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Es ist Montag. Ärztefortbildung im Klinikum. Heute: „CIRS-Einführung“. Die meisten (Chirurgen) sind anwesend – Auftrag vom Chef. Die Qualitätsverantwortlichen berichten uns, dass es im Intranet ein elektronisches Meldeportal gibt. Neben Berichten über unerwünschte Arzneimittelwirkungen, die via elektronisches Meldeformular direkt an die zuständige Stelle beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM) geschickt werden, gibt es ab sofort ein weiteres Berichtssystem: das freiwillige und scheinbar anonyme Critical Incident Reporting System, kurz CIRS genannt. Ich frage mich, wie viele der vorhandenen Berichtsformulare es wohl ersetzt.

Positive und negative Lernbeispiele

Dieses CIRS sei eine Möglichkeit zum Lernen aus Fehlern und unerwünschten kritischen Ereignissen (so genannte Incidents) und setze damit bereits proaktiv und nicht erst auf der Schadensebene an, erklärt man uns. Die Erkenntnisse zur Epidemiologie der Schäden und zu deren Vermeidbarkeit sprechen für sich.

Berichtet werden soll über alle patientensicherheitsrelevanten Ereignisse – positive wie negative Lernbeispiele –, welche die Patientensicherheit gefährden oder erhöhen können. Laut Aktionsbündnis Patientensicherheit ist damit die Abwesenheit unerwünschter Ereignisse für Patienten gemeint. Die Definition ist breit. Die Idee könnte sich als sinnvoll erweisen, gerade weil man aus den Erfahrungen anderer mit Incidents sicherlich einiges lernen kann.

Wesentliche Voraussetzung für das Lernen aus Incidents ist, dass diese berichtet, systematisch analysiert und entsprechend adressiert werden können, um konkrete Erkenntnisse und Verbesserungsmaßnahmen aus ihnen abzuleiten, ähnlich wie bei unseren Morbidity & Mortality-Konferenzen. Sinnvoll klingt es auch, erfolgreiche Bewältigungs- und Präventionsstrategien im Zusammenhang mit so genannten Beinahe-Schäden zu „konservieren“ und sie damit anderen potenziell Betroffenen sowie der Organisation zugänglich zu machen. Darin liegt auch das Neue an der Idee.

Vernetzt: Abhängigkeiten erkennen und adressieren

Wenn jeder berichtete CIRS-Fall zwar auch als „Problemlösungs-Einzelereignis“ ernst genommen, darüber hinaus aber nicht nur isoliert betrachtet wird, bietet sich der Organisation eine echte Chance, die Faktoren und Ursachen für Fehler z. B. in Ihren Vernetzungen und Abhängigkeiten zu erkennen.

Ein regelmäßiges Feedback an das Management über die Aktivitäten im CIRS stellt sicher, dass sich das Lernen nicht nur auf Einzelpersonen oder einzelne Behandlungsteams beschränkt, sondern die ganze Organisation einschließt [1, 2]. Mit dem CIRS-Erfassungsformular werden neben der Ereignisbeschreibung auch aktive Verbesserungsvorschläge und gelungene Bewältigungsstrategien dokumentiert. Jeweils eine Gruppe mit repräsentativen Vertretern/innen der jeweiligen Klinik (z. B. Ärzteschaft, Pflege aus Bettenstation, OP und Ambulatorium oder Physiotherapie) betreut ein lokales CIRS. Die erfassten Berichte werden auf Ihre Ursachen und Auslöser, Präventions- und Verbesserungsmöglichkeiten hin analysiert und zum Teil unter Zuzug anderer Experten abgeklärt. Manchmal wird auch die/der klinikumsweite CIRS-Verantwortliche mit einbezogen. Die Strukturen und Abläufe sollen dahingehend überprüft werden, inwiefern sie sich zur Vermeidung der berichteten Fehler eignen und wie eine „Fail-safe-solution“ aussähe.

