, dass „wegen des regelmäßig gegebenen inneren Zusammenhangs der Diagnosestellung und der sie vorbereitenden Maßnahmen mit der Entscheidung über die richtige Heilbehandlung … jene Maßnahmen ebenfalls der öffentlich-rechtlichen Aufgabe des Durchgangsarztes zuzuordnen [ist] mit der Folge, dass die Unfallversicherungsträger für etwaige Fehler in diesem Bereich haften“. [9] Was nichts anderes heißt, als dass sich die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung das Handeln der Durchgangsärzte als eigenes Handeln zurechnen lassen müssen.

Die Anforderungen an den Durchgangsarzt sind aber auch deshalb so hoch, weil er als „Lotse“ durch den gesamten Behandlungsablauf als Generalist fungieren muss, gleichzeitig aber einen hohen Spezialisierungsgrad im Bereich der in der gesetzlichen Unfallversicherung vorkommenden Verletzungsarten haben muss.

Eine Übernahme dieses Konzeptes zur Versorgung von Unfallverletzten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung würde sich anbieten. Im Bundesministerium für Gesundheit wird allerdings das D-Arzt-System nicht in den Blick genommen –auch heute nicht. Somit sind nicht nur die Versorgungsbrüche über Sektorengrenzen hinweg im Deutschen Gesundheitssystem ein Problem – sondern auch die unterschiedliche Zuständigkeit der Ministerien (BMG = SGB V/BMAS = SGB VII). Dies führt dazu, dass die Best-Practice-Beispiele zwar quasi vor der Haustür liegen, aber keine Beachtung finden.

Zukunft des D-Arztes

Die Gemeinsame BG-Kommission der unfallchirurgisch-orthopädischen Berufsverbände hat gemeinsam mit der DGUV eine weitgehende Reform der ambulanten D-Arzt-Versorgung auf den Weg gebracht. Ausgangspunkt war die Sorge um die weitere Akzeptanz der derzeitigen, in den Anforderungen der gesetzlichen Unfallversicherungen mit Geltung vom 01. Januar 2011 festgelegten Pflichten und die damit verbundene zukünftige flächendeckende Versorgung mit D-Ärzten. Auch die Altersstruktur der D-Ärzte spielt bei den Überlegungen eine Rolle, wobei dazu gesagt werden muss, dass die fachliche Befähigung zum D-Arzt eine jahrelange Ausbildung mit sich bringt. Zudem ist die Altersstruktur ähnlich der von Ärzten in der gesetzlichen Krankenversicherung.

Für die DGUV war bei den weiteren Diskussionen aber auch von Bedeutung, dass sich nicht nur die Medizinerwelt, sondern die Arbeitswelt insgesamt verändert:

Klassische Arbeits- und Beschäftigungsformen werden zunehmend verändert oder gar abgelöst werden. Und nicht erst seit Corona besteht der Wunsch der jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach alternativen Arbeits- und Beschäftigungsformen. Die Möglichkeiten des Nutzens des technologischen Fortschritts für den eigenen Arbeitsplatz, die Vereinbarkeit von Beruflichem und Privatem sowie Aspekte der Nachhaltigkeit führen ebenso wie verstärkte Aktivitäten im Bereich von Arbeitsschutz und Prävention zu einem gewünschten Rückgang der Arbeitsunfälle.

Abb. 2: Alterstruktur beteiligter D-Ärztinnen und D-Ärzte – Stand April 2021

Bei allen Diskussionspunkten muss gemeinsames Ziel der Berufsverbände und der DGUV sein: Es gilt, in allen Teilen Deutschlands das seit über 100 Jahren bewährte D-Arzt-System zu erhalten oder dort, wo dies nicht immer möglich ist, neue Wege zu suchen, damit die Unfallversicherung weiterhin durch ein flächendeckendes Netzwerk von spezialisierten Ärztinnen und Ärzten, Therapeutinnen und Therapeuten sowie Unfall- und Rehabilitationskliniken die medizinische Versorgung sicherstellen kann!

Vielleicht ist die Bahn ja auch bei der Weiterentwicklung des D-Arzt-Verfahrens Impulsgeber: Ab 2023 sollen neue Züge mit dem Arbeitstitel „ECx“ die DB-Fahrzeugflotte erweitern. Das Innovative an diesen Zügen: Sie sind sehr flexibel einsetzbar, bieten WLAN sowie Fahrgastinformation mit Echtzeitdaten und sind barrierefrei. Im übertragenen Sinne: Mit Flexibilität, dem Einsatz von digitalen Hilfsmitteln und dem Blick auf die Versicherten wird der D-Arzt noch weitere 100 Jahre das System der gesetzlichen Unfallversicherung bereichern!

Literatur

[1]   Offiziell heißt es Durchgangsarzt-Verfahren. Natürlich sind aber auch alle Ärztinnen gemeint, die diesen Beruf ausüben. Die DGUV setzt sich dafür ein, dass sich auch Frauen diese spezielle Facharztrichtung ausüben. Deshalb sind mit dem Begriff D-Arzt alle Geschlechter einbezogen.

[2]   https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-d-zug-100.html

[3]   https://de.wikipedia.org/wiki/Schnellzug

[4]   https://dfg-viewer.de/show/?set
%5Bmets%5D=https://content.staatsbibliothek-berlin.de/zefys/SNP27112366-19210921-1-0-0-0.xml

[5]   K.-H. Andro, Trauma und Berufskrankheit 9 aus 2007, Seite S339–S345

[6]   Vgl. https://www.dguv.de/medien/landesverbaende/de/med_reha/documents/d_arzt3.pdf

[7]   Arzt und BG, 6. Auflage, S. 112.

[8]   BSG vom 05.09.2006 – B 2 U 8/05 R

[9]   BGH Urteil v. 29.11.2016 – VI ZR 208/15

Melanie Wendling

Geschäftsführerin
Bundesverband Gesundheits-IT – bvitg e.V.
Friedrichstraße 200
10117 Berlin
[email protected]

Panorama

Wendling M: Über 100 Jahre D-Arzt – der Schnellzug in der medizinischen Versorgung. Passion Chirurgie. 2023 September; 13(09): Artikel 09_01.

Mehr Artikel zum D-Arzt finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Fachübergreifend.

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