Schuld war gestern

Ich frage mich, ob die beteiligten Personen tatsächlich in der Lage sind, meine Berichte korrekt zu analysieren und wie – z. B. bei einem kleinen Team wie dem unseren, wo sowieso meist klar ist, wer mit einem berichteten Fall betraut war – die Anonymität gewahrt werden kann. Nach und nach begreife ich, dass es eigentlich nicht relevant ist, wer beteiligt war, sondern das der Präventionsgedanke an erster Stelle steht, die Frage, wie ein (potenziell) schädigendes Ereignis in Zukunft am Besten verhindert oder frühzeitig erkannt werden kann. Versteht das mein Chef auch so? Und meine Kollegen? Nicht, dass ich das Gefühl hätte, dass mir Fehler zur Last gelegt werden …

Miteinander Patientensicherheit lernen …

Man präsentiert uns eine ganze Reihe von Maßnahmen, die infolge von bereits in anderen Kliniken erfassten CIRS-Fällen umgesetzt wurden. Vielleicht lassen sich doppelte Einbestellungen von Patienten vermeiden, bei denen die Röntgenaufnahmen falsch waren, weil wieder irgendwo falsche Etiketten einsortiert waren. Vielleicht gelingt es tatsächlich, dass nicht nur der OPS, sondern auch die Pflege und Kollegen vom Notfall vom selben CIRS-Fall lernen, anstatt sich immer wieder über schlechte Übergaben zu ärgern, weil keiner so recht weiß, worüber er oder sie den anderen genau informieren muss und sollte. Ich frage mich nur, wann ich bei all den guten Argumenten Zeit finden soll zum Berichten und zum Lesen.

… auf allen Ebenen

Wir hören, dass es CIRS im Gesundheitswesen auf verschiedenen Ebenen, mit unterschiedlichen Funktionen und Absichten gibt. Obligatorische Systeme, die von Behörden betrieben werden (z. B. BfARM), fokussieren oft auf die rechtliche Absicherung, auch wenn mit Ihnen die Behandlungssicherheit gewährleistet werden soll. Systeme auf nationaler Ebene bewähren sich vor allem, wenn Informationen aus sehr seltenen Ereignissen aggregiert ausgewertet und das überregionale Lernen unterstützt werden soll. Beispiele sind das deutsche Krankenhaus-CIRS-Netz (www.kh-cirs.de) oder das Fehlerberichts- und Lernsystem für Hausarztpraxen (www.jeder-fehler-zaehlt.de), welche überregional Berichte von patientensicherheitsrelevanten Zwischenfällen aus dem stationären wie dem nicht-stationären Bereich sammeln, auswerten und kommentieren.

Die nachfolgende Abbildung zeigt ein Beispiel für den Bearbeitungsprozess eines lokalen Berichts in einer Klinik (horizontal), welches in eine Gesundheitseinrichtung und darüber hinaus in das Gesundheitssystem eingebunden ist (vertikal).

Blinden Aktionismus vermeiden

Aus der Literatur sind verschiedene Barrieren und Handlungsbedarfe hinsichtlich der Gestaltung, Implementierung und Benutzung von CIRS bekannt (Eine Übersicht findet sich bei Van Vegten, 2008, S. 41 ff). Dabei erwiesen sich vor allem eine unsachgemäße Gestaltung (Benutzerfreundlichkeit, Verfügbarkeit) und Implementierung (Bekanntheit, Verankerung, Commitment der Führung, Berücksichtigung der Kultur) von CIRS als kritisch und lernverhindernd. Ebenfalls eher zur Schaffung neuer Fehlerquellen als zum Lernen, das den verschiedenen Akteuren im Gesundheitswesen zugute kommt [3], führen folgende Problematiken:

  1. eine inadäquate Betreuung mit blindem Aktionismus infolge von CIRS-Berichten, etwa durch Weisungs-“Fluten“ und nicht umfassend abgeklärte Maßnahmen
  2. eine fehlende Priorisierung von Patientensicherheit zugunsten des „Produktionsdrucks“
  3. unzureichende Kompetenzen und Qualifikationen derjenigen, die CIRS-Berichte bearbeiten
  4. knappe Ressourcen.

Eine lernförderliche Gestaltung und professionelle Unterhaltung der lokalen CIRS, eingebettet in eine von der Führung gelebte klinikumsweite Qualitäts- und Patientensicherheitsstrategie, erwiesen sich hingegen als wirkungsvoll für das organisationale Lernen im Sinne eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses [4].

Das Melden von patientensicherheitsrelevanten Incidents bedingt hierfür eine transparente Kommunikation und Rückmeldung zu Berichten ins CIRS – auch durch spürbare Verbesserungen –, idealerweise in einem „fehlerfreundlichen“ Klima des Vertrauens.

CIRS sind Hilfsmittel und Risikofrühwarnsysteme für patientensicherheitsrelevante Ereignisse und können zu Verbesserungen der Versorgungsqualität beitragen, wenn Sie als Berichts- und Lernsysteme genutzt werden.

CIRS können als Berichts- und Lernsysteme bezeichnet werden, wenn

  1. sie aktiv genutzt werden, um patientensicherheitsrelevante Incidents zu berichten
  2. sie eine konstruktive systematische und systemische Analyse und Bearbeitung der Berichte und der diesen zugrundeliegenden Fehler und Systemschwächen ermöglichen und
  3. die Erkenntnisse aus ihnen an die verschiedenen Ebenen (Individuum, Team/Gruppe, Organisation, Hersteller etc.) kommuniziert werden und zu entsprechenden Veränderungen in der Organisation führen. Dies gilt für überprüfbare wirksame und erwünschte Veränderungen.

CIRS als Berichts- und Lernsystem beleben

Aus juristischer Sicht sollte man bedenken: Wenn ein CIRS existiert, muss es auch im Interesse der Organisation gepflegt werden [5]. Das macht mich schon wieder unruhig. Muss ich mir nun Gedanken über meine Haftbarkeit machen? Nachdem uns versichert wurde, dass bisher kein einziger Fall der Beschlagnahme von CIRS-Fällen vorliegt und die Möglichkeit der Rückverfolgbarkeit bei anonymisierten Berichten so gering ist, dass eine strafrechtliche Verfolgung ganz unwahrscheinlich ist, überrascht mich der Umkehrschluss: Ein gut gepflegtes CIRS in einem funktionsfähigen Risikomanagement ist für eine Organisation immer auch eine Chance nachzuweisen, was alles getan wird und wurde, um vermeidbare unerwünschte Ereignisse tatsächlich zu minimieren oder wenigstens frühzeitig zu erkennen. Der Gedanke gefällt mir.

Carpe diem!

Draußen dämmert´s. Mein Chef verabschiedet uns mit den Worten, dass wir ja schon immer Patientensicherheit „machen“, aber dass er mit dem CIRS nun etwas ruhiger schlafen könne – und das gehe am besten mit unserer Unterstützung. Wir werden sehen.

Literatur:

[1] Tucker, A. L., Edmondson, A. C., & Spear, S. (2002). When Problem Solving Prevents Organizational Learning. Journal of Organizational Management, 15(2), 122-137.

[2] Edmondson, A. C. (2003). Speaking up in the operating room: how team leaders promote learning in interdisciplinary action teams. Journal of Management Studies, 40(6): 1419-1452.

[3] Van Vegten, M. A. (2008). Incident-Reporting-Systeme als Möglichkeit zum organisationalen Lernen (nicht nur) aus Fehlern und kritischen Ereignissen. Chancen, Barrieren und Gestaltungsansätze für Berichts- und Lernsysteme im Krankenhaus. Dissertation.

[4] WHO (2005): Draft Guidelines For Adverse Event Reporting And Learning Systems. World Health Organisation Press: Geneva.

[5] Hart, D. (2009). Systemverantwortung versus individuelle Verantwortung: Sicherheitskultur? Zugleich ein Beitrag zum Spannungsverhältnis zwischen Patientensicherheit und Haftungsrecht. Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh.wesen (ZEFQ). doi: 10.1016/j.zefq.2009.08.006.

Van Vegten A. CIRS – Gedanken zum Gelingen und Scheitern. Passion Chirurgie. 2011 Juli; 1(7): Artikel 03_01.

Autor des Artikels

Profilbild von Amanda van Vegten

Dr. Amanda van Vegten

Human Factors Expertin und Safety CoachCeintuurbaan 197413Deventer

